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Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-15293-1

ISBN E-Book 978-3-688-10538-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10538-0

1

Behutsam, um seine Frau nicht zu wecken, verließ er das Bett, als er das erste Tageslicht durch die Ritzen des Ladens vor dem Balkonfenster sah. Er hatte schon lange wach gelegen und auf die Dämmerung gewartet. Vor vier Wochen, bevor sie in Urlaub gefahren waren, hatten frühmorgens im Garten noch die Amseln gesungen. Vorsichtig hantierte er in Bad und Ankleidezimmer, duschte leise, öffnete Schubladen und Schranktüren so, daß sie nicht quietschten. Die Hose des Jagdanzuges saß strammer als vor vier Wochen. Er hatte in den Ferien zugenommen. Als er aus dem Gewehrschrank eins der beiden Gewehre nahm, schlug er mit dem Kolben gegen eine herausgezogene Schublade. Es schepperte und klirrte. Er wendete sich um, blickte durch die halboffen stehende Tür ins Schlafzimmer.

Irene streckte mit geschlossenen Augen den rechten Arm aus, schaltete die Nachttischlampe ein. Sie bewegte sich wie jemand, der nicht mehr geschlafen hatte. Sie öffnete die Augen.

«Verzeih bitte», sagte er.

Sie lächelte.

Nichts im Schlafzimmer deutete darauf hin, daß sie gestern abend zurückgekommen waren. Alle Koffer und Taschen waren geleert und auf den Regalen in der Abstellkammer untergebracht, die schmutzige Wäsche steckte schon in der Waschmaschine. Es hätte ein ganz gewöhnlicher Morgen sein können. Irene lag in gebügeltem Pyjama da wie immer, außer daß ihr Gesicht leicht gebräunt war und die dunklen Haare von Sonne und Salzwasser etwas gebleicht schienen, sogar ein rötlicher Schimmer lag über ihnen. Er betrachtete die Haare seiner Frau. Sie gefielen ihm so. Spätestens in drei Tagen würden sie nicht mehr unordentlich gelockt, sondern glatt und neu gelegt sein. Zu Beerdigungen geht man mit Frisur.

«Laß es net zu spät wern. Wir wollten heut nachmittag noch bei deiner Mutter vorbei», sagte sie.

Er horchte auf das Hessische in ihrer Aussprache. Wenn sie sich sehr wohl fühlte oder auch sehr bedroht, wurde es deutlicher. Wenn sie kühl überlegte, verschwand es fast völlig. Er blieb in der Tür stehn und betrachtete sie.

«Ach ja», murmelte er. «Nein, ich komme nicht zu spät.»

«Weck die Kinder nicht auf. Die Großen sollen nochmal tüchtig ausschlafen, bevor morgen die Schul wieder losgeht. Und die Kleinen, die störn die doch als.»

«Jaja», murmelte er, betrachtete sie und nestelte am Fernglas, das ihm vor der Brust hing.

«Was ist?» fragte sie.

«Nichts», sagte er.

Sie nickte ihm zu. Während sie den Arm wieder nach der Nachttischlampe ausstreckte, ging er hinaus und schloß leise die Tür hinter sich.

Der gleiche dichte beige Velour, mit dem Schlafzimmer, Ankleidezimmer und Bad ausgelegt waren, bedeckte auch den Vorplatz. Durch das vergitterte Fenster über der Treppe, die hinunter ins Parterre führte, kamen erste Sonnenstrahlen. Behutsam schob er die nur angelehnte Tür neben der Schlafzimmertür zur Seite. Auch hier schien schon die Sonne durch Vorhangspalten ins Zimmer. Er blickte auf das in Plastik-Containern aufbewahrte Spielzeug, die im Regal liegenden Puppen und Teddies, die Kritzeleien auf der Tafel, die vier, fünf Wochen alt waren. Zwei kleine Mädchen, drei und fünf Jahre alt, schliefen tief in ihren Kinderbetten. Er betrachtete seine Töchter, hielt das Gewehr fest, um nirgendwo anzustoßen.

Er verließ das Zimmer, öffnete die ebenfalls nur angelehnte Tür des Nachbarzimmers. Hier schliefen in zwei übereinander montierten Holzbetten ein siebenjähriger und ein achtjähriger Junge. Er betrachtete seine Söhne. Leise verließ er auch dieses Zimmer und ging die Treppe hinunter, vermied die Stufen, die knackten.

Die polierten grüngrauen Steine, mit denen der Vorplatz im Parterre ausgelegt war, schimmerten, als sei eben erst saubergemacht worden. Die Türen zu Wohnraum, Küche, Keller, Toilette waren geschlossen. Aus dem flachen Schrank in der Garderobenecke, gefüllt mit den Schuhen der Familie, alle ordentlich nebeneinander und übereinander gestellt, Damen-, Herren- und Kinderschuhe, holte er die Stiefel heraus und schob an deren Platz die Hausschuhe hinein, die er bis jetzt getragen hatte. Als er die Stiefel anzog, schien ihm, daß auch sie ihm zu eng geworden waren. Er war viel barfuß gelaufen im Urlaub. Das hatte den Füßen gutgetan. Jetzt schmerzten sie wieder. Ohne Hast nahm er Rucksack und Jägerhut von der Garderobe, hing sich das Gewehr über und ging hinunter in den Keller.

Möglichst geräuschlos öffnete er eine Eisentür und schaltete Neonlicht ein. Es erleuchtete zuerst zuckend, nach ein paar Sekunden gleichmäßig und sehr hell den Raum. Auf hölzernen Tischen von verschiedener Höhe waren Batterien montiert, ein Elektromotor und ein Einzylinder-Verbrennungsmotor. Abgase wurden mit einem schwarzen Schlauch durch ein Loch neben dem Kellerfenster ins Freie geleitet. An den Wänden hingen Schaltpläne und technische Zeichnungen.

Er betrachtete die Motoren, die Schalttafel, Anzeigeninstrumente, Kabel und Werkzeug, wie er seine Frau und seine Kinder betrachtet hatte. Dann kontrollierte er einige Kontakte, drückte zwei Tasten.

Er horchte auf das Summen des Elektromotors, las von den Instrumenten die Werte ab. Sie befriedigten ihn nicht. Aber er hatte kein anderes Ergebnis erwartet. Er stellte den Elektromotor ab. Aus einem Behälter unter einem der Tische holte er ein Endstück aus schwarzem Kunststoff, nahm den schwarzen Schlauch ab, befestigte ihn an dem Endstück, das genau zum Schlauch paßte. Schlauch samt Endstück verstaute er im Rucksack. Einen Augenblick zögerte er. Dann setzte er sich, nahm einen Kugelschreiber vom Tisch, zog den Notizblock zu sich heran, schrieb sorgfältig, mit kaum zitternder Hand: «Ich scheide freiwillig aus dem Leben. Friedrich Löbert.»

Während er den Zettel vom Block riß und in die Brusttasche des Jagdrockes steckte, blickte er suchend umher. Hinter einer Batterie entdeckte er zwei Rollen Isolierband und steckte sie in die Seitentasche des Jagdrocks. Er schaltete das Neonlicht aus, schloß hinter sich umständlich die Eisentür und betrat vom Kellerflur aus die Garage.

Die war relativ geräumig und frisch gekalkt. Auch hier hatte er Neonlicht anbringen lassen. Er betrachtete den alten, verdreckten VW-Bus, mit dem die Familie an die Adria gefahren war, das Regal mit Putz- und Lackpflegemitteln, den Wasserhahn, den Plastikeimer mit Tuch, die mit vielen glitzernden Extras versehene schwere BMW, die fast wie aus dem Film Easy Rider wirkte, aber mehr noch wie ein gepanzertes zweirädriges Geländefahrzeug. Er öffnete das Garagen- und das Vorgartentor, nahm vom Haken über dem Motorrad den Sturzhelm, brachte den Jägerhut in einer Seitentasche des Motorrads unter, setzte sich den Sturzhelm auf und schob die Maschine aus der Garage. Obwohl sie vier Wochen unbenutzt gestanden hatte, sprang sie sofort an.

