Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Sula» 1974 als Borzoi Book im Verlag Alfred A. Knopf, Inc., New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019
Copyright ©1980, 1984, 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Sula» Copyright © 1974 by Toni Morrison
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ISBN Printausgabe 978-3-499-23815-4 (2. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00468-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00468-9
Es ist ein reiner Glücksfall, wenn uns jemand fehlt, lange bevor er uns verlässt.
Dieses Buch ist für Ford und Slade, die mir fehlen, obwohl sie mich nicht verlassen haben.
Nobody knew my rose of the world but me … I had too much glory.
They don’t want glory like that in nobody’s heart.
The Rose Tattoo
Wo sie die Nachtschattenstauden und das Brombeergestrüpp herausgerissen haben, um Platz zu schaffen für den Golfplatz von Medallion City, dort standen einst Häuser. Die Siedlung zog sich von den Hügeln oberhalb der Talstadt Medallion bis zum Fluss hinunter. Heute nennt man die Gegend den Stadtrand, aber als schwarze Menschen dort lebten, wurde sie der «Bottom» genannt. Nur eine einzige Straße, beschattet von Buchen, Eichen, Ahornbäumen und Kastanien, verband ihn mit dem Tal. Die Buchen sind inzwischen verschwunden und ebenso die Birnbäume, in denen Kinder saßen und hinunterschrien durch die Blüten, wenn Leute vorbeigingen. Großzügige Mittel sind bewilligt worden, um die ausgeschlachteten und heruntergekommenen Gebäude, die sich unordentlich an der Straße von Medallion hinauf zum Golfplatz drängen, dem Erdboden gleichzumachen. Sie wollen die Time and a Half Pool Hall abreißen, wo einst Füße in langen gelbbraunen Schuhen von Stuhlsprossen nach unten zeigten. Eine Dampfwalze wird Irenes Kosmetikpalast in Trümmer legen, wo Frauen ihre Köpfe in Waschbecken zurücklehnten und dösten, während Irene ihnen Nu Nile ins Haar rieb. Männer in Khaki-Arbeitszeug werden mit dem Brecheisen die Stäbe von Rebas Grill lösen, wo die Besitzerin immer mit dem Hut auf dem Kopf kochte, weil sie sich ohne Hut nicht an die Zutaten erinnern konnte.
Es wird nichts übrig bleiben vom Bottom (die Fußgängerbrücke über den Fluss ist schon weg), aber vielleicht ist das nicht weiter schlimm, weil es doch keine richtige Stadt war: nur eine Siedlung, aus der die Leute in den Talhäusern an ruhigen Tagen manchmal Singen, manchmal Banjos hörten, und wenn ein Mann aus dem Tal geschäftlich in den Hügeln dort oben zu tun hatte – Miete oder Versicherungsbeiträge kassieren –, sah er vielleicht eine dunkelhäutige Frau in einem geblümten Kleid ein paar Schritte Cakewalk tanzen, ein paar Schritte Blackbottom, ein bisschen «herumhampeln» zu den schwungvollen Klängen einer Mundharmonika. Und ihre nackten Füße wirbelten den safrangelben Staub auf, der herabschwebte auf den Overall und die an den Ballen aufgeplatzten Schuhe des Mannes, der die Musik in seine Mundharmonika hineinatmete und aus ihr heraussog. Die Schwarzen, die ihr zusahen, lachten und rieben sich die Knie, und es konnte leicht geschehen, dass der Mann aus dem Tal das Gelächter hörte und den erwachsenen Schmerz nicht bemerkte, der irgendwo unter den Augenlidern ruhte, irgendwo unter ihren Kopftüchern und unter den weichen Filzhüten, irgendwo in der Handfläche, irgendwo hinter den zerfransten Jackenaufschlägen, irgendwo in der Muskelwölbung. Er hätte einmal hinten in der großen Saint-Matthew-Kirche stehen und sich von der Stimme des Tenors in Seide hüllen lassen müssen oder die Hände der Löffelschnitzer berühren (die seit acht Jahren nicht mehr gearbeitet hatten) und sich von den Fingern, die auf Holz tanzten, die Haut küssen lassen. Sonst nähme er den Schmerz nicht wahr, obwohl doch das Gelächter Teil des Schmerzes war.
Ein glucksendes, knieschlagendes, nassäugiges Gelächter, das sogar beschreiben und erklären konnte, wie es kam, dass sie waren, wo sie waren.
