Mike Brooks
Dark Run
Roman
Aus dem Englischen von Simon Weinert
Knaur e-books
Mike Brooks wurde in Ipswich in Großbritannien geboren und zog später zum Studium nach Nottingham, wo er heute noch mit seiner Frau, zwei Katzen, zwei Schlangen und einer Sammlung tropischer Fische lebt. Er spielt Gitarre in einer Punkband, legt als DJ auf, liebt Fußball und Naturdokus, und singt, wenn man ihn lässt.
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Dark Run« bei Del Rey
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Silvana Schmidt
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: © Guter Punkt, Kim Hoang unter Verwendung von Motiven von Thinkstock nach einer Idee von David Holland
ISBN 978-3-426-45156-4
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Spike, die Katze, meinen engagierten Schreibgefährten. Danke für das Kuscheln, das Schnurren und dafür, dass du nicht versucht hast, das Stromkabel meines Laptops allzu oft anzuknabbern.
Meine Danksagung möchte ich mit einer Entschuldigung beginnen.
In dieser Beschreibung der Zukunft habe ich viele Nationalitäten und Kulturen dargestellt, doch der Māori Apirana Wahawaha ist darunter vielleicht die bemerkenswerteste und am detailliertesten geschilderte Figur – allerdings habe ich mit ihr tatsächlich die wenigsten Berührungspunkte. Die Inspiration zu Apirana habe ich von einer anderen Māori-Figur meines Freundes Will, und ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, dass ich Elemente seiner Schöpfung in meinem Roman verwenden durfte.
Auch wenn man all die Jahrhunderte berücksichtigt, die zwischen uns und den Abenteuern der Keiko liegen, habe ich bei Apirana und seiner Herkunft bestimmt Fehler gemacht: Begrifflichkeiten, Sprache oder Details der Kultur. Ich entschuldige mich bei allen Māoris, falls mein Buch sie unbeabsichtigt aufgrund von Ungenauigkeit oder Unwissenheit verletzen sollte, und ich hoffe, dass mir derlei Fehler nachgesehen werden können (oder besser noch: korrigiert werden können – meine Adresse findet ihr im Internet).
Nachdem ich das losgeworden bin, danke ich zunächst meinem Agenten, Rob Dinsdale, ohne den dies alles, wenn nicht unmöglich, so doch extrem unwahrscheinlich gewesen wäre. Bevor er mich als seinen Klienten aufgenommen hat, habe ich nicht verstanden, wie viele Hilfestellungen man von einem guten Agenten bekommt.
Außerdem danke ich dem Kronprinzen von Grimdark, Luke Scull, der mich mit Rob bekannt gemacht hat. Trotz Feuerwaffen und einer Atombombe habe ich die Zahl seiner Todesopfer noch nicht eingeholt.
Ein ganz dickes Dankeschön an Michael (der inzwischen leider verstorben ist), Emily und alle, die bei Del Rey UK arbeiten, für ihre große Mühe bei der Verwirklichung dieses Buches. Danke für das Feedback, die Ratschläge, die großartige Coverillustration … einfach alles. Es bedeutet mir ungeheuer viel, dass Menschen so viel in Geschichten investieren, die ich mir ausgedacht habe.
Danke auch an Joe, Navah und alle anderen bei Saga Press, weil sie auf dieses Science-Fiction-Seemannsgarn von der anderen Seite des Ozeans gesetzt haben und so begeistert davon waren, dass sie ihm sogar ein ganz neues Coverbild verpasst haben – von einem legendären Künstler.
Danke an Ande, der mir mit dem Spanischen geholfen hat, nachdem Drift beschlossen hatte, dass ihm eine Sprache nicht ausreicht. Sämtliche Übersetzungsfehler gehen auf meine Kappe, nicht auf seine. Danke an Carrie, weil sie mich darauf hingewiesen hat, dass New Shinjuku wahrscheinlich ein blöder Name für einen Planeten ist (auch wenn ich mich dazu entschieden habe, ihn trotzdem zu verwenden). Danke an Delwyn, der mich mit hilfreichen Links versorgt hat und von dem der wertvolle Hinweis kam, dass ein māorischer Akzent nicht notwendigerweise dasselbe ist wie ein neuseeländischer Akzent. Danke an meine Eltern, die dafür gesorgt haben, dass ich in einem Haus voller Bücher aufgewachsen bin, auch wenn sie stets etwas verblüfft über meine Lektürevorlieben gewesen sind.
Danke an Blaise, weil sie mir meine Ideen vom anderen Ende eines Instant-Messaging-Dienstes zurückgespielt hat und weil sie schlicht meine Schreibkomplizin ist. Danke auch an alle anderen, die zu irgendeinem Zeitpunkt irgendeine Bearbeitungsversion dieses Buches gelesen und mir Feedback gegeben haben.
Danke an dich, liebe Leserin oder lieber Leser, dass du dieses Buch gekauft hast. Vorausgesetzt, du hast es gekauft. Falls du es nicht gekauft hast, es dir aber gefallen hat: vielleicht überlegst du dir ja, den nächsten Band zu kaufen? Katzenfutter und Tiefkühlnager wachsen nicht auf Bäumen, weißt du, und ich habe ein paar Mäuler zu stopfen.
Zuletzt möchte ich mich ganz herzlich bei meiner Frau Janine bedanken, weil sie es überhaupt nicht komisch fand, dass ich die letzten paar Jahre so oft nach oben verschwunden bin und meine Zeit damit verbracht habe, Welten zu erfinden. Und weil sie sich mit mir um unsere Haustiere kümmert, weil sie mich bedingungslos unterstützt und weil sie einfach wundervoll ist.
Randall’s Bar befand sich mindestens eineinhalb Kilometer unter der felsigen Oberfläche von Carmella II und besaß den einladenden Charme eines offenen Abwasserkanals. Das Barschild bestand aus schlichten Neonröhren und nicht aus Holoprojektionen, der Lichtbillardtisch im Inneren hatte Bildstörungen, und die Luft war dünn und sauer, als wäre sie schon durch zu viele Lungen gegangen. Die Bar war von einem Dutzend Männern und halb so vielen Frauen bevölkert. Sie hatten kaum etwas gemeinsam außer der hageren, gefährlichen Ausstrahlung von überarbeiteten und unterernährten Unterseitlern in verschiedenen Stadien der Trunkenheit, doch wie es aussah, waren sie allesamt entschlossen, noch mehr zu trinken. Er war nicht so bescheuert, sich von Randall ein Bier geben zu lassen. Stattdessen nippte er an einem verschmierten Glas, in dem eine klare Flüssigkeit schwappte, die man hätte als Lackentferner durchgehen lassen können, hätte sie nur etwas besser geschmeckt.
Aus eigenem Antrieb hatte er schon weit weniger einladende Etablissements besucht, aber im Moment hatte er Mühe, sich an mehr als ein oder zwei von ihnen zu erinnern.
»Hey!«
Die dünne, schmächtige Stimme stammte von einem Kind.
»Hey, Mister!«
Nichts deutete darauf hin, dass er gemeint sein könnte. Er drehte sich nicht um, sondern hielt den Kopf gesenkt und konzentrierte sich auf das Spirituosenglas in seiner Hand. Dann spürte er das unausweichliche Zupfen an seiner Armaweste.
»Hey, Mister! Sind Sie Ichabod Drift?«
Drift seufzte, sah auf und betrachtete sein Abbild im Spiegel, der hinter der Bar angebracht war: scharf geschnittene Gesichtszüge, schulterlanges, violett gefärbtes Haar, das er sich mit einem Stirnband aus dem Gesicht hielt, und goldbraune Haut, die ihre Farbe einzig seiner Abstammung zu verdanken hatte und nicht dem Umstand, dass sie der ultravioletten Strahlung eines Sterns ausgesetzt gewesen wäre. Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und hob geistesabwesend die Hand, um sich an seinem mechanischen rechten Auge zu kratzen, während die Linsen darin schwirrten und den Jungen scharfstellten.
Eine blinde, übergroße Bergbauschutzbrille starrte ihn an. Sie hockte in einem schmutzigen Gesicht unter blonden Haarstoppeln. Das zusammen mit der hohen Stimme und einem formlosen Overall – den die Gestalt wahrscheinlich von einem älteren Geschwister auftrug – machte es Drift unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Er versuchte es mit einem Lächeln, dasselbe gewinnende Lächeln, das ihm unzählige Male Zugang zu Betten verschafft oder ihm aus Problemen herausgeholfen hatte (und für jemanden wie Ichabod Drift, in dessen Leben Geld eine große Rolle spielte, hatte »unzählig« schon etwas zu bedeuten).
»Si, soy yo«, sagte er gefällig, »aber wer bist du denn? Bisschen jung für einen Richter, was?«
Nicht, dass die Richter gerade nach ihm suchten. Ichabod war vieles, aber kein Gesetzloser … kein richtiger. Vielmehr war er, wie es der alte Kelsier zu sagen pflegte, »interessant«. In welchem Maße interessant und für wen interessant, das hing ganz davon ab, was in letzter Zeit passiert war und ob er für diese Zeit ein passendes Alibi hatte oder nicht.
»Sind Sie der Kerl, der Gideon Xanth getötet hat?«, fragte das Kind. Plötzlich war das Dämmerlicht der Bar von lauerndem Misstrauen erfüllt. Xanths Bande, die Wilden Spinnen, hatte die letzten achtzehn Standardmonate lang die drei Sektoren des gesetzlosen Wabennests aus Gängen, Höhlen und ehemaligen Minenschächten bedroht, die die sogenannte Unterseite des Mondes Carmella II der Vereinigten Staaten von Nordamerika bildeten. Drift hatte drei verschiedene Versionen der Geschichte gehört, wie er zusammen mit seiner Partnerin die Spinnen fertiggemacht und anschließend Gideons Leiche zum Richterbüro in der Oberen Unterseite geschleppt hatte, um das Kopfgeld zu kassieren, das auf seinen verkohlten (und teilweise fehlenden) Kopf ausgesetzt war.
»Das ist ziemlich weit weg von hier passiert«, sagte er und verlagerte beiläufig das Gewicht, sodass er nicht nur seinen jugendlichen Fragesteller, sondern auch die Tür im Blick behielt. Die rechte Hand ließ er schlaff herabbaumeln, damit sie ganz in der Nähe der Pistole an seinem Hüftholster war. »Wundert mich, dass sich die Nachricht so schnell verbreitet hat. Von wem hast du das gehört?«
»In der Stadt ist vorhin ’ne Gruppe Männer aufgekreuzt«, piepste das Kind. »Die haben sich nach Ichabod Drift erkundigt, nach dem Mexikaner, der Gideon Xanth getötet hat. Sie meinten, wer ihnen seinen Aufenthaltsort nennt, kriegt zehn Kröten.«
»Verstehe«, sagte Drift, und in seinem Bauch regte sich eine bittere Vorahnung. Nicht, dass er nicht damit gerechnet hatte, aber trotzdem … Es war ihm wohl anzusehen, denn das Kind wich plötzlich zurück, ging außerhalb seiner Reichweite und hastete zur Tür, als hätte es Angst, jemand könnte es mit Gewalt davon abhalten, die versprochene Belohnung einzustreichen.
»Hey!«, rief Drift der zurückweichenden Gestalt nach. »Hat einer von denen seinen Namen genannt?«
»Nur der Große«, kam die Antwort zurück, und von dem Kind war nur noch der Kopf mit der Schutzbrille zu sehen, der hinter dem Türrahmen hervorlinste. Drift zog die Braue nach oben und bedeutete dem Kind mit einer Handbewegung, dass es ihn nicht länger auf die Folter spannen solle.
»Er sagte, sein Name sei Gideon Xanth.«
Dann verschwand der Kopf. Die Saloontüren schwangen hin und her, und es hing eine erwartungsvolle Spannung in der Luft, die Drift beinahe schmecken konnte. Aber vielleicht war das auch nur die Galle.
»Tja, Scheiße«, bemerkte er an niemanden Bestimmten gerichtet, ließ sich von seinem Stuhl gleiten und kam mit seinen Stiefeln auf dem staubigen Boden zu stehen. Alle Augen in der Bar waren nun auf ihn gerichtet. Demonstrativ strich er sich die Armaweste glatt, rückte sein Stirnband zurecht, überprüfte seine Pistolen und schritt zur Tür. Bruiser, der ältere, aber noch immer imposant wirkende Rausschmeißer, nickte ihm zu, als er an ihm vorbeiging.
»Bist du sicher, dass du da raus willst, Drifty?«
»Das ist bestimmt bloß ein einfaches Missverständnis«, gab Drift mit überzeugender Stimme zurück, doch er glaubte seinen eigenen Worten nicht. Bruiser blickte nach draußen, und zu den Falten auf seiner wettergegerbten Stirn gesellten sich ein paar neue.