Langsam fuhr er in der Morgensonne durch die stille Straße an den Reihenhäusern, Villen und Vorgartensträuchern seiner Nachbarn entlang, horchte auf das ruhige tiefe Brummen des Motors. Außer einer alten Frau, deren Hund einen Baum beschnupperte, begegnete ihm niemand. Er fuhr zum Rhein hinunter. Auch auf der Uferstraße nur Leere und Sonntagmorgenstille. Im Sommerhafen dümpelten Motorboote und kleine Yachten vor Anker. Zweihundert Meter weiter, zum Holztor hin, lagen ein paar Motorschlepper an Pontons vertäut. Er durchquerte eine Grünanlage, rollte dicht am Fluß auf einen der Pontons zu, betrachtete die Kajütenfenster des Motorschleppers Sieglinde II.

Nichts rührte sich dort hinter den Gardinen.

Drüben, vor den Wiesen und Bäumen des Wiesbadener Ufers, zogen zwei kleine Boote eine Art Netz durchs Wasser. Er hatte seit seiner Kindheit keine Fischer mehr auf dem Rhein gesehn. Wahrscheinlich fischten sie auch nicht, sondern schleppten Meßinstrumente durch die Brühe.

Er beschleunigte die Maschine wieder, folgte dem Ufer bis zum Rathaus, bog zur Innenstadt ein, fuhr am Dom vorbei, über den Gutenbergplatz. In einer engen Straße zwischen Stadttheater und St. Emmeran hielt er vor einem Apartmenthaus. Es war kaum zu unterscheiden von den Fassaden der Sparkasse und der Geschäfte nebenan. Er stieg ab, behielt den Schutzhelm auf, näherte sich dem Portal. Er zog einen Sicherheitsschlüssel aus der Tasche, zögerte, steckte ihn nicht ins Schloß. Auf den Namensschildern suchte er «Schumann» und klingelte. Während er wartete, betrachtete er den Schlüssel, steckte ihn weg, als es in der Sprechanlage knackte.

«Enzo? Sei tu?» fragte eine Frau.

Er antwortete nicht, blickte auf die Membrane der Sprechanlage.

Die Frau gähnte. «Che mattiniero che sei», sagte sie.

Er rührte sich nicht.

«Enzo? Hallo, wer ist da?»

Er ging zurück zum Motorrad, startete leise, fuhr rasch davon, zum Hauptbahnhof.

Nach der Leere der Straßen schien ihm der Bahnhof voller Leben. Einige Ausländer, Griechen oder Jugoslawen, schleppten unförmige Koffer, andere hockten zwischen Bergen von Gepäck im Warteraum, eine Frau stillte ihr Baby. Kinder rannten umher. Als er den Bahnsteig betrat, stand auf dem Nachbargleis ein Nahverkehrszug zur Abfahrt bereit. Entfernt fuhr ein Schlafwagenzug ein. Er kümmerte sich nicht um die Leute, deren Lachen und Gerede er aus den offenen Fenstern des Nahverkehrszuges hörte, ging auf dem Bahnsteig weit aus der Halle hinaus bis dahin, wo er endete.

Mit einer Hand hielt er den Sturzhelm, mit der andern hob er das Fernglas. Jenseits der Geleise, auf einer Anhöhe zwischen Mauern, Schuppen und Bäumen, stand, übriggelassen von Krieg und Sanierung, ein großes altes Mietshaus. Es war über Eck in Form eines L gebaut und zeigte zum Bahnhof hin die Innenseite des L mit ineinandergeschachtelten Balkons. Das Haus wirkte verbraucht, aber nicht verkommen. Vor fast allen Fenstern hing Wäsche. Ein Balkongitter war mit leuchtend gelbem Stoff bespannt. Das Fenster hinter dem Balkon war geschlossen. Neben dem Fenster hing ein verrosteter Schiffsanker an der Wand. Löbert betrachtete ihn lange. Auf dem mit Gerümpel vollgestellten Nachbarbalkon goß eine Frau im geblümten Morgenkittel, Türkin oder Nordafrikanerin, ein paar magere Blumen.

Wenige Minuten später fuhr er durch das Industrieviertel am Rand der Stadt. Ein Lastwagen manövrierte vor einem Fabriktor. Gleich darauf überholte er zwei Radfahrer, die absteigen mußten, weil die Straße anstieg. In der Kurve, bevor der Wald begann, sah er unten die Stadt, das gegenüberliegende Ufer, die Brücken, die Mainmündung.

Nach einer Viertelstunde hatte er das Dorf erreicht. Die Straße war leer, auch hier. Nur ein Hund war unterwegs, bellte das Motorrad an, trollte sich. Löbert stellte den Motor ab, rollte die leicht abschüssige Straße am Gasthof Zum Adler vorbei, blickte kurz auf ein kleines Fenster oberhalb vom Eingang. Nach wenigen hundert Metern war er schon wieder am Dorfausgang. Er hielt vor einem niedrigen Schuppen zwischen Apfelbäumen und Gebüsch, schloß auf, schob das Motorrad hinein.

Drinnen war es eng und dunkel. Heu und welke Blätter bedeckten den Boden. Licht kam nur durch ein winziges zersprungenes Fenster. Löbert mußte gebückt stehen. Er hängte den Sturzhelm an einen hierfür angebrachten Haken, verschloß die Schuppentür mehrfach von innen. Dann holte er das Isolierband aus der Rocktasche und den Schlauch aus dem Rucksack, schob das Verbindungsstück auf eins der beiden Auspuffrohre der Maschine, tastete nach ein paar Fugen in der Schuppenwand. Erst als er unter den Blättern ein Stück Pappe hervorzog, groß genug, um das Fenster zu bedecken, sah er die Katze. Sie lag in einer Ecke auf Heuresten, mit noch blinden Jungen. Sie blickte ihn unentwegt an.

Löbert, Pappe und Isolierband in der Hand, blickte die Katze an.

Zugleich wurde draußen an der Schuppentür gerüttelt. Löbert rührte sich nicht.

Draußen rüttelte es noch mal.

Löbert sah weiterhin die Katze an. Und die Katze sah weiterhin ihn an.

Jetzt versuchte jemand draußen, sich zwischen Gesträuch und Schuppenwand zum Fenster zu drängen. Es gelang ihm nicht. Löbert sah durch die Ritzen der Schuppenwand ein Stück kariertes Hemd vorbeigleiten, ein Stück graue Hose. Dann horchte er auf die Schritte, die sich entfernten.

Er bückte sich und zog das Verbindungsstück mit dem Schlauch vom Auspuff, steckte den Schlauch in den Rucksack. Unverwandt sah ihn die Katze dabei an.

«Schon gut, Mieze», sagte er. «Ich geh ja.» Und lud das Gewehr durch.

 

Ein kleiner alter Mann in kariertem Hemd und grauer Hose ging am Weinberg entlang auf den Wald zu. Trotz des frühen Sonntagmorgens arbeiteten einige Winzer zwischen den Reben, wässerten, besprühten die Rebstöcke. Der alte Mann trug ein Gewehr. Gelegentlich wischte er sich den Schweiß von der Glatze. Es war schon ziemlich heiß, und er ging schnell. Er wollte Löbert einholen, der zweihundert Meter vor ihm gerade den Waldrand erreicht hatte. Als der alte Mann am Waldrand ankam, sah er zwischen Unterholz und Baumstämmen Löbert nur noch hundert Meter entfernt vor sich auf der kleinen Lichtung. Löbert kletterte zum Hochsitz hinauf. Der alte Mann sah, wie Löbert oben anlangte, und winkte.

Plötzlich fiel ein Schuß. Der alte Mann blieb mitten in der Bewegung stehn, als sei er getroffen. Er sah, wie Löbert zusammenknickte. «Ei, Herr Löbert», murmelte er. Und rannte dann so schnell er konnte zum Hochsitz.

Die Dachpappe, die den Jäger vor Regen schützen sollte, baumelte lose herunter. Der Oberkörper von Löbert hing seitlich über der zersplitterten Brüstung des Hochsitzes. Blut lief ihm über das Gesicht, seine Augen waren aufgerissen, er atmete schwer, umklammerte mit einer Hand ein Stück Dachpappe, die andere hielt er an die Brust gepreßt. So pendelte er blutend über dem alten Mann, der ihn entsetzt von unten anstarrte.

«Awwer, Herr Löbert», murmelte er wieder, hilflos und unschlüssig.

Löbert stöhnte. «Die bringen mich um, Adlerwirt», stieß er hervor, und die Hand fiel ihm von der Brust, baumelte neben dem Oberkörper.

2

Die Oberkommissarin Marianne Buchmüller fuhr aus dem Schlaf.

Verständnislos betrachtete sie das Zimmer, in dem sie aufgewacht war. Es wirkte sehr geräumig und ziemlich hell. Die leichten Vorhänge vor Fenster und Balkontür waren nur nachlässig vorgezogen worden. Es schien sparsam eingerichtet, aber der niedrige Tisch, die weichen Sessel, die Bücherregale mit Plattenspieler und Fernsehapparat waren mit Sorgfalt ausgesucht. In einer Ecke sah sie einen riesigen Strauß mit violetten und türkisfarbenen Strohblumen, in den Regalen – zwischen Aktenordnern – auch einzelne Stücke von altem Blechspielzeug, Vögel, einen Eisenbahnwaggon und eine schöne alte Kinderpuppe. Unangenehm war ihr, daß zwei Türen offenstanden. Eine führte zum Küchenraum, die andere zum kleinen Vorplatz, von dem sie durch eine weitere offene Tür ins Bad sehen konnte. Das ganze Zimmer war bedeckt von einem strapazierfähigen Auslegeteppich, über dem direkt vor ihr, neben der breiten Bettcouch, eine Berberbrücke lag. Über Brücke und Auslegeteppich verstreut sah sie Wäschestücke, einen Rock, eine Bluse, eine Kostümjacke.

Eine Sekunde später erkannte sie das Zimmer wieder, wußte sie, daß sie vom eigenen Telefon aus tiefstem Tiefschlaf geweckt worden war. Es stand außerhalb ihrer Reichweite auf dem Boden, neben einem umgekippten Schuh und einer Umhängetasche, und schrillte.

Langsam wühlte sie sich aus dem Bettzeug heraus. Sie hatte fast quer gelegen auf der Couch. Sie fühlte, daß ihr Nachthemd falsch zugeknöpft war.

Das Telefon schrillte.

Seufzend wischte sie mit dem Fuß einen Slip beiseite, drehte sich aus dem Bett, hockte sich neben das Telefon, nahm den Hörer ab, sagte mit belegter Stimme: «Ja?» Und nach einer Pause, mürrisch: «Ach du bist es. – Nein, ich hab nur was gegen Leute, die mich frühmorgens …»

Während sie sprach, nahm sie den Apparat vom Boden und kroch zurück ins Bett, stellte ihn auf einen frisch lackierten Melkschemel neben ihrem Kopfkissen.

