Nadia Murad

mit Jenna Krajeski


ICH BIN EURE STIMME

Das Mädchen,
das dem Islamischen Staat entkam
und gegen Gewalt und
Versklavung kämpft

Mit einem Vorwort von
Amal Clooney

Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Becker, Jochen Schwarzer und
Thomas Wollermann

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Nadia Murad

Die Jesidin Nadia Murad, geboren 1995, wurde im August 2014 vom »IS« aus ihrem Heimatdorf im Irak entführt und drei Monate lang als Sklavin gefangen gehalten und mehrfach missbraucht. Von Mossul aus gelang ihr die Flucht in ein Flüchtlingslager, wo sie von einem Hilfsangebot der Landesregierung Baden-Württembergs für jesidische Frauen erfuhr. Seitdem lebt Nadia Murad in Deutschland. Im September 2016 wurde sie von den UN als Sonderbotschafterin für die Würde von Opfern von Menschenhandel ernannt. Unterstützt von Amal Clooney kämpft sie für die Anerkennung des Völkermordes durch den »IS« an den Jesiden sowie für die Befreiung weiterer Jesiden aus »IS«-Gefangenschaft.

Die Journalistin Jenna Krajeski hat mehr als zehn Jahre im Mittleren Osten gelebt und von dort unter anderem für »The New York Times« und »The New Yorker« berichtet.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»The Last Girl. My Story of Captivity and my Fight against the Islamic State«

bei Tim Duggan Books, einem Imprint der Crown Publishing Group.

 

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© Nadia’s Initiative Inc. 2017

© Vorwort: Amal Clooney

Copyright der Nobelpreisrede © The Nobel Foundation 2018

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regina Carstensen

Covergestaltung: Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: Fred R. Conrad / Redux Pictures

Fotos im Bildteil: Archiv Nadia Murad

Landkarte: Mapping Specialists, Ltd.

ISBN 978-3-426-45012-3

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Wir freuen uns auf Sie!

Fußnoten

Circa 20 Eurocent nach dem Wechselkurs von 2014, damals waren 1300 Dinar ungefähr einen Euro wert.

Dieses Buch ist allen Jesiden gewidmet.

Karte

Nobelpreisrede der
Friedensnobelpreisträgerin 2018
Nadia Murad

Oslo, den 10. Dezember 2018

Eure Majestäten, Eure königlichen Hoheiten, Exzellenzen, sehr geehrte Mitglieder des Komitees, meine Damen und Herren – ich grüße Sie alle herzlich!

 

Zunächst möchte ich mich bei dem Nobelkomitee dafür bedanken, dass es mir diese Ehre zuteil werden lässt. Es ist eine große Ehre, dass mir diese hohe Auszeichnung gemeinsam mit meinem Freund Dr. Denis Mukwege verliehen wird, der sich seit vielen Jahren unermüdlich für Opfer sexueller Gewalt einsetzt und Frauen, die Gewalttaten erlitten haben, eine Stimme gibt.

 

Ich möchte aus tiefstem Herzen zu Ihnen sprechen und Ihnen davon erzählen, wie sich mein Leben und das Leben aller Jesiden durch diesen Völkermord verändert hat und wie der sogenannte »Islamische Staat« eine ganze Bevölkerungsgruppe des Irak auszulöschen versuchte, indem er Frauen gefangen nahm, Männer tötete und unsere Pilgerstätten und Tempel zerstörte.

 

Heute ist für mich ein ganz besonderer Tag. Es ist der Tag, an dem das Gute über das Böse gesiegt hat, der Tag, an dem die Menschlichkeit den Terrorismus bezwungen hat, der Tag, an dem die verfolgten Kinder und Frauen über ihre Peiniger triumphieren.

 

Ich hoffe, dass der heutige Tag den Beginn einer neuen Ära markiert, einer Ära, in der der Frieden im Vordergrund steht und die Welt gemeinsam ein neues Regelwerk entwirft, um Frauen, Kinder und Minderheiten vor Verfolgung und besonders vor sexueller Gewalt zu beschützen.

 

Ich habe meine Kindheit als Bauernmädchen in dem Dorf Kocho im Süden der Region Sindschar verlebt. Ich wusste nichts vom Friedensnobelpreis. Ich wusste nichts von den Konflikten und Massakern, die sich tagtäglich in unserer Welt ereignen. Ich wusste nicht, dass Menschen einander so abscheuliche Verbrechen antun können.

 

Als junges Mädchen war es mein Traum, nach meinem Schulabschluss in unserem Dorf einen Schönheitssalon zu betreiben und in der Nähe meiner Familie in Sindschar zu leben. Doch dieser Traum verwandelte sich in einen Albtraum. Unerwartete Dinge geschahen. Ein Völkermord fand statt. Im Zuge dessen verlor ich meine Mutter, sechs meiner Brüder und die Kinder meiner Brüder. Jede jesidische Familie kann aufgrund dieses Völkermords eine ähnliche Geschichte erzählen, eine entsetzlicher als die andere.

 

Ja, unser Leben hat sich über Nacht vollkommen verändert, auf eine Weise, die wir kaum verstehen können. In jeder jesidischen Familie gibt es Menschen, die voneinander getrennt wurden. Das soziale Gefüge einer friedlichen Gemeinschaft wurde auseinandergerissen, und eine ganze Gesellschaft, die das Banner des Friedens hochhielt und eine Kultur der Toleranz pflegte, fiel einem sinnlosen Krieg zum Opfer.

 

Im Laufe unserer Geschichte waren wir aufgrund unseres Glaubens vielen völkermörderischen Angriffen ausgesetzt. Infolge dieser Völkermorde leben heute in der Türkei nur noch wenige Jesiden. Von den etwa achtzigtausend Jesiden, die es einmal in Syrien gab, leben dort heute nur noch fünftausend. Im Irak sehen sich die Jesiden mit dem gleichen Schicksal konfrontiert; auch dort nimmt ihre Zahl deutlich ab. Der »Islamische Staat« wird sein Ziel, diese Religion vom Angesicht der Erde zu tilgen, erreichen, wenn den Jesiden nicht der erforderliche Schutz gewährt wird. Gleiches gilt auch für andere Minderheiten in Syrien und im Irak.

 

Nachdem uns die irakische Regierung und die Regierung von Kurdistan im Stich gelassen hatten, versagte auch die internationale Staatengemeinschaft dabei, uns vor dem »Islamischen Staat« zu schützen und den Völkermord an uns zu verhindern, und sah untätig zu, wie eine ganze Gemeinschaft vernichtet wurde. Unsere Häuser, unsere Familien, unsere Traditionen, unsere Menschen, unsere Träume – alles wurde zerstört.