»So einfach sieht das in meinen Augen nicht aus.«
»Ach, ich weiß nicht«, piepste Wiesel neben ihm. Wiesel war klein und dürr, und er hatte in Randall’s Bar die Aufgabe, alles in Verwahrung zu nehmen und später wieder auszuhändigen, was Bruiser von den Gästen konfiszierte – was im Grunde jede Feuerwaffe war, die größer als eine Pistole war, denn nur ein Trottel würde auf Carmella unbewaffnet eine Kaschemme betreten. Dabei half Wiesel sein ausgezeichnetes Gedächtnis. »Ich würde sagen, dass Gideon nicht richtig tot ist, ist eine ziemlich einfache Tatsache.«
»Kommt auf den Blickwinkel an«, erwiderte Drift und schlenderte auf den Platz hinaus, der Drowning Bends Zentrum darstellte. In der Luft hing beißender Chemiegeruch, da die Industrieabwasserrohre in der Nähe undicht waren. Jetzt, als er sozusagen wieder draußen war, fraß sich der Gestank in seine Nasenlöcher, während die Lichter hoch über ihm im gewölbten Felsdach der Habitatskuppel für eine andauernde, verlässliche Beleuchtung sorgten. Was in gewisser Weise bedauerlich war. Gerade jetzt wäre ihm ein schattiger Bereich zum Verstecken ziemlich willkommen gewesen.
Die Wilden Spinnen hatten sich auf dem Platz versammelt. In seinem sechsbeinigen, speziell für ihn angefertigten Gehwagen, der Gerüchten zufolge mit echtem Rinderleder gepolstert war, hockte die beeindruckende Gestalt von Gideon Xanth.
Kurz erwog Ichabod Drift, einfach umzudrehen und davonzulaufen, doch dann ertönte ein Ruf. Er war bemerkt worden.
»Drift!«, bellte Xanths donnernder Bass. Er schnippte etwas Großes, Glänzendes von seinem Daumen, und das Kind hechtete, um das versprochene Zehn-Kröten-Stück aufzufangen, bevor es in eine Seitengasse verschwand.
»Hola, Gideon!«, rief Drift zurück und ließ seine Hände auf seinen Pistolen ruhen. Zumindest auf zwei von ihnen. Seine Notfallpistole steckte auf dem Rücken im Gürtel. »Du siehst gut aus!«
»Ich sehe gut aus für eine Leiche, willst du sagen?«, knurrte der Bandenführer. »Jungs, schaut, dass Mr. Drift keine Dummheiten macht, klar?«
Mindestens ein Dutzend Waffen unterschiedlicher Kaliber, aber ungefähr derselben Tödlichkeit ruckten hoch und wurden geradewegs auf Drift gerichtet, was weder einen positiven Einfluss auf seine Gelassenheit noch auf seine Transpiration hatte.
»So ist es besser«, sagte Xanth, fingerte an der Steuerung seines Gehwagens herum und lenkte das scheppernde Gerät nach vorn, während die Wilden Spinnen zu beiden Seiten vorrückten, die Waffen immer noch erhoben und leider, leider auf ihn gerichtet. »Jungs, ihr wisst, dass Mr. Drift schnell zieht und gut schießt. Sollte er also herumzappeln, dann tut euch keinen Zwang an und lüftet ihn mir gut durch, bevor er auf dumme Ideen kommt. Nun, Drift.« Mit gerunzelter Stirn sah die vernarbte Visage des korpulenten Bandenführers von seinem hohen Sitz auf ihn herab. »Ich sitze in einer Bar in der Tiefen Unterseite, denke mir nichts Böses, als mir Neuigkeiten zu Ohren kommen. Wie’s scheint, bin ich tot, und du bist daran schuld.«
»Die Meinungen darüber, ob ich den Abzug gedrückt habe, gehen auseinander«, versetzte Drift und zwang sich, den Blick nicht allzu sehr schweifen zu lassen.
»Ah ja«, nickte Xanth. »Deine Partnerin. Muss dich ganz schön Mut gekostet haben, vor den Gesetzeshütern da Oben hinzutreten und zu behaupten, dass du mich getötet hast, wo du doch wusstest, dass sie dich aufknüpfen würden, wenn sie deiner Lüge auf die Schliche kämen. Sogar noch viel mehr Mut, weil du ja davon ausgehen musstest, dass ich davon erfahren und die Leute eines Besseren belehren würde, was mein Ableben betrifft. Und da ich weiß, dass du in Wahrheit ein feiger Speichellecker bist, Drift, muss es deine Partnerin gewesen sein, die den Plan ausgeheckt hat.« Er sprach so laut, dass die Beobachter hinter den Türrahmen und hinter den Vorhängen ihn hören konnten, doch mit einem Schlag verabschiedete er sich von seinem theatralischen Tonfall. Was blieb, war die stimmliche Entsprechung einer Messerklinge, blank und scharf und gar nicht freundlich. »Wo ist das Luder, Drift?«
»So spricht man nicht von einer Dame.« Drift zuckte mit den Schultern.
Er sah den Schlag nicht kommen. Er bekam nur mit, dass Xanth etwas mit seiner Hand tat, und dann schnellte eines der Spinnenbeine des Gehwagens nach oben und schleuderte ihn zwei Meter nach hinten, wo er im Dreck landete.
»Ich spreche nicht von einer Dame, Drift«, knurrte Xanth. »Ich kenne Damen. Ich hatte Verabredungen mit welchen, habe mit welchen gegessen, habe mit welchen geschlafen. Eine habe ich sogar geliebt, lang ist’s her. Ich rede von der Schlampe, mit der du durch die Gegend läufst und die genauso wenig eine Dame ist wie ich. Wo ist Tamara Rourke?«
Ein paar Sekunden lang herrschte unbehagliches Schweigen, während Drift nach Luft schnappte und sich auf dem Ellbogen so abzustützen versuchte, dass es nicht auffiel, dass seine rechte Hand schon wieder zum Kolben seiner Pistole wanderte. Das Aufblitzen eines kleinen roten Punkts auf Xanths Stirn enthob ihn jedoch einer Antwort.
»Hier.«
Drift wagte es, nach rechts zu sehen. Mit dem Saracen-920-Gewehr im Anschlag und Gideon Xanth im Visier schritt Rourke auf die Gruppe zu. Sie war kleiner als Drift und von schlanker Statur. Ihr dunkelgrüner Body hätte ihre jungenhafte Gestalt nur noch mehr betont, wäre er nicht unter einem wehenden, langen Mantel begraben gewesen. Den Hut hatte sie tief ins Gesicht gezogen, und aus ihrem dunkelhäutigen Gesicht funkelte es hervor, als ihr Blick über die aufgereihten Wilden Spinnen glitt. Jeder Zweite von ihnen richtete die Waffe nun auf Rourke, allerdings würden sie sich davor hüten, das Feuer zu eröffnen, während sie noch ihren Boss im Visier hatte. Tamara Rourke hatte sich ihren Ruf als Scharfschützin wohl verdient.
»Rourke, du solltest nicht so loyal sein«, schnaubte Xanth. Jetzt, da ein Gewehrlauf auf seinen Kopf gerichtet war, bemühte sich der Bandenführer nicht mehr um einen Plauderton, und Drift konnte es ihm nicht verübeln. »Du hättest dich aus der Affäre ziehen können, während wir mit diesem Wurm beschäftigt waren. Aber du musstest dich ja wieder einmischen.«
»Du hättest mir sowieso hinterhergejagt«, versetzte Rourke und brachte es fertig, mit den Schultern zu zucken, ohne dass der rote Punkt wackelte. »Von dir könnte ich dasselbe sagen. Den Behörden wurdest du als tot gemeldet. Du hättest einfach aufhören können, Kriegswitwen zu terrorisieren und Händler zu erpressen, und hättest dich mit dem gestohlenen Geld in den Ruhestand begeben können. Du wärst nicht der Erste gewesen.«
»Womöglich hätte ich das getan«, knurrte Xanth. »Ich wäre vor den Richtern abgehauen und hätte mir ins Fäustchen gelacht, während ich mein Geld ausgegeben hätte. Aber es gibt Dinge, die man nicht hinnehmen kann. Und eines dieser Dinge ist, dass ausgerechnet ihr beide behauptet habt, mich getötet zu haben.« Sein vernarbtes Gesicht verzog sich zu einer hasserfüllten Fratze. »Das andere ist, dass ihr eine Leiche gebraucht habt, um das Kopfgeld zu kassieren. Und unterhalb der Oberfläche gab es nur einen Menschen, der so groß war wie ich. Ihr Schweine habt meinen Jungen Abe getötet und seinen Leichnam zu diesen Wichsern auf der Oberen Unterseite geschleift.«
»Hab dir doch gesagt, dass wir besser einen toten Bären rasieren und ihn in einen Mantel hätten stecken sollen«, sagte Drift mit einem Seitenblick zu seiner Partnerin.
»Die Importkosten hätten das Kopfgeld aufgezehrt«, gab Rourke ungerührt zurück.
»Haltet die Fresse!«, herrschte eine der Spinnen sie an und richtete seine Waffe noch nachdrücklicher auf sie. Drift versuchte, ihn mit den im Umlauf befindlichen Beschreibungen der bekannten Bandenmitglieder Xanths abzugleichen, doch er war nicht erfolgreich. Entweder handelte es sich um einen Neuzugang oder es hatte sich bisher schlicht niemand die Mühe gemacht, ihn zu identifizieren.
»Sonst was?«, wollte Rourke wissen. »Wenn einer von euch auch nur hustet, verliert Gideon seinen Kopf.«
»Glaubst du, das kümmert mich?«, brüllte Xanth. »Du hast meinen Jungen getötet! Ihr könnt mich abknallen, aber keiner von euch entkommt hier lebend!«
Hätte Ichabod Drift das Gewehr gehalten, dann hätte er etwas Bissiges gesagt. Etwas Denkwürdiges. Etwas, das jeder, der davon hört, weitererzählen muss, damit die Geschichte wächst und die Lauschenden über seinen Witz in einer brenzligen Lage staunen könnten.
Freilich hätte er den Spinnen damit eine Sekunde Zeit gegeben und sie gewarnt, und Tamara Rourke war keine Spielerin. Und drum, nachdem die letzte Silbe ihres Todesurteils noch auf Gideons Lippen schwang, bellte die Saracen auf, und der halbe Schädel des Hünen platzte auf und spritzte seitlich herab, ein Regen aus Blut, Knochen und heimatlosen Nervenzellen.
Eine entscheidende halbe Sekunde lang waren die Wilden Spinnen erstarrt. Sie waren Bandenkrieger und gewohnt, Kneipenwirte zu drangsalieren, Reisenden Zölle abzupressen oder sich ungeordnete Schießereien mit ihresgleichen zu liefern, am liebsten dann, wenn sie zahlenmäßig überlegen waren. Das Konzept einer einzelnen Frau, die so mir nichts, dir nichts ihren Anführer über den Haufen schoss, war ihnen vollkommen fremd.
Deshalb reagierte keiner von ihnen schnell genug.
Drift zückte seine Pistolen und ballerte los. Zwei Spinnen, die er oder Rourke getroffen hatten, sah er fallen. Doch dann musste er sich plötzlich panisch zur Seite rollen, denn Xanths mächtiger Leib sackte nach vorn auf die Steuerung seines Gehwagens, und die gyroskopisch stabilisierte Maschine stampfte los, direkt auf Drift zu. Er war jedoch nicht der Einzige, der Schüsse abfeuerte. Rings um die plötzlich deckungslosen Spinnen hagelte es Kugeln von den Wänden. Ein paar der Banditen erwiderten das Feuer, doch ihr fehlgeleiteter Versuch, sich dem Kampf zu stellen, wurde abrupt beendet, als ein Pfeifgeräusch die Ankunft einer Granate ankündigte. Sie detonierte im Rücken einer ihrer Leute. Augenblicklich leckten orangefarbene Flammen in die Höhe, und Flammenspritzer setzten zwei weitere Bandenmitglieder in Brand.
Einige Spritzer des brennenden Gels landeten nur wenige Zentimeter von Drift entfernt, und er wich robbend vor ihnen zurück. Dabei verfluchte er Micah. Die Feuerkanone, die der ehemalige Soldat benutzte, war bei Weitem keine präzise Waffe. Sie war jedoch auf verheerende Weise wirkungsvoll. Nachdem der Fluchtversuch des Banditen, der von der Granate getroffen worden war, durch einen Gnadenschuss in den Kopf unterbunden worden war, warfen die Bandenmitglieder, die nicht gerade mit dem Ersticken der Flammen auf ihren Körpern beschäftigt waren, ihre Waffen weg und streckten demonstrativ die Hände in die Höhe.
Das Feuer wurde eingestellt. Drift rappelte sich wieder auf, steckte die Pistolen weg und klopfte sich den Staub vom Körper. Dabei fiel ihm auf, dass eine der Spinnen ihn finster anstarrte.
»Was?«
»Die haben alle behauptet, deine Leute hätten dich verlassen«, beschwerte sich der Mann im Tonfall eines Sechsjährigen, dem man mitteilte, dass es nun doch keinen Pudding gab. »Es hieß, du hättest sie wegen ihres Anteils am Kopfgeld abgeknallt!« Aus den Gebäuden ringsum tauchten Gestalten auf. Micah hielt noch immer den Lauf seiner furchterregenden Wumme auf die verängstigten Gangster gerichtet, während das Gewehr in Apiranas riesigen Händen wie ein Spielzeug wirkte. Die Geschwister Chang hielten ihre Pistolen so, als wüssten sie, wie man mit ihnen umging, und hinter ihnen erschienen ein halbes Dutzend schwarz gekleideter Richter mit Spiegelbrillen. Der Plan war zusammen mit den Richtern ausgeheckt worden.