Ein Witz. Ein Niggerwitz. So hatte es angefangen. Nicht mit der Stadt natürlich, sondern mit dem Teil der Stadt, wo die Neger lebten, dem Teil, den sie den Bottom nannten, obwohl er oben in den Hügeln war. Nur ein Niggerwitz. Von der Art, wie ihn weiße Leute erzählen, wenn die Fabrik zumacht und sie irgendwo nach ein wenig Trost suchen. Von der Art, wie ihn schwarze Leute über sich selbst erzählen, wenn kein Regen kommt oder wenn es wochenlang regnet und sie irgendwie nach ein wenig Trost suchen.
Ein guter weißer Farmer versprach seinem Sklaven die Freiheit und ein Stück Land im Tal, wenn er einige sehr schwierige Aufgaben verrichten würde. Als der Sklave die Arbeit vollbracht hatte, bat er den Farmer, zu seinem Teil der Abmachung zu stehen. Freiheit war einfach – dagegen hatte der Farmer nichts einzuwenden. Aber er wollte kein Land abgeben. Darum erklärte er dem Sklaven, es tue ihm sehr Leid, dass er ihm Talland geben müsse. Er habe gehofft, er könne ihm ein Stück vom Bottom geben. Der Sklave zwinkerte mit den Augen und sagte, er habe gedacht, Talland sei Bottomland. Der Master sagte: «O nein! Siehst du die Hügel dort? Das ist Bottomland, schwer und fruchtbar.»
«Aber es ist hoch oben in den Hügeln», sagte der Sklave.
«Von uns aus ist es hoch oben», sagte der Master. «Aber wenn Gott hinunterschaut, ist es unten, der Bottom. Darum nennen wir es so. Es ist der Bottom des Himmels – das beste Land, das es gibt.»
Der Sklave bestürmte seinen Herrn, doch zu versuchen, ein Stück für ihn aufzutreiben. Er ziehe es dem Tal vor. Und so geschah es. Der Nigger kriegte das Hügelland, wo das Bepflanzen zermürbend war, wo der Boden abrutschte und die Saat mitriss und wo der Wind den ganzen Winter über nicht wich.
Was erklärte, warum Weiße den schweren Talboden bewohnten in jener kleinen Flussstadt in Ohio und die Schwarzen die Hügel über dem Tal besiedelten, wobei es ihnen nur ein schwacher Trost war, dass sie Tag für Tag buchstäblich hinunterschauen konnten auf die weißen Leute.
Und doch war es wunderschön oben im Bottom. Als die Stadt wuchs und aus dem Ackerland ein Dorf wurde und aus dem Dorf eine Stadt und die Straßen von Medallion heiß und staubig waren vor Fortschritt, waren die ausladenden Bäume, die die Hütten oben im Bottom beschirmten, wunderschön anzusehen. Und die Jäger, die manchmal dort hinaufkamen, fragten sich im Stillen, ob nicht vielleicht der Farmer doch Recht gehabt habe. Vielleicht war es der Bottom des Himmels.
Die Schwarzen wären anderer Meinung gewesen, aber sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie waren viel zu sehr in Anspruch genommen von irdischen Dingen – und voneinander: Sie fragten sich schon 1920, was Shadrack eigentlich vorhabe, was das kleine Mädchen Sula, das in ihrer Stadt zu einer Frau heranwuchs, eigentlich vorhabe und was sie selbst in ihrem versteckten Bottom dort oben eigentlich vorhätten.
Mit Ausnahme des Zweiten Weltkriegs störte nichts je die Feier des Nationalen Selbstmordtages. Seit 1920 hatte er an jedem dritten Januar stattgefunden, wenn auch Shadrack, sein Gründer, für viele Jahre der einzige war, der ihn feierte. Von berstenden Geschossen gezeichnet und für alle Zeiten von Staunen erfüllt über die Ereignisse des Jahres 1917, war er nach Medallion zurückgekehrt, gut aussehend, aber gezeichnet, und sogar die zurückhaltendsten Leute in der Stadt ertappten sich manchmal beim Nachsinnen darüber, wie er vor ein paar Jahren gewesen sein mochte, bevor er in den Krieg zog. Als junger Mann von kaum zwanzig, mit nichts im Kopf und den Geschmack von Lippenstift noch im Mund, sah er sich eines Tages im Dezember 1917 plötzlich mit seinen Kameraden über ein Feld in Frankreich laufen. Es war seine erste Begegnung mit dem Feind, und er wusste nicht, ob seine Kompanie auf den Gegner zu- oder von ihm fortlief. Sie waren mehrere Tage marschiert, immer nahe einem Fluss entlang, der an den Rändern gefroren war. An einer Stelle überquerten sie den Fluss, und er hatte den Fuß kaum auf die andere Seite gesetzt, als der Tag aus den Fugen geriet vor Geschrei und Explosionen. Granatfeuer überall um ihn herum, und obwohl er wusste, dass dies das war, was man es nannte, konnte er nicht die richtige Empfindung aufbringen, die Empfindung, die Raum für es hatte. Er erwartete, entsetzt zu sein oder angeregt – irgendetwas sehr stark zu empfinden. Tatsächlich empfand er nur den stechenden Schmerz von einem Nagel in seinem Stiefel; der Nagel bohrte sich ihm in den Ballen, wann immer er auftrat. Der Tag war so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte, und einen Augenblick lang wunderte er sich über die Reinheit und Weiße seines Atems inmitten der schmutzigen, grauen Explosionen. Er rannte mit aufgepflanztem Bajonett tief in dem großen Trupp von Männern, die über das Feld stürmten. Der Schmerz in seinem Fuß ließ ihn zusammenzucken; er wandte den Kopf ein wenig nach rechts und sah das Gesicht eines Soldaten in seiner Nähe in die Luft fliegen. Bevor er Zeit hatte, entsetzt zu sein, verschwand der Rest vom Kopf des Soldaten unter dem einer umgedrehten Suppenterrine ähnlichen Helm. Aber eigensinnig und ohne Anweisungen vom Gehirn entgegenzunehmen, lief der Körper des kopflosen Soldaten weiter, mit Kraft und Anmut und ohne sich im Geringsten um die Gehirnmasse zu kümmern, die ihm den Rücken hinuntertropfte und -rutschte.
Als Shadrack die Augen öffnete, lag er aufgestützt in einem schmalen Bett. Vor ihm, auf einem Tablett, befand sich ein großer, in drei Dreiecke unterteilter Blechteller. In einem Dreieck war Reis, in einem anderen Fleisch, und im dritten waren gedünstete Tomaten. Eine kleine runde Vertiefung fasste eine Tasse mit einer weißlichen Flüssigkeit. Shadrack starrte auf die gedämpften Farben, die diese Dreiecke füllten: das klumpige Weiß der Reiskörner, die zitternden Bluttomaten, das graubraune Fleisch. Das Abstoßende des Ganzen wurde in Schach gehalten von der ordentlichen Ausgewogenheit der Dreiecke – eine Ausgewogenheit, die ihn einlullte, etwas von ihrem Gleichgewicht auf ihn übertrug. Auf diese Weise beruhigt, dass das Weiß, das Rot und das Braun da bleiben würden, wo sie waren – nicht explodieren oder aus ihrem begrenzten Bereich ausbrechen würden –, spürte er plötzlich Hunger und sah sich nach seinen Händen um. Seine Blicke waren zuerst behutsam, denn er musste sehr vorsichtig sein – alles konnte überall sein. Dann entdeckte er zu beiden Seiten seiner Hüften zwei Erhebungen unter der beigefarbenen Decke. Mit äußerster Vorsicht hob er einen Arm und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass seine Hand an seinem Handgelenk saß. Er versuchte es mit der anderen Hand und fand auch sie. Langsam führte er eine Hand zur Tasse, und gerade als er im Begriff war, die Finger zu spreizen, fingen sie an, wie eine Wunderbohne wild in alle Richtungen über Tablett und Bett zu wachsen. Mit einem schrillen Schrei schloss er die Augen und stopfte seine wachsenden Riesenhände unter die Decke. Erst einmal außer Sicht, schienen sie wieder auf ihren normalen Umfang zusammenzuschrumpfen. Aber der Schrei hatte einen Pfleger auf die Beine gebracht.
«Private? Wir werden doch heute keine Scherereien machen, oder? Oder, Private?»
Shadrack sah auf zu einem Mann mit beginnender Glatze, der mit grüner Baumwolljacke und -hose bekleidet war. Sein Haar war tief an der rechten Seite gescheitelt, sodass etwa zwanzig oder dreißig gelbe Haare taktvoll die Nacktheit seines Kopfes bedecken konnten.