 

Zwar wurde uns nach dem Völkermord viel Mitgefühl zuteil, sowohl vor Ort als auch international, und viele Länder erkannten diesen Völkermord an, aber der Völkermord hörte nicht auf. Die Gefahr der vollständigen Vernichtung besteht nach wie vor.

 

An der Notlage der Jesiden, die sich immer noch in der Gefangenschaft des »Islamischen Staats« befinden, hat sich nicht geändert. Die jesidischen Vertriebenen konnten die Lager bisher nicht verlassen, und nichts von dem, was der »Islamische Staat« zerstört hat, wurde wieder aufgebaut. Keiner der Täter, die gemeinschaftlich diesen Völkermord begangen haben, wurde bisher vor Gericht gestellt. Ich möchte kein Mitgefühl mehr – ich möchte, dass diese Gefühle umgemünzt werden in Taten vor Ort.

 

Wenn es der internationalen Gemeinschaft ernst damit ist, den Opfern dieses Völkermords beizustehen, und wenn wir wollen, dass die Jesiden die Flüchtlingslager verlassen, in ihre Heimat zurückkehren und wieder Zuversicht schöpfen können, sollte ihnen die internationale Gemeinschaft unter Aufsicht der Vereinten Nationen internationalen Schutz gewähren. Ohne diesen internationalen Schutz gibt es keine Gewähr dafür, dass wir nicht weiteren Völkermorden durch andere Terrorgruppen ausgesetzt sein werden. Die internationale Gemeinschaft muss sich dazu verpflichten, den Opfern dieses Völkermords Asyl zu gewähren und Einwanderungsmöglichkeiten zu eröffnen.

 

Heute ist ein besonderer Tag für alle Iraker, nicht nur, weil ich als erste Irakerin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werde. Am heutigen Tag feiern wir auch die siegreiche Befreiung des irakischen Territoriums von der Terrororganisation »Islamischer Staat«. Iraker vom Norden bis zum Süden unseres Landes haben ihre Kräfte vereint und im Namen der ganzen Welt einen langen Kampf gegen diese Extremisten ausgefochten.

 

Diese Einheit hat uns Kraft gegeben. Nun gilt es, mit vereinten Bemühungen die Verbrechen des »Islamischen Staats« zu untersuchen und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die es ihm erst ermöglichten, weite Gebiete des Irak zu kontrollieren, indem sie ihn begrüßten, ihn unterstützten oder sich ihm gar anschlossen. Im Irak darf es nach dem »Islamischen Staat« keinen Platz mehr für Terrorismus und extremistisches Gedankengut geben. Wir müssen unser Land mit vereinten Kräften wieder aufbauen und dazu beitragen, dass allen Irakern ein Leben in Sicherheit, Stabilität und Wohlstand ermöglicht wird.

 

Wir müssen uns jeden Tag daran erinnern, wie die Terrororganisation »Islamischer Staat« und diejenigen, die ihre Ideen umsetzten, 2014 mit beispielloser Brutalität die Jesiden angriffen, mit dem Ziel, einen der ursprünglichen Bestandteile der irakischen Gesellschaft auszulöschen. Sie verübten diesen Völkermord aus einem einzigen Grund: Weil wir Jesiden sind, die einen anderen Glauben haben, andere Bräuche pflegen und dagegen sind, einander umzubringen, in Gefangenschaft zu halten oder zu versklaven.

 

Im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung und der Menschenrechte, wurden über 6.500 jesidische Kinder und Frauen verschleppt, verkauft, sexuell und psychisch missbraucht. Trotz unserer täglichen Appelle seit 2014 ist das Schicksal von über dreitausend Kindern und Frauen, die sich in der Gewalt des »Islamischen Staats« befinden, immer noch ungeklärt. Tag für Tag werden weiterhin Mädchen in der Blüte ihres Lebens verkauft, gefangen gehalten und vergewaltigt. Es ist einfach nicht zu fassen, dass sich die führenden Politiker der 195 Staaten dieser Erde nicht von ihrem Gewissen dazu bewegen lassen, diese Mädchen zu befreien. Was wäre, wenn es sich dabei um eine Geschäftstransaktion handelte, um ein Ölfeld oder eine Waffenlieferung? Dann hätte man sicherlich längst alle Hebel in Bewegung gesetzt.

 

Jeden Tag höre ich tragische Geschichten. Hunderttausende oder gar Millionen Kinder und Frauen auf der ganzen Welt leiden unter Verfolgung und Gewalt. Jeden Tag höre ich die Schreie von Kindern in Syrien, im Irak und Jemen. Jeden Tag sehen wir, wie in Afrika und anderswo hunderte Frauen und Kinder Massakern und Kriegen zum Opfer fallen, ohne dass jemand eingreift, um ihnen beizustehen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Seit fast vier Jahren reise ich nun um die Welt, um meine Geschichte und die der Jesiden und anderer gefährdeter Gemeinschaften zu erzählen, ohne dass ich irgendeine Gerechtigkeit erlangt hätte. Die Männer, die gegen jesidische und andere Frauen und Mädchen sexuelle Gewalt verübt haben, werden für ihre Taten immer noch nicht zur Verantwortung gezogen. Wenn keine Gerechtigkeit geübt wird, wird sich dieser Völkermord an uns und anderen gefährdeten Gemeinschaften wiederholen. Die juristische Aufarbeitung ist unerlässlich, damit eine friedliche Koexistenz zwischen den Bevölkerungsgruppen des Irak möglich wird. Wenn wir nicht wollen, dass sich die massenhafte Vergewaltigung und Gefangennahme von Frauen wiederholt, müssen wir diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die sexuelle Gewalt als Waffe eingesetzt haben, um Verbrechen gegen Frauen und Mädchen zu begehen.

 

Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Ehrung, aber Tatsache ist, dass der einzige Preis der Welt, der unsere Würde wiederherstellen kann, darin besteht, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Keine Auszeichnung kann uns die vielen geliebten Menschen ersetzen, die nur deshalb getötet wurden, weil sie Jesiden waren. Der einzige Preis, der ein normales Leben zwischen unserem Volk und unseren Freunden wiederherstellen wird, ist Gerechtigkeit und Schutz für den Rest unserer Gemeinschaft.

 

Wir begehen dieser Tage den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die auf die Verhinderung von Völkermorden abzielt und die Verfolgung der Täter verlangt. Meine Gemeinschaft ist seit über vier Jahren einem Völkermord ausgesetzt. Die internationale Gemeinschaft hat nichts unternommen, um das zu verhindern oder dem Einhalt zu gebieten. Sie hat die Täter nicht vor Gericht gestellt. Auch andere gefährdete Gemeinschaften waren unter den Augen der internationalen Gemeinschaft ethnischen Säuberungen, rassistischen Angriffen oder der versuchten Auslöschung ihrer Identität ausgesetzt.

