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Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «The Way Around. Finding My Mother and Myself Among the Yanomami» bei Dey Street Books, ein Imprint von HarperCollins Publishers, LLC, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Way Around» Copyright © 2015 by David Good

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Ana González y Fandiño

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Autors

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung privat

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-63096-5 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-55231-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-55231-9

Für meine Tochter Naomi –

Mögest du mit je einem Fuß in beiden Welten aufwachsen, und mit einem Herzen, das groß genug für deine ganze Familie ist.

«… in der Naturwissenschaft geht es darum, Analogien und Ähnlichkeiten auch in den am weitesten voneinander entfernten Teilen zu finden.»

 

RALPH WALDO EMERSON

(Drei Ansprachen. Über Bildung, Religion und Henry David Thoreau)

9. September 2011, 5:43 Uhr Oberer Orinoco, Yanomami-Gebiet

Wir kämpften uns durch dichten Dschungel, vorbei an unserem ehemaligen Dorf. Das verlassene Shabono stand zwar noch, doch das Gras und Buschwerk, das seit über einem Jahr nicht ausgelichtet worden war, hatten es inzwischen verschluckt. Damit war natürlich zu rechnen gewesen. Denn in diesem Teil des Dschungels, tief im Herzen des Territoriums, kann die Regenwaldflora eine Lichtung in null Komma nichts vollkommen überwuchern.

Lässt du die Machete auch nur eine kurze Weile ruhen, sieht es anschließend aus, als wärst du niemals da gewesen.

Im Vorbeigehen entdeckte ich hier und da Überbleibsel des Dorflebens: Steine, die jemand zusammengetragen hatte, Wäscheleinen, verwaiste Kochstellen, zerbrochenes Geschirr, einzelne Kleidungsstücke im westlichen Stil. Einst hatte hier rege Betriebsamkeit geherrscht, das Dorf war der Lebensmittelpunkt eines Volkes gewesen – meines Volkes –, doch nun war nichts geblieben als diese Geisterstadt.

Irokai. Hier habe ich gelebt und gespielt, das hat meine Mutter mir erzählt. Nun, nicht ganz genau hier, nicht in exakt diesem Shabano, aber jedenfalls hier in dieser Gegend. Damals habe ich oft in der Hängematte meiner Mutter gelegen und gelacht und gelacht. (Na schön, vielleicht war es nicht genau dieselbe Hängematte, die sie jetzt benutzt, aber zumindest eine ganz ähnliche.) Ich schloss die Augen und malte mir aus, wie das Gebiet meiner Familie wohl vor vielen Jahren ausgesehen haben mochte, doch ich konnte beim besten Willen kein Bild heraufbeschwören. Zwar hatte ich Fotos gesehen, dennoch wollte es mir nicht gelingen, mir eine Vorstellung davon zu machen. Immer wieder blickte ich mich um, fand aber keine Anhaltspunkte, die mich mehr als zwanzig Jahre zurückversetzt hätten – etwas, irgendetwas, woran ich hätte erkennen können, dass ich schon einmal einen Fuß auf diesen Boden gesetzt hatte.

Irokai-teri. Das Volk der Irokai. Das Volk, in das ich hineingeboren worden war. Viele Yanomami, die nun überall im Dschungel verstreut lebten, hatten in diesem meinem Heimatdorf und in der näheren Umgebung gewohnt. Es war ihr Zuhause gewesen. Das Dorf meiner Mutter, meiner Cousins und Cousinen, meines Stammes …

Die Yanomami sind ein halbnomadisches Volk. Wird ein Dorf verlegt, müssen sie daher häufig zurückkehren, um die Pflanzungen abzuernten, die sie zurückgelassen haben, während die neuangelegten noch gedeihen.

Wir waren bei Tagesanbruch in dem Dorf am Fluss aufgebrochen, um zu sehen, was es wohl zu sehen gab. Wie sollte ich meiner Mutter verständlich machen, dass ich unser ehemaliges Dorf besuchen wollte? Alles, was ich konnte, war «Irokai-tekeprahawe» («Irokai, weit weg») sagen und dazu mit den Fingern eine Bewegung wie beim Gehen machen.

Irgendwie verstand meine Mutter das.

Man ließ mich zwar in dem Glauben, der Ausflug sei meine Idee, aber es war ohnehin an der Zeit, dass sich eine Gruppe zu der Anbaufläche aufmachte. Irokai-teke. Der Garten von Irokai, wo es Arbeit zu verrichten gab. Sie wären sowieso gegangen, ob nun mit mir oder ohne mich. Wir blieben mehrere Tage fort. Unsere Gruppe, die aus ungefähr fünfzehn Personen bestand, teilte sich unterwegs in Kleingruppen auf – wobei die Männer meist vorneweg gingen.

Die Entfernung war beträchtlich, aber wie lange wir brauchten, kann ich nicht sagen. In diesem Teil der Welt gab es die Yanomami-Zeit sowie die Zeitrechnung von allen anderen. Außenstehende, darunter sogar einige der mit der Region durchaus vertraute Missionare, konnten unter Umständen einen ganzen Tag für eine solche Strecke benötigen. Aber unsere Gruppe – oh Mann, sie pflügte durch den Regenwald, als sei das gar nichts, während sie einfach einen neuen Pfad dort hineinschnitt, wo der alte vermutlich gewesen war. Sie bewegten sich fort, als würden sie in einer Stadt auf dem Gehweg marschieren. Barfuß natürlich. Ich selbst trug Turnschuhe, die mich, sobald sie nass und von Schlamm durchtränkt waren, eher behinderten, doch meine Fußsohlen waren schlicht nicht abgehärtet genug, um den Ungewissheiten des Regenwaldbodens standzuhalten.

Ich ging als Letzter in unserer Gruppe, hinter meiner Mutter und ein paar Frauen, die offenbar Mitleid mit mir hatten und ihr Tempo drosselten, damit ich nicht den Anschluss verlor. Ob meine bloßen Füße dem Regenwaldboden je gewachsen sein würden? Wohl kaum, so meine Befürchtung. Und es war längst nicht nur die harte Erde, die meinen Füßen zu schaffen machte. Nein, hinzu kamen Wurzeln und herabgefallene Äste, Felsen und unheimliches Krabbelgetier – all die Widrigkeiten, die man im Dschungel so erwarten kann. Nicht zu reden von Dornen, schlammigen Abhängen, aus dem Boden ragenden Stöcken, die sich in die Fußsohlen bohren konnten, blutsaugenden Parasiten, Schlangen und Spinnen sowie bestimmt hundert verschiedenen Gefahren, hundert verschiedenen Arten zu stolpern, mich zu schneiden oder sonst wie zu verletzen, während ich mich redlich bemühte, Schritt zu halten. Ich hätte ein zweites Paar Augen gebraucht, um immer im Blick zu haben, wo ich hintrat, während das erste Augenpaar nach oben und vorne gerichtet blieb.