«Na los. Nehmen Sie den Löffel da in die Hand. Nehmen Sie ihn schon, Private. Keiner wird Sie ewig füttern.»
Schweiß rann Shadrack von den Achselhöhlen über die Seiten. Er könnte es nicht ertragen, seine Hände wieder wachsen zu sehen, und er fürchtete sich vor der Stimme im apfelgrünen Anzug.
«Nehmen Sie ihn in die Hand, hab ich gesagt. Es hat doch keinen Zweck …» Der Pfleger griff unter der Decke nach Shadracks Handgelenk, um die grässliche Hand hervorzuziehen. Shadrack riss sie zurück und warf das Tablett um. In panischem Schrecken erhob er sich auf die Knie und versuchte, seine schrecklichen Finger abzuschütteln und fortzuwerfen, schaffte es aber nur, den Pfleger in das Bett nebenan zu stoßen.
Als sie Shadrack in eine Zwangsjacke steckten, war er sowohl erleichtert als auch dankbar, denn nun waren seine Hände endlich verhüllt und auf den Umfang beschränkt, welcher auch immer es sein mochte, den sie angenommen hatten.
Eingeschnürt und stumm versuchte er in dem schmalen Bett, die Gedankenfetzen, die ihm durch den Kopf gingen, miteinander zu verbinden. Er wünschte sich verzweifelt, sein Gesicht zu sehen und eine Verbindung herzustellen zwischen seinem Gesicht und dem Wort «Private» – so hatte der Pfleger (und die anderen, die halfen, ihn festzubinden) ihn genannt. «Private», glaubte er, sei etwas Geheimes, und er fragte sich, warum sie ihn anschauten und dann ein Geheimnis nannten. Aber wenn seine Hände sich schon so benahmen, wie sie sich benommen hatten – was konnte er da von seinem Gesicht erwarten? Die Angst und das Verlangen waren zu viel für ihn, darum begann er, an andere Dinge zu denken. Das heißt, er ließ seine Gedanken in jeden beliebigen Eingang zu den Höhlen seiner Erinnerung schlüpfen.
Er sah ein Fenster, das auf einen Fluss hinausging, von dem er wusste, dass er voller Fische war. Jemand sprach leise gerade vor der Tür …
Shadracks Gewalttätigkeit und eine Verlautbarung der Krankenhausverwaltung, in der es um die Verteilung von Patienten auf Abteilungen für besonders schwere Fälle ging, fielen zusammen. Man brauchte eindeutig Platz. Die Dringlichkeit oder die Gewalttätigkeit brachten Shadrack seine Entlassung ein, 217 Dollar in bar, einen kompletten Anzug und einige sehr amtlich aussehende Schreiben.
Als er aus der Krankenhaustür trat, überwältigten ihn die Anlagen: die gestutzten Sträucher, die eingefassten Rasenflächen, die wie mit dem Lineal gezogenen Gehwege. Shadrack schaute auf die Betongeraden: Jede von ihnen führte zielbewusst zu irgendeinem vermutlich wünschenswerten Bestimmungsort. Es gab keine Zäune, keine Verbotstafeln, überhaupt keine Hindernisse zwischen Beton und grünem Gras, man konnte also den ordentlichen Steinstreifen mühelos ignorieren und eine andere Richtung einschlagen – eine selbst gewählte Richtung.
Shadrack stand am Fuße der Treppe zum Krankenhaus und beobachtete, wie die Kronen der Bäume hin und her schwankten, wehmütig, aber harmlos, weil ihre Stämme zu tief im Boden verwurzelt waren, als dass sie ihn bedrohen könnten. Nur die Wege beunruhigten ihn. Er verlagerte sein Gewicht und fragte sich, wie er zur Pforte gelangen könne, ohne den Beton zu betreten. Während er seinen Weg plante – wo er einen Sprung machen müsste, wo eine Gruppe von Büschen umgehen –, schreckte ihn plötzlich ein schallendes Gelächter auf. Zwei Männer gingen die Treppen hinauf. Und dann stellte er fest, dass viele Menschen in seiner Nähe waren und dass er sie erst jetzt sah oder aber dass sie erst eben Gestalt angenommen hatten. Es waren schmächtige Figürchen, wie Ausschneidepuppen, die die Wege hinunterschwebten. Einige saßen in Stühlen mit Rädern und wurden von anderen Papierfiguren von hinten geschoben. Alle schienen zu rauchen, und ihre Arme und Beine krümmten sich in der Brise. Ein schöner starker Wind würde sie hoch- und fortblasen, und sie würden vielleicht in den Baumkronen landen.