 

Der Schutz der Jesiden und anderer gefährdeter Gemeinschaften in aller Welt liegt in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und internationaler Institutionen, die für die Verteidigung der Menschenrechte, den Minderheitenschutz und den Schutz der Rechte von Frauen und Kindern zuständig sind, insbesondere in Konflikt- und Bürgerkriegsgebieten.

 

Ich hatte die Ehre, am Pariser Friedensforum teilzunehmen. Auf dieser Konferenz wurde des Endes des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren gedacht. Wie viele Völkermorde und Kriege aber hat es nicht seit jener Zeit gegeben? Die Opfer all dieser Kriege, zumal der Bürgerkriege, sind gar nicht zu zählen. Die Welt hat diese Kriege verurteilt und diese Völkermorde anerkannt. Es gelang ihr jedoch nicht, Kriegshandlungen ein Ende zu setzen und zu verhindern, dass sie sich wiederholen.

 

Es stimmt, dass es in der Welt zahlreiche Konflikte und Probleme gibt, aber es gibt auch viele Initiativen zur Unterstützung der Opfer, und enorme Anstrengungen werden unternommen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.

 

So wäre auch ich ohne die Initiative und die Unterstützung der baden-württembergischen Landesregierung und namentlich von Herrn Kretschmann heute nicht in der Lage, meine Freiheit zu genießen, die Verbrechen des »Islamischen Staats« anzuprangern und über das Leiden der Jesiden zu berichten. Meiner Meinung nach verdienen alle Opfer eine sichere Zuflucht, bis ihnen Gerechtigkeit widerfahren ist.

 

Bildung spielt eine wesentliche Rolle bei der Weiterentwicklung zivilisierter Gesellschaften, die an Toleranz und Frieden glauben. Deshalb müssen wir in unsere Kinder investieren, denn ein Kind gleicht einem unbeschriebenen Blatt, und statt Hass und Sektierertum kann man ihm Toleranz und friedliche Koexistenz vermitteln. Auch Frauen kommt bei der Lösung vieler Probleme eine Schlüsselrolle zu, und sie müssen an der Schaffung eines dauerhaften Friedens zwischen den Gemeinschaften beteiligt sein. Mit der Stimme und der Beteiligung von Frauen können wir in unseren Gemeinschaften grundlegende Veränderungen bewirken.

 

Ich bin stolz auf die Jesiden, stolz auf ihre Kraft und Geduld. Unsere Gemeinschaft wurde viele Male ins Visier genommen und in ihrem Fortbestand bedroht, aber wir kämpfen weiterhin für unser Existenzrecht. Die Gemeinschaft der Jesiden verkörpert Frieden und Toleranz und sollte damit als beispielhaft für die Welt angesehen werden.

 

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei denjenigen zu bedanken, die meine Botschaft vom ersten Tag an verteidigt und in die Welt hinausgetragen haben, insbesondere bei meinem Team, das mir tagein, tagaus zur Seite steht.

 

Ich danke allen Regierungen, die den Völkermord an den Jesiden anerkannt haben, und den Regierungen, die gefährdeten Gemeinschaften beigestanden haben. Vielen Dank an Kanada und Australien für die Aufnahme von Opfern des Völkermords an den Jesiden. Ich danke Frankreich und Präsident Macron für die humanitäre Unterstützung unserer Sache. Mein Dank gilt auch der Bevölkerung von Irakisch-Kurdistan für ihre Unterstützung der Binnenvertriebenen in den vergangenen vier Jahren. Ich danke dem Emir von Kuwait und der norwegischen Regierung für die Organisation der Konferenz für den Wiederaufbau des Irak. Ich danke meiner Freundin Amal Clooney und ihrem Team für ihre enormen Anstrengungen, den »Islamischen Staat« zur Rechenschaft zu ziehen. Ich danke Griechenland für die uneingeschränkte Unterstützung der Flüchtlinge.

 

Lasst uns alle zusammenkommen, um Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu bekämpfen; lasst uns gemeinsam unsere Stimmen erheben und sagen: Nein zur Gewalt, ja zum Frieden, nein zur Sklaverei, ja zur Freiheit, nein zur Rassendiskriminierung, ja zur Gleichheit und zu Menschenrechten für alle.

 

Nein zur Ausbeutung von Frauen und Kindern, ja zur Gewährleistung eines menschenwürdigen und unabhängigen Lebens für sie alle, nein zur Straffreiheit für die Täter, ja zu ihrer Strafverfolgung und zur Übung von Gerechtigkeit.

 

Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft und Ihre freundliche Aufmerksamkeit. Mögen Sie alle in dauerhaftem Frieden leben.

Vorwort von
Amal Clooney

Nadia Murad ist nicht nur meine Mandantin, sie ist auch meine Freundin. Als wir einander in London vorgestellt wurden, fragte sie mich, ob ich nicht ihre Anwältin sein wolle. Geld könne sie allerdings nicht aufbringen, erklärte sie, und wahrscheinlich werde der Fall langwierig und nicht von Erfolg gekrönt sein. Aber bevor du dich entscheidest, sagte sie, hör dir meine Geschichte an.

 

Im Jahr 2014 griff der »Islamische Staat« Nadias Dorf im Irak an und zerstörte das Leben der einundzwanzigjährigen Schülerin. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter und ihre Brüder weggebracht wurden, um später getötet zu werden. Nadia selbst wurde von einem Kämpfer des »Islamischen Staats« zum nächsten weitergereicht. Man zwang sie zu beten; man zwang sie, sich vor den Vergewaltigungen schön anzuziehen und zu schminken; und eines Nachts wurde sie von einer ganzen Gruppe von Männern brutal missbraucht, bis sie das Bewusstsein verlor. Sie zeigte mir die Narben von brennenden Zigaretten und von Schlägen. Und sie erzählte mir, dass die Kämpfer des »Islamischen Staats« sie während ihres Martyriums immer wieder als »dreckige Ungläubige« beschimpften und damit prahlten, dass sie die jesidischen Frauen unterworfen hatten und das Jesidentum vollständig auslöschen würden.

Nadia gehörte zu den Tausenden Mädchen und Frauen, die der »Islamische Staat« verschleppte, um sie auf Märkten und über Facebook zu verkaufen, oft für nicht mehr als zwanzig US-Dollar. Nadias Mutter wurde zusammen mit achtzig anderen älteren Frauen hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt. Sechs ihrer Brüder gehörten zu den Hunderten von Männern, die an einem einzigen Tag ermordet wurden.

