Vier Äpfel

Impressum

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Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2011

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ISBN Buchausgabe 978-3-499-25274-7 (1.Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-00481-8

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-00481-8

Fußnoten

1 In einigen Supermärkten wurde in letzter Zeit damit begonnen, diese Drehkreuze zu entfernen. Nun steht da manchmal, vor allem während der verlängerten Abendöffnungszeiten bis vierundzwanzig Uhr, ein Wachmann herum, in einem T-Shirt, auf dem Security zu lesen ist. Oft trägt er auch eine Mütze, entweder eine Baseballkappe mit dem gleichen Schriftzug oder eine andere, formellere Kopfbedeckung, wie Bahnschaffner und Lokführer sie einmal trugen und Polizeibeamte auch.

2 Manchmal ist es gar nicht so leicht, die zum jeweiligen Obst oder Gemüse passende Taste zu finden. Um dem Kunden dabei zu helfen, gibt es in einigen Supermärkten schon Geräte, die das Gewählte sogar durch milchige Plastiktüten hindurch erkennen können. Eine in die Waage integrierte Kamera schaut von oben auf die Wiegefläche und filmt das Auflegen der Ware, ein integrierter Bildauswertungs-Algorithmus ermittelt, um welche Art von Obst oder Gemüse es sich handelt, und schließlich werden dem Kunden auf einem Display zwei, höchstens drei Abbildungen zur Auswahl angeboten, er muß auf dem Touchscreen nur noch die richtige berühren. Kein Vergleich mit den altertümlichen, halb verrosteten Waagen, mit denen die Händler auf dem Wochenmarkt der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, ihre Ware abwogen; Äpfel, Birnen oder Spargel kamen in verbeulte, aber glänzende Messingwaagschalen, auf die andere Seite wurden abgegriffene, eiserne Gewichte gestellt, Zylinder mit Knäufen und erhaben geprägten Maßangaben, 1 oder ½ oder ¼. Hatte der Obst- und Gemüseverkäufer, dessen Stand wir besuchten, die Ware mit diesen Gewichten ausgewogen, die Einheit hieß Pfund und nicht Gramm oder Kilo, nahm er die Schale von der Waage und schüttete den Inhalt in eine dunkelbraune, knisternde Tüte aus festem Papier, die er mit einer einzigen Handbewegung geöffnet hatte, nur sehr selten kullerte ihm oder seiner Frau, die neben ihm bediente, ein Apfel oder eine Pflaume oder ein Pfirsich am Tütenhals vorbei. Schon damals, lange bevor es Bioprodukte gab, galten Produkte vom Markt als die guten, die besseren, weil sie frischer waren und aus der Umgebung kamen. Allerdings stammten sie fast alle – die großen, süßen, tiefroten Kirschen, die Boskop-Äpfel, der Salat, der Rhabarber, der Wirsing und die Kartoffeln – von Feldern, die in Sichtweite unseres Atomkraftwerks lagen. Vor den Erdbeerbeeten und den Obstwiesen, die In den Kirschen hießen, wurde es von mehreren hintereinanderliegenden, stacheldrahtbewehrten und kameraüberwachten Zäunen und einer hohen Betonmauer geschützt. Ein Aufwand, der nur von dem an der innerdeutschen Grenze übertroffen wurde.

3 Ich kaufe selten Kartoffeln, und wenn, dann weiß ich nie, ob ich festkochende oder mehlige nehmen soll. Meine Großmutter kochte sie fast jeden Tag, in ihrem Keller waren immer ein oder zwei Zentner eingelagert – diese Maßeinheit wiederum klingt für mich nun annähernd so historisch wie Fuder oder Ballen –, mit denen wir, so hieß das damals, über den Winter kamen. Sollte es mittags Kartoffeln geben und ich war in Reich- oder Rufweite, schickte meine Großmutter mich mit einem Topf in den Keller, damit ich sie aus der Schütte der Hurde klaubte.

4 Im Jahr 1937 schraubte der Kaufmann Sylvan Goldman in Oklahoma City Räder und einen Metallkorb an einen einfachen Klappstuhl und nannte seine Erfindung shopping cart. Das erste zusammenschiebbare Modell, der C30, wurde 1952 entwickelt, von da an wurden Einkaufswagen in großer Stückzahl produziert.

5 Warum es eine Packung mit ausgerechnet dreizehn Fischstäbchen gibt, bleibt mir ein Rätsel. Ist das dreizehnte für die dreizehnte Fee, die bei Dornröschens Taufe sonst leer ausginge? Liegen dreizehn Fischstäbchen im Karton, damit eines übrig bleibt? Damit Papa eines mehr essen kann? Ist das dreizehnte das Fischstäbchen, das in der Pfanne kaputtgeht? Oder jenes, das schon in der Küche über dem Herd gegessen wird, um zu prüfen, ob der Fisch überhaupt aufgetaut ist? Andererseits ist dreizehn ja bloß eine Zahl, die zwischen zehn und fünfzehn liegt.

6 Ein Mann namens Clarence Birdseye gilt als Erfinder des Fischstäbchens und gehört zu den ersten vier Personen, die in die Frozen Food Hall of Fame aufgenommen wurden, ein Museum, das ich unbedingt einmal besuchen möchte. Ich stelle mir vor, daß es irgendwo im ewigen Eis liegt. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Birdseye den industriellen Plattenfroster, in dem das Gefriergut zwischen zwei kühlmitteldurchflossenen Metallplatten sehr schnell tiefgekühlt wird. Diese Konservierungsmethode schaute er sich bei den Inuit ab, die ihre Fische bei minus vierzig Grad ins Freie hängen. Die tiefe Temperatur verhindert, daß sich größere Eiskristalle bilden, die sonst, beim langsamen Frosten, die Zellwände im Gewebe des Gefrierguts beschädigen würden.

7 Tiefgefrorene Himbeeren, L. hat sie manchmal gekauft, um sie heißgemacht über Vanilleeis zu gießen, kommen oft in Krümeln aus ihrer Kartonverpackung, was dann so aussieht, als wären sie aus Kügelchen zusammengeklebt worden. Sie erinnern an die ebenfalls aus Kügelchen zusammengesteckten Modelle komplexer Moleküle, die in meiner Schulzeit oben auf den Schränken des Chemiesaals verstaubten.

8 Als ich mich einmal im Wartezimmer eines Arztes langweilte, nahm ich eine Zeitschrift mit dem Titel Der Bienenvater in die Hand, in der ich mich sogleich festlas. Ein Bienenvater ist, so stellte ich mir das vor, ein großer, bärtiger Mann mit Pfeife, der, stets in eine Rauchwolke gehüllt, das Bienenhaus bewohnt. Er spürt die Stiche seiner Bienen nicht mehr, ja was sie das Leben kostet, rötet seine Haut nur noch ein wenig, und die Bienenkönigin ist entweder seine Frau oder seine Mutter, vielleicht aber auch seine Tochter. Ab und zu muß er seinen Bienenkindern eine Wabe wegnehmen, weil sie ihren Honig bei Schlechtwetter sonst selbst aufäßen, als Ersatz stellt er ihnen Zuckerwasser hin.

9 Früher waren Einkaufskörbe aus Metall und sahen aus wie die auf Fahrradgepäckträgern heute. Die beiden dünnen Haltegriffe waren mit einer dünnen, hartgummiartigen Schicht überzogen, trotzdem schnitten sie heftig ein.

10 Französische Metzger sind weniger zimperlich, sie präsentieren gelegentlich vorgegrillte Schafsköpfe und kahlgekochte Kuhköpfe im Fenster, letzteren ragen dann krause Petersiliensträuße aus den Nasenlöchern.

11 Trotzdem ist oder war das Schwein ein beliebtes Werbemotiv. Vor den bis unter die Decke weißgekachelten Fleischereien – von denen es immer weniger gibt, in meiner näheren Umgebung haben in den letzten Jahren drei, eine nach der anderen, zugemacht – sah man als Aufsteller meist ein auf den Hinterbeinen stehendes, fröhlich grinsendes Schwein, das, manchmal mit Kochmütze auf dem Kopf und einem langen Fleischermesser im Spalthuf, eine Tafel hält, auf der es die Schlachtangebote des Tages, oft also auch seine Artgenossen anpreist. Einmal habe ich im Schaufenster einer dieser verschwundenen Fleischereien, jetzt befindet sich dort, an der Einrichtung wurde kaum etwas geändert, ein Restaurant, Hunderte Schweinefigürchen gesehen. Mir hat das eigentlich gefallen.

12 Warum diese Wurst Fleischwurst heißt, wo doch, wie ich hoffe, aber vielleicht bin ich naiv, alle Würste aus Fleisch und nicht bloß aus gemahlenen Knochen, Wasser, Fett und Schlachtabfällen hergestellt werden, wirft Fragen auf. Heißt sie am Ende Fleischwurst, weil sich in ihr fast gar kein Fleisch befindet?

13 Vielleicht werde ich eines Tages unter einem Vorwand in einen der geheimnisvollen Nebenräume meines Supermarkts gelockt, um dort mein Leben für die Fleischtheke zu geben. Und ich werde nicht mehr Verbraucher sein, sondern selbst verbraucht werden.

14 Tatsächlich kaufe ich dort auch mein Toilettenpapier, aber es in die Aufzählung der Dinge aufzunehmen ist mir unangenehm. L. hat sich oft darüber lustig gemacht, daß es mir peinlich war, Toilettenpapier, das im Einzelhandel nicht selten unter der Bezeichnung Hygienepapier geführt wird, zu kaufen. Meist habe ich es, obwohl sie es mir aufgetragen hatte, nicht mitgebracht, weil ich nicht mit einer dieser großen Packungen, die sich in kaum einer Tasche verbergen lassen, durch die Straßen gehen wollte. Andererseits ist es natürlich so, daß auch ich nicht auf Toilettenpapier verzichten kann. Hin und wieder muß ich mich also überwinden, gehe dann aber immer schnurstracks und ohne Umwege nach Hause und hoffe, nur ja niemandem zu begegnen. Du bist manchmal ganz schön verklemmt, hat L. oft gesagt.

15 LUPENREINER 1,0 KARAT BRILLANTRING, hieß es in dem Prospekt und weiter: «Fassung 585 Weißgold, qualitätsgeprüft mit Expertise von einem Diamantengutachter. Jede Ringgröße wird für Sie einzeln angefertigt!» Und in einem kleinen, weiß abgesetzten Kästchen: «Lieferzeit beträgt 10 Werktage, Auslieferung nur gegen Vorkasse. Keine Rückgabe.» Ist das Angebot vielleicht sehr günstig? Müßte der Ring bei einem Juwelier vielleicht 9000 statt 4444 Euro kosten? Oder noch viel mehr? Aber machen diese vielen Vieren den Preis nicht verdächtig? Ist es am Ende ein völlig willkürlicher und nicht genau kalkulierter Preis? Und steht die Zahl Vier im Chinesischen Denken nicht für den Tod? Wo kommt der Diamant her? Aus Sibirien? Südafrika? Aus dem Kongo? Braucht ein Rebellenführer dort etwa Granatwerfer? Neue Maschinengewehre? Munition?

16 Viel zu selten studiere ich die Prospekte mit den Sonderangeboten, die morgens aus der Tageszeitung fallen. Ich könnte ja so viel sparen, wüßte ich nur, was gerade wo im Angebot ist. Ich könnte Preisvergleiche im Internet anstellen, mich vergewissern, daß dieses Pürierstabmodell, diese elektrische Zahnbürste oder dieses Daunenkopfkissen tatsächlich günstiger ist als irgendwo sonst. Ich könnte gezielt in diesen einen, nur eine Stunde Fahrtzeit entfernten Fachmarkt fahren und dort diesen einen, ausgerechnet diese Woche sehr günstigen Handtuchhalter kaufen. Oder den Wäscheständer und mir dann von dem gesparten Geld das eine oder andere zusätzlich gönnen und trotzdem mit dem guten Gefühl, gespart zu haben, zurück nach Hause fahren. Leider bin ich meist viel zu faul für solche Unternehmungen. Außerdem weiß ich, daß Sonderangebote nicht ungefährlich sind; kürzlich erst wurde eine Frau beinahe totgetrampelt, als sie versuchte, sich einen sehr preiswerten Flachbildfernseher zu sichern. Sie war früh aufgestanden und hatte sich als eine der ersten vor den noch verschlossenen Türen eines Elektronikmarkts postiert, war nach dem Öffnen von nachdrängenden Kunden jedoch niedergestoßen worden. Die zu den Regalen stürmende Meute ist einfach über sie drübergelaufen.

17 Ich habe einmal versucht, es auszurechnen. Angenommen, ich war einmal pro Woche, früher mit meiner Mutter oder Großmutter, einkaufen, dann war ich es mit fünfunddreißig, fast sechsunddreißig Jahren schon fünfunddreißig-mal-zweiundfünfzig-mal, jedenfalls war ich in meinem Leben schon viel öfter im Supermarkt als in der Kirche.

18 Damals gab es bloß «Tomaten», das waren eben die, die er grün oder halbgrün von den Stauden im Garten geerntet hatte. Heute führt ein Supermarkt, die verschiedenen Angebote getrockneter Tomaten nicht mitgerechnet, sieben oder acht verschiedene Sorten. Es gibt Fleisch-, Kirsch-, Eier- und Cocktailtomaten, Biokirschtomaten, Biostrauchtomaten und einfache Strauchtomaten, manchmal gibt es auch Dattel-Kirschtomaten, die sind, wie der Name schon sagt, flach und haben die Größe einer Dattel, sind aber nicht so süß.

19 Einen Einkaufswagen mitzunehmen macht einen fast zu einem Outlaw. Zu den Randgruppen, die abseits der Supermärkte und ihrer Parkplätze mit Einkaufswagen unterwegs sind, zählen Personen, die in ihnen, ein kino- und fernsehvertrautes Bild, ihr gesamtes Hab und Gut transportieren, des weiteren die Pfandflaschensammler, die nicht mit Tüten auskommen, und Halbwüchsige, die, in Ermangelung eines eigenen Autos, volle Flaschen in einem Einkaufswagen an den Ort ihres Besäufnisses fahren und dort später sehr wahrscheinlich neben ihren inzwischen geleerten Flaschen stehen lassen. Letztere werden am nächsten Morgen oft von Flaschensammlern wieder eingesammelt und in den Supermarkt zurückgebracht. In Gegenden, in denen zu viele Einkaufswagen verschwinden, verhindern das mittlerweile Wegfahrsperren. Entfernt sich jemand mit einem Einkaufswagen zu weit vom Supermarktgelände, aktiviert eine Funkschranke die Blockierung der Räder. Trotzdem stehen noch immer viele von ihnen in der Landschaft, ich sehe sie fast jeden Tag. Vor Hauseingängen, in Unterführungen, neben öffentlichen Telefonen, in Parks, auf Spielplätzen und zwischen geparkten Autos, das Pfandschloß immer aufgebrochen.

20 Es gibt Listen, auf denen jeder nachlesen kann, wie hoch zum Beispiel der CO2-Ausstoß einer Tasse Kaffee ist. Er beträgt fünfzig bis hundert Gramm, je nachdem, woher der Kaffee kommt und wie das Wasser erhitzt wird. Ein Schälchen Erdbeeren aus Südspanien müßte dem deutschen Verbraucher mit vierhundertzweiundvierzig Gramm, eine Zehnerpackung Toilettenpapier mit zweieinhalb Kilo und eine Sechserpackung Freiland-Bioeier mit über elfhundert Gramm auf dem Gewissen liegen. Eigentlich dürfte auch kein Mensch mehr reinen Gewissens ausatmen, denn bekanntlich setzt jeder Atemzug Kohlendioxid frei, pro Tag ergibt das fast ein Kilogramm.

21 Heute liegt all meine Musik auf einer Festplatte, zwei Freunde haben mir je dreißig Gigabyte Musik kopiert, mehr, als ich je hören kann und hören werde. So gesehen, ist heute all meine Musik geklaut.

22 Vor kurzem war ich in einem Laden für gebrauchte Büromöbel. Den Mann, der mich dort bediente, einen hageren Menschen in einem grobgestrickten dunkelblauen Marinepullover mit Reißverschlußkragen, hielt ich, so sonderbar es klingen mag, im ersten Moment für einen Heiligen, weil er mich wie das Urbild aller Heiligenbilder ansah – Leben, Läuterung und Erleuchtung lagen in seinem sanft-entschlossenen Blick. Nein, einen Hängeregisterschrank habe ich gerade keinen, sagte er, da fiel mir erst wieder ein, weshalb ich den Laden betreten hatte.

23 Daß dünne Teddybären tatsächlich Ausdruck einer Vorkriegsnostalgie sind, fanden wir dann in der Spielwarenabteilung des Kaufhauses bestätigt, vor dessen Schaufenster wir gestanden hatten. Einem Modell in Altrosa hing die Jahreszahl 1926 wie ein Orden vor der Brust. Neben ihm saß ein pelziger Verwandter, Jahrgang 1903. Die Bären hießen Classic und Replica und waren Vorbildern aus der guten alten Zeit nachempfunden, wie es in den Teddy-Zertifikaten hieß. Ein anderer Teddybär, der in ein Funkenmariechenkostüm gezwängt worden war, trug seine Seriennummer in die Tatzensohle gestickt, was uns an eine andere Art der Körperkennzeichnung mit Nummern erinnerte.

24 Das Possessivpronomen oder besitzanzeigende Fürwort, wie es in der Grundschule heißt, ist hier vielleicht unangebracht oder übertrieben. Die Tatsache, daß ich ausgerechnet den Supermarkt, den ich beinahe täglich besuche, im Kino sah, hat mich jedenfalls nicht sentimental gestimmt, auch wenn L. das behauptete. Mich amüsierte bloß, daß von allen Supermärkten dieser Welt, dieses Kontinents, dieses Landes und dieser Stadt ausgerechnet meiner diesem Film als Kulisse diente. Hatte das nicht etwas zu bedeuten?

25 Erst anderthalb Jahrzehnte später ist es mir gelungen, das Wort Granny, das ich als eine Kurzform für Großmutter kannte, auch als Bestandteil des Apfelnamens zu verstehen. All die Jahre hatte ich es einfach bloß als einen Klang wahr- und hingenommen, der diese außen hellgrüne, innen weiße, oft harte und säuerlich schmeckende Apfelsorte bezeichnete. Als mir, ich weiß nicht, warum oder aus welcher Eingebung heraus, plötzlich klar wurde, daß der Apfel auf deutsch «Oma Schmidt» heißen müßte, war ich einigermaßen verwirrt, denn dieser Rotbäckchen-Name paßte gar nicht zu der doch eher wenig hausbackenen Aura des Kulturapfels, den ich von den Plattenhüllen der Beatles, aus Einrichtungskatalogen und, bunt gestreift oder weiß, als Markenzeichen eines Computers kannte.

26 Gibt es eigentlich auch Grobstrumpfhosen? Grobwaschmittel? Grobgebäck und Grobbäckereien? Tatsächlich gibt es feine und grobe Mett- und Leberwurst. Würste dürfen anscheinend nicht zu fein sein, das Grobe ist Teil des Wurst-Appeals. Die grobe Salami mit weißen Fettupfern wirkt natürlicher, italienischer und darf teurer sein als die zu einem versprenkelten Rosa verwurstete Feinsalami, die immer an die Plastikverpackung erinnert, der sie wahrscheinlich entnommen wurde.

27 Nylonstrumpfhosen waren mir, lange bevor ich sie an Frauenbeinen überhaupt bemerkte, als Verbrecherverkleidung vertraut. Fernsehbankräuber zogen sie sich über den Kopf, um nicht erkannt zu werden, sahen mit ihnen aber immer sehr dämlich aus und wurden vermutlich auch deshalb jedesmal bald gefaßt. Mein Onkel benutzte die alten Strümpfe meiner Tante zum Zubinden der Schuhkartons, in denen er alle möglichen politischen Broschüren, Flugblätter und Kampfschriften seiner Jugend sammelte, diese Kartongalerie, er hatte Hunderte davon, nannte er sein Archiv.

28 Ich träume zwar von dem Tag, an dem ich alles besitze und nichts mehr brauche, andererseits fürchte ich mich auch vor diesem Tag, weil es dann entweder nichts mehr zu kaufen gibt oder das Geld nichts mehr wert ist oder ich keins mehr habe und weder Bank- noch Kreditkarten mehr funktionieren. Einmal habe ich geträumt, ich fände auf meinem Anrufbeantworter diese Nachricht vor: Tut uns leid, Sie haben zu wenig gekauft, Sie dürfen nicht mehr mitmachen, Sie sind raus. Den Rest habe ich nicht verstanden.

29 Scheint so, daß es nicht nur mir so geht, viele Kunden trennen diese Einkaufssphären. Wie könnten sonst neben all den Supermärkten so viele Drogeriemärkte existieren?

30 Manchmal passiert es, daß ich Mitleid mit überkommenen oder veralteten Produkten habe, Mitleid, das eigentlich unangebracht ist, weil ich ja gar nicht sicher sein kann, ob hinter einer betont hinterwäldlerisch, selbstgebastelt oder dilettantisch wirkenden Verpackung nicht ein raffinierter Marketingtrick steht. Manche Produkte sehen aus, als stammten sie von einem Kirchen- oder Wohltätigkeitsbasar, was sie zwischen all den massiv beworbenen Superprodukten authentisch und sympathisch wirken läßt – so wie das Joghurt, auf dem einfach nur «Joghurt» steht, oder die Plätzchen, die angeblich von Nonnen im letzten Kloster ihres Ordens nach uraltem Rezept gebacken und mit handgeschriebenen Etiketten beklebt worden sind.

31 Zahnpastatreu bin ich nie gewesen. Am Anfang war Signal, dann benutzte ich die Auch-morgen-noch-kraftvoll-zubeißen-Zahnpasta Blend-a-med, dann Colgate, dann Ajona: die kleine Tube mit dem Minimaldesign und dem Werbespruch, daß eine erbsengroße Menge davon genüge. Immer wenn ich das las, drückte ich, entweder aus Verschwendungssucht oder weil ich gar keine Lust zum Zähneputzen hatte, gleich ein paar Zentimeter ins Waschbecken und spülte die dann weg. Es folgten Elmex und ihre weniger erfolgreiche Zwillingsschwester Aronal, obgleich sie ja als Doppel anfingen, morgens die eine, abends die andere oder umgekehrt. Eine Weile, das war eine Mode, begeisterte auch ich mich für Zahnpastagels, die nicht mehr langweilig weiß oder weiß mit rotem oder blauem Streifen, sondern aquamarin-transparent aus der Tube kamen. Ich glaube, die gab es zur gleichen Zeit, als heranwachsende Menschen, ich gebe ungern zu, daß auch ich das gelegentlich gemacht habe, sich eine ebenfalls Gel genannte, schleimige Substanz in die Haare schmierten. Dann setzte die Medizinisierung der Zahncremes ein, wenig später kamen Kräuterzahncremes auf den Markt. Ich benutzte Weiß-Putzer, und eine Zeitlang habe ich Zahnpasta nur in der Biodrogerie gekauft, um bei Besucherinnen in meinem Badezimmer Eindruck zu schinden; Calendula- und Meersalzzahncremes hatten allerdings den Nachteil, daß sie kaum schäumten, und da ich den Schaum seit meiner Kindheit gewohnt bin, fühlten die Zähne sich nach dem Biogeputze nie sonderlich sauber an.

32 Nie wieder werde ich also Kaffeefilter aus Küchen- oder Toilettenpapier improvisieren müssen, was schwierig, aber nicht unmöglich ist.

33 Es war die Reise, auf der wir feststellten, daß sie schwanger war, den Test hatten wir zusammen in einer spanischen Apotheke gekauft. Später hat sie behauptet, ich hätte sie zu diesem Kind überreden können, allerdings habe sie nie den Eindruck gehabt, daß ich unbedingt Vater werden wolle. Mir hingegen kam es so vor, als hätte sie sich von vornherein und ganz für sich dagegen entschieden. Sie hat ja immer gesagt, nein, das ist nichts für mich, ich will kein Kind, auf keinen Fall.

34 Eine Kette dieses Namens mit Filialen vor allem im Süden und im Mittleren Westen der USA gibt es noch heute, ihr Logo ist ein fröhlich grinsendes Schweineköpfchen.

35 Die große Illusion des Einkaufens ist es, mit jedem Neuerworbenen ein Stück Zukunft oder Freiraum hinzuzubekommen. Genau das ist ein Mißverständnis, denn eigentlich gibt allein Geld ein gültiges Zukunftsversprechen: Geld kann ich gegen dies oder das oder auch gegen etwas ganz anderes tauschen. Das gilt jedoch nur, solange ich für mein Geld tatsächlich etwas kaufen kann.

36 Auf einer solchen Palette hatten vier mal sechs gleich zwei Dutzend Eier Platz, und es kam vor, daß meine Großmutter sagte, heute bitte nur ein oder nur ein halbes Dutzend. Volle oder fast volle Paletten ließen sich genau wie leere übereinanderstapeln, letztere erhielt Frau Nuppeney alle paar Wochen von uns zurück. Andere Kunden, unsere Nachbarn zum Beispiel, das wußte ich von den dort stattfindenden Kindergeburtstagen der Tochter, klebten sie zur Geräuschdämmung an Wände und Decke ihres Partykellers.

37 Dieses Küchenbuffet, mehrfach überstrichen und einmal, allerdings nur zur Hälfte, abgebeizt, ein Möbel mit ausklappbaren Arbeitsflächen, verglasten Schranktüren und etlichen Schubfächern für Mehl, Zucker, Grieß und andere Schüttgüter, hat mein Onkel, das hat er mir erst neulich erzählt, in seinem Kamin verheizt. Er war der Meinung, es habe nun lange genug im Keller herumgestanden. Das Holz habe, kein Wunder, nachdem es über hundert Jahre getrocknet hatte, wirklich sehr schön und hell gebrannt. Ich glaube, er hat das nicht getan, weil ihm kalt war oder er sonst keinen anderen Brennstoff gefunden hätte. Es hat ihn einfach gefreut, den alten Schrank zu zertrümmern und anschließend zu verfeuern.

38 Heinrich Schlinck (1840 – 1909) entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts ein Verfahren, mit dem sich das Öl der Kokosnuß so aufbereiten ließ, daß es als Kochfett verwendet werden konnte. 1894 kam das Produkt unter dem Markennamen Palmin auf den Markt.

39 Die Behauptung, den Lauf der Jahreszeiten nur noch an den Sonderangeboten im Supermarkt zu bemerken, ist zu einer oft wiederholten Phrase geworden. Frühjahr wäre dann, wenn die Instant-Sauce-Hollandaise-Tütchen neben dem frischen Spargel liegen und es deutsche Erdbeeren gibt. Und günstige, noch nicht ganz fertigmontierte Fahrräder hinter der Kasse stehen und Osterhasen-Aufsteller die Gänge blockieren.

40 Ich habe schon ein paarmal davon geträumt, ein Kind bei mir zu haben, mit dem ich, wie mit mir selbst, über alles sprechen, dem ich alles erklären könnte. Es hätte kurz vor der Kasse, deshalb stehen diese Kühltruhen ja dort, sicher ebenfalls um ein Eis gebettelt, das Kind, unser Kind, das Kind, das L. nicht bekommen wollte, das sie und ich, wir, aber hätten bekommen können, wenn sie bloß gewollt oder ich mein Wollen deutlicher zum Ausdruck gebracht oder mich eher oder überhaupt entschieden hätte.