«Nun hör mal zu. – Doch, war’s ja. Es war schön gestern abend mit dir in Frankfurt. Aber was glaubst du, warum ich wieder nach Hause – wieso?» Sie gähnte. «Unsinn, nicht jedesmal, wenn ich dich treffe, geh ich vorher mit einer Berliner Kommissarin in den Zirkus. Das war – ja, vor drei Wochen. Aber das hat nichts – vergiß das bitte. Mir ist nicht recht, daß du mitgekriegt hast, mit wem ich vor drei Wochen im Frankfurter Hauptbahnhof – wie gesagt, vergiß die Berliner Kommissarin. – Das geht dich nichts an. – Ja, siehst du, ich geh eben gern mit Kolleginnen in den Zirkus. – Nein, ich hab dir ausdrücklich – ich hab dich gebeten, ja, daß ich meine Ruhe, daß ich zu Hause in Ruhe gelassen – wieso Notfall? – Was? – Unsinn. Ich klau keine Pfeifen. Da wüßte ich Besseres. – Mann, Junge, ich hab keine Pfeife hier gesehn. – Und deshalb weckst du mich, du Blödmann. Ich hab erst drei Stunden geschlafen. – Wertvoll! Dann mußt du eben besser aufpassen, wenn sie so wertvoll ist. – Nein, keine Zeit heute. – Ja, ich hab frei. Aber erst geh ich Tennis spielen und dann – Tennis, ja. – Im Rot-Weiß, ja. Da bin ich Mitglied, stört’s dich? Und dann fahr ich zu meinem Vater nach Trier. – Lehrer. – Nein, aus Bremen. – Der Name Buchmüller – Schwarzwald, ja. Irgendwann sind die Buchmüllers dann nach Norden – Nein. Nichts zu machen. – Weiß ich nicht. Ich ruf dich an. – Nein, warte, bis ich dich anrufe. – Bestimmt, ja. – Gut. – Tschau, du.» Sie legte auf, murmelte: «Pfeife!» und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

Das Telefon schrillte.

Wütend richtete sie sich auf, riß den Hörer hoch.« Also wenn–» Sie unterbrach sich sofort, hörte ruhig zu.

«Hochsitz? – Aha. –Wer hat zuerst geschossen? Der Hirsch? – Ach so, das war ein Witz. – Nein, so früh kommt der bei mir noch nicht an.»

Sie stieg aus dem Bett, ging mit Telefonapparat und Hörer zurück zur Umhängetasche, kauerte sich hin, öffnete mit einer Hand die Umhängetasche.

«Also noch mal. – Warte. Ich schreibe auf.»

Sie fischte aus der Umhängetasche ein Notizbuch. Gleichzeitig rollte eine Dunhill-Pfeife heraus. Sie betrachtete die Pfeife.

«Ja. – Ja. – Warte.»

Sie schrieb in ihr Notizbuch.

«Was denn, ist er tot oder ist er nicht tot? – Ach so.»

Sie stand auf, nahm Pfeife und Telefonapparat in eine Hand, hielt mit der andern weiterhin den Hörer ans Ohr, ging um die Bettcouch herum zum Regal, wo die Puppe saß.

«In sechs Minuten.»

Sie lehnte die Pfeife an einen der ausgestreckten Arme der Puppe.

«Sag dem Schorsch Mewes Bescheid.»

Von der Puppe aus ging sie quer durchs Zimmer, bemüht, nicht über die ungewöhnlich lange, in vielen Windungen auf dem Boden liegende Telefonschnur zu stolpern. In der Küche stellte sie den Apparat auf einen kleinen Tisch, schaltete mit der freien Hand den elektrischen Herd an, setzte Wasser auf, öffnete den Eisschrank, holte Butter, Marmelade, Milch heraus, ordnete alles auf dem kleinen Tisch zurecht, holte Brot aus dem Brotkorb, Teller und Tasse aus dem Schrank.

«Dem wird das keine Freude machen.»

Sie nahm den Apparat, verließ die Küche, wanderte durchs Zimmer in den Vorplatz und vom Vorplatz ins Bad.

«Nein, dem Herbert Lamm, dem wird es keine Freude machen.»