Es war Völkermord, was Nadia da schilderte. Und Völkermord ereignet sich nicht zufällig. Er setzt Planung voraus. Bevor der Völkermord begann, befasste sich die »Forschungs- und Fatwa-Abteilung« des »Islamischen Staats« mit den Jesiden und kam zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Kurdisch sprechenden Gemeinschaft, die keine Heilige Schrift besitzt, um Ungläubige handelte, deren Versklavung mit der Scharia vereinbar sei. Deshalb ist es nach den verqueren Moralvorstellungen des »Islamischen Staats« zulässig, Jesidinnen – anders als Christinnen, Schiitinnen und andere – systematisch zu vergewaltigen. Dies sollte tatsächlich zu einer der wirksamsten Methoden ihrer Vernichtung werden.

Was folgte, war ein groß angelegtes System des Bösen. Der »Islamische Staat« veröffentlichte eine Art Leitfaden mit dem Titel Fragen und Antworten zur Gefangennahme und Versklavung. »Frage: Ist es erlaubt, mit einer Sklavin, die noch nicht in der Pubertät ist, Geschlechtsverkehr zu haben? Antwort: Es ist erlaubt, mit einer Sklavin, die die Pubertät noch nicht erreicht hat, Geschlechtsverkehr zu haben, wenn sie körperlich dazu in der Lage ist. Frage: Ist es erlaubt, eine weibliche Gefangene zu verkaufen? Antwort: Es ist erlaubt, weibliche Gefangene und Sklavinnen zu kaufen, zu verkaufen oder zu verschenken, denn sie sind weiter nichts als Besitzstücke.«

 

Als Nadia mir in London ihre Geschichte erzählte, war es schon fast zwei Jahre her, dass der Völkermord an den Jesiden durch den »Islamischen Staat« begonnen hatte. Tausende jesidische Frauen und Kinder wurden immer noch gefangen gehalten, und doch war weltweit bisher kein einziges Mitglied des »Islamischen Staats« wegen dieser Verbrechen vor Gericht angeklagt worden. Beweise gingen verloren oder wurden zerstört. Und die Aussicht auf Gerechtigkeit war düster.

Selbstverständlich übernahm ich den Fall. Nadia und ich engagierten uns über ein Jahr lang gemeinsam für dieses Anliegen. Wiederholt trafen wir uns mit Vertretern der irakischen Regierung und der Vereinten Nationen, mit Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und anderen Opfern des »Islamischen Staats«. Ich verfasste Berichte, Vorlagen und juristische Analysen und appellierte in zahlreichen Reden an die Vereinten Nationen, sich einzuschalten. Die meisten unserer Gesprächspartner sagten uns, es sei aussichtslos: Der Sicherheitsrat habe schon seit Jahren nicht mehr in internationalen Rechtsfragen interveniert.

Doch jetzt, während ich dieses Vorwort schreibe, hat der UN-Sicherheitsrat eine richtungsweisende Resolution verabschiedet, mit der eine Ermittlungsgruppe eingesetzt wird, die Beweise für die vom »Islamischen Staat« im Irak begangenen Verbrechen zusammentragen soll. Dies ist ein großer Sieg für Nadia und die anderen Opfer, denn es bedeutet, dass Beweismaterial gesichert und einzelne Mitglieder des »Islamischen Staats« vor Gericht gestellt werden können. Ich saß neben Nadia im Sicherheitsrat, als die Resolution einstimmig angenommen wurde. Als sich alle fünfzehn Hände hoben, haben Nadia und ich uns angesehen und gelächelt.

 

Meine Aufgabe als Menschenrechtsanwältin ist es oft, denen eine Stimme zu geben, die zum Schweigen gebracht wurden: dem Journalisten hinter Gittern oder den Opfern von Kriegsverbrechen, die dafür kämpfen, bei Gericht Gehör zu finden. Es besteht kein Zweifel, dass der »Islamische Staat« versucht hat, Nadia zum Schweigen zu bringen, als er sie verschleppte und versklavte, vergewaltigte und folterte und an einem einzigen Tag sieben Mitglieder ihrer Familie tötete.

Aber Nadia ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Sie hat sich in keine der Rollen zwingen lassen, die ihr das Leben zugedacht hat: Waise. Vergewaltigungsopfer. Sklavin. Flüchtling. Stattdessen hat sie sich neue gesucht: Überlebende. Anführerin der Jesiden. Anwältin der Frauen. Anwärterin auf den Friedensnobelpreis. Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Und nun auch Autorin.

Seit ich sie kenne, hat Nadia nicht nur ihre eigene Stimme gefunden, sondern ist zur Stimme aller Jesiden geworden, die Opfer des Völkermords wurden, aller Frauen, die missbraucht wurden, und aller Flüchtlinge, die zurückgelassen wurden.

Diejenigen, die glaubten, sie durch Grausamkeit zum Schweigen bringen zu können, haben sich gründlich getäuscht. Nadia Murads Kampfgeist ist ungebrochen, und ihre Stimme wird nicht verstummen. Ganz im Gegenteil – mit diesem Buch wird sie in aller Welt zu hören sein.

 

Amal Clooney

Rechtsanwältin

September 2017

Teil I

1

Im Frühsommer 2014, als ich mich gerade auf mein letztes Schuljahr vorbereitete, verschwanden außerhalb von Kocho, dem kleinen jesidischen Dorf im Nordirak, in dem ich geboren wurde und das ich bis vor Kurzem noch für den Ort hielt, an dem ich auch den Rest meines Lebens verbringen würde, zwei Bauern von ihren Feldern. Die beiden Männer, die sich eben noch friedlich im Schatten improvisierter Planen ausgeruht hatten, fanden sich von einem Moment auf den anderen als Gefangene in einem kleinen Raum in einem der Nachbardörfer wieder, wo hauptsächlich sunnitische Araber lebten. Außer den beiden Bauern hatten die Entführer auch eine Henne und eine Handvoll ihrer Küken mitgenommen, was uns verblüffte. »Vielleicht hatten sie einfach Hunger«, sagten wir uns, auch wenn dieser Gedanke nicht direkt dazu beitrug, uns zu beruhigen.

Kocho ist Zeit meines Lebens ein jesidisches Dorf gewesen, gegründet von nomadischen Bauern und Schafhirten, die in dieser einsamen Gegend eine Siedlung errichteten, um ihre Frauen vor der wüstenartigen Hitze zu schützen, während sie mit ihren Schafen zu besseren Weidegründen zogen. Sie wählten einen Landstrich, der sich gut für die Bewirtschaftung eignete, aber riskant gelegen war – am südlichen Rand des Sindschar-Distrikts, in dem die meisten der irakischen Jesiden lebten, sehr nah am nicht-jesidischen Teil des Irak. Als Mitte der Fünfzigerjahre die ersten jesidischen Familien dort eintrafen, wurde Kocho noch von sunnitischen Arabern bewohnt, die für Großgrundbesitzer in Mossul arbeiteten. Die jesidischen Familien hatten jedoch einen Anwalt engagiert, um das Land zu kaufen – dieser Mann, selbst Muslim, wird heute noch als Held gepriesen –, und als ich auf die Welt kam, war Kocho bereits auf etwa zweihundert Familien angewachsen, alle Jesiden und so eng miteinander verbunden wie eine einzige große Familie, und das waren wir auch beinahe.

Das Land, das uns zu etwas Besonderem machte, machte uns zugleich auch verwundbar. Wir Jesiden werden seit Jahrhunderten unseres Glaubens wegen verfolgt, und verglichen mit den meisten anderen jesidischen Dörfern und Städten liegt Kocho weit entfernt vom Dschabal Sindschar, dem schmalen Höhenzug, der uns seit Generationen Zuflucht geboten hat. Lange waren wir ein Spielball im Machtkampf zwischen den sunnitischen Arabern und sunnitischen Kurden im Irak; beide gegnerischen Kräfte verlangten von uns, dass wir unser jesidisches Erbe verleugnen und uns der kurdischen oder arabischen Kultur anpassen sollten. Bis 2013, als die Straße von Kocho ins Gebirge endlich befestigt wurde, brauchten wir mit unserem weißen Datsun-Pick-up für die Fahrt über sandige Pisten und durch die Stadt Sindschar fast eine Stunde bis dorthin. Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, lag deshalb näher an Syrien als an unseren heiligsten Tempeln, näher an der Fremde als an den sicheren Bergen.

Eine Fahrt in Richtung Gebirge war immer ein schönes Erlebnis. In Sindschar gab es Süßigkeiten und besondere Lammsandwiches, die man in Kocho nicht bekam, und mein Vater hielt fast immer dort an, damit wir uns kaufen konnten, was wir gerne haben wollten. Unser Pick-up wirbelte beim Fahren jede Menge Staub auf, aber trotzdem fuhr ich lieber hinten mit, an der frischen Luft, legte mich, bis wir aus dem Dorf heraus waren, flach auf die Ladefläche des Wagens, um vor den neugierigen Blicken unserer Nachbarn geschützt zu sein, und hob dann den Kopf, um den Wind in den Haaren zu spüren und das weidende Vieh zu betrachten, an dem wir vorbeirauschten. Schnell vergaß ich alles um mich herum und richtete mich immer weiter auf, bis mein Vater oder mein ältester Bruder Elias mir zubrüllten, ich solle aufpassen, sonst würde ich von der Pritsche fliegen.

In der Gegenrichtung, fort von jenen Lammsandwiches und dem schützenden Gebirge, lag der restliche Irak. In Friedenszeiten brauchte ein jesidischer Händler, wenn er es nicht eilig hatte, vielleicht eine Viertelstunde für die Fahrt von Kocho bis ins nächstgelegene sunnitische Dorf, um dort sein Getreide oder seine Milch zu verkaufen. Wir hatten Freunde in diesen Dörfern – Mädchen, die ich auf Hochzeiten traf, Lehrer, die während des Schulhalbjahrs in der Schule von Kocho übernachteten, Männer, die wir einluden, unsere neugeborenen Jungen bei der rituellen Beschneidung zu halten, und die der betreffenden jesidischen Familie danach als kiriv verbunden blieben, das ist eine Art Patenonkel. Muslimische Ärzte kamen nach Kocho oder Sindschar, um uns zu behandeln, wenn wir krank waren, und muslimische Händler machten bei uns halt und verkauften Kleider und Süßigkeiten, Dinge, die es in den wenigen Läden von Kocho, die größtenteils Waren des täglichen Bedarfs führten, nicht gab. Meine heranwachsenden Brüder fuhren oft in nicht-jesidische Dörfer, um sich dort mit Gelegenheitsjobs ein bisschen Taschengeld zu verdienen. Die Beziehungen waren durch Jahrhunderte des Misstrauens belastet – es fiel schwer, darüber hinwegzusehen, wenn ein muslimischer Hochzeitsgast unser Essen ablehnte, auch wenn dies noch so höflich geschah –, aber dennoch gab es aufrichtige Freundschaften. Diese Verbindungen gingen etliche Generationen zurück, hatten die osmanische Herrschaft, die britische Kolonisation, Saddam Hussein und die Zeit der amerikanischen Besatzung überdauert. In Kocho waren wir besonders bekannt für unsere engen Beziehungen zu den Bewohnern sunnitischer Dörfer.

Doch wenn im Irak gekämpft wurde – und im Irak schien ständig gekämpft zu werden –, wirkten diese Dörfer auf uns, ihren kleinen jesidischen Nachbarort, bedrohlich, und alte Vorurteile verwandelten sich schnell in Hass. Dieser Hass führte nicht selten zu Gewalt. Seit mindestens zehn Jahren, seit die Iraker in einen Krieg gestürzt worden waren, der 2003 mit dem Einmarsch der Amerikaner begann, sich dann zu noch brutaleren lokalen Auseinandersetzungen steigerte und schließlich in umfassenden Terrorismus überging, war die Entfremdung zwischen uns und diesen Nachbardörfern enorm angewachsen. Ihre Bewohner begannen, Extremisten Unterschlupf zu gewähren, die Christen und nicht-sunnitische Muslime kategorisch ablehnten und, schlimmer noch, uns Jesiden als kuffār ansahen, als Ungläubige, die den Tod verdienten. 2007 fuhren einige dieser Extremisten mit einem Tankfahrzeug und drei Wagen in das belebte Zentrum von zwei gut sechzehn Kilometer nordwestlich von Kocho gelegenen jesidischen Ortschaften, sprengten dort jeweils ihre Wagen in die Luft und töteten damit viele Hundert Menschen, die ihnen entgegengelaufen kamen in der Annahme, sie hätten Waren gebracht, die auf dem Markt verkauft werden sollten.

Das Jesidentum ist eine uralte monotheistische Religion, tradiert durch mündliche Überlieferungen heiliger Männer. Obwohl sie durchaus Gemeinsamkeiten mit den zahlreichen anderen Religionen im Nahen Osten aufweist, vom Mithraismus und Zoroastrismus bis hin zum Islam und Judentum, ist sie doch einzigartig und manchmal selbst für die heiligen Männer, die unsere erinnerten Glaubenslehren und Brauchtümer bewahren, schwer zu erklären. Ich stelle mir meine Religion als einen uralten Baum vor, mit Tausenden von Jahresringen, von denen jeder eine Geschichte aus der langen Tradition der Jesiden zu erzählen hat. Leider nehmen viele dieser Geschichten einen tragischen Verlauf.

Heute gibt es weltweit nur etwa eine Million Jesiden. Zeit meines Lebens – und auch schon lange vor meiner Geburt, das weiß ich – war und ist es diese Religion, die unsere Identität bestimmt und uns als Gemeinschaft zusammenschweißt. Sie hat uns aber auch zum Ziel der Verfolgung durch größere Gruppen gemacht, von den Osmanen bis zu Saddams Baathisten, die uns attackierten oder uns zwingen wollten, uns ihnen zu unterwerfen. Sie beleidigten unsere Religion, bezeichneten uns als Teufelsanbeter oder Unreine und verlangten, dass wir unserem Glauben abschwören sollten. Jesiden überlebten über Generationen hinweg immer wieder solche Angriffe, mit denen man uns auslöschen wollte, indem man uns entweder tötete, uns zum Konvertieren zwang oder uns einfach von unserem Land vertrieb und uns alles nahm, was wir besaßen. Bis 2014 hatten dreiundsiebzigmal Kräfte von außen versucht, uns zu vernichten. Früher nannten wir diese Anschläge auf Jesiden Fermane, ein osmanischer Begriff – das war, bevor wir das Wort »Genozid« lernten.

Auch deshalb brach, als wir von den Lösegeldforderungen für die beiden entführten Bauern erfuhren, im ganzen Dorf Panik aus. »Vierzigtausend US-Dollar«, verlangten die Entführer am Telefon von den Frauen der Bauern. »Oder ihr kommt mit euren Kindern her, und die ganze Familie konvertiert zum Islam.« Andernfalls, sagten sie, würden sie die Männer töten. Das Geld war nicht der Grund, weshalb die Frauen vor Ahmed Jasso, unserem Mukhtar oder Dorfältesten, weinend zusammenbrachen; vierzigtausend US-Dollar waren zwar eine absurd hohe Summe, aber letztlich war es nur Geld. Doch wir alle wussten, dass die Bauern lieber sterben als konvertieren würden, und daher vergossen die Dorfbewohner Tränen der Erleichterung, als die Männer eines Nachts durch ein zerbrochenes Fenster entkommen konnten, durch die Gerstenfelder flohen und lebend bei ihren Familien eintrafen, bis zu den Knien mit Schmutz bedeckt und atemlos vor Angst. Doch die Entführungen hörten nicht auf.

Bald darauf wurde Dishan, ein Angestellter meiner Familie, der Tahas, von einer Weide in der Nähe des Sindschar-Gebirges verschleppt, wo er unsere Schafe hütete. Meine Mutter und meine Brüder hatten Jahre darauf verwandt, diese Schafe zu kaufen und zu vermehren, und jedes einzelne davon war wie eine Trophäe. Wir waren stolz auf unsere Schafe, hielten sie, wenn sie nicht gerade außerhalb des Dorfes weideten, im Innenhof unseres Hauses und behandelten sie fast wie Haustiere. Die jährliche Schafschur war ein regelrechtes Fest. Ich liebte dieses Ritual, den Anblick der weichen Wolle, die in wolkig-flockigen Haufen zu Boden fiel, den Moschusgeruch, der sich im Haus verbreitete, das ruhige, hinnehmende Blöken der Tiere. Zu gern schlief ich unter den dicken Bettdecken, die meine Mutter Shami aus der Wolle machte, indem sie farbenprächtige Stoffbahnen damit füllte. Manchmal hing ich so sehr an einem der Lämmer, dass ich es nicht im Haus aushielt, wenn es geschlachtet wurde. Zu der Zeit, als Dishan verschleppt wurde, besaßen wir über einhundert Schafe – für unsere Verhältnisse ein kleines Vermögen.

Meinem Bruder Saeed fielen die Henne und die Küken ein, die zusammen mit den beiden Bauern verschwunden waren, und er raste in unserem Lieferwagen zum Fuße des Sindschar-Gebirges – seit die Straße befestigt war, eine Fahrt von etwa zwanzig Minuten –, um nach unseren Schafen zu sehen. »Sie haben sie bestimmt mitgenommen«, jammerten wir. »Diese Schafe sind alles, was wir haben.«

Als Saeed später meine Mutter anrief, klang er verwirrt. »Nur zwei Tiere fehlen«, berichtete er – ein alter, gebrechlicher Bock und ein junges Lamm. Die übrige Herde grase zufrieden auf dem braun-grünen Weideland und würde ihm nach Hause folgen. Wir lachten, so erleichtert waren wir. Elias aber, mein ältester Bruder, machte sich Sorgen. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Diese Dörfler sind nicht reich. Warum haben sie die Schafe dagelassen?« Er glaubte, das müsse etwas zu bedeuten haben.

Am Tag nachdem Dishan verschleppt worden war, herrschte Aufruhr in Kocho. Die Dorfbewohner hockten vor ihren Häusern und hielten ebenso wie die Männer, die abwechselnd einen neuen Checkpoint vor den Dorfmauern besetzten, Ausschau nach unbekannten Fahrzeugen, die durch Kocho fuhren. Hezni, ein weiterer Bruder von mir, kam von seiner Arbeit als Polizist in Sindschar heim und schloss sich den anderen Männern aus dem Dorf an, die lautstark darüber diskutierten, was zu tun sei. Dishans Onkel war auf Vergeltung aus und beschloss, mit einer Gruppe von Männern ein Dorf östlich von Kocho heimzusuchen, das von einem konservativen sunnitischen Stamm beherrscht wurde. »Wir greifen uns zwei von ihren Schafhirten«, erklärte er wütend. »Dann müssen sie uns Dishan zurückgeben!«

Es war ein riskanter Plan, und nicht alle unterstützten das Vorhaben von Dishans Onkel. Selbst meine Brüder, die alle die Tapferkeit und Kampfbereitschaft unseres Vaters geerbt hatten, waren geteilter Meinung darüber, wie wir uns verhalten sollten. Saeed, der nur ein paar Jahre älter war als ich, verbrachte viel Zeit damit, sich den Tag auszumalen, an dem er sich endlich als Held beweisen würde. Er war für den Racheplan, während Hezni, über ein Jahrzehnt älter und der Einfühlsamste von uns allen, ihn als zu gefährlich fand. Trotzdem zog Dishans Onkel mit allen Freiwilligen, die er auftreiben konnte, los, schnappte sich zwei sunnitische Araber aus dem Stamm, die gerade Schafe hüteten, brachte sie nach Kocho, sperrte sie in seinem Haus ein und wartete dann ab, was geschehen würde.

* * *

Ein Streit im Dorf wurde meist von Ahmed Jasso geschlichtet, unserem pragmatisch und diplomatisch gesinnten Mukhtar, und der war auf Heznis Seite. »Unser Verhältnis zu den sunnitischen Nachbarn ist ohnehin schon gespannt«, sagte er. »Wer weiß, was sie machen werden, wenn wir ihnen den Kampf ansagen.« Außerdem, mahnte er, sei die Lage außerhalb von Kocho noch wesentlich schlimmer und komplizierter, als wir uns das vorstellten. Das stimmte. Eine Gruppe, die sich »Islamischer Staat« nannte und größtenteils hier im Irak entstanden und im Laufe der letzten Jahre drüben in Syrien immer größer geworden war, hatte Dörfer eingenommen, die so nah an unserem lagen, dass wir die schwarz verhüllten Gestalten auf ihren Lastwagen zählen konnten, wenn sie vorüberfuhren. Sie seien es, die unseren Hirten gefangen hielten, meinte unser Mukhtar. »Ihr macht alles nur noch schlimmer«, sagte Ahmed Jasso zu Dishans Onkel, und kaum einen halben Tag nachdem man die beiden sunnitischen Hirten entführt hatte, waren sie schon wieder auf freiem Fuß. Dishan jedoch blieb in Gefangenschaft.

Ahmed Jasso war ein kluger Mann, zudem besaß die Familie Jasso jahrzehntelange Erfahrung im Verhandeln mit den sunnitischen Arabern. Jeder aus dem Dorf wandte sich mit seinen Problemen an sie, und auch außerhalb von Kocho waren Ahmed und seine Familie für ihr diplomatisches Geschick bekannt. Trotzdem fragten sich jetzt einige von uns, ob Ahmed sich dieses Mal nicht allzu entgegenkommend verhielt und den Terroristen damit zu verstehen gab, dass die Jesiden sich nicht wehren würden. Die Lage war die, dass zwischen uns und dem »Islamischen Staat« nur noch die kurdischen Streitkräfte standen, die Peschmerga, die aus der Autonomen Region Kurdistan zur Bewachung von Kocho entsandt worden waren, nachdem Mossul zwei Monate zuvor beinahe gefallen war. Wir behandelten die Peschmerga-Soldaten wie Ehrengäste. Sie schliefen auf Pritschen in unserer Schule, und jede Woche schlachtete eine unserer Familien ein Lamm für sie, was für die armen Dorfbewohner ein großes Opfer bedeutete. Auch ich schaute zu diesen Kämpfern auf. Ich hatte von Kurdinnen aus Syrien und der Türkei gehört, die Waffen trugen und Terroristen bekämpften, und allein beim Gedanken daran fühlte ich mich tapfer und mutig.

Manche Leute, darunter auch einige meiner Brüder, waren der Meinung, man sollte uns gestatten, uns selbst zu verteidigen. Sie wollten die Checkpoints besetzen, und Ahmed Jassos Bruder Naif versuchte, die kurdischen Behörden zu überzeugen, ihn bei der Bildung einer jesidischen Peschmerga-Einheit zu unterstützen, fand damit aber kein Gehör. Niemand bot an, die jesidischen Männer auszubilden oder sie zu ermutigen, sich dem Kampf gegen die Terroristen anzuschließen. Die Peschmerga versicherten uns, solange sie da seien, hätten wir nichts zu befürchten, und sie würden die Jesiden genauso entschlossen verteidigen wie die Hauptstadt des irakischen Kurdistan. »Eher würden wir Erbil aufgeben als Sindschar«, sagten sie. Man riet uns, ihnen zu vertrauen, und das taten wir.

Dennoch hatten die meisten Familien in Kocho Waffen im Haus – schwere Kalaschnikows und ein oder zwei große Messer, mit denen sonst an Feiertagen geschlachtet wurde. Viele jesidische Männer, darunter auch diejenigen meiner Brüder, die alt genug dafür waren, hatten nach 2003, als solche Jobs angeboten wurden, Arbeit beim Grenzschutz oder der Polizei angenommen. Wir waren überzeugt, dass unsere Männer, solange diese Profis Kocho bewachten, in der Lage sein würden, ihre Familien zu beschützen. Immerhin waren nicht die Peschmerga, sondern sie es gewesen, die nach den Angriffen von 2007 mit bloßen Händen einen schützenden Erdwall um unser Dorf errichtet hatten. Und es waren auch Männer aus Kocho gewesen, die diesen Wall ein ganzes Jahr lang Tag und Nacht bewacht, an provisorischen Checkpoints Autos überprüft und allgemein nach Fremden Ausschau gehalten hatten, bis wir uns wieder sicher genug fühlten, um zu einem normalen Leben zurückzukehren.

Dishans Entführung versetzte uns alle in Schrecken. Doch die Truppen der Peschmerga taten nichts, um uns zu helfen. Für sie war das vielleicht nur ein unbedeutender Streit zwischen zwei Dörfern und nicht der Grund, weshalb Masud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan, sie aus der sicheren kurdischen Heimat in die ungeschützten Gebiete des Irak entsandt hatte. Vielleicht hatten sie auch genauso große Angst wie wir. Einige der Soldaten sahen nicht viel älter aus als Saeed, der jüngste Sohn meiner Mutter. Doch der Krieg verändert die Menschen, vor allem die Männer. Es war noch gar nicht so lange her, dass Saeed mit unserer Nichte Kathrine und mir in unserem Hof gespielt hatte und noch zu jung gewesen war, um zu wissen, dass Jungen sich eigentlich nicht für Puppen interessieren sollten. In letzter Zeit hingegen war Saeed geradezu besessen von der Gewalt, die den Irak und Syrien erschütterte. An einem der Tage hatte ich ihn dabei erwischt, wie er sich auf seinem Handy Videos von Enthauptungen des »Islamischen Staats« anschaute; die Bilder wackelten in seiner zitternden Hand, und ich war erstaunt, als er das Mobiltelefon so hielt, dass ich sie auch sehen konnte. Als unser älterer Bruder Massoud ins Zimmer kam, wurde er sehr wütend. »Wie kannst du zulassen, dass Nadia das sieht!«, schrie er Saeed an, der sich erschrocken duckte. Es tat ihm leid, aber ich konnte ihn verstehen. Es war nicht leicht, sich von den grausigen Szenen abzuwenden, die sich ganz in der Nähe unseres Heimatdorfes abspielten.