Shadrack wagte es. Vier Schritte, und er war auf dem Gras, in Richtung Pforte. Er hielt den Kopf gesenkt, weil er es vermeiden wollte, die Papiermenschen hin und her schwanken und sich krümmen zu sehen, und er kam von seinem Weg ab. Als er aufsah, stand er neben einem niedrigen roten Gebäude, das vom Hauptgebäude durch einen überdachten Gehweg getrennt war. Von irgendwo kam ein süßlicher Geruch, der ihn an etwas Peinvolles erinnerte. Er sah sich nach der Pforte um und stellte fest, dass er auf seiner komplizierten Reise über das Gras genau in die entgegengesetzte Richtung gegangen war. Direkt links von dem niedrigen Gebäude befand sich eine mit Kies bestreute Auffahrt, die aus dem Grundstück hinauszuführen schien. Er stapfte rasch auf sie zu und verließ, endlich, einen Ort, der ihm über ein Jahr Asyl gewesen war, eine Zeit, von der er sich nur acht Tage ganz ins Gedächtnis zurückrufen konnte.
Sobald er auf der Straße war, wandte er sich nach Westen. Der lange Aufenthalt im Krankenhaus hatte ihn geschwächt, er war zu schwach, um festen Schrittes auf dem Kiesbankett der Straße zu marschieren. Er schlurfte, wurde schwindelig, blieb stehen, um Atem zu schöpfen, setzte sich wieder in Bewegung, stolpernd und schwitzend, wollte sich aber die Schläfen nicht wischen, weil er sich noch immer davor fürchtete, seine Hände anzuschauen. Insassen von dunklen, eckigen Autos verschlossen die Augen vor dem, was sie für einen betrunkenen Mann hielten.
Die Sonne stand schon direkt über ihm, als er zu einer Stadt kam. Einige wenige Blocks schattiger Straßen, und er war schon im Zentrum einer hübschen, unauffällig regulierten Innenstadt.
Erschöpft, seine Füße nur noch schmerzende Klumpen, setzte er sich an der Bordkante hin, um sich die Schuhe auszuziehen. Er schloss die Augen, damit er vermied, seine Hände zu sehen, und fummelte mit den Schnürbändern der schweren hohen Schuhe. Der Pfleger hatte sie zu einem Doppelknoten gebunden, wie man es bei Kindern macht, und Shadrack, seit langem nicht mehr gewohnt, komplizierte Dinge zu handhaben, konnte sie nicht lösen. Unkoordiniert rissen seine Nägel an den Knoten herum. Er kämpfte gegen eine aufsteigende Hysterie, die nicht nur aus dem ängstlichen Bestreben nach Befreiung seiner schmerzenden Füße bestand – sein ganzes Leben hing vom Lösen der Knoten ab. Plötzlich und ohne die Lider zu heben, begann er zu weinen. Zweiundzwanzig Jahre alt, geschwächt, erhitzt, eingeschüchtert, voller Angst, sich einzugestehen, dass er nicht einmal wusste, wer oder was er war … ohne Vergangenheit, ohne Sprache, ohne Sippe, ohne Abstammung, ohne Adressbuch, ohne Kamm, ohne Bleistift, ohne Uhr, ohne Taschentuch, ohne Decke, ohne Bett, ohne Dosenöffner, ohne eine verblichene Postkarte, ohne Seife, ohne Schlüssel, ohne Tabaksbeutel, ohne schmutzige Unterwäsche, und nichts nichts nichts zu tun … er war sich nur einer Sache sicher: der nicht überprüften Ungeheuerlichkeit seiner Hände. Er weinte lautlos auf der Bordkante einer Kleinstadt im Mittleren Westen und fragte sich, wo das Fenster sei und der Fluss und wo die leisen Stimmen gerade vor der Tür seien …
Durch die Tränen hindurch sah er, wie die Finger sich mit den Schnürbändern verbanden, zögernd zuerst, dann rasend schnell. Die vier Finger einer jeden Hand verschmolzen mit dem Gewebe, verknoteten sich selbst und fuhren im Zickzack in die winzigen Ösen und wieder heraus.