Die direkt hinter dem einstigen Wohngebiet gelegene Pflanzung brachte nach wie vor Früchte hervor, sodass die Irokai-teri das verlassene Stück Land noch immer von Zeit zu Zeit besuchten. Das erklärte auch, warum es zumindest die Andeutung eines Pfades hierher gab. Wir waren schon mal hier gewesen – wir, will heißen: mein Volk. Wir, als würde ich dazugehören. Es erklärte außerdem, wie es überhaupt zu diesem Ausflug gekommen war. Schließlich hätte es überhaupt keinen Sinn ergeben, nur im Rahmen einer Besichtigungstour hierherzukommen, bloß damit ich den Ort besuchen konnte, an dem ich einst gelebt hatte. Es war hingegen durchaus sinnvoll, die Wanderung auf sich zu nehmen, um sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. So viel wir schleppen konnten, würden wir in unser Dorf bringen. Die Frauen hatten zu diesem Zweck mehrere leere Körbe dabei – sozusagen das Dschungel-Äquivalent zum umweltfreundlichen Jutebeutel, mit dem man in den Supermarkt geht.

Ich fand es beachtlich, dass der so lange vernachlässigte Garten immer noch gedieh und Früchte hervorbrachte. Es erschien mir wie ein Ausdruck für die Kraft und die Widerstandskraft meines Volkes, das ebenfalls in diesem Dschungel auf sich allein gestellt war, ohne dass jemand sich darum kümmerte. Auf dieselbe bescheidene Weise lebte und atmete dieser Ort nach wie vor und stellte weiterhin eine Ernte bereit.

Die Kleingruppe, in der ich unterwegs war, bestand aus mir, meiner Mutter, meinen zwei «Ehefrauen» und einer weiteren Frau aus dem Dorf, die ihr Kleinkind auf die abenteuerliche Reise mitgenommen hatte. Selbst die Frau mit dem Kind war schneller als ich. Die Männer waren uns weit, weit voraus, doch sie trugen auch viel leichteres Gepäck – nämlich nur Pfeil und Bogen. Sie sollten schnell und flexibel reagieren können und sofort die Waffen zücken, sobald ein Tier auftauchte, das ein passables Abendessen abgeben würde, oder für den Fall, dass ein Angriff durch feindlich gesinnte Räuber drohte. Die Frauen hingegen waren schwer beladen mit Körben und Kleidung und Feuerholz … und mit mir.

Es war heiß – nicht brütend heiß, wie manchmal um die Mittagszeit, aber immer noch heiß genug. Ich war hundemüde. Zwar war ich erst vierundzwanzig und relativ fit, aber meine Mutter und diese anderen Frauen hängten mich gnadenlos ab. Ich schleppte mich hinter ihnen her wie eine lahme Ente, zunehmend ausgelaugt, kraftlos, völlig erschöpft. Irgendwann merkte eine meiner Ehefrauen, dass ich nicht mehr mitkam, und blieb stehen, um auf mich zu warten. Sie deutete auf meinen Rucksack, als wollte sie ihn mir abnehmen. Ich reagierte mit einem Wutausbruch. «Yanomami keya!» («Ich bin ein Yanomami!»), polterte ich. Als müsste ich irgendetwas beweisen – mir selbst, den Leuten aus meinem Dorf … meiner Mutter.

«Yanomami keya!»

Auch die anderen merkten nun, dass ich zu kämpfen hatte, und so wurde beschlossen, dass unsere kleine Gruppe an einem schmalen Flüsschen eine Pause einlegen sollte. Während wir unser Marschgepäck absetzten, erinnerte meine Mutter mich in gebrochenem Englisch und mit Hilfe der typischen, universellen Handbewegungen, die schnell zu unserem wichtigsten Verständigungsmittel geworden waren, daran, dass ich mich nicht zum ersten Mal an diesem Ort befand. Sie deutete zuerst auf mich. Dann deutete sie auf den Wasserlauf. Schließlich lächelte sie und deutete erneut auf mich und wieder auf das Wasser. Da begriff ich, dass ich darin geplanscht hatte, während die Dorfältesten fischten und die Frauen unsere Kleider wuschen und den Abwasch machten. Nun wurde mir auch bewusst, dass ich bereits Bilder von diesem Ort gesehen hatte. Auch Amateurfilme, aufgenommen von meinem Vater, als ich erst ein knappes Jahr alt war. Doch mein Gedächtnis ließ mich im Stich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, genau so und genau hier schon einmal gestanden zu haben.

Mit geschlossenen Augen hielt ich inne und versuchte die Szene wieder heraufzubeschwören, die sich vor so langer Zeit abgespielt hatte, doch es gelang mir einfach nicht. Ich konnte mir nur die Bilder vergegenwärtigen, die ich bereits vorher gekannt hatte. Nichts in meinem Blickfeld versetzte mich zurück und ließ mich daran erinnern, wie oder wo ich als Kind gewesen war. Alles, was ich sehen konnte, waren das unablässige Gestikulieren meiner Mutter und die entsprechenden Bilder, die mir ins Gedächtnis kamen – Bilder, die mein Vater, der US-amerikanische Ethnologe, aufgenommen hatte, während er hier seinem Forschungsauftrag nachgegangen war.

Und doch konnte ich sagen, dass ich gern hier gewesen war, damals. Als ich meinen Rucksack abstellte, um neben dem schlammigen Flussbett eine Pause zu machen, überkam mich ein überwältigendes Gefühl von Zufriedenheit. Mehr war es nicht, einfach nur Wohlbehagen – aber in diesem Augenblick zählte allein das. Zu wissen, dass ich als kleiner Junge diese Luft geatmet und in diesem Wasser geplanscht hatte … zu wissen, dass ich um die halbe Welt gereist war und noch ein bisschen weiter … zu wissen, dass ich nun an dem Ort angelangt war, an dem mein Leben begonnen hatte, nach über zwanzig Jahren vereint mit meiner Yanomami-Mutter und wieder eingegliedert in das weitverzweigte Geflecht ihrer Familie (meiner Familie!). Es genügte, einfach nur am Wasser zu liegen und den lebhaften Geräuschen des Dschungels zu lauschen.

Ich rief mir ins Gedächtnis, was ich über den ersten Besuch meines Vaters in diesem Teil der Welt wusste. Er war 1975 als Doktorand mit einem Stipendium der Pennsylvania State University in Höhe von 250000 US-Dollar hergekommen, um den Eiweißkonsum der Hasupuwe-teri zu untersuchen – ausgerüstet mit Überseekoffern, Medikamenten, Lebensmitteln, Handelsgütern und genügend Ausrüstung, um einen Outdoorladen zu eröffnen. Ich hingegen hatte nicht viel mehr bei mir als einen Rucksack und ein paar tausend US-Dollar, die ich mit Aushilfsjobs verdient hatte. Ich hatte eine Machete, eine Hängematte, eine Tube Wundsalbe. Verständlicherweise war mein Vater um meine Sicherheit besorgt. Ich sei verrückt, mich so dürftig ausgerüstet so weit in den Dschungel zu wagen. Ich hätte ja keine Ahnung, erklärte er mir.

Natürlich hatte er damit recht, aber ich konnte es mir schlicht nicht leisten, auf ihn zu hören – das heißt, ich hatte nicht das Geld, um eine großangelegte Expedition auf die Beine zu stellen. Und es heißt auch, ich konnte einfach nicht gegen meine Intuition handeln. Mein Bauch sagte mir, dass es meine Bestimmung sei, diese Reise zu unternehmen – und mein Herz ebenfalls. Ich habe alles, was ich brauche, dachte ich trotzig und machte mich auf den Weg in den Dschungel. Klar, ich hatte Angst, aber ich akzeptierte diese Angst. Ich nahm sie locker. Klar, ich war der Sache nicht gewachsen, aber ich hatte schon früh beschlossen, allen Hindernissen und Unwägbarkeiten zu begegnen, indem ich die Angst einfach verdrängte und die Klippen irgendwie umschiffte: Augen zu und durch. Meine ganze ungeteilte Aufmerksamkeit sollte der Mission gelten, meine Mutter zu finden und meine indigenen Wurzeln wiederzuentdecken. Und nun war ich hier, inmitten des dichtesten Regenwalds, und tat genau das.

Einen Moment lang schloss ich die Augen, und dabei muss ich wohl eingedöst sein. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, ich bin kurz weggedämmert, während ich den Stimmen meiner beiden Ehefrauen lauschte, die in einer Sprache plauderten, die ich kaum verstand. Den mahnenden Worten der jungen Yanomami-Mutter, die ihr zappelndes Kind zur Ordnung rief. Dem vertrauten Klang meiner eigenen Mutter, die mich von der anderen Bachseite aus rief, mit ihrer süßen, melodischen Stimme, von der ich geglaubt hatte, dass ich sie womöglich nie wieder hören würde.

Ich fühlte mich wie zu Hause.

Kapitel eins Wie ich hierhergekommen bin

Meine Geschichte beginnt im Süden Venezuelas, aber sie beginnt nicht mit mir. Es war zunächst die Geschichte meines Vaters – und dann natürlich auch die meiner Mutter –, und lange Zeit war es eine Geschichte, die ich nicht hören wollte.

Später, als ich alt genug war, um mir alles zusammenzureimen, und mein Vater einige Unklarheiten beseitigte, war es eine Geschichte, über die ich nicht sprechen wollte – aber darauf komme ich später noch einmal zurück.

Jetzt, wo ich meine Geschichte zu Papier bringe, fühle ich mich in gewisser Weise an die Art und Weise erinnert, in der wir etwas über die Herkunft der Comic-Helden erfahren, die schon fast Kultstatus haben. Dabei muss ich festhalten: Ich war als Kind kein großer Comicleser, aber ich bin in einer Zeit groß geworden, in der legendäre Superhelden und Actionfiguren angesagt waren – man konnte ihnen gar nicht aus dem Weg gehen. Superman, der unglaubliche Hulk, Spider-Man … in allen Filmen tauchten sie auf, und in jedem dieser Filme gab es eine Szene oder einen Handlungsstrang, aus dem hervorging, wie der Held zu dem geworden war, was er war – woher seine übermenschlichen Kräfte stammten, wo er herkam, was ihn motivierte, wo er verwundbar war. Allerdings ging es nie um die Herkunft allein. Abgesehen davon, dass diese Gestalten Superhelden waren und die Welt retteten, trugen sie alle schlimme emotionale Probleme mit sich herum, tief vergraben in ihrem Inneren und überlagert von einem vielschichtigen Chaos. Sie kämpften mit ihrer Identität, mit ihrer Selbstwahrnehmung, mit den Erinnerungen an Kindheitstraumata – wie etwa Bruce Wayne, der mit der sinnlosen Ermordung seiner Eltern fertig werden muss und schließlich zu Batman wird. Das alles wurde in einem hübschen kleinen Paket präsentiert, und ich dachte als Kind oft über solche Dinge nach. Wirklich oft. Ich dachte über Leute nach und über ihren Hintergrund. Wenn ich aus den Nachrichten erfuhr, dass jemand etwas Unglaubliches geleistet hatte, oder wenn ich in der Schule jemand Neues kennenlernte und überlegte, wie er so geworden war – da ging es mir genauso wie bei Filmen. Ich starrte auf die große Leinwand und stellte mir mich selbst in der Szene vor – nicht weil ich geglaubt hätte, mein Leben sei irgendwie heroisch, abenteuerlich oder auch nur ansatzweise interessant. Nein, das Gegenteil war der Fall. Beim Blick in den Spiegel sah ich einen ganz gewöhnlichen US-amerikanischen Jungen, der nichts Besonderes an sich hatte – ich sah einfach nur … mich. Ich spielte Baseball. Ich trug Zeitungen aus. Ich machte Quatsch und brachte mich in Schwierigkeiten, geriet mit meinem Vater aneinander, tyrannisierte meine kleine Schwester und meinen kleinen Bruder, ließ meine dreckigen Klamotten und Handtücher auf dem Boden liegen.

Legendär? Nicht die Bohne. Vielmehr wünschte ich mir, ein ganz gewöhnliches US-amerikanisches Kind zu sein, mich nahtlos einzufügen. Aber in meinem Hinterkopf lauerte die Gewissheit, dass die Welt, wenn sie mich ansah, etwas anderes erblickte … etwas Abweichendes. Die Leute in der Stadt kannten meine Geschichte. Meine Lehrer, die anderen Kinder an der Schule, unsere Nachbarn … sie kannten meine Geschichte. Journalisten, Wissenschaftler, Sozialwissenschaftler unterschiedlichster Couleur … immer wieder einmal nahm einer von ihnen mit uns Kontakt auf, denn auch sie wussten Bescheid über meine Geschichte. Damals, als ich mich am liebsten einfach nur versteckt hätte, ging das schlicht und ergreifend nicht. Jahrelang lief ich mit dem Gefühl herum, die Leute würden über mich und meine Familie tuscheln, nach dem Motto Kannstdudirdasvorstellen? oder SchaudirbloßmaldiesearmenKinderan, nur, um dann plötzlich zu verstummen, wenn ich den Raum betrat, obwohl sie gerade drauf und dran waren, meine Geschichte zum Besten zu geben. Meine Herkunftsgeschichte ähnelte, soweit ich das sah, derjenigen von irgendwelchen Comicfiguren – außer dass ich mich deshalb nicht besser oder anderen überlegen fühlte. Wenn überhaupt, fühlte ich mich unterlegen … weniger wert. Also blendete ich meine Geschichte aus, so gut es ging.

