Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel «The Witches» bei Jonathan Cape Ltd., London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Witches» Copyright © 1983 by Roald Dahl Nominee Ltd.
Illustrationen Copyright © 1983 by Quentin Blake
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Umschlagillustration Quentin Blake
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN Printausgabe 978-3-499-21696-1 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-57461-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-57461-8
Für Liccy
In Märchen haben Hexen immer alberne schwarze Hüte auf, tragen schwarze Umhänge und reiten auf dem Besen.
Diese Geschichte ist jedoch kein Märchen. Sie handelt von ECHTEN HEXEN, und das Wichtigste, was ihr ÜBER ECHTE HEXEN wissen müsst, ist das Folgende.
Passt also gut auf und merkt euch alles, was ich euch jetzt sagen werde.
ECHTE HEXEN tragen ganz normale Kleider und sehen auch wie ganz normale Frauen aus. Sie wohnen in normalen Häusern, und sie üben ganz NORMALE BERUFE aus.
Deshalb ist es so schwer, sie zu erwischen.
Eine ECHTE HEXE hasst Kinder so glühend, dass es zischt, und dieser Hass ist verzehrender und verheerender als alle anderen Gefühle, die ihr euch selbst in euren ärgsten Träumen vorstellen könntet.
Eine ECHTE HEXE schmiedet Tag und Nacht die schlimmsten Pläne, um alle Kinder aus ihrer Umgebung zu vertreiben. Eins nach dem anderen zu erledigen ist ihr die innigste Genugtuung. Das ist ohnehin das Einzige, worüber sie den ganzen Tag lang nachdenkt. Selbst wenn sie als Kassiererin in einem Supermarkt arbeitet oder für einen Geschäftsmann Briefe tippt oder in einem tollen Schlitten durch die Gegend kurvt (und genau solche Sachen wären vollkommen normal für sie), so tickt es ununterbrochen in ihrem Gehirnkasten, Ränke werden gesponnen und Fallen gestellt und Komplotte geschmiedet, und er blubbert und siedet und kocht ihr die mörderischsten blutrünstigsten Gedanken aus.
«Welches Kind», so fragt sie sich unablässig tagaus und tagein, «welches Kind genau soll ich mir als Nächstes auswählen, um es zu zermalmen?»
Eine ECHTE HEXE kniet sich nämlich mit der gleichen Wonne in das Kinderzermalmen wie ihr in eine Portion Erdbeeren mit Schlagsahne.
Sie erledigt im Schnitt ein Kind pro Woche. Wenn sie das nicht schafft, kriegt sie schlechte Laune.
Ein Kind pro Woche, das bedeutet zweiundfünfzig Kinder pro Jahr. «Schnapp es dir und schlag es ein, dann wird das Kind verschwunden sein.» Das ist das Motto aller Hexen.
Sie gehen immer sehr sorgfältig vor. Zuerst einmal wird das Opfer ausgewählt. Dann schleicht sich die Hexe an das Unglückskind wie ein Jäger heran, der einem kleinen Vogel im Walde auflauert. Lautlos setzt sie ihre Füße auf. Geräuschlos bewegt sie ihre Glieder. Näher kommt sie, immer näher. Und dann zum Schluss, wenn alles bereit ist, schwups! packt sie zu. Funken sprühen. Flammen tanzen. Öl zischelt. Ratten quieken. Haut schrumpelt. Und das Kind ist verschwunden.
Ihr müsst nämlich wissen: Eine Hexe schlägt Kindern nicht den Schädel ein. Sie bohrt ihnen auch kein Messer in den Leib und erschießt sie nicht mit Pistolen. Leute, die so etwas machen, werden von der Polizei verhaftet.
Eine Hexe wird niemals erwischt. Ihr dürft nicht vergessen, dass sie bis in die Fingerspitzen voller Zauber steckt und dass ihr die Teufeleien nur so im Blute tanzen. Sie kann Wackersteine wie Frösche in der Gegend herumhüpfen und Flammen über das Wasser züngeln lassen.
Diese Zauberkräfte sind wirklich fürchterlich.
Glücklicherweise gibt es heutzutage nicht mehr allzu viele ECHTE HEXEN auf der Welt. Sie sind aber immer noch zahlreich genug, um einen nervös zu machen. In England gibt es höchstwahrscheinlich so um die hundert. Manche Länder haben mehr aufzuweisen, andere sehr viel weniger. Völlig hexenfrei ist kein einziges Land auf der Erde.
Eine Hexe ist stets eine Frau.
Ich möchte gewiss nicht schlecht von Frauen sprechen. Die meisten Frauen sind entzückend. Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass sämtliche Hexen weiblich sind. Männliche Hexen gibt es einfach nicht.
Andererseits: Ein Dämon ist immer männlich. Und von Kobolden muss man das auch zugeben. Beide sind gefährlich. Aber keiner von beiden ist auch nur halb so gefährlich wie eine einzige ECHTE HEXE.
Was nun die Kinder anbelangt, so ist für sie eine ECHTE HEXE bei weitem das gefährlichste Geschöpf auf Gottes ganzem Erdboden. Was sie doppelt gefährlich macht, ist die Tatsache, dass sie überhaupt nicht gefährlich aussieht. Selbst wenn ihr alle Geheimnisse der Hexen kennt (und ihr werdet sie gleich noch erfahren), so könnt ihr doch niemals hundertprozentig sicher sein, ob ihr wirklich eine Hexe vor euch habt oder einfach nur eine nette Dame. Wenn ein Tiger imstande wäre, sich das Aussehen eines großen Hundes mit einem freundlich wedelnden Schwanze zu geben, so würdet ihr vermutlich auf ihn zugehen und ihn am Kopfe kraulen. Und das wäre dann euer Ende. Mit Hexen ist es nun genauso. Sie sehen allesamt wie freundliche Damen aus.
Schaut euch zum Beispiel das Bild an. Welche Frau ist die Hexe? Das ist eine schwierige Frage, aber genau darauf muss jedes Kind eine Antwort geben können.
Nach allem, was wir wissen, wäre es also gut möglich, dass direkt neben euch eine Hexe wohnt.
Sie könnte natürlich auch die Frau mit den leuchtenden Augen sein, die dir heute früh im Bus gegenübergesessen hat.
Oder die Dame mit dem verlockenden Lächeln, die dir heute Mittag auf der Straße aus einer weißen Papiertüte ein Bonbon angeboten hat.
Sie könnte auch – und jetzt schlackern euch sicher die Ohren – sie könnte auch eure reizende Lehrerin sein, die euch genau in diesem Augenblick diese Worte vorliest. Betrachtet euch jetzt einmal diese Lehrerin genau. Vielleicht lächelt sie über die Absurdität einer solchen Vorstellung. Lasst euch davon nicht ablenken. Es könnte ein Teil ihres Planes sein.
Ich will euch selbstverständlich nicht einreden, dass eure Lehrerin eine Hexe ist. Ich erwähne nur, dass sie eine Hexe sein könnte. Es ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber – und das ist ein großes Aber – es ist niemals ganz und gar ausgeschlossen.
Ach, wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, bombensicher zu wissen, ob eine Frau eine Hexe ist oder nicht, dann könnten wir sie nämlich alle zusammentreiben und durch den Fleischwolf jagen.
Unglücklicherweise gibt es keine solche Möglichkeit. Was es jedoch gibt, ist eine Anzahl von winzigen Warnzeichen, nach denen ihr Ausschau halten könnt, kleine Macken, die alle Hexen haben, und wenn ihr die kennt, wenn ihr sie niemals vergesst, dann könnt ihr es vielleicht schaffen, den Hexen und ihren spitzen Fingern in der nächsten Zeit zu entkommen.
Ich selber hatte schon vor meinem achten Geburtstag zwei voneinander unabhängige Zusammenstöße mit Hexen. Den ersