Josef H. Reichholf
Mein Leben für die Natur
Auf den Spuren von Evolution und Ökologie
FISCHER E-Books
Josef H. Reichholf ist Evolutionsbiologe, Naturforscher und Bestsellerautor. Bis 2010 war er Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU München. Zahlreiche Bücher, Fachpublikationen und Fernsehauftritte machten ihn einem breiten Publikum bekannt. 2007 wurde Josef H. Reichholf mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet, nach dem Cicero-Ranking 2009 gehört er zu den 40 wichtigsten Naturwissenschaftlern Deutschlands. Bei S. Fischer erschien von ihm: ›Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends‹ und ›Warum die Menschen sesshaft wurden‹.
»Wer seine Bücher liest, versteht, dass wir in einer wahrhaft aufregenden naturgeschichtlichen Epoche leben.«
Eckhard Fuhr, Die Welt
»So aufregend, unheimlich oder wunderlich ist das große Reich des Organischen selten erfasst worden wie in [Reichholfs] fast drei Dutzend Büchern«
Julia Voss, Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Vögel, die sich in Wasserfälle stürzen, Ameisen, die unterirdische Pilzgärten anlegen, Jaguare, die ursprünglich in Italien und auf dem Balkan lebten, bevor sie nach Nord- und Südamerika wanderten. Kaum jemand hat so viele Tiere beobachtet – seltene und weitverbreitete – wie der große Naturforscher und bekannte Autor Josef H. Reichholf. Basierend auf der Vielfalt seiner Erfahrungen und Forschungen entwickelte er seine viel diskutierten Thesen zur Ökologie, Evolution und zum Naturschutz. Nach einem halben Jahrhundert blickt er zurück und zieht Bilanz: In der Natur gibt es keinen besten oder einzig richtigen Zustand, Stabilität bedeutet Stillstand und führt zum Niedergang. Leben ist steter Wandel, nichts bleibt so, wie es ist.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Imke Schuppenhauer
Coverabbildungen: AKG Images und Bridgeman Images
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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ISBN 978-3-10-400778-6
Die genaue Bezeichnung ist eigentlich Andorinhão-velho-da-cascata; die Vergrößerungsform Andorinhão bezeichnet im Brasilianischen die Segler als die »großen Schwalben«, was nicht immer passt, weil manche Segler kleiner als große Schwalben sind. Beide Vogelgruppen sind jedoch nicht näher miteinander verwandt.
Gewidmet meiner Frau
Miki Sakamoto-Reichholf
Dies ist keine Autobiographie. Der Untertitel besagt, worum es geht: Um Evolution und Ökologie, also um zwei Bereiche der biologischen Naturwissenschaften, die eng miteinander verbunden sind. Und um den Schutz der Natur, für den ich mich seit früher Jugendzeit engagiere. Das damit verbundene Persönliche erweckt verständlicherweise den Eindruck, es ginge mir um eine Autobiographie. Das ist nicht so. Die Menschen, die mein Leben begleiteten, die auf mich einwirkten und denen ich umfassend Dank schulde, bleiben ausgeblendet – weitestgehend, denn einige waren im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Fragestellungen unbedingt zu nennen. Wir stehen nicht nur in den Wissenschaften auf den Schultern von Riesen, wie es das geflügelte Wort sehr treffend ausdrückt, und bilden uns dabei ein, weiter als sie schauen zu können. Wir werden ebenso von vielen Menschen getragen, mit denen wir verbunden sind oder waren; auch solchen, die andere Meinungen vertraten. Daran schärften wir die eigene. Das Buch zeigt zunächst, wie mein aus kindlich-jugendlicher Begeisterung heraus entstandenes Interesse an der Natur Gestalt annahm und gestaltet wurde, besonders auch von der Umgebung, in der ich lebte und mich bewegte. Ich hatte das Glück, in einer Gegend mit besonderem Naturreichtum aufgewachsen zu sein. Zwar ging auch dort, im niederbayerischen Inntal, bereits die Zeit der Fülle zu Ende. Aber ich erlebte sie noch, die Wiesen voller bunter Blumen und Schmetterlinge, den Lerchengesang frühmorgens und die Rufe der Rebhühner am Abend, nicht eingeschränkt von Naturschutzbestimmungen, die in der Folgezeit zunehmend die nähere Beschäftigung mit Tieren und Pflanzen beeinträchtigten. Es war eine Zeit des Staunens und Entdeckens, in der man uns, der Jugend, noch nicht mit diesem oder jenem Weltuntergang drohte, die Zukunft schlechtredete und die Menschen selbst noch schlechter.
Der Rückblick zeigt, wie sehr man als Kind und Jugendlicher von Erlebnissen geprägt wird, die für sich genommen wenig bedeutsam erscheinen. Sie wirken nach; sie beeinflussen den weiteren Lebensweg über eine Vielzahl von Entscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können. Auf die Ökologie und die Evolution bezogen, kommt in meinem Fall zum Ausdruck, wie vorhandene Konzepte bereits vorab den Blick auf die Natur lenken und in die Interpretation der Befunde eingehen. Wir sehen nur, was wir kennen, heißt es ganz zutreffend. Dieses Vor-Wissen führt zu Vor-Urteilen, nicht zu jenen sachlichen Urteilen, distanziert von der eigenen Überzeugung, die in den Naturwissenschaften selbstverständlich sein sollten und ihren Erfolg ausmachen. Meine Rückschau soll daher auch darlegen, wie sich aus einer Vielzahl zunächst voneinander unabhängiger Eindrücke allmählich Fragestellungen entwickeln, aus denen neue Konzepte hervorgehen. Auch sie sind nur vorläufiges Wissen, das sich bewähren muss, keine letztgültigen Erklärungen.
Nach dem einführenden Überblick über die Anfänge enthält das Großkapitel über Südamerika eine anekdotische Zusammenstellung von Erlebnissen. Sie drücken mein Staunen über all das Neue aus, das ich dort kennenlernte. Im zweiten Hauptkapitel, das Afrika betrifft, rücken aber bereits Themen wie die Evolution des Menschen und das Zustandekommen der Artenvielfalt, der tropischen insbesondere, sowie kritische Überlegungen zu den gängigen Konzepten der Ökologie in den Vordergrund. Aus der erlebten und gesammelten Fülle kamen interessante Querverbindungen zustande. Bilder begannen sich abzuzeichnen. Unstimmigkeiten in den bisherigen Betrachtungsweisen wurden deutlich. Im folgenden Abschnitt über die Inseln vertiefen die Darlegungen den Kontrast zwischen der viel zu statisch betriebenen, von Erdgeschichte und Evolution weitestgehend getrennten Ökologie und den unablässigen Veränderungen in der Natur. Die dabei behandelten, zunächst scheinbar wenig Zusammenhang ergebenden Einzelbeispiele fließen jedoch zu mehreren Hauptsträngen meines Interesses zusammen, die ich im letzten Großkapitel über die Vielfalt meiner eigenen ökologischen Untersuchungen an den Stauseen und in den Flussauen am unteren Inn ausbreite. Sie stellen die Verbindung zum Naturschutz her. Zusammen mit den globalen Erfahrungen begründen sie meine in manchen Bereichen heftige Kritik an der Art und Weise, wie Naturschutz bei uns betrieben wird. Er ist zu einem in Gesetzen und Verordnungen erstarrten System gemacht worden, das der Natur nicht gerecht wird und die interessierten Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, von der näheren Beschäftigung mit Tieren und Pflanzen durch unnütze Verbote abhält. Der einst gutgemeinte, nach wie vor auch notwendige Schutz hat uns Natur genehmigungspflichtig gemacht. Das hatte ich wirklich nicht gewollt, als ich mich ab den späten 1960er Jahren so intensiv für den Naturschutz einsetzte. Mit gutem Gewissen kann ich betonen, dass ich seit einem Vierteljahrhundert gegen die Fehler und Mängel anzukämpfen versuche, die in unserem Naturschutz enthalten sind, die seine Wirksamkeit so sehr einschränken – und die Naturfreunde noch mehr.
Es geht mir schließlich auch darum aufzuzeigen, wie aus einer missdeuteten wissenschaftlichen Ökologie eine Öko-Religion geworden ist, die jenen Totalitätsanspruch erhebt, der viele Religionen kennzeichnet und so gefährlich macht. Sie beherrscht längst die Medien und entspricht mit ihrem morbiden Charme dem Kulturbild Oswald Spenglers vom Untergang des Abendlandes. Unter dem Deckmantel von Ökologie und mit dem Anspruch, »grün« zu sein, übt sie eine Meinungsdiktatur aus, die weder von der Ökologie als Wissenschaft gedeckt noch in der Lage ist, tatsächlich wünschenswerte Änderungen in der Gesellschaft zum Wohle aller herbeizuführen. Wer aber den Menschen durch Verbote die Freude an der Natur nimmt, wer diese zur unantastbaren Kulisse degradiert, wird sich vergeblich um die Erhaltung von Naturschönheiten und der Vielfalt des Lebens bemühen. Und wer die Zeit festhalten will auf einem Status quo, hat die Zukunft bereits verloren. Denn Ökologie und Evolution besagen, dass es in der Natur keinen festen Zustand gibt. Beständigkeit ist ein Wunschbild der Menschen. Doch alles verändert sich, ist in Bewegung, in Entwicklung. Alles hat Geschichte, Naturgeschichte. In diese tauchte ich ein wenig ein mit meinem Leben für die Natur.
Josef H. Reichholf, im Juli 2015
Die Szenerie ist atemberaubend. Mit ohrenbetäubendem Getöse stürzen die Wassermassen des Iguaçú in die Schlucht. Gischt steigt in Wolken auf. Sie hüllen alles ein in triefende Nässe. Ein Regenbogen steht über dem ›Teufelsschlund‹, der Hauptschlucht, in die der Fluss zu verschwinden scheint. Von schmalen Uferpfaden und von Stegen aus kann man auf sie hinabschauen: Die Wasserfälle des Iguaçú sind die wohl schönsten überhaupt. Iguaçú bedeutet ›Großes Wasser‹ in der Sprache der Guaraní-Indianer, die einst hier im südostbrasilianischen Bergland lebten. »Groß« ist dieses Wasser wirklich. In der Regenzeit des Südsommers stürzen gut 5000, bei starkem Hochwasser über 7000 Kubikmeter pro Sekunde in die Tiefe. Diese Menge entspricht, kommt mir in den Sinn, den stärksten Hochwässern des Inns, an dem ich aufgewachsen bin. Im Winter führt dieser wasserreichste Alpenfluss allerdings viel weniger Wasser als der Iguaçú. Vergleichbar ist er ohnehin nicht. Es fehlt ihm die Tropennatur.
Daher verdränge ich den albernen Gedanken an den heimatlichen Inn auch gleich wieder. Der Iguaçú bietet Natur der Extraklasse, auch für tropische Verhältnisse. Über fast drei Kilometer Breite erstrecken sich die Wasserfälle. Flach, hufeisenförmig, zerteilt von zahlreichen Inseln, greifen sie um die Schlucht herum, in die dieser Nebenfluss des noch viel gewaltigeren Paraná hinabstürzt. Palmen ragen von den Felswänden auf, Bambusgebüsch und anderes frisches Grün stehen im steten Sprühregen. Über den Fällen kreisen große Vögel; schwarze, breitflügelige Raben- und dunkelbraune, langflügelige Truthahngeier. Papageien kreischen, wenn sie zu Paaren oder in kleinen Gruppen vorüberfliegen. Bunte Tukane schwingen sich in Bögen an den von Lianen behangenen Rändern von Wald und Buschwerk entlang. Ihr Flug wirkt wie zu sehr belastet von den übergroßen Schnäbeln. Die hochstehende Sonne erzeugt auf dem wirbelnden Wasser ein geradezu verwirrendes Spiel von Lichtern und beständig schwankendem Glitzern. Wie heller Milchkaffee, der sahnig aufschäumt, ergießen sich die Fluten über die Felskanten. Sie bilden beiderseits der Hauptschlucht Wasservorhänge unterschiedlicher Breite, die gleichfalls im Teufelsschlund, so genannt von den Brasilianern und Argentiniern, deren Länder sich an den Iguaçú-Fällen treffen, verschwinden.
Wie verweht von der Gischt des Wassers, gleitet ein über handtellergroßer blauer Schmetterling vorüber. Ein Morpho ist es, einer jener berühmten, unfassbar schönen Schmetterlinge der mittel- und südamerikanischen Tropen.
Man macht Fotos, weiß nicht, wo man hinschauen soll, und versucht unablässig, die Kamera vor der Nässe zu schützen. Die Szenerien wechseln fast mit jedem Schritt auf den schlüpfrigen Stegen. Manche überspannen auf der argentinischen Seite kleine Wasserfälle, die dort wie Schleier an den Felswänden hängen. Einzigartig! Wundervoll! Welche Superlative passen zu diesem Naturwunder?
Als ich 1970 an den Iguaçú-Fällen stand und wie berauscht vom zu Schauenden versuchte, die Eindrücke aufzunehmen, herrschte noch kein touristischer Hochbetrieb, der weiterschiebt, wo man verweilen möchte. Ein einfaches Stahlseil sicherte den glitschigen Weg. Manche Stege überflutete gerade das leichte Hochwasser. Wer den Zug des Wassers an bloßen Füßen verspüren wollte, konnte barfuß weitergehen. Obwohl warm, kühlte es bei den subtropischen Lufttemperaturen.
Allmählich wurde es Abend. Unmerklich zunächst, weil die Sonne hier auf 26 Grad südlicher Breite, also nur wenig südlich des Wendekreises des Steinbocks, sehr steile Bögen macht. Dann aber sank sie tropenschnell. Die Gischt über der Schlucht flammte golden auf. Neben dem großen Regenbogen über den Hauptfällen entstanden an den Seiten mehrere kleine. Und da geschah es: Ein schlanker Vogel, schwarz und etwas größer als eine unserer Schwalben, löste sich aus der milchig-goldenen Gischtwolke, schoss geradewegs auf die Wasserwand vor mir zu, und weg war er. Das ging so schnell, dass ich nicht folgen konnte. Er tauchte nicht wieder auf. Weggerissen von der Strömung und zerschmettert in der Tiefe – dachte ich. Es kreisten ja beständig Raben- und Truthahngeier über dem schäumenden Wasser am Fuß der Fälle. Den kleinen Vogelkadaver würden sie aber wohl nicht beachten. Ihre Suche galt den großen Fischen, die vom Sog erfasst worden waren und sich nicht mehr daraus befreien konnten. Zu weiteren Überlegungen kam ich nicht, denn nun sausten Dutzende, Hunderte der schwarzen Vögel heran, und als ob sie Massenselbstmord begehen wollten, verschwanden sie in den Wasservorhängen. Da es so viele waren, die angeflogen kamen, konnte ich durchs Fernglas erkennen, dass es Segler waren. Greisensegler ist ihr deutscher Name. Er nimmt Bezug auf ihre wissenschaftliche Bezeichnung Cypseloides senex. Der Artname senex bezieht sich auf den grauen Kopf, der jedoch nur deutlich wird, wenn man die rasend schnell fliegenden Verwandten unserer Mauersegler aus der Nähe betrachten kann. Oder ein Präparat davon in einer wissenschaftlichen Vogelsammlung in Händen hält. Mit »alt« oder gar »greisenhaft« hat das, wie ihre Flugkünste zeigen, nichts zu tun. Vielleicht brauchen diese Segler, die von den Brasilianern Andorinhas da cachoeira[1],
»Schwalben der Wasserfälle«, genannt werden, diesen hellgrauen Kopf bei ihrer äußerst ungewöhnlichen Nistweise. Denn was ich an jenem Abend, fast starr vor Staunen, erlebte, ist Teil ihrer (für sie) ganz normalen Lebensweise.
Was sie taten, war nichts anderes, als ihren Schlafplatz anzufliegen, nämlich die Felswand hinter den Wasserfällen. Dort klammern sie sich mit ihren kleinen, sichelförmigen Krallen der kurzen Füße an die Felsen und verbringen dicht an dicht, und ohne sich zu rühren, die zwölf Nachtstunden bis zum nächsten Morgen. Dann lösen sie sich aus der Starre. Sie fahren die im Schlaf gesenkte Körpertemperatur wieder auf normale Leistung hoch, schütteln sich vielleicht kurz und werfen sich hinein in die Wasservorhänge. Diese reißen sie zwar ein Stück in die Tiefe, aber nach Bruchteilen einer Sekunde kommen sie wohlbehalten wieder frei und fliegen hinaus zur Jagd nach Fluginsekten über den Wäldern und Savannen.
Ist dieses Nächtigen hinter den Wasserfällen schon staunenswert genug, so geschieht schier Unglaubliches bei der Fortpflanzung. Die Greisensegler bauen nämlich auch ihre Nester in die Felsnischen hinter den Wasservorhängen, bebrüten darin ihre Gelege und ziehen die Jungen groß. Dann heißt es, täglich vielfach das Wasser zu durchfliegen, um die mit Speichel zu Bällchen geformten Kleininsekten, die sie aus dem sogenannten Luftplankton erbeutet haben, an die hungrigen Jungen zu verfüttern. Sind diese ausgewachsen und zum Ausfliegen bereit, müssen sie sich zu ihrer ersten richtig aktiven Lebenstätigkeit vom Nest mit Schwung ins Wasser stürzen und danach sogleich versuchen, Luft unter die Schwingen zu bekommen. Das ist ihr Jungfernflug. Was für eine Lebensweise, stellt man nicht nur als Biologe bewundernd fest. Und es drängt sich die viel größere Frage auf, wie denn so eine Lebensweise zustande kommen konnte. Was in aller Welt mag eine Vogelart, die als Angehörige der Segler ausgeprägter als alle anderen Vögel »in der Luft lebt« und sich im Flug sogar paart, dazu veranlasst haben, ausgerechnet die Felsnischen hinter den tropisch-südamerikanischen Wasserfällen zum Nisten und zum Nächtigen zu benutzen?
Ich war eigentlich nicht hierher an die Iguaçú-Fälle ins Grenzgebiet zwischen Brasilien, Argentinien und Paraguay gekommen, um solche Fragen zu klären. Damals hatte ich nicht einmal gewusst, dass es dieses Phänomen überhaupt gibt. Es ist auch nur eines der unzähligen Beispiele ungewöhnlichster Formen des Lebens in den Tropen. Man muss sicherlich kein Biologe sein, um über die Wunder der Tropenwelt zu staunen. Aber was besagen sie? Was bedeuten sie für die Menschen? Auch für uns, die wir in den klimatisch gemäßigten Breiten leben und den Wohlstand genießen? Sind sie für daran Interessierte etwas dem Besuch eines Zoos, eines botanischen Gartens Vergleichbares, das man auf einer »Studienreise« genießt? Und in welchem Verhältnis stehen sie zur Natur bei uns? Bilden sie lediglich einen exotischen Kontrast dazu?
Um die Tropennatur, um ihre Fülle zu erleben, reiste ich direkt nach Abschluss meines Biologiestudiums nach Südamerika. Schon als Kind hatte ich Naturforscher werden und nach Brasilien, an den Amazonas, gehen wollen. Meine Mutter sagte dies in weinerlichem Ton jedem, der danach fragte, als ich tatsächlich dort war. Zwischen dem Träumen von den Tropen in früher Jugendzeit und meiner Ankunft in Brasilien im Januar 1970 waren zwar etwa ein Dutzend Jahre vergangen, aber in der Rückschau sind dies eigentlich gar nicht so viele. Wann sich die Wunschbilder von den Tropen in mir aufbauten, kann ich anhand eines Buches zeitlich ziemlich genau eingrenzen. Es handelte von der Reise Alexander von Humboldts in die südamerikanischen Tropen und hieß passend für jugendliche Leser Draußen wartet das Abenteuer. Ich verschlang es, wie man ein Buch nur verschlingen kann. 1957, spätestens 1958, muss das gewesen sein, denn ein weiteres Buch aus dieser Zeit wirkte nachhaltig über die Bilder: Die Welt in der wir leben, die deutsche Fassung des amerikanischen The World We Live In, dessen drucktechnisch billigere Volksausgabe ich nach langem Sparen erworben hatte. Es zeigte in großen bunten Bildtafeln auch die Fülle des Lebens im Tropischen Regenwald Südamerikas. Ich saugte die Bilder und die Texte ein wie ein Lebenselixier; auch alles, was darin über die Evolution des Lebendigen enthalten war.
Wahrscheinlich baute sich über diese beiden Bücher der naive Wunsch auf, dies selbst zu erleben, auch wenn das nicht nur im frühjugendlichen Sinne damals unerreichbar schien. Nie würde ich die Mittel dazu haben, wie Alexander von Humboldt in die Äquinoktialgegenden der Neuen Welt zu reisen. Und doch wurde dieses »nie« bereits gut ein Jahrzehnt nach den ersten Phantasien davon, als Naturforscher nach Brasilien zu reisen, Wirklichkeit.
Natürlich dachte ich an die mir damals schon so weit zurückliegend vorkommende frühe Jugendzeit, als ich Seglern zuschaute, die sich in die Wasserfälle stürzten. Sie währte nur kurz, diese Rückschau, wenn ich mich recht erinnere, denn zu viel gab es zu sehen, zu hören, zu erleben an diesem wundervollen Ort. Mit fünfundzwanzig Jahren war ich bestimmt viel zu jung für eine wirklich kontemplative Rückschau auf den noch kurzen Lebensweg, der mich so geradlinig von den Ufern des Inns und dem kleinen Dorf im niederbayerischen Inntal, in dem ich aufgewachsen war, hierher an den Iguaçú und seine unendlich größere Naturschönheit geführt hatte. Der Drang, einzutauchen in die Wunder der Tropenwelt, erfüllte mich voll und ganz. Das Studium lag gerade hinter mir. Ich hatte in Zoologie promoviert und genau den Berufsweg einschlagen können, den ich mir als Naturforscher vorgestellt hatte. Ein für meine finanziellen Verhältnisse sehr großzügiges und für die damalige Zeit gewiss ganz besonderes Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes ermöglichte mir die einjährige Südamerikareise ohne Auflagen und Verpflichtungen. Diese Auszeichnung überstieg an nachwirkender Bedeutung wohl auch den Doktortitel. Sie wurde prägend für mein weiteres Leben, insbesondere für die berufliche Entwicklung. Wenn ich jetzt in einer dem Alter angemessenen Rückschau bewerten sollte, welche Ereignisse den Weg, den ich eingeschlagen hatte, eröffneten und welche Erlebnisse die Wahl meiner Forschungsthemen und auch meine allgemeinen Interessen entscheidend beeinflussten, so gebührt dem Jahr in Südamerika sicherlich eine zentrale Position. Es ermöglichte mir, uneingeschränkt von Zeitdruck und Konkurrenz, das freie Sammeln von Eindrücken. Mitzubringen hatte ich nichts von dieser ersten Reise in die Tropenwelt. Mitgebracht habe ich eine Fülle, die zum Quell sich nicht erschöpfender Erfahrungen und Anregungen wurde. Sie bewahrte mich davor, einen Brotberuf zu wählen, der in die Spezialisierung geführt hätte.
Der Reichhaltigkeit der Natur Südamerikas fühlte ich mich anfänglich aber geradezu hilflos ausgeliefert. Ihre Fülle ist erdrückend. Die Segler, die hinter den Wasserfällen schlafen und nisten, hoben sich als einzelnes Erlebnis zwar ab von der Flut des Neuen. Aber sie machten auch Lust auf mehr. Zusammen mit vielen anderen Besonderheiten, die sich Tag für Tag ansammelten, wurden sie zu kleinen Schlüsseln zum Verständnis des großen Ganzen – oder zumindest von dem, was man im Lauf der Zeit aus der Summe der eigenen Erfahrungen dafür hält. Einen umfassenden Einblick gewinnen kann nie gelingen; es übersteigt unsere individuellen Möglichkeiten. Mit der Zeit wird man zu der Einsicht gezwungen zu akzeptieren, dass relativ mehr zwar ein großer Gewinn ist, aber gewiss nicht der Weisheit letzter Schluss. Was jedoch stetig mit ansteigt, ist das Vergnügen, das beim Eindringen in die sogenannten Geheimnisse der Natur aufkommt. Es hält die forschende Begeisterung in Schwung.
Südamerika war für mich damals, 1970, kein vorgefertigter Lehrstoff, wenngleich ich viel gelesen hatte über die Natur dieses Kontinents, auch als Vorbereitung auf die Prüfung in Botanik, zu der ich den Tropischen Regenwald als spezielles Prüfungsthema hatte wählen dürfen. Die eigene Erfahrung übertrifft jedoch meistens doch alles Angelesene – oder rückt es zurecht, wenn im Geschriebenen aus Effekthascherei allzu arg übertrieben worden war. Ich hatte das Privileg, mich mit dem befassen zu können, was ich gerade interessant fand. Reisestrecken und Aufenthaltsdauern brauchte ich nicht zu rechtfertigen. Die Studienstiftung hatte mir nicht nur die Mittel für das Jahr in Südamerika gegeben, sondern mir Freiheit dazu geschenkt. Dass es eine schöpferische Zeit würde, hatte man bei der Vergabe des Stipendiums wohl gehofft. Tatsächlich hatte ich nicht einmal einen konkreten Reiseplan. Die traumhaft schönen Wasserfälle des Iguaçú standen weder am Anfang meines Herumschweifens in Südamerika, noch gehörten sie zu den Hauptzielen, die zu erreichen ich mir vorgenommen hatte. Es waren dies Gebiete mit für die damalige Zeit noch geheimnisvollem Klang: Mato Grosso, Gran Chaco, das Pantanal, der Rio das Mortes (einer der südlichen Quellflüsse des Amazonas mit eher besorgniserregendem Namen). In den Tagen an den Iguaçú-Fällen und im daran anschließenden Nationalpark war ich der Studienstiftung einfach zutiefst dankbar und bin das immer noch. Damals befand ich mich in einer Art Orientierungsphase, in der ich aufzunehmen versuchte aus der Fülle der Tropen- und Subtropennatur Südamerikas, so viel ich zu fassen vermochte und festhalten konnte in meinen Notizbüchern. Vieles entzog sich mir wieder, kaum dass ich es sah oder hörte, weil ich keine geeigneten Bücher zum Bestimmen der Tiere und Pflanzen hatte. Die damals verfügbaren verwirrten eher, als dass sie Klärung brachten. Und das dokumentierende Fotografieren mit Dia-Filmen war teuer und dem Risiko ausgesetzt, dass die Filme in der tropischen Hitze und Schwüle verderben. Jedes Bild wollte genau überlegt sein, ob es wert war, gemacht zu werden. Der Bleibeutel voller unbelichteter Filme war ein Schatz, den ich hüten musste wie meinen Reisepass.
Umso mehr vertiefte ich mich auf der Reise in ein Buch, das bezogen auf Südbrasilien, Paraguay und Ostbolivien für mich das Buch der Bücher über die Natur war: Zwischen Anden und Atlantik von Hans Krieg, erschienen 1948, aber entstanden auf Expeditionen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Für mich sollten sich daraus bemerkenswerte Verknüpfungen und Nachwirkungen ergeben. Davon ahnte ich nichts, als ich versuchte herauszubekommen, um welche Vogelart es sich bei den selbstmörderischen Seglern an den Wasserfällen handelt. Die Angabe im Buch von Hans Krieg konnte nämlich nicht stimmen. Er hatte darin von weißbäuchigen Seglern geschrieben, die an der senkrechten Felswand ihre Nester haben. Die Greisensegler sind aber bis auf den grau aufgehellten Kopf ganz dunkelbraun-schwärzlich, auch auf der Bauchseite. Von ihrem Flug durch die Wasservorhänge schrieb Hans Krieg nichts. Dass mich ausgerechnet meine Bibel hier im Stich ließ, beunruhigte mich. Immer wieder vergewisserte ich mich, dass die Segler nicht weißbäuchig waren und dass es auch keine solchen unter den Seglerschwärmen an den Felswänden der Iguaçú-Schlucht gab. Einen Irrtum – er könnte sie verwechselt haben mit den hier vereinzelt, in Paaren oder kleinen Gruppen herumfliegenden Graubrustschwalben Progne chalybea – wollte ich dem großen Kenner Südamerikas nicht unterstellen. Diese langsam fliegenden, verglichen mit den Greisenseglern sogar deutlich größeren und auf der Rückenseite blaugrün schimmernden Schwalben kannte ich ganz gut von anderen Orten Südbrasiliens. Auch am Hotel in der Nähe der Wasserfälle kamen sie vor. Erst nach der Rückkehr nach Deutschland konnte ich schließlich klären, worum es sich bei den Seglern gehandelt hatte. Hans Krieg war tatsächlich eine Verwechslung unterlaufen, die möglicherweise mit dem umgangssprachlichen andorinha (Schwalbe) in Brasilien zusammenhing. Es war offenbar alles andere als leicht, in die Natur Südamerikas einzudringen, wenn es selbst zu so Spektakulärem Fehldeutungen gab.
Nun wird man nicht einfach Naturforscher und kommt gleich nach der Promotion nach Brasilien. Eine derartige Tropenreise war vor einem halben Jahrhundert ungleich schwieriger als heutzutage, wo schon Jugendliche als Touristen fast überallhin fahren können. Rückblickend mögen die zwölf Jahre vom ersten Aufkeimen der Vorstellung, nach Brasilien zu gehen, bis zur Verwirklichung gleich nach dem Studium wie ein glatter Weg aussehen, dem man einem starken Willen und/oder einer gezielten Förderung zuschreiben könnte. Zu betonen, dass dem nicht so war, gebietet mir die Ehrlichkeit. Wie es tatsächlich war, das ist ein umfassenderes Stück Lebensgeschichte. Warum es so kam, wie es gekommen ist, mag zwar wie geplant aussehen, tatsächlich aber wirkte viel zusammen, was nicht planbar war, sondern sich aus günstigen Umständen heraus ergab.
Die Ähnlichkeiten solch individueller Lebensläufe mit Evolutionsvorgängen sind frappierend. Deutlich werden sie jedoch erst in der Rückschau. Geht man mit der gebotenen Distanz zu sich selbst darauf ein, machen sie vielleicht eher verständlich, warum sich Evolution nicht im strengen Sinne kausal erklären lässt, weil sie kontingent verläuft und nicht kausal in der Art, wie wir gewohnt sind vorauszudenken: »um zu«. Was das bedeutet, wurde mir Jahre später allmählich bewusst, als ich in Afrika an der Wiege der Menschheit stand und darüber nachsann, warum gerade hier und nicht in Südamerika oder Asien, weshalb in den Tropen und nicht in den für uns doch angenehmeren, klimatisch gemäßigten Breiten die Menschen als biologische Gattung und Art entstanden sind. Was unterschied Afrika von Südamerika so tiefgreifend und auch vom tropischen Asien? Warum leben weit mehr Menschen außerhalb der Tropenzone als in dieser? Hier in Brasilien bekam ich einen ersten Eindruck. Mich zog es ins Innere, wo die Natur so vielfältig ist. Aber die Menschen konzentrieren sich auf den Küstenbereich. Ins damals abwertend als interior von den Brasilianern bezeichnete Innere hinein nahm die Bevölkerung stark ab, dünnte aus und ging über in das Land der Indios, die nach damals verbreiteter Ansicht wie die bichos do mato, Viecher des Waldes, lebten. Ihre entfernten Verwandten an der Südspitze Südamerikas, die Feuerländer, hatte Charles Darwin mit seiner für jene Zeit sogar recht wohlwollenden, gegen die Sklaverei gerichteten Sicht noch für lebende Übergänge zum Menschengeschlecht gehalten. Zweifellos waren die Indios in Amazonien zumindest in entlegenen Gebieten weit weniger losgelöst von der Natur als die Europäer, die sie immer tiefer in den Urwald abdrängten. Ob die Indios deswegen im Einklang mit der Natur lebten, galt zumindest bei nicht allzu voreingenommenen Völkerkundlern als nicht mehr so sicher, wie das bis heute viele romantisierende Naturschützer annehmen. Und ich sah auch, wie schon 1970 Tropenwälder gerodet wurden, um Viehweiden daraus zu machen und Soja anzubauen für den Export nach Europa. Brasilien, Amazonien, sie waren keine entlegene Welt, sondern längst, seit Jahrhunderten, global vernetzt und von Nordamerika und Europa massiv beeinflusst. Die Globalisierung hat vor einem halben Jahrtausend mit Kolumbus und Magellan begonnen, beileibe nicht erst in unserer Zeit.
Wohin immer ich kam in Südamerika, stets überformte das Tun und Wirken der Menschen die Natur. Selbst zur größten Tropenfülle gehörten die Menschen und meistens auch das, was sie mitgebracht hatten an Nutzpflanzen und Vieh. In die Wüste an der Westküste Südamerikas waren Scharrbilder gegraben, die von vergangenen, vorkolumbianischen Kulturen zeugten. Das Urvertrauen aller Tiere, die den Menschen nicht als Feind oder Gefahr einstufen und auf sein Auftreten nicht gleich mit Scheu und Flucht reagieren, ließ sich nicht in den amazonischen Wäldern, sondern erst tausend Kilometer westlich des südamerikanischen Kontinents auf den einsamen Galapagosinseln erleben. Einzigartig in dieser Intensität! Früh formten sich für mich daher die drei Kernbereiche, um die sich mein Sammeln von Daten und Fakten konzentrierte: Ökologie, Evolution und Naturschutz. Die Ökologie versucht zu verstehen, wie das Leben lebt und wie die lebendige Natur funktioniert. Die Evolutionsforschung will den Weg des Lebens durch die Zeiten und Räume ergründen. Und wer auch nur ein wenig gesehen hat von der Fülle des Lebens, wird sich aus tiefster Überzeugung für Schutz und Erhaltung der Natur einsetzen.
In der Beobachtung der Segler, die zum Schlafen durch die Wasservorhänge der Iguaçú-Fälle flogen, vereinigten sich für mich ganz unmittelbar diese drei großen Fragen zur Ökologie (Wie leben diese Vögel mit so besonderen Anpassungen?), zur Evolution (Wie mag diese außergewöhnliche Lebensweise zustande gekommen sein und warum?) und zum Schutz (Werden die Segler überleben, und werden diese einzigartigen Wasserfälle erhalten bleiben?). Die Sorge, die sich in letzterer Frage ausdrückte, war sehr berechtigt, denn andere, der Wassermasse nach viel gewaltigere Wasserfälle, die kaum zweihundert Kilometer nördlich davon am Paraná-Fluss gelegenen »Sieben Fälle« (sete quedas), waren gerade erst einem gigantischen Staudamm zum Opfer gefallen: dem damals größten Flusskraftwerk der Welt. Bald würden mich, was ich am Iguaçú noch nicht ahnte, ähnliche Befürchtungen beunruhigen im Hinblick auf die Xavante-Indios jenseits des Todesflusses Rio das Mortes, die ich noch kurz erleben konnte. Und viele weitere Probleme von Ökologie, Evolution und Naturschutz auch, die sich zu einem Geflecht zusammenfügten, das in schier unlösbarer Weise die Lage unserer Zeit und die weitere Entwicklung in die Zukunft charakterisiert. Ratlos, mutlos oder wütend machen die Erfahrungen, weil die »Krone der Schöpfung«, insbesondere in ihrer Version der sogenannten westlichen Zivilisation, offenbar nicht lernfähig oder, wie viele mit Bezug auf die biblische Erbsünde meinen, von Grund auf verdorben ist. Der Klimawandel wäre ja eine vergleichsweise harmlose Folge des westlichen Umgangs mit der Erde, wenn er nicht, wie bisher alle großen Veränderungen, den anderen, den größeren Teil der Menschheit viel schlimmer träfe. Dieses Verdikt gilt auch dann, wenn die Modelle zur Projektion der klimatischen Entwicklung gar nicht stimmen sollten. Der eingeschlagene Weg, auch jener, der vorgibt, die globale Erwärmung des Klimas auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, wird zwangsläufig einen Großteil dessen vernichten, was das Leben auf der Erde, auch das menschliche Leben, kennzeichnet: Vielfalt. Südamerika ist hierfür ein Modell für die ganze Erde.
Vielfalt der indigenen Kulturen, Vielfalt der Arten, Vielfalt der Lebensräume – die gesamte Mannigfaltigkeit schwindet dahin. Alles wird vereinheitlicht, gleichgeschaltet, auf schnellstmögliche, höchstmögliche Leistung getrimmt. Wer sich gegenwärtig um die Verhältnisse im Jahr 2100 sorgt, verdrängt, was hier und jetzt abläuft. Die zu große Überwachung der Privatsphäre wird beklagt und mit dem Ausdruck weitgehender Hilflosigkeit bekämpft, während doch eine viel umfassendere Überwachung überfällig wäre, um die Übel unserer Zeit an der Wurzel packen zu können. Für die Zukunft ist es reichlich bedeutungslos, wer mit wem telefoniert oder per E-Mail korrespondiert. Entscheidend ist, was gemacht wird, wie eingegriffen wird in die Abläufe in der Natur, wo welche Veränderungen in welchem Umfang vollzogen werden. Das grüne Streben nach Gleichgewichten ist nichts weiter als die Illusion, den Lauf der Zeit anhalten zu können. Alles geschieht in der Natur wie in der Menschenwelt aus Ungleichgewichten heraus. Unsere Konzepte von Ökologie und Umweltschutz müssen grundlegend überdacht und in den entscheidenden Grundlagen überarbeitet werden. Kein Status quo lässt sich aufrechterhalten, möge er noch so wünschenswert erscheinen. Alles Wirken der Menschen gehört auch zu den Prozessen der Evolution. Sie gibt von sich aus keine Richtung vor. Die von Zivilisationen gewählte Entwicklung entspringt fast immer dem persönlichen Egoismus weniger Menschen. Dem Wohl der Menschheit dient sie nicht.
Die Vorgänge in der menschlichen Geschichte unterscheiden sich, genauer betrachtet, offenbar nicht wirklich von der allgemeinen Geschichte der Natur und dem Gang des Lebens auf der Erde. Menschengeschichte ist ein Seitenzweig der allgemeinen Lebensgeschichte, der biologischen Evolution, so wie auch die Naturgeschichte der Lebewesen ein Spross der Erdgeschichte ist. Seit Darwin 1859 sein epochales Werk über den Ursprung der Arten veröffentlicht hat, kennen wir das Grundprinzip, das er von Herbert Spencer übernahm: Survival of the fittest – Überleben der Tauglichsten. Die Menschheit praktiziert dieses Prinzip in geradezu ungeheuerlicher Konsequenz allen Warnungen besonnener, sozial gesinnter und verantwortungsbewusster Menschen zum Trotz. Die heutige Globalisierung meint die Verdrängung der Schwächeren, der weniger Fitten genauso wie das dominant gewordene politische System. Den politisch Verantwortlichen von heute dienen in die ferne Zukunft projizierte Ängste als höchst willkommene Ablenkung von den hier und jetzt zu lösenden Problemen. Mit vorgeschobenem Engagement und teurem Aktionismus entziehen sie sich der Verantwortung für die Missstände der Gegenwart. Das Ziel ist ebenso klar, wie es geschickt verschleiert wird: Weitermachen wie bisher und neue Steuern eintreiben für unnütze oder schädliche Investitionen.
Doch geklagt wurde bekanntlich über die Zeit und ihre Fehler zu allen Zeiten und mit den unterschiedlichsten Begründungen. Darum geht es mir in diesem Buch nicht. Es hat andere Zielsetzungen. Sie entsprechen den drei Kernthemen. Das erste ist die Kritik an der viel zu statischen Ökologie, die durch eine dynamischere, der Wirklichkeit angemessenere Sicht der Natur abgelöst werden sollte und die das möglich macht, was angeblich angestrebt wird, nämlich die nachhaltige Entwicklung (sustainable development). Die zweite hat die Hinführung zu der Erkenntnis zum Ziel, dass Evolution immer und überall wirkt, auch in menschlichen Gesellschaften. Und dass daher der alten Weisheit endlich zum Durchbruch verholfen werden sollte, dass nichts so bleiben kann und bleiben wird, wie es einmal war oder gerade ist. Drittens schließlich geht es darum, dass sich der Naturschutz von seiner Orientierung daran, wie es einmal war, löst und neue Visionen für die Erhaltung der Lebensvielfalt in einer sich unablässig wandelnden Welt entwickelt. Wer nur am Alten hängt, wird es verlieren.
Es liegt in der Natur einer Rückschau, dass persönliche Entwicklungen und Erfahrungen die Leitlinie bilden auf den Gängen durch die Räume der Ökologie in die Zeiten der Evolution. Eine Autobiographie kommt dadurch nicht zustande, und das Buch soll auch keine werden. Gleichwohl mögen die Schilderungen aber ein Beispiel dafür abgeben, wie viel mit dem jeweils ganz persönlichen Lebensweg verbunden ist. Das sich wandelnde Denken beeinflusst jeden Lebenslauf vergleichbar intensiv wie die äußeren Änderungen von Landschaft, Umwelt und insbesondere die Erfahrungen, die man auf anderen Kontinenten und in fremden Kulturen gewinnt. Im Endeffekt ist alles persönlich. Die Ausführungen können daher nur in ihrem Verhältnis zur Sicht anderer Menschen aufgenommen werden. Optimallösungen sind herrlich einfach denkbar, aber so gut wie nie zu realisieren. Nachvollziehbar werden könnte allenfalls die Begeisterung, die mit der Naturforschung verbunden ist. Sie wird heutzutage den Kindern und Jugendlichen, auch den naturinteressierten Erwachsenen dermaßen erschwert, wenn nicht nahezu gänzlich unmöglich gemacht, dass vieles in meiner Rückschau auch Erinnerung an schönere Zeiten ist, in denen die Natur noch zugänglich und nicht – angeblich zu ihrem Schutz – durch Verordnungen, Gesetze und Zäune versperrt war. Dieser unerträgliche Zustand ließe sich ändern, ganz unabhängig davon, wie es weitergeht mit der großen Welt. Die Entfremdung von der Natur, die sich am deutlichsten ausdrückt in ihrer zunehmenden Pseudorepräsentanz in der virtuellen Welt der Medien, ist im übersatten, verglichen mit dem großen Rest der Welt unvorstellbar reichen Europa und Nordamerika das eigentliche Problem. Je wirkungsvoller die Menschen von der Natur abgehalten werden, desto weniger Widerstand setzen sie den ausbeuterischen Veränderungen entgegen. Wen interessiert, wie lange das zauberhafte Lied des Uirapurú, des Flageolett-Zaunkönigs, im Dämmerlicht amazonischer Regenwälder erklingen wird, wenn man schon bei uns keine Lerchen mehr singen hört, weil Mais, Raps und Windräder »grün & gut« sind, auch wenn sie alles vernichten, was auf unseren Fluren an Restnatur leben könnte? Insofern ist dieser Rückblick auf den eigenen, sehr vielfältigen Weg in die Natur der Versuch, auszudrücken, welche Erlebniswerte in ihr stecken. Alles Menschengemachte lässt sich wiederherstellen. Alles Erlebte ist Erinnerung. Wie ärmlich und wie stark vereinheitlicht sie ausfällt, entscheidet sich in den Entwicklungen unserer Zeit. Es macht mich zutiefst betrübt, dass ausgerechnet der Naturschutz die Menschen am meisten davon abhält, Natur zu erleben.
Daher bin ich dem Leben dankbar für den großen Schatz an Erinnerungen, den ich bei meiner Betätigung in der Natur gewinnen konnte. Sie sind einzigartig und nicht wiederholbar. Das gilt für alles, was dem Lauf der Zeit unterworfen ist. Um Wiederholbarkeit kann es niemals gehen. Umso mehr aber darum, dass die Möglichkeiten zum Naturerlebnis erhalten bleiben. Die Menschen unserer Zeit sollten dies den nachfolgenden Generationen gegenüber als Bringschuld empfinden. Lebendige Natur lässt sich nicht wie Menschenwerk museal magazinieren und bei Bedarf wiederherstellen. Sie braucht die Räume für ihre eigenständige Entfaltung. Und die Bereitschaft, das andere, das nichtmenschliche Leben auch leben zu lassen. Daran mangelt es in unserer Gesellschaft mehr denn je.
Was ich für die nachfolgenden Texte auswählte, ist das, was mir wichtig erschien und was ich in Notizbüchern festgehalten hatte – nicht, was ich aus der Rückschau über mehr als ein halbes Jahrhundert für bedeutsam halten würde. Rote Fäden werden so gut wie immer nachträglich konstruiert. Mitunter sind sie vorhanden, ohne dass man sie bemerkt. Zufälle ergeben neue Notwendigkeiten; vermeintlich Wichtiges verliert an Bedeutung. Wie im Prozess der Evolution! Beurteilt werden kann immer erst vom vorläufigen Ende her. Denn alles ist Zwischenbilanz im Fluss der Zeit. Kaum etwas fällt uns aber so schwer, wie die Vorläufigkeit dessen zu akzeptieren, von dem wir gerade zutiefst überzeugt sind. Mehrfach musste ich meine feste Meinung ändern, weil neue, bessere Befunde dagegenstanden. Und, noch häufiger, Positionen relativieren, die an einem Ort zu bestimmter Zeit ihre Berechtigung gehabt haben mochten, jedoch keineswegs deshalb allgemeine Gültigkeit beanspruchen konnten. Skepsis wurde nötig. Sie ist nötiger denn je, seit große Teile der Gesellschaft geneigt sind, den Computermodellen mehr zu glauben als der Wirklichkeit. Wer glauben will, verwirft die Skepsis. Das ist der gläubigen Menschen gutes Recht, widerspricht aber dem Grundprinzip der Naturwissenschaft. Skeptisch zu sein ist nicht sonderlich schwer, gleichwohl nicht günstig, wenn es um Forschungsgelder geht. Viel schwieriger ist eine vernünftige Abwägung der Befunde und der möglichen Schlussfolgerungen. Vereinfachungen scheitern immer wieder an der Komplexität der Wirklichkeit. Kontrollierte Experimente wie auch Modelle, die uns die Wirklichkeit abbilden sollen, verdienen besondere Skepsis. Modellgläubig wird, wer die Vielfalt ausblendet, bewusst oder unbeabsichtigt. Insofern könnten die nachfolgenden Ausführungen hilfreich dafür sein, nicht allzu schnell über allzu einfache Modelle die Lösung zu suchen oder gar gefunden zu haben zu glauben. Die Mannigfaltigkeit von Natur, Menschheit und Kulturen ist für jegliche Vereinfachung zu groß. Weil diese Vielfalt das Leben selbst und seine Entfaltung repräsentiert, ist sie das höchste Gut.