Doch ich konnte sie nicht für immer und ewig ausblenden, also, hier ist sie:

(Licht aus, Trommelwirbel, gespanntes Warten …)

Mein Vater, Kenneth Good, studierte Anthropologie und Ethnologie an der Pennsylvania State University. Sein damaliger Mentor Napoleon Chagnon war bekannt für seine Forschungsarbeit zu einer isoliert lebenden indigenen Bevölkerungsgruppe am Amazonas, die wahlweise Yanomamo oder Yanomami oder Yanomama genannt wurde – aus phonetischer Sicht sind alle drei Bezeichnungen unkorrekt, also entscheide ich mich einfach für eine Schreibweise und bleibe dabei – Yanomami. Chagnon war damals wie heute eine kontroverse Figur, galt aber Mitte der 1970er Jahre als Koryphäe für diese Region und die dort lebenden Menschen, und es gelang ihm wie keinem anderen Wissenschaftler seiner Zeit, die Aufmerksamkeit der Welt auf den Stamm der Yanomami zu lenken. Er war der erste US-amerikanische Ethnologe, der ein aussagekräftiges Licht auf jenen Teil des Regenwaldes warf. Seine ethnographische Bestandsaufnahme der Yanomami ist – zunächst unter dem Titel The Fierce People (Das wilde Volk) – zum Bestseller geworden. Chagnon zufolge enthüllte die ausführliche Beschäftigung mit dem Volk der Yanomami gewissermaßen die komplette, facettenreiche Geschichte der conditio humana. Er verknüpfte die Evolution dieser Bevölkerungsgruppe mit seinen Gedanken zur Evolutionstheorie und legte als Erster eine Art wissenschaftliche Anthropologie vor, anhand deren er sein jeweiliges Verständnis von Sozialverhalten und genetischer Verwandtschaft weiterentwickelte.

An dieser Stelle ist ein kleiner geschichtlicher Exkurs hilfreich: Ein anhaltender Kontakt der westlichen Welt zum Stamm der Yanomami besteht seit Anfang der 1950er Jahre, als protestantische Missionare die ersten Missionssiedlungen in der Gegend errichteten, bald gefolgt von einer Gruppe katholischer Missionare (Salesianer). Die protestantische Mission war unter dem Namen «New Tribes» bekannt und stellte die Basisstation für Chagnons Forschungsarbeit dar. Schon bald weckten seine Berichte großes Interesse an den Yanomami und zogen verschiedene Sozialwissenschaftler an, die sich begeistert auf die Gelegenheit stürzten, eine vom europäischen Kolonialismus relativ unberührte Kultur aus nächster Nähe zu studieren und die Interaktion von Mensch und Natur zu beobachten, wie sie sich wohl im Laufe etlicher Jahrhunderte eingespielt hatte.

Auf diesen Seiten ist schlicht kein Raum, die Feinheiten von Chagnons Theorien und all die Kontroversen zu diskutieren, die sich aus seiner Arbeit ergeben, also komme ich gleich zur Sache. Die wesentliche Erkenntnis für mich war: Chagnons Darstellung der Yanomami als einer Art «wildes» Volk stellte die vorherrschende Lehrmeinung zu diesem Eingeborenenstamm dar, der verteilt auf Hunderte Dörfer im Einzugsgebiet des Orinoco, entlang der Grenze zwischen Venezuela und Brasilien, lebte – eine isolierte, im Flachland angesiedelte Bevölkerungsgruppe, die zu langwierigen Kriegen neige.

Eine Zeitlang teilte mein Vater diese Sichtweise – bis er 1975 als Mitglied von Chagnons Forscherteam die Region besuchte. Was er dort vorfand, war … eine Offenbarung.

Bevor ich näher auf die Sichtweise meines Vaters eingehe, möchte ich erst einmal den Rahmen abstecken. 1975, als mein Vater erstmals in den Dschungel aufbrach, hatte der Südosten Venezuelas den Status eines Bundesgebiets (Territorio Federal Amazonas), heute hingegen ist es unter dem Namen Amazonas ein offizieller Bundesstaat. Das Yanomami-Territorium, das knapp 99000 Quadratkilometer umfasst, befindet sich in der Grenzregion von Venezuela und Brasilien und erstreckt sich über den westlichen Teil des sogenannten Guyana-Schilds. Dieses unentwickelte Gebiet, in dem die ungezähmte Wildnis der sich stetig ausbreitenden Kräfte der Globalisierung trotzt, beherbergt nach wie vor eine der intaktesten Regionen des Planeten mit einer enormen Artenvielfalt – ein herrlich weiträumiger Landstrich, quasi unberührt von der industrialisierten Welt. Tatsächlich hat das einzigartige Ökosystem des Regenwalds die Yanomami-Kultur über Jahrhunderte geprägt. Für die meisten Yanomami erwies sich der Urwald als eine Art grüne Glocke, die sämtliche Akkulturationsprozesse außen vor bleiben ließ; manche Gegenden waren so abgelegen und unzugänglich, dass Außenstehende nur schwer dorthin gelangten. Aufgrund dieser «chronischen Isolation» – ein Begriff, den ich von dem US-amerikanischen Anthropologen Jared Diamond übernommen habe – konnten sich weder Technologien noch fremde Denkweisen in den entlegenen Yanomami-Dörfern ausbreiten, sodass es Eroberern, Entdeckern und Wissenschaftlern, die seit Jahrhunderten dort unterwegs waren, nie wirklich gelang, das Territorium in Besitz zu nehmen.

Das Ergebnis war, dass viele Yanomami weiterhin so lebten, wie sie es von jeher gewohnt waren. Sie besaßen keine Schriftsprache. Sie zählten nur bis zwei – genau genommen gab es nur Worte für «eins», «zwei» und «viele». (Wie mein Vater mir in meiner Kindheit immer wieder einschärfte, bringen die höheren Zahlen einen ohnehin nur in Schwierigkeiten.) Sie kannten keinen Kalender. Ihre Gebräuche und Traditionen konnten nur auf ihre ureigene Weise gedeihen – das heißt, es gab nur sehr begrenzt Gelegenheit, unter Einfluss der Außenwelt zu lernen und heranzuwachsen. Die Yanomami taten Dinge und gingen miteinander auf eine Art und Weise um, wie sie es immer getan hatten – Jahr um Jahr, Generation um Generation, Jahrhundert um Jahrhundert.

Mitte des 20. Jahrhunderts, als Ethnologen und Missionare dauerhaften Kontakt mit den Yanomami in Venezuela aufbauten und ihre Bräuche zu untersuchen begannen, sah die Welt genauer hin. Was es bei den Yanomami zu lernen gab, so die weitverbreitete Meinung, würde Wissenschaftlern vereinfacht gesagt dabei helfen, eine Epoche in der Evolution des menschlichen Verhaltens zu verstehen. Abgesehen davon war es ganz einfach faszinierend, sich quasi auf eine Zeitreise zu begeben und in eine reale Version von Im Land der Saurier einzutauchen – wobei nicht immer besonders feinfühlig darüber gesprochen wurde. In den 1960ern und 1970ern war man schnell zur Hand mit Begriffen wie primitiv und Steinzeit und Indianer, um die Yanomami zu beschreiben, während wir heutzutage weit zutreffender von indigen und traditionell sprechen.

Doch ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und als Science, National Geographic und andere Publikationen Bilder aus diesen von der westlichen Zivilisation so gut wie unberührten Dschungeldörfern veröffentlichten, wurde die Kluft zwischen der entwickelten und der unentwickelten Welt tatsächlich ein wenig schmaler. Als Doktorand in Ethnologie an der Pennsylvania State University hatte mein Vater die Aufgabe, die Ernährung des Yanomami-Stammes zu erforschen und insbesondere festzustellen, ob ein Zusammenhang zwischen Eiweißmangel und der angeblichen Tendenz zum «Kriegführen» bestand. Napoleon Chagnon wollte beweisen, dass die Yanomami kämpften und plünderten, um ihre Reproduktionsfähigkeit zu erhöhen. Ein Argument lautete zum Beispiel, dass einer der Hauptgründe für tödliche Gewalt und Überfälle der Mangel an Frauen sei; demzufolge hätte ein Überfall einen Gegenangriff zur Folge – und das Ergebnis wäre ein chronischer, endemischer Kriegszustand zwischen den einzelnen Dörfern.

Die Gegenposition dazu vertrat Chagnons akademischer Erzfeind, Marvin Harris von der Columbia University. Harris lehnte Chagnons Erklärung für die kriegerischen Aktivitäten der Yanomami ab. Seiner Ansicht nach hatte die Tendenz zu kämpfen mehr mit grundlegenden Elementen der Selbstversorgung zu tun, zum Beispiel mit der seltenen Verfügbarkeit von Fleisch – eine eher ökologische Begründung also. Harris glaubte, bei den Kämpfen der Yanomami gehe es um Ressourcen, so wie bei fast allen Konflikten zwischen Gruppen von Menschen – sagen wir beispielsweise wie im Nahen Osten, wo wir Kriege um Erdöl führen. Soweit ich Harris verstehe, sind Menschen, und so auch «primitive» Menschen, tatsächlich geneigt, um Nahrung zu kämpfen, allerdings nur, um den ärgsten Hunger zu stillen oder den Zugang zu ständig verfügbaren Nahrungsquellen zu eröffnen – genauer gesagt, zu Wild und zu Gebieten, wo Tiere gejagt werden können.

Im Grunde spielte sich also mitten im Amazonasdschungel die klassische Debatte «Natur oder Kultur» ab, und mein Vater steckte mittendrin. Da Chagnon seine Doktorarbeit betreute, lag meinem Vater, auch wenn er das nicht laut sagte, daran, dessen Theorien zu bestätigen, doch im Grunde war er schon vor seiner Forschungsreise skeptisch. Konnte es wirklich sein, dass ein Volk «von Haus aus» regelrecht auf Aggression gepolt war?

Von Anfang an zweifelte mein Vater am Sinn der Unternehmung, aber seine Forschungsarbeit war seine Eintrittskarte in das Territorium und Voraussetzung für seinen Doktortitel, also ließ er sich darauf ein – und wenn man ihn heute fragt, dann erklärt er, er sei völlig unvoreingenommen an die Sache herangegangen. Er reiste mit Chagnon und zwei anderen Doktoranden in die Region, wo man sich auf verschiedene Dörfer aufteilte. Es stand genügend Geld zur Verfügung, und jede Gruppe führte reichlich Medikamente, Handelsgüter und Forschungsausrüstung mit sich. Alles, was mein Vater brauchte, um sich die Zeit im Dschungel angenehm zu gestalten, alles, was ihm für seine Arbeit dienlich sein konnte, alles, was er benötigte, um unter diesen exotischen, halbnomadischen Menschen Freunde zu finden und Bündnisse zu schließen … es war in Reichweite.

Es genügte, nicht aufzumucken, das Protokoll einzuhalten und die Daten zu sammeln, die er brauchte, um die These seines Doktorvaters zu bestätigen. Ein Kinderspiel, oder?

 

Wenn ich heute Bilder meines Vaters betrachte, wie er sorgfältig die Ernährungsgewohnheiten der Yanomami aufzeichnet, sehe ich einen Mann mit einer Mission. Er war bereit, sich von Chagnons Denkweise überzeugen zu lassen, doch es sollte anders kommen. So brachte mein Vater also Monate damit zu, pflichtbewusst alles zu notieren, was die Yanomami in Hasupuwe zu sich nahmen, einem kleinen Dorf, in dem kaum hundert Menschen sowie Hunderte von Fröschen lebten. Das war tatsächlich das Erste, was meinem Vater auffiel, als er dort ankam – das unaufhörliche Quaken der Frösche, von denen die Hasupuwe-teri auch ihren Namen haben. Hasupuwe ist das Yanomami-Wort für Frosch – sie waren also die Froschmenschen des Regenwalds.

Während seines Aufenthalts im Dorf wog mein Vater alles genau ab, was die Hasupuwe-teri aßen – nicht nur Fleisch und Fisch, sondern auch Beeren, Nüsse und Kochbananen. Die Dorfbewohner wussten zunächst nicht, was sie von meinem Vater mit seiner großen Waage und seinen gewissenhaften Aufzeichnungen halten sollten. Ihre unstillbare Neugier sorgte dafür, dass mein Vater keine Privatsphäre und keine ruhige Minute hatte. Als man sich irgendwann an die Anwesenheit eines Fremden gewöhnt hatte, ließ man ihn schließlich ziemlich ungestört seiner Arbeit nachgehen, doch irgendwann beschlich meinen Vater das Gefühl, dass er auf der Stelle trat. Chagnon hatte ihn sehr bald in diesem Teil des Dschungels allein gelassen, und als sein Mentor nicht mehr vor Ort war, merkte mein Vater rasch, dass seine Feldstudie wenig aussagekräftig sein würde, wenn er nicht ein besseres Verständnis der Yanomami-Kultur in einem breiteren Kontext entwickelte. Man kann nicht einfach bloß die Proteinaufnahme beziffern und versuchen, aus ein paar Zahlen Theorien über menschliches Verhalten abzuleiten, wurde ihm klar. Entsprechend wollte er die größeren Zusammenhänge erkennen und wandte seine Aufmerksamkeit daher den Dorfbewohnern selbst zu – nicht nur dem, was sie aßen. Er lernte ihre Sprache. Er analysierte ihren Alltag.

Zunächst wohnte er in einer Lehmhütte, die zu bauen die Dorfbewohner ihm geholfen hatten, doch sie lag etwas abseits vom Mittelpunkt des dörflichen Lebens. Also zog er, sobald sich die Möglichkeit ergab, mit seiner Hängematte etwas näher an das Shabono heran, den Rundbau, der das Zentrum des Dorflebens bildete. Es gab keine Wände, keine Türen, keine Privatsphäre – nur einen offenen Raum, wo die Dorfbewohner um einen nicht überdachten Innenhof herum aßen, schliefen, lachten und spielten. Mein Vater schlug sein Lager schließlich im Shabono auf, an seiner eigenen Feuerstelle – ein hübscher kleiner Beobachtungsposten inmitten des bunten Treibens.

Die Yanomami hatten meinen Vater nach seiner Ankunft zunächst einmal misstrauisch beäugt. Mit seiner Größe von gut 1,80 Meter überragte er die übrigen Männer im Dorf. (Der erwachsene Yanomami-Mann ist durchschnittlich nicht viel größer als 1,50 Meter.) Es waren bereits Missionare und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in der Gegend gewesen, sodass die Dorfältesten ein wenig Erfahrung im Umgang mit den Nabuh – Männern und Frauen aus der Außenwelt – gesammelt hatten. Doch im Laufe der Monate wandelte sich die Beziehung meines Vaters zu den Hasupuwe-teri. Man gewöhnte sich an die Gegenwart des Mannes, der zunächst als zurückhaltender Eindringling betrachtet worden war, und begann ihm zu vertrauen. Und irgendwann hob er seinerseits den Blick von seinen Notizen und der Waage, mit der er Nabelschweine abwog, und nahm ein Volk wahr, das durch gemeinsame Ziele, die Abstammung und den Sinn fürs Gemeinwohl zusammengeschweißt war. Er fand keine Hinweise auf ein Volk, das aus biologischen Gründen zu «chronischer Kriegführung» neigte. Stattdessen fand er eine größtenteils friedliche Zivilisation vor, die frei war von den Leiden und Stressfaktoren des modernen Lebens: Rechnungen, Steuern, dem Erklimmen der Karriereleiter … selbst die Zwänge des Familienlebens wirkten im Regenwald gelockert. Er kam zu dem Schluss, dass die pauschale Behauptung, der Stamm sei kriegerisch, eine grobe Fehleinschätzung darstellte.

Dessen ungeachtet wurde mein Vater in seiner Zeit im Dschungel sehr wohl Zeuge von Gewalt, sogar von tödlicher Gewalt. Dennoch konnte er die Unterstellung, die Yanomami seien von Natur aus ein wildes Volk, nicht akzeptieren. Die gewalttätigen Vorfälle traten meist vereinzelt auf, als Ausnahmen eines ansonsten anständigen, kollegialen und kooperativen Verhaltens.

Wenn mein Vater in meiner Kindheit von seinen Erfahrungen im Regenwald erzählte, verglich er die gelegentlichen Gewaltausbrüche unter den Yanomami mit Überfällen in Manhattan. Es sei schlicht unfair und falsch, einfach alle New Yorker in Bausch und Bogen als gewalttätig einzustufen – und genauso unfair und falsch sei eine solche Verallgemeinerung mit Blick auf die Yanomami.

Was mir an den Beschreibungen der einzelnen Gewalttaten, die mein Vater und andere Ethnologen beobachteten, unter anderem auffällt, ist der Umstand, dass dabei nahegelegt wird, sie seien quasi an der Tagesordnung und absolut normal gewesen – obwohl es auch in den Vereinigten Staaten tagtäglich und in jeder Gemeinde zu vereinzelten Gewalttaten kommt. Der einzige Unterschied ist, dass die Yanomami in einer komplett offenen Gesellschaft leben. Ihre gemeinschaftlichen Wohnstrukturen, ihr Alltag, ihr Umgang miteinander verschleiern nichts. Alles ist im wahrsten Sinne des Wortes offensichtlich, sodass die gelegentlich auftretenden Gewaltausbrüche auf Außenstehende wohl erschütternd gewirkt haben müssen.

Und ebenso, wie diese Vorfälle meinen Vater vielleicht erschüttert haben, nehme ich an, dass auch mein Vater selbst im Dorf zumindest zu Anfang wie ein Fremdkörper gewirkt hat. Als junger Mann neigte er ein wenig zu Arroganz; er sträubte sich gegen Autoritäten und stritt sogar wider besseren Wissens und ohne Rücksicht auf mögliche Nachteile mit seinen Professoren und Mentoren. Er war schon immer nur bedingt gesellschaftsfähig gewesen; bereits als Kind merkte ich, dass er sich bei bestimmten gesellschaftlichen Anlässen irgendwie seltsam verhielt. Doch hier bei den Yanomami war er des Smalltalks und der höflichen Konventionen enthoben, mit denen er sich zu Hause herumgeplagt hatte. Er war mehr er selbst, wie er selbst sagte. Er verliebte sich in das Volk, die Kultur, den Rhythmus und den Puls eines einfacheren, saubereren, umweltverträglicheren Lebensstils.

Als seine Feldstudie sich allmählich dem Abschluss näherte, wurde meinem Vater klar, dass er nicht fort wollte – also begann er nach Gründen zum Bleiben zu suchen.

Und er fand sie.

Als mein Vater in Hasupuwe eintraf, nannten ihn die Menschen dort Aka porebi – «Geisterzunge». (Eigentlich ein Ausdruck für Yanomami-Kinder, die noch nicht sprechen können.) Doch schon nach kurzer Zeit verständigte er sich mühelos und sprach fast fließend Yanomami. Mein Vater war äußerst sprachbegabt, was sich als ausgesprochen nützlich erwies. Die Dorfbewohner nahmen ihn auf – zunächst als den Neuen, irgendwann dann aber auch als einen der ihren. Er lernte, wie ein Yanomami zu handeln, sich wie ein Yanomami zu verteidigen, wie ein Yanomami zu scherzen, wie ein Yanomami zu necken.

Über diesen Wandel schrieb mein Vater in seinem Buch Into the Heart, das 1991 erschien und zum Bestseller wurde (in Deutschland erschienen 1993 und 1996 unter dem Titel Yarima bzw. 2002 unter dem Titel Im Urwald des Orinoco). Es ist nicht an mir, seine Geschichte zu erzählen – aber, wie schon gesagt, bereitet sie den Boden für meine Geburt, und darum möchte ich hier ein paar wichtige Stationen erwähnen. Eine für mich unvergessliche Szene aus seinem Buch schildert, wie sich zu Anfang seines Aufenthalts die Hasupuwe-teri täglich um ihn versammelten, wenn er seine Forschungsergebnisse protokollierte. Es war eine unkomplizierte Tätigkeit, die aber für die Dorfbewohner eine vollkommen andere Bedeutung hatte als für meinen Vater. Das Konzept des Schreibens war den Yanomami nämlich vollkommen fremd. In ihren Augen produzierte mein Vater einfach nur schnörkelige Linien, zeichnete auf Papier, also begannen sie es ihm nachzutun – sie skizzierten und kritzelten. «Obwohl sie noch nie einen Stift in der Hand gehalten hatten, nahmen sie sich meinen und zeichneten irgendwas – wohin sonst als mitten über meine Aufzeichnungen.»

Schon während der ersten Etappe seiner Regenwald-Odyssee gewöhnte sich mein Vater an das Leben bei den Yanomami. Aber auch als er schon recht gut in das Dorfleben integriert war, bewahrte er sich den Blick des Außenstehenden. Immerhin war er studierter Ethnologe und als solcher darauf konditioniert, sich zumindest ein klein wenig abseits zu halten. Seine Aufgabe war das Beobachten, doch um wirklich umfassend beobachten zu können, so sein Dafürhalten, musste er sich auch einlassen.

Eines Nachmittags dann prallten seine zwei Rollen als Beobachter und als Beteiligter ungebremst aufeinander – ein Moment, den er ebenfalls in seinem Buch beschreibt. Mein Vater wurde geweckt, als er gerade ein Schläfchen hielt, wie er es während seiner Zeit im Dschungel häufig tat, wahrscheinlich, weil er auch mit der aufgehenden Sonne aufstand. Und er war nicht der Einzige, der es so hielt; es war heiß im Regenwald – absurd, ungesund, drückend heiß –, und während der größten Mittagshitze versuchten viele Yanomami ihr zu entgehen, indem sie im Schatten lagen und vor sich hin dösten. An besagtem Nachmittag wurde mein Vater aber durch Geschrei geweckt – ein entsetzliches, qualvolles Schreien. Soweit er es ausmachen konnte, waren es die Schreie einer Frau, begleitet von lauten Geräuschen wie bei einem Kampf. Er stand aus seiner Hängematte im Shabono auf, um nachzusehen, was los war, und ging dabei an dem vertrauten Bild dörflichen Alltagslebens vorbei – Frauen und Kinder, die der Störung überhaupt keine Beachtung zu schenken schienen. Doch am anderen Ende des Shabono angekommen, bot sich meinem Vater eine beängstigende Szene. Es sah aus, als zerrten zwei Gruppen junger Männer brutal an den Armen und Beinen einer jungen Frau, als sei sie ein menschliches Knallbonbon. Die Frau kreischte vor Angst, und auf meinen Vater wirkte es, als habe sie auch Schmerzen. Doch nur wenige Meter von dem Platz, wo sich der Angriff auf die Frau abspielte, gingen andere Yanomami ohne jedes Aufheben ihren Verrichtungen nach: Zwei Frauen brieten Kochbananen, andere flochten einen Korb, eine weitere versorgte ein krankes Kind.

An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Yanomami Vergewaltigung oder Gewalt gegen Frauen in keiner Weise billigen. Wir müssen uns aber ebenso klarmachen, dass diese Dinge auch in unserer Kultur inakzeptabel sind und trotzdem vorkommen. Meinem Vater zufolge verließen einige Yanomami-Frauen sehr wohl ihren Platz an der Feuerstelle oder in der Hängematte, um dieser Frau zu helfen, sich von den Angreifern zu befreien. Einige andere taten es nicht. Was meinen Vater eigentlich am meisten erschreckte, war, dass sich diese Szene in aller Öffentlichkeit abspielte – und jetzt, so viele Jahre später, dürfen wir die Zusammenhänge nicht außer Acht lassen. Wie bereits erwähnt, geschieht in der Yanomami-Kultur alles ganz offen. Es gibt keine Wände, hinter denen man sich verstecken könnte. Stellen wir uns vor, wir würden in unserer westlichen Welt so leben, Szenen häuslicher Gewalt würden sich vor aller Augen abspielen. Ehemänner würden vor ihren Nachbarn ihre Frauen anbrüllen. Mütter würden ihre Kinder ohrfeigen, während sie das Abendessen zubereiten. Darum möchte ich jetzt, wo wir uns langsam meiner Geschichte nähern, sorgfältig darauf achten, die Yanomami nicht als widerliche, brutale Schlägerbande darzustellen. Ja, das war ein abscheulicher Akt. Und ja, viele in der Gemeinschaft schienen ihn mit einem Achselzucken abzutun. Aber, wie gesagt, man muss den Kontext mitberücksichtigen.

Als mein Vater sich der furchtbaren Szene näherte, merkte er zu seinem großen Schrecken, dass er diese Frau, die ganz offensichtlich Höllenqualen litt, kannte. Sie hatte ihm vor gar nicht langer Zeit, als er ein Nachbardorf besuchte, hilfreich zur Seite gestanden und war erst kürzlich nach Hasupuwe gekommen, weil sie Schutz vor ihrem Ehemann suchte. Und nun befand sie sich hier im Zentrum einer ganz speziellen Art von Gewalt, die mein Vater kaum begreifen konnte. Das war keine Gewalt um der Gewalt willen. Nein, das hier war etwas vollkommen anderes – ein brutales Stück Realität, das mein Vater mit seiner westlich geprägten Empfindsamkeit nicht einmal ansatzweise fassen konnte. Er näherte sich vorsichtig und bemerkte erstaunt, dass die Frau selbst eigentlich kaum Widerstand leistete. Sie war inzwischen wie willenlos, hatte sich widerstandslos ergeben und harrte dem, was das Schicksal für sie bereithielt. Wie sich herausstellte, zerrte auf der einen Seite eine Gruppe von drei oder vier jungen Männern, die huya, die mein Vater aus dem Dorf kannte, wie besessen an der Frau, während drei oder vier ältere Frauen, die er ebenfalls kannte, versuchten dagegenzuhalten.

Lange Zeit stand mein Vater nur starr vor Entsetzen da. Er hatte keine Ahnung, was er hätte tun können, was von ihm erwartet wurde. Er war kaum in der Lage zu verarbeiten, was er sah. Schließlich bemerkte er eine andere Frau, die mit ihrem Kind von einem der Gärten zurückkam. Er kannte sie gut genug, um sie herbeizuwinken und zu fragen, was da vor sich gehe.

«Ach, das», meinte die Frau verächtlich, als sei es nichts weiter. «Diese Jungs versuchen, sie in den Wald zu schaffen, um sie zu beschlafen. Und die Frauen versuchen, sie daran zu hindern.»

Sie sagte das in völlig sachlichem Ton, als handle es sich um ein ganz gewöhnliches Geschehen, das wie selbstverständlich zum Dschungelalltag gehörte, eine bedauerliche Demonstration dessen, was die Dorfbewohner vielleicht einfach nur als Unfug betrachteten, doch meinen Vater machte es trotzdem zornig. Er lebte inzwischen seit mehreren Monaten bei diesen Leuten und wusste, dass sie freundlich, mitfühlend und sogar großherzig waren. Ein solches Verhalten hatte er noch nie zu Gesicht bekommen, und nun spielte sich diese Szene nur einen Steinwurf vom Dorfzentrum entfernt ab. Eine schutzlose Frau – das heißt, eine alleinstehende Frau, die ihre erste Periode schon hinter sich hatte, oder eine «verheiratete» Frau, deren Ehemann für längere Zeit dem Dorf fernblieb – war angreifbar, in der gleichen Weise, wie eine Studentin angreifbar sein mag, die allein von einer Party nach Hause geht. Es war abscheulich, aber so war es eben im Dschungel.

(Nur, um das klarzustellen: Mein Vater hatte seine westliche Sichtweise hinsichtlich einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Fragen bei den Yanomami noch nicht ganz abgelegt, aber das war nur eine Frage der Zeit.)

Die Frau kämpfte also weiter. Mein Vater stand still und regungslos da, als ein weiterer Teenager sich ins Getümmel stürzte, um seinen Freunden zu helfen, und es ihnen schließlich gelang, die arme Frau den älteren Frauen zu entreißen, die versucht hatten, sie vor diesem Unheil zu bewahren. Die jungen Männer schleppten sie also tiefer in den Dschungel hinein.

Mein Vater folgte ihnen, zögerlich, unsicher, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte.

«Ich weiß, ich kann diese jungen Kerle verscheuchen», schrieb er später, als er diesen Moment noch einmal Revue passieren ließ. «Sie haben sowieso etwas Schiss vor mir, und wenn ich einen Stock aufhöbe und ein herzhaftes Drohgeschrei ausstieße, würden sie sich in alle Winde zerstreuen. Andererseits bin ich ein Anthropologe und kein Polizist. Ich sollte nicht Partei ergreifen, Werturteile fällen und ihr Verhalten maßregeln. So was kommt immer wieder vor. Wenn eine Frau ihr Dorf verlässt und woanders allein auftaucht, besteht die Möglichkeit, dass sie vergewaltigt wird. Sie weiß es, und die anderen wissen es auch. Es ist zu erwarten. – Was soll ich tun, ihnen meine eigenen Moralbegriffe aufzwingen? Ich bin nicht gekommen, um diese Leute zu verändern oder weil ich glaubte, ich könnte alles, was sie tun, gutheißen. Ich bin hier, um sie zu studieren.»

Was tat er also? Nichts. Nach einiger Zeit trat er schließlich den Rückzug zum Shabono an – angewidert von sich selbst, weil er nicht eingeschritten war. Was er gerade gesehen hatte, machte ihn krank, und es machte ihn ratlos, welche Gleichgültigkeit die anderen Yanomami der gleichen Situation gegenüber an den Tag zu legen schienen. Den letzten Anstoß bei seiner Entscheidungsfindung gab ein kleiner Junge, den mein Vater aus dem Dorf kannte und der zufällig vorbeikam, während mein Vater noch dabei war, seine nächsten Schritte zu erwägen. Der Blick des Jungen folgte dem meines Vaters zu der Bande Teenager, von denen einige seine Brüder und Cousins sein mochten und die über diese hilflose Frau herfielen und dabei laut stöhnten. Dann sah er meinen Vater an und sagte: «Geh nicht dorthin.»

«Warum nicht?», wollte mein Vater wissen.

Seine Antwort lautete: Weil sie ihre Scheide essen – eine Redewendung des Dschungels, die mit Sicherheit nicht wörtlich zu nehmen war, sondern vielmehr deutlich machte, dass diese wilden Teenager ihre weibliche Beute sexuell verschlangen, sie sich zu Willen machten.

Also schlich mein Vater zurück zum Shabono – wie erschlagen, ernüchtert, angeekelt von sich selbst, weil er seiner Freundin nicht zu Hilfe geeilt war, und gleichzeitig fragte er sich, ob das hier in dieser Welt überhaupt von ihm erwartet wurde. Lange Zeit nagte diese Frage an ihm. Es sollte Monate – sogar Jahre – dauern, bis er seine westliche Geisteshaltung ganz und gar abgelegt und gelernt hatte, mit dieser Art von Verhalten klarzukommen. Und es dauerte womöglich noch länger, bis es letztlich zu einer Aussöhnung kam zwischen dem Mann, der er in seiner Heimat gewesen war, und dem Mann, der er nun im Dschungel sein musste. Unterdessen machte er einen Malariaschub durch, der ihn beinahe das Leben kostete, und geriet anschließend ein weiteres Mal in Lebensgefahr, als ihn die Stromschnellen Raudales de Guajaribos aus einem Einbaum in die reißende Strömung katapultierten. Doch es gelang ihm, sich anzupassen und einzugewöhnen. Langsam wandelte er sich, und ebendiese kulturelle Wandlung, dieser allmähliche Transformationsprozess, bereitete die Grundlage dafür, dass meine Mutter in das Leben meines Vaters treten konnte. Und wenn ich nun zurückblicke auf die Zeit meines Vaters im Dschungel, wird mir klar: Hätte er diesen Sprung nicht gemacht, diesen Sinneswandel nicht durchlebt … hätte er nicht seine Rolle als Ethnologe abgelegt und sich voll und ganz auf seine Rolle als vollwertiges Mitglied der Hasupuwe-teri eingelassen, dann gäbe es für mich keine «Herkunfts»geschichte zu erzählen.

 

Manche Paare lernen sich auf eine herzallerliebste Art kennen. Manche Paare lernen sich auf eine naheliegende Weise kennen. Meine Eltern lernten sich auf eine bizarre Weise kennen – so zumindest sehen es viele westliche Menschen, bevor sie die ganze Geschichte erfahren. So empfand auch ich es als Kind, das in New Jersey aufwuchs und dessen Stammbaum ganz anders aussah als bei allen anderen Kindern in der Nachbarschaft. Selbst mein Vater erlebte es zunächst so – wahrscheinlich, weil er öfter einmal nach Hause gefahren war, um wieder Kontakt zu seiner alten Weltsicht aufzunehmen. Zum ersten Mal kehrte er im Juni 1977 in die USA zurück, nach gut zwei Jahren im Dschungel. Gleich nach seiner Ankunft suchte er die Pennsylvania State University auf, um seine Zusammenarbeit mit Napoleon Chagnon zu beenden, fest entschlossen, sein Studium bei Marvin Harris an der Columbia University fortzusetzen, wo er als Doktorand angenommen worden war.

Bevor er nach New York fuhr, um seine Arbeit an der Columbia University aufzunehmen, machte mein Vater allerdings einen kleinen Abstecher zum Max-Planck-Institut in München, das ihm die Möglichkeit eröffnete, seine Feldstudien bei den Yanomami fortzusetzen. Die Stelle beim Institut erlaubte es ihm, praktisch umgehend an den Amazonas zurückzukehren. Wäre er direkt zur Columbia University gefahren, hätte es womöglich noch ein Jahr oder länger gedauert, bis eine Folgeexpedition in die Wege geleitet gewesen wäre, und auch Marvin Harris war der Ansicht, so biete sich meinem Vater eine gute Gelegenheit, seine Kontakte in der Region auszubauen.

Zu diesem Zeitpunkt tauchte meine Mutter auf der Bildfläche auf, auch wenn das Gesamtbild vorerst noch ziemlich verschwommen blieb. Sie war damals noch ein Mädchen – elf oder zwölf Jahre alt vielleicht, genau lässt sich das nicht sagen, weil die Yanomami weder Geburtstage noch Kalender kennen.