Die Videos kamen mir unwillkürlich wieder in den Sinn, wenn ich an unseren armen verschleppten Schafhirten dachte. Wenn uns die Peschmerga nicht helfen, Dishan zurückzuholen, muss ich selbst etwas unternehmen, dachte ich und lief ins Haus. Ich war das Nesthäkchen der Familie, das jüngste von elf Kindern und ein Mädchen. Dennoch sagte ich meist unverblümt meine Meinung und war daran gewöhnt, Gehör zu finden, und jetzt fühlte ich mich riesengroß in meiner Wut.

Unser Haus lag am nördlichen Dorfrand, eine einstöckige Reihe von Zimmern aus Lehmziegeln, die sich wie Perlen einer Kette aneinanderreihten und mit türlosen Durchgängen verbunden waren, die alle auf einen großen Innenhof mit Sandboden führten, in dem es einen Gemüsegarten und einen Tandur-Ofen zum Brotbacken gab und der oft auch von Schafen und Hühnern bevölkert wurde. Dort wohnte ich mit meiner Mutter, mit sechs meiner acht Brüder und meinen beiden Schwestern sowie zwei Schwägerinnen und deren Kindern, in Fußnähe zu meinen anderen Brüdern, Halbbrüdern und Halbschwestern und den meisten meiner Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Im Winter regnete es durchs Dach, und im irakischen Sommer herrschte im Haus manchmal eine solche Gluthitze, dass wir die Treppe zum Dach hinaufstiegen und uns dort oben schlafen legten. Wenn ein Teil des Dachs nachgab oder einstürzte, flickten wir es mit Metallteilen, die wir aus dem Schrott in Massouds Werkstatt heraussuchten, und wenn wir mehr Platz brauchten, bauten wir weitere Zimmer an. Wir sparten Geld für den Bau eines neuen Hauses, eines dauerhafteren aus Betonblöcken, und kamen diesem Traum jeden Tag ein Stückchen näher.

Ein paar Minuten später kam ein weißer Pick-up aus dem Dorf der Entführer die Hauptstraße herunter. Zwei Männer saßen vorne drin, zwei weitere auf der Ladefläche. Es waren Araber, die mir irgendwie bekannt vorkamen, aus dem sunnitischen Stamm, von dem Dishan gekidnappt worden war. Wir sahen zu, wie der Wagen die unbefestigte Straße, die sich durchs Dorf schlängelte, hinabfuhr – ganz langsam, als hätten die Insassen nicht die geringste Angst. Sie hatten keinen Grund, durch Kocho zu fahren, denn die Straßen nach Sindschar und Mossul verliefen außerhalb des Dorfes, und ihre Anwesenheit wirkte wie eine bewusste Provokation. Ich löste mich von meiner Familie, lief mitten auf die Straße und stellte mich dem Wagen in den Weg. »Halt!«, schrie ich und schwenkte den Stock über meinem Kopf, um größer zu wirken. »Sagt uns, wo Dishan ist!«

Das Leben ging weiter. Iraker – ganz besonders die Jesiden und andere Minderheiten – sind gut darin, sich an immer neue Bedrohungen anzupassen. Das muss man auch können, wenn man in einem Land, das jeden Augenblick auseinanderzufallen droht, ein halbwegs normales Leben führen will. Manchmal bestand die Anpassung nur in Kleinigkeiten. Wir schraubten unsere Ambitionen herunter – gaben etwa den Traum auf, die Schule zu beenden oder eines Tages einer anderen Tätigkeit als der strapaziösen Feldarbeit nachgehen zu können oder einfach wie geplant eine Hochzeit zu feiern –, und es fiel uns nicht schwer, uns einzureden, dass diese Träume von Anfang an unrealistisch gewesen waren. Manchmal fand die Anpassung schleichend statt, ohne dass es jemand überhaupt bemerkte. Wir sprachen nicht mehr mit den Muslimen in der Schule, oder wir zogen uns angstvoll ins Haus zurück, wenn Fremde durchs Dorf kamen. Wir sahen Nachrichten von Anschlägen im Fernsehen und machten uns mehr Gedanken über die Politik. Oder wir verdrängten alle politischen Fragen vollständig, weil wir das Gefühl hatten, es sei am sichersten, sich einfach still zu verhalten. Nach jedem dieser Anschläge erweiterten die Männer den Erdwall außerhalb von Kocho, zuerst im Westen, Richtung Syrien, bis wir eines Tages aufwachten und feststellten, dass wir nun gänzlich von ihm umgeben waren. Und weil wir uns immer noch nicht sicher fühlten, huben die Männer anschließend auch noch einen Graben um das Dorf herum aus.

Während Dishan noch immer gefangen war, kehrte ich mit meinen Geschwistern auf die Zwiebelfelder zurück. Dort war alles beim Alten. Das Gemüse, das wir Monate zuvor gepflanzt hatten, war inzwischen gewachsen; wenn wir es nicht ernteten, würde es niemand tun. Wenn wir die Zwiebeln nicht verkauften, hätten wir kein Geld. Also knieten wir alle in einer Reihe zwischen den grünen Sprossen und zogen die Knollen aus der Erde, immer mehrere auf einmal, und sammelten sie in gewebten Plastiksäcken, in denen wir sie lagern wollten, bis sie reif waren und es Zeit wurde, sie zum Markt zu bringen. »Ob wir sie dieses Jahr wohl in die muslimischen Dörfer bringen werden?«, fragten wir uns, wussten aber keine Antwort darauf. Wenn einer von uns eine matschig-schwarze, giftig stinkende verfaulte Zwiebel aus der Erde zog, stöhnten wir auf, hielten uns die Nase zu und machten weiter.

Warum die Entführer unsere Tiere – die Henne, die Küken und die beiden Schafe – gestohlen hatten, erfuhren wir erst knapp zwei Wochen später, nachdem der »Islamische Staat« Kocho und einen Großteil des Distrikts Sindschar eingenommen hatte. Einer der Kämpfer, der mitgeholfen hatte, die Bewohner von Kocho in der Dorfschule zusammenzutreiben, erklärte einigen Frauen aus dem Dorf, was es mit den Entführungen auf sich hatte. »Ihr sagt, wir wären aus dem Nichts gekommen, aber wir haben euch vorher Botschaften gesandt«, bemerkte er, während das Gewehr an seiner Seite baumelte. »Als wir die Henne und die Küken geholt haben, wollten wir euch damit sagen, dass wir eure Frauen und Kinder holen werden. Als wir den Schafbock holten, war das, als hätten wir eure Stammesführer geholt, und als wir den Bock töteten, bedeutete das, dass wir auch sie töten würden. Und das junge Lamm, das waren eure Mädchen.«