Im Bad stellte sie den Apparat aufs Fensterbrett neben die Waage und sich selbst auf die Waage. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Es war blaß. Sie hatte nichts anderes erwartet, aber es mißfiel ihr. Die schmalen, etwa einen Zentimeter langen Narben am Kinn und unter dem linken Auge, sonst nur Striche oder Schatten, waren deutlicher zu sehn. Ihre kühlen grauen Augen fand sie heute morgen weder kühl noch grau, und von der Windstoßfrisur der braunroten Haare über der Stirn war wenig geblieben.

«Jetzt erklär mal, wie wir da hinkommen.»

Sie sah auf die Zahl, die ihr Gewicht anzeigte, legte den Hörer neben den Apparat aufs Fensterbrett. Das Gewicht veränderte sich nicht. Seufzend nahm sie den Hörer wieder in die Hand.

«Ja, ich schreibe mit.»

Sie schloß den Abfluß der Badewanne, drehte den Wasserhahn auf. Sprudelnd schoß das Wasser in die Wanne.

«Richtung Ingelheim, ja. – Was? – Der Verfassungsschutz.» Sie nahm den Apparat vom Fensterbrett, verließ das Bad.

«Ja. Was da rauscht.»

Sie ging zurück in die Küche.

«Selbstverständlich auch uns. Gerade uns. – Wieso ist das ein Witz?»

Sie stellte den Apparat auf den kleinen Tisch.

«Vom Dorf den kleinen Feldweg rauf, okay, Jagen vier, ja.»

Sie räumte Butter und Marmelade wieder in den Eisschrank, holte Magerquark heraus, legte das Brot zurück in den Brotkorb, holte Knäckebrot aus dem Küchenschrank.

«Übrigens, ich hab heute frei, ist euch klar, nicht? – Grippe, ja. Krieg ich nächstens auch mal bei so schönem Wetter. – Nehmt den VW mit den geländegängigen Reifen. – Bis gleich.» Sie schaute auf die Armbanduhr, ließ das Telefon in der Küche und lief zurück ins Bad.

 

Eine halbe Stunde später stieg sie aus dem VW mit den geländegängigen Reifen. Rings um den Hochsitz war das Gras niedergetrampelt. Zwei weitere Polizeifahrzeuge hielten auf dem Feldweg. Ein Landpolizist drängte mit freundlichem Nachdruck Neugierige beiseite, die Winzer vom nahen Weinberg, die ihre Arbeit liegengelassen hatten. Unter dem Hochsitz schlich gebückt ein Beamter von der Spurensicherung durchs Gestrüpp, in Zivil, hantierte mit Pinseln, Pülverchen und kleinen Klarsichtbeuteln. Ein weiterer Beamter befestigte an einem Plastiksack, der ein klobiges Aststück enthielt, sowie an zwei Gewehren kleine Zettel, verlud die ebenfalls in Klarsichtfolien gehüllten Gewehre samt Aststück in eines der Polizeifahrzeuge.

Marianne sah dem Fotografen zu, der aus verschiedenen Positionen und Entfernungen Bilder machte. Ein paar Meter weiter redete ein alter Mann in kariertem Hemd auf den Kriminalobermeister Mewes ein, der graskauend an einem Buchenstamm lehnte. Mewes war ziemlich dick, aber er schwitzte nie. Marianne schwitzte schon, obwohl sie weite Hosen trug und eine leichte Windjacke. Sie ging hinüber zur Buche.

«Naa», sagte der alte Mann, «erst wie’s geknallt hat, bin ich hin. Da hat er noch gestöhnt und hat gesagt: jemand will ihn umbringe. Un dann hat er die Aache als so verdreht un is zusammengesackt, ich hab gemaant, er is dot. Da bin ich zurück zu denen da», der alte Mann zeigte auf die Winzer, «un hab gekrische, daß sie die Polizei sollen holen. Un dann bin ich widder hie un hab gesehn, er is net dot, bloß bewußtlos.»

Mewes nahm den Grashalm aus dem Mund, nickte Marianne zu.

«Wie geht’s ihm?» fragte sie.