»Tja«, seufzte Drift. »Das hast du davon, wenn du auf Gerüchte hörst.«
Die Velvet Lounge war ein etwas gehobenerer Schuppen als das Randall’s. Zum einen stammten die Spirituosen aus Flaschen mit Etiketten und schmeckten nicht so, als würden zwei Gläser davon zu einer einwöchigen Blindheit führen. Zum anderen gab es tatsächlich Polsterbezüge statt blanker Bretter, auch wenn man Samt mögen musste, um sie geschmackvoll zu finden. Und drittens befand es sich nicht tief vergraben in dem Gewirr aus Tunneln unter der Kruste von Carmella II, sondern an der Oberfläche, sodass man neben den blinkenden Lichtern der Atmokratzer, die ringsum wie funkelnde Pilze emporschossen, auch richtige Sterne sah. Wenn sie aus den Augenwinkeln einen erhaschte, zog es Jenna McIlroys Blick immer wieder zu ihnen hinauf. Manchmal waren es aber auch nur die Lichter eines Frachters oder Passagierlinienschiffs. Eigentlich wollte sie nicht darüber grübeln, was das für Schiffe waren, woher sie kamen oder welchem Zweck sie dienten. Die Galaxis war zu immens, als dass sie mit ihren Vermutungen richtigliegen konnte, und deshalb führten sie am Ende nur zu Verfolgungswahn.
»Man sollte meinen, sie hätten die Atmo inzwischen sicher gemacht«, bemerkte Apirana Wahawaha, nahm einen Schluck von seinem Bier und kratzte sich die dunklen Wirbel des tā moko auf seiner Wange. »Big A« war zweifellos das auf Anhieb furchterregendste Crewmitglied der Keiko, des vielseitigen interstellaren Schiffs, das in den letzten vier Standardmonaten Jennas Heimat geworden war. Er war in vielerlei Hinsicht riesig: körperlich, stimmlich und charakterlich, und die Stammestätowierungen, die den Großteil seiner Haut bedeckten, verliehen ihm selbst hier draußen, in dieser Galaxis der Wunder, etwas Fremdartiges. Er trank jedoch nur selten Alkohol und wenn, dann nie mehr als ein Glas. Deshalb nippte er ruhig und langsam daran. »Die Sterne zu sehen, ist schön und gut, aber ich gehe hin und wieder auch gerne spazieren, weißt du?«
»Ich habe gehört, dass sie immer noch daran arbeiten«, gab Ichabod zurück. Im krassen Gegensatz zu dem enthaltsamen Māori hatte der Kapitän der Keiko bereits das erste Drittel einer Whiskeyflasche in sich hineingeschüttet und zeigte keine Anzeichen, das Tempo in nächster Zeit drosseln zu wollen. »Die haben da draußen Sachen gepflanzt oder so. Nur die Sterne wissen, wie lange es dauern wird, bis wir dort atmen können.«
»Die werden sich nicht viel Mühe geben«, warf Micah van Schaken ein, vor dem ein großes Glas mit holländischem Lagerbier stand. Er schwor darauf und hielt es für das beste in der ganzen Galaxis, auch wenn der Rest der Crew standhaft behauptete, dass es nach Pisse schmeckte. »Sobald man die Leute rauslässt, denken sie an Freiheit, und das ist für jede Regierung die spaßige Hölle.« Er nickte bekräftigend. »Besser hältst du die Leute hinter Stahlwänden und dicken Fenstern und erklärst ihnen, es sei zu ihrem eigenen Schutz. Lass sie glauben, dass sie von dir abhängen. Lass sie glauben, dass das Gefängnis ihr Heim ist, und sie werden es dir danken.«
»Du bist ein Quell des Trosts und des Frohsinns, weißt du das?«, grinste Drift ihn an. Ein silberner Zahn blitzte aus seinem weißen Lächeln hervor. Der ehemalige Soldat schnalzte nur mit der Zunge.
»Lach nur, aber ich habe gesehen, was Freiheit mit den Leuten anstellt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie sie umbringt.« Er verlor den Faden und starrte sein Bier an. Anscheinend faszinierten ihn die aufsteigenden Bläschen darin. Was sieht er dort?, fragte sich Jenna. Flugabwehrfeuer? Blutspritzer? Die Ausbreitung der Menschheit in der Galaxis war nicht die Verwirklichung einer friedlichen Utopie gewesen, wie die Idealisten gehofft hatten. Einmal außer Reichweite des Ersten Sonnensystems hatten keine Gesetze mehr gegolten, um die Leute zu zügeln. Und die seltenen Planeten oder planetengroßen Monde, die ohne größere Terraformungsmaßnahmen eine bewohnbare Atmosphäre für Organismen von der Erde boten, waren extrem wertvoll.
Deshalb verwunderte es nicht, dass die inoffiziellen Kriege um brauchbare Agriwelten oder mineralreiche Monde blutig verlaufen waren. Die beteiligten Seiten hatten allesamt erklärt, dass sie lediglich ihre Interessen schützen würden. Micah war bei der Europan Commonwealth Frontier Defense Unit gewesen, bis es ihm zu dumm geworden war, das Blut anderer Leute zu vergießen, nur damit andere sich bereicherten. Er war bei Weitem nicht der einzige ehemalige Soldat, der zu diesem Schluss gekommen war, und Jenna vermochte keinem von ihnen einen Vorwurf zu machen.
»Glaubst du, Freiheit ist eine schlechte Sache? Dann probier’s mal mit der Alternative«, versetzte Jia Chang spitz. Das Red Star Confederate war eine der sehr autoritären interstellaren Regierungsvereinigungen, und Jia und ihr Bruder Kuai machten keinen Hehl aus ihrem Wunsch, genug Geld zu sparen, um ihre Eltern aus Chengdu auf der Alten Erde herauszuholen. Offenbar war die Keiko noch nicht häufig in Systemen des Red Star gewesen, denn Drifts Mandarin war dürftig und sein Russisch kaum besser. Doch nach allem, was man hörte, war das legale Transportwesen so stark reguliert, dass es als unabhängiger Anbieter praktisch unmöglich war, Aufträge an Land zu ziehen, und die eher unseriösen Arbeiten wurden von den Gangsterbossen sogar noch strenger kontrolliert.
»Die machen diese Welt grün, wenn es klappt«, sagte Tamara Rourke voller Überzeugung. Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Schatten von Carmella Prime hinüber, dem mächtigen Gasriesen, der als blaugrüner Halbmond durch ein paar der oberen Fenster schielte. »Die meisten Orte würden selbst mit der hiesigen Umlaufzeit genug Licht bekommen, um dort Pflanzen anzubauen, und die Chance, eine Agriwelt zu erhalten, ist zu groß, um es nicht zu versuchen.«
Micah grunzte nur. Jenna hatte festgestellt, dass der mürrische Holländer sich meistens so verhielt: Erst platzte er mit seiner Meinung heraus, dann weigerte er sich, darüber zu diskutieren. Andrerseits war es unwahrscheinlich, dass der Militärdienst bei einem Menschen die Diskussionsfreude förderte, viel eher schon das Konzept: »Bewegt es sich noch? Dann schieß noch mal drauf.« Und um ehrlich zu sein, war Micah genau aus diesem Grund Teil des Teams.
»Wie sieht der Plan jetzt aus?«, fragte Jenna. Sie war das kleinste und jüngste Mitglied der Mannschaft, das darüber hinaus am kürzesten dabei war. Ihr Status als Frischling war ihr peinlich bewusst, auch wenn die anderen sie gar nicht entsprechend behandelten. Sie hatte sich in einer Bar auf Franklin Major herumgetrieben und verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, den Planeten zu verlassen, obwohl sie nicht annähernd genug Geld hatte, um die Reise zu bezahlen. Doch aus ihrer fruchtlosen Suche nach einem Schiff, das sie mitnehmen würde, war bald das Projekt geworden, sich von der in ihrem Besitz befindlichen Kohle in Alkohol zu ersäufen.
Sie konnte sich nicht gut an den Abend erinnern, aber irgendwann hatte sie anscheinend angefangen, sich mit Tamara Rourke zu unterhalten. Und am Ende hatte sie die ältere Frau nach draußen gezerrt, um ihr zu demonstrieren, wie gut sie sich selbst im volltrunkenen Zustand durch ein elektronisches Schloss hacken konnte. Dieser Trick hatte ihr eine Schlafkoje auf der Keiko verschafft (und beinahe dazu geführt, dass die örtliche Polizei sie alle hochgenommen hätte, doch Drift war gewillt gewesen, dies als Anlaufschwierigkeiten zu verbuchen). Bislang hatte sie sich als nützlich erwiesen, indem sie ihnen Informationen besorgt hatte, die nicht für sie bestimmt waren, und ihnen in Windeseile eine neue Funk-ID gebastelt hatte, als sie ihr Schiff plötzlich als etwas anderes hatten ausgeben müssen. Und sie hatte den Fehler ausgemerzt, der dazu geführt hatte, dass das Holo-Display gezappelt und gezuckt hatte, wenn sich nicht jemand auf das andere Ende der Schaltfläche gelehnt hatte. Allerdings konnte sie beim besten Willen nicht schießen, weshalb sie während des jüngsten Streichs an Bord des Landungsshuttles Jonah geblieben war.
»Der Plan«, sagte Drift, nippte am Whiskey und hielt einen Moment inne, um die rauchigen Aromen im Mund zu verteilen, was tatsächlich genussvoll aussah. »Morgen gehen wir noch einmal ins Richterbüro und schauen, ob da noch andere leckere Steckbriefe rumhängen.«
»Der Trick funktioniert aber nur einmal«, gab Rourke zu bedenken. Sie hatte ihren Hut abgenommen, unter dem ihr kurz geschorenes Haar zum Vorschein kam, eine dicke schwarze Masse ohne eine Spur von Grau. Niemand schien zu wissen, wie alt Tamara Rourke war, nicht einmal Drift, der schon mehr als acht Jahre lang mit ihr unterwegs war. Jenna vermutete, dass sie, so wie der Kapitän, schon gut über dreißig war, doch ihr Gesicht hätte, je nach Lebenswandel, auch zu jemandem mit zwanzig Jahren mehr oder weniger auf dem Buckel gepasst, ganz zu schweigen bei Leuten, die Boost nahmen, um den Alterungsprozess zu verlangsamen. Dieser Umstand und ihre Gesichtszüge, die weniger deutlich weiblich als vielmehr filigran waren, ihre jungenhafte Figur und eine erstaunlich tiefe Stimme führten dazu, dass sie, falls nötig, auch als Mann durchgegangen wäre. Auch wenn Rourke es nie erwähnt hatte, hatte Jenna die schwache Spur einer Erinnerung und vor allem die Befürchtung, dass ihr erster Kontakt zu der Mannschaft der Keiko dadurch zustande gekommen war, dass sie »ihn« angebaggert hatte.
»Sei nicht so schwarzseherisch«, schalt Drift seine Partnerin, schnalzte mit der Zunge und drohte mit dem Finger. »Denk doch nur mal, was wir hier verdienen können! Ich meine, sieh dir doch nur die Kohle an, die wir heute gemacht haben.« Er zählte auf: »Wir haben genug bekommen, um die Graviplatte am Heim-Generator im Laderaum zu reparieren, die Hitzeschilde der Jonah zu überholen und aufzutanken, und wir haben immer noch genug übrig, um uns zu betrinken. Und das alles für einen Tag Arbeit!«
»Eine Arbeit, die uns fast umgebracht hätte«, sagte Rourke ungerührt. Jenna war noch immer dabei, sich mit den winzigen Variationen im Ausdruck der älteren Frau vertraut zu machen, denn sie waren das einzige Unterscheidungsmittel zwischen ihrem trockenen Humor und ihrem tödlichen Ernst. Normalerweise ging sie auf Nummer sicher und ging von Ernst aus. So auch jetzt. Apirana behauptete, er hätte Rourke einmal lachend erlebt, doch Jenna wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte.
»Wir hatten die Situation doch vollkommen unter Kontrolle«, erwiderte Drift, und mit seinem umwerfenden Grinsen hob er das Glas. Er war der Verkäufer, der Jahrmarktschreier, während Rourke die Steuermannsmaat abgab. Wenn die Leute kapierten, dass sie auf die schlanke, dunkle Gestalt im Hintergrund hätten achten sollen, waren sie meistens bereits hinters Licht geführt oder mit Gewalt übertölpelt worden. »Ein Prost auf die Arbeit als Gesetzeshüter!«
»Ich würde sagen, dass wir hier fertig sind«, widersprach Apirana. »Ein paar kleine Fische schnappen und dann Xanth absägen, das ist eine Sache. Aber jetzt, wo man unsere Namen kennt, sind wir hier nicht mehr willkommen. Xanth war leicht zu finden. Kleinere Ziele sind nicht so leicht. Jeder, der was weiß, wird die Klappe halten, und dann geht’s uns genauso wie den Richtern. Schlimmer sogar, denn sie besitzen Autorität, wir bloß unsere Knarren.«
»Knarren reichen«, sagte Micah.
»Nur wenn wir selber auch das Gesetz brechen wollen«, entgegnete Apirana bissig. Micah zuckte mit den Schultern und wandte die Aufmerksamkeit wieder seinem Lager zu. Wenn es nach dem Söldner ging, war Gewalt eine Sprache, die jeder verstand.
»Mir gefällt es auf der ’richtigen’ Seite des Gesetzes«, warf Kuai ein, der an dem Drachentalisman um seinen Hals herumfingerte. Er setzte kein »ausnahmsweise« hinzu, aber das brauchte er auch nicht. Drifts und Rourkes Umgang mit den Gesetzen der verschiedenen Regierungen in der Galaxis war stets von Zweckmäßigkeit und weniger von Gehorsam bestimmt gewesen.
»Weil du in deinem Maschinenraum ja auch so viel gefährliche Arbeit verrichtest«, schnaubte Jia. Sie klopfte sich auf die Brust. »Ich dagegen beurteile die Radarschatten, weiche Sicherheitspatrouillen aus, hänge mich an den Antriebskegel eines Frachters, um unseren Emissionsstreifen zu kaschieren, laufe Gefahr, uns alle im Austrittsstrahl abzufackeln, berechne die Sprünge zwischen den Systemen …«
»Und wenn du einen Fehler machst, lande ich trotzdem im Kittchen oder lasse mein Leben«, gab Kuai zu bedenken.
»Jammerlappen.«
»Ich sag ja nur, dass es mir lieber ist, wenn das Risiko, im Gefängnis zu landen oder zu sterben, geringer ist. Ich glaube nicht, dass …«
»Cállate«, seufzte Drift, und die Geschwister Chang beendeten ihr Wortgefecht. Drift schenkte sich ein weiteres Glas Whiskey ein, schnupperte, nippte und stellte es wieder auf den Tisch. »Morgen früh geh ich ins Büro der Richter und schaue, ob es irgendetwas gibt, was machbar und rentabel aussieht. Wenn ja, dann vollbringen wir eine gute Tat und werden dafür bezahlt. Wenn nicht …« Er zuckte mit den Schultern. »Dann werden wir sehen.«
Auf vielen der Minenwelten und ehemaligen Minenwelten, die Drift besucht hatte, gab es klar definierte soziale Schichten, und »Schicht« war tatsächlich ein sehr treffender Begriff dafür. Die Regierungsbüros und die Wohnungen der Reichen und Gutsituierten mit ihren guten Verbindungen befanden sich an der Oberfläche. Selbst wenn die Oberfläche noch nicht über eine atembare Atmosphäre verfügte wie im Fall von Carmella II, wucherten die hermetisch versiegelten Villen, Weltraumkratzer und Regierungsgebäude mit ihren pseudogotischen Verkleidungen wie ein riesiges Durcheinander aus Geld und Macht, und untereinander waren sie durch ein Netz von Fußgängerbrücken verbunden. Zwischen den Luftschleusen am Boden fuhren luftdichte Buggies und Raupenfahrzeuge hin und her, und ihre Ketten und Reifen wirbelten Staubwolken in das Kohlendioxid oder den Stickstoff oder aus was auch immer die Luft da draußen derzeit bestand. Drift wusste es nicht genau, und es interessierte ihn auch nicht. Wenn er sie einzuatmen versuchte, würde er ersticken, und das war alles, was er wissen musste.
Unter der Oberfläche waren die Leute jedoch ärmer. Wenn ein Minenschaft keinen der vor Ort abgebauten Rohstoffe mehr förderte, konnte die Bergbaufirma trotzdem noch Geld aus ihm herausschlagen. Und zwar indem sie ihn öffnete, verbreiterte und an Bauunternehmer verkaufte, die darin dann einfache Fertigwohnungen errichteten. An Orten wie Carmella II, wo die Kruste großräumig und bis in große Tiefen ausgeschlachtet worden war, existierte ein riesiges Geflecht aus Gängen und Kammern, und es herrschte kein Mangel an Menschen, die diese bevölkerten. Und das alles ungeachtet der beengten Verhältnisse und der Abhängigkeit von Elektrizität nicht nur für Unterhaltung, sondern schlicht zum nackten Überleben. Die Air-Rent-Skandale von vor fünfzig Jahren gehörten zwar der Vergangenheit an, doch wenn die Atmosphäresiegel versagten oder die Pumpen ausfielen, dann konnte einem ganzen Schacht die Luft ausgehen.
»Wie kommen Leute auf die Idee, hier unten zu leben?«, fragte Jenna und spielte geistesabwesend mit dem unförmigen Metallarmband herum, das sie immer am rechten Handgelenk trug. Sie nickte in Richtung einer der Magnethebeplattformen, die hinunter zur Unterseite gingen. Sie standen in der hell erleuchteten Zugangshalle – einem riesigen Saal, der beinahe so groß war wie ein Flugzeughangar – und beobachteten die Leute, die an ihnen vorbeiwuselten. Minenarbeiter, Richter, Putzleute, Büroangestellte und Leute mit weniger offensichtlichen Aufgaben und Vorhaben.
»Nicht viele wollen das«, gab Drift beiläufig zurück. Er hatte einen leichten Kater, doch das Hochgefühl über den gestrigen Erfolg sorgte dafür, dass er nicht in Selbstmitleid versank. Und natürlich das fette Kopfgeld, das sie eingesackt hatten. Auf Gideon Xanth allein waren schon fünfzigtausend USNA-Dollar ausgesetzt gewesen, von denen man ihnen allerdings etwas abgezogen hatte, weil sie mit den Richtern zusammengearbeitet hatten. Trotz allem verzog Drift das Gesicht, als ein dröhnender Sechsradwagen auf einen der nur für Fahrzeuge geöffneten Schächte zudonnerte, ein Geräusch, das von seinen Schädelwänden widerzuhallen schien. »Aber im Bergbau verdient man nicht sonderlich gut, und wenn du genug zusammensparen willst, um von diesem Felsklotz wegzukommen, dann musst du deine Lebenshaltungskosten niedrig halten. Hier unten ist es billig, das ist eine Tatsache.«
»Billig und trostlos«, nuschelte Jenna, worauf Drift sich ein Lächeln gestattete. Jenna hatte nicht viel von sich preisgegeben, doch er vermutete, dass sie ursprünglich von Franklin Major stammte, wo sie sie aufgegabelt hatten. Oder von seinem Schwesterplaneten, Franklin Minor. Auf beiden Planeten war nicht viel Terraforming nötig gewesen, um die Oberflächen bewohnbar zu machen, und deshalb waren sie ausschließlich von Leuten der Mittelklasse und aufwärts bevölkert – wenn man von den Bediensteten absah, die die Begüterten überall brauchten. Die Chancen standen gut, dass Jenna aus wohlhabenden Verhältnissen stammte, und Drift kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sie Tech-Expertin geworden war, weil sie eine ausgezeichnete Erziehung erhalten hatte oder weil sie als Teenagerin rebelliert hatte.
»Du solltest die Bereiche weiter unten sehen«, erklärte er ihr. »Da gibt es noch weniger Licht, und die Luft ist noch schlechter. Dort unten hast du dann die Schattengemeinschaften.«
Jenna sah zu ihm hinüber. »Die was?«
Drift grinste. Es machte ihm Spaß, Jenna die Galaxis zu zeigen, aber er konnte nicht anders, als sich über ihr Unwissen bezogen auf manche Teile zu amüsieren. Anscheinend retuschierten die Nachrichten-Holos auf den wohlhabenderen Planeten der United States of North America viele der eher ungesunden Details. »Du weißt doch, die Leute, die die Abraumhalden durchwühlen oder die spärlichen Mineralflöze auskratzen, die sich für die Bergbaugesellschaften nicht gelohnt haben.« So langsam brachte ihn das Thema in Fahrt, und er steckte den Daumen in den Pistolengürtel. »Ja, das ist ein Ort, wo man keine Namen vergibt und Geschichten nicht angezweifelt werden. Und je nachdem, wie sehr du darauf geachtet hast, wo du dich schlafen legst, kannst du von Glück sagen, wenn du morgens wieder aufwachst. Dort verstecken sich die schlimmsten Verbrecher, weißt du? Wenn du allerdings wieder aufwachst, dann kannst du auch entscheiden, eine ganz andere Person zu sein.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Was das angeht, unterscheidet sich das gar nicht so sehr von der Keiko.«
»Du meinst, wir haben die schlimmsten Verbrecher an Bord?«, fragte Jenna und setzte einen schockierten Gesichtsausdruck auf.
»Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du.« Drift grinste. »Wenn du aber ’schlimm’ als ’sehr schlecht darin’ definierst, dann würde es bei Micah zutreffen.« Er seufzte zufrieden. »Nein, das ist eines der großartigen Dinge am derzeitigen Leben. Es gibt immer die Möglichkeit, jemand anderes zu sein, und es gibt immer einen Ort, an dem die Leute bereit sind, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen.«
Er wartete, doch Jenna nickte nur mit ernstem Gesicht. Anders als er es gehofft hatte, rückte sie nicht plötzlich mit ihrer Lebensgeschichte heraus. Das Gesetz der Keiko, dass niemand ein anderes Crewmitglied nach seiner Lebensgeschichte ausfragte, war nur deshalb nicht geschrieben, weil Drift überzeugt war, dass es sowieso keiner lesen würde, doch er hatte bei den meisten eine Ahnung, was sie zusammengebracht hatte. Rourke war ihm freilich schon immer ein Rätsel gewesen, obwohl sie am längsten dabei war. Und gerade einmal ein Jahr, nachdem die beiden sich zusammengetan hatten, hatten sie Jia, damals noch eine Teenagerin, mit einer Kautionszahlung aus dem Gefängnis von Shanghai auf der Alten Erde geholt. Sie hatte eingesessen, weil sie eine Spritztour mit einem Shuttle gemacht hatte, und Drift und Rourke waren der Meinung gewesen, dass man jemanden mit derlei Talenten nicht im Kerker versauern lassen konnte. Der Umstand, dass sie dafür gefälschte Identitäten angenommen hatten, war eine Nebensächlichkeit. Genauso wie der Umstand, dass sie bereits tags darauf ihren Bruder als Mechaniker anheuerten und die Kaution verfallen ließen.
Apirana war ein ehemaliger Betrüger aus dem Bandenmilieu, der anständig werden wollte. Manchmal hatte Drift ein schlechtes Gewissen, dass er ihn als Mann fürs Grobe auf einem Schiff mit fragwürdigem Ruf angeheuert hatte, aber der große Māori war stets dankbar gewesen, deshalb war es anscheinend kein großes Problem. Micah war noch nicht so lange dabei, gerade einmal achtzehn Standardmonate. Über seine Vergangenheit in der FDU hatte er nicht viel geredet, doch Drift hätte ein Vermögen darauf verwettet, dass das Gesicht des Söldners auf irgendeinem Steckbrief von Fahnenflüchtigen prangte. Jenna dagegen war ihm wirklich ein Rätsel. Weshalb sollte sich ein reiches Mädchen, das vielleicht gerade einmal zwanzig geworden war, ihr komfortables Heim mit atembarer Luft zurücklassen, um bei einem Haufen Galgenvögel anzuheuern?
Normalerweise hätte Drift sie ganz lässig verführt, um sie zum Sprechen zu bringen, doch zu seiner Verwunderung hatte er in den letzten paar Monaten festgestellt, dass er Jenna zwar hübsch fand, sie aber nicht sein Typ war. Und noch viel verblüffender: Er schien auch nicht ihr Typ zu sein. Stattdessen war er in die Rolle eines Fremdenführers und Lehrers geraten, und er wollte sie … beschützen.
Offenbar wurde er alt.
»Nun«, sagte er, nachdem klar war, dass das Mädchen ihm nicht anvertrauen würde, weshalb es sich ihnen angeschlossen hatte, »ich gehe dann besser mal. Pass auf, dass Kuai nicht unser ganzes Geld für Ersatzteile ausgibt, hörst du? Er darf keinen Einkaufsbummel machen, wir brauchen nur das Nötigste.«
»Er meint, es sei alles nötig«, gab Jenna zurück und verdrehte die Augen. »Keine Sorge, wenn er frech wird, verhaue ich ihn einfach.«
»Gutes Mädchen«, lachte Drift. Er beherrschte sich, ihr nicht durchs Haar zu wuscheln, sondern gab ihr stattdessen einen Klaps auf die Schulter. »In einer Stunde bin ich wieder bei der Jonah. Bis dann.«
»Viel Spaß.« Jenna grinste und ging zu ihrem Mechaniker zurück, der wahrscheinlich schon ungeduldig wartete. Nicht, dass es Drift viel kümmerte. Micah mochte grob sein und Jia arrogant, aber Kuais stichelnde passiv-aggressive Art war von allen Eigenheiten der Mannschaftsmitglieder die lästigste. Trotz allem machte er einen derart guten Job, dass man das wohl in Kauf nehmen musste.
Drift holte tief Luft, um etwas Klarheit in seinen verkaterten Kopf zu bekommen, und ging mit unübersehbarem Schwung auf die nächste Magnethebeplattform zu. Er war momentan zwar nicht reich, aber er hatte immerhin ausreichende Mittel, und das machte es einfacher, reich zu werden.