Als die Polizei schließlich angefahren kam, hatte Shadrack bohrende Kopfschmerzen, die auch durch die Beruhigung nicht gelindert wurden, die er empfand, als die Polizisten seine Hände wegzogen von dem, was er für eine dauerhafte Verflechtung mit den Schuhbändern hielt. Sie brachten ihn zum Gefängnis, trugen ihn wegen Landstreicherei und Trunkenheit ein und schlossen ihn in eine Zelle. Dort konnte Shadrack, auf einer Pritsche liegend, nur hilflos die Wand anstarren, so lähmend waren seine Kopfschmerzen. Eine lange Zeit lag er unter Qualen da, dann kam ihm zu Bewusstsein, dass er auf die überstrichenen Buchstaben einer Aufforderung, sich selbst zu ficken, starrte. Er studierte die Worte, während seine Kopfschmerzen langsam abklangen.
Wie Mondlicht, das sich unter einer Jalousie einschleicht, stahl sich eine Idee bei ihm ein: sein früheres Verlangen, sein eigenes Gesicht zu sehen. Er sah sich nach einem Spiegel um – es gab keinen. Schließlich machte er sich, die Hände sorgsam hinter dem Rücken versteckt, auf den Weg zur Toilettenschüssel und blickte verstohlen hinein. Das Wasser wurde von der Sonne ungleichmäßig beleuchtet, sodass er nichts erkennen konnte. Er ging zu seiner Pritsche zurück, nahm die Decke und bedeckte sich den Kopf, wodurch das Wasser dunkel genug wurde, um ihn sein Spiegelbild sehen zu lassen. Dort im Wasser der Toilette sah er ein ernstes schwarzes Gesicht. Ein so bestimmtes, so eindeutiges Schwarz, dass es ihn überraschte. Er hatte unruhige Befürchtungen gehegt, dass er nicht wirklich sei, dass er gar nicht existiere. Aber als die Schwärze ihm mit nicht zu leugnendem Vorhandensein vor Augen stand, wünschte er sich nichts mehr. In seiner Freude wagte er es, einen Zipfel der Decke fallen zu lassen, und sah sich seine Hände an. Sie waren still. Zuvorkommend still.
Shadrack erhob sich und ging zur Pritsche zurück, wo er in den ersten Schlaf seines neuen Lebens fiel. Einen Schlaf, der tiefer war als die Krankenhausdrogen, tiefer als die Kerne von Pflaumen, ruhiger als der Flügel des Kondors, gelassener als die Wölbung von Eiern.
Der Sheriff schaute durch das Gitter auf den jungen Mann mit dem verfilzten Haar. Er hatte die Papiere seines Gefangenen durchgesehen und einen Farmer kommen lassen. Als Shadrack aufwachte, händigte der Sheriff ihm seine Papiere aus und begleitete ihn an die Rückseite eines Fuhrwerks, Shadrack stieg ein, und in weniger als drei Stunden war er wieder in Medallion, denn er war nur zweiundzwanzig Meilen entfernt gewesen von seinem Fenster, seinem Fluss und seinen leisen Stimmen gerade vor der Tür.
Hinten im Fuhrwerk, gegen Säcke mit Melonen und Kürbisberge gelehnt, begann Shadrack einen Kampf, der zwölf Tage dauern sollte, einen Kampf um Ordnung und Zusammenfassung seiner Erfahrungen. Es ging darum, der Angst sowohl einen Platz einzuräumen als auch eine Möglichkeit zu finden, sie in Grenzen zu halten. Er kannte den Geruch des Todes und hatte große Furcht vor ihm, denn man konnte ihn nicht vorausahnen. Es war nicht der Tod oder das Sterben, was ihn in Schrecken versetzte, sondern das Unerwartete von beidem. Während er versuchte, eine Ordnung in all das zu bringen, kam ihm eine Idee. Wenn man einen Tag im Jahr diesem Thema widmen würde, könnte jedermann es beiseite schieben, und das übrige Jahr wäre sicher und frei. Auf diese Weise gründete er den Nationalen Selbstmordtag.
Am dritten Tag im neuen Jahr ging er mit einer Kuhglocke und einem Henkersseil die Carpenter’s Road hinunter durch den Bottom und rief die Leute zusammen, wies sie darauf hin, dass dies ihre einzige Chance sei, sich selbst oder einander zu töten.
Zuerst fürchteten die Menschen in der Stadt sich. Sie wussten, dass Shadrack verrückt war, aber das bedeutete nicht, dass er nicht bei Verstand sei oder, noch wichtiger, dass er keinen Einfluss habe. Seine Augen waren so wild, sein Haar so lang und verfilzt, seine Stimme so kraftvoll und donnernd, dass er am ersten oder konstituierenden Nationalen Selbstmordtag im Jahre 1920 eine Panik verursachte. Der nächste, im Jahre 1921, war nicht mehr ganz so furchterregend, aber immer noch beunruhigend. Die Leute hatten ihn inzwischen ein Jahr lang gesehen. Er wohnte in einer Hütte am Flussufer, die einst seinem schon lange toten Großvater gehört hatte. Dienstags und freitags verkaufte er den Fisch, den er am gleichen Morgen gefangen hatte, die übrige Woche war er betrunken, laut, obszön, komisch und abscheulich. Aber er rührte nie jemanden an, hatte nie Schlägereien, liebkoste nie jemanden. Nachdem die Leute einmal die Grenzen und die Art seiner Verrücktheit verstanden, konnten sie ihn, sozusagen, ins Schema des Gewohnten einordnen.
An späteren Nationalen Selbstmordtagen schauten die Erwachsenen dann hinter vorgezogenen Gardinen hinaus, wenn er die Glocke läutete. Ein paar Müßiggänger erhöhten ihre Geschwindigkeit, und kleine Kinder schrien und liefen davon. Die Pickelgesichter versuchten, ihn zu reizen (obwohl er nur vier oder fünf Jahre älter war als sie), aber nicht lange, denn seine Flüche waren von beißender Anzüglichkeit.
Im Lauf der Zeit beachteten die Leute den dritten Januar immer weniger oder glaubten das zumindest von sich, glaubten, sie hätten keine wie auch immer gearteten Einstellungen oder Empfindungen bezüglich Shadracks einmal im Jahr stattfindender einsamer Demonstration. Tatsächlich hatten sie einfach nur aufgehört, sich zu dem Feiertag zu äußern, weil sie ihn in ihre Gedanken, in ihre Sprache, in ihr Leben aufgenommen hatten.
Jemand sagte zu einer Freundin: «Hast ganz schön lange gebraucht, das Kind zu kriegen. Wie lange hat die Geburt gedauert?»
Und die Freundin antwortete: «So um drei Tage. Die Wehen haben am Selbstmordtag angefangen und bis zum Sonntag drauf gedauert. Ist am Sonntag geboren. Sind alle Sonntagsjungs, meine Jungs.»
Ein Mann sagte zu seiner Braut: «Machen wir’s lieber nach Neujahr, nicht vorher. Silvesterabend krieg ich mein Geld.»
Und sein Schatz antwortete: «Okay, aber auf keinen Fall am Selbstmordtag. Ich hab keine Lust, Kuhglocken zu hören, wenn wir Hochzeit machen.»
Die Großmutter von irgendjemand sagte, ihre Hühner begännen immer gleich nach dem Selbstmordtag Eier mit doppeltem Dotter zu legen.
Dann griff Reverend Deal es auf und sagte, die gleichen Leute, die Verstand genug hätten, Shadracks Ruf aus dem Wege zu gehen, seien es auch, die darauf bestünden, sich zu Tode zu trinken oder zu Tode zu huren. «Könnten ebenso gut mit Shad gehen und dem Lamm die Mühe der Erlösung sparen.»
Glatt und leise wurde der Selbstmordtag ein Teil des Gewebes, aus dem das Leben bestand oben im Bottom von Medallion, Ohio.
Es musste so weit wie möglich vom Sundown House weg sein. Und der Neffe ihrer Großmutter, ein Mann mittleren Alters, der in einer Stadt namens Medallion im Norden lebte, war die einzige Chance, die sie hatte, da ganz sicherzugehen. Die roten Fensterläden hatten sowohl Helene Sabat als auch ihre Großmutter seit sechzehn Jahren verfolgt. Helene war hinter diesen Fensterläden geboren, Tochter einer Kreolin, die dort arbeitete. Die Großmutter holte Helene fort von der gedämpften Beleuchtung und den Blumenmusterteppichen vom Sundown House und zog sie auf unter den sorgenvollen Augen einer vielfarbigen Jungfrau Maria, wobei sie ihr immer wieder riet, auf der Hut zu sein vor irgendwelchen Anzeichen vom wilden Blut ihrer Mutter.
Als daher Wiley Wright kam, um seine Großtante Cecile in New Orleans zu besuchen, wurde aus seinem Entzücken über die hübsche Helene ein Heiratsantrag – unter dem Druck beider Frauen. Er war ein Seemann (oder vielmehr ein Seenmann: Er war Schiffskoch bei einer der Großen-Seen-Linien), alle sechzehn Tage nur drei Tage an Land.
Er nahm seine junge Frau mit nach Medallion, wo er zu Hause war, und brachte sie in ein wunderschönes Haus mit einer gemauerten Veranda und echten Spitzengardinen vor dem Fenster. Seine langen Abwesenheiten waren durchaus erträglich für Helene Wright, besonders, als nach etwa neun Ehejahren ihre Tochter geboren wurde.
Ihre Tochter war mehr Trost und Sinn, als sie in diesem Leben je zu finden gehofft hatte. Sie zeigte sich dem Ereignis der Mutterschaft großartig gewachsen – dankbar, tief im Innersten, dass das Kind nicht die große Schönheit geerbt hatte, die sie selbst ihr Eigen nannte: dass es in der Haut ihrer Tochter dunkle Töne gab, dass ihre Wimpern ansehnlich, doch nicht würdelos waren in ihrer Länge, dass sie Wileys breite, flache Nase hatte (Helene hoffte allerdings, sie noch etwas veredeln zu können) und seine vollen Lippen.
Unter Helenes Hand wurde das Mädchen gehorsam und höflich. Etwaige Anzeichen von Begeisterung für irgendetwas bei der kleinen Nel wurden von der Mutter besänftigt, bis sie schließlich die Phantasie ihrer Tochter ganz verdrängte.
Helene Wright war eine beeindruckende Frau, zumindest war sie das in Medallion. Volles Haar in einem Knoten, dunkle Augen, gewölbt in der ständigen Frage nach den Manieren anderer Leute. Eine Frau, die alle gesellschaftlichen Gefechte gewann, mit Haltung und überzeugt von der Rechtmäßigkeit ihrer Autorität. Da es zu der Zeit keine katholische Gemeinde in Medallion gab, trat sie der konservativsten schwarzen Religionsgemeinschaft bei. Und herrschte. Es war Helene, die beim Gottesdienst nie den Kopf wandte, wenn jemand zu spät kam, Helene, die den Brauch einführte, den Altar mit Blumen der Jahreszeiten zu schmücken, Helene, die als Erste auf die Idee kam, Willkommensessen für heimkehrende schwarze Kriegsteilnehmer zu veranstalten. Nur eine Schlacht verlor sie – die Aussprache ihres Namens. Die Leute im Bottom lehnten es ab, Helene zu sagen. Sie nannten sie Helen Wright und beließen es dabei.
Alles in allem war ihr Leben ein zufrieden stellendes Leben. Sie liebte ihr Zuhause und genoss es, ihre Tochter und ihren Mann zu lenken. Sie seufzte manchmal kurz vor dem Einschlafen bei dem Gedanken, dass sie in der Tat weit genug vom Sundown House weggegangen sei.
So kam es, dass sie mit außerordentlich gemischten Gefühlen einen Brief von Mr. Henri Martin las, in dem die Krankheit ihrer Großmutter beschrieben und der Vorschlag gemacht wurde, dass sie umgehend hinunterkomme. Sie wollte nicht fahren, konnte es aber nicht übers Herz bringen, die stumme Bitte der Frau zu ignorieren, die sie gerettet hatte.
Es war November. November 1920. Sogar in Medallion stolzierten die weißen Männer siegesbewusst einher, und eine matte Erregung glomm in den Augen der farbigen Kriegsteilnehmer.
Helene hegte schwere Bedenken hinsichtlich der Reise nach Süden, kam aber zu dem Schluss, dass sie bestens geschützt sei: durch ihr Auftreten und ihr Verhalten, denen sie noch ein schönes Kleid hinzufügen würde. Sie kaufte einen tiefbraunen Wollstoff und eine drei viertel Elle dazu passenden Samt. Davon machte sie sich ein schweres, aber elegantes Kleid mit Samtkragen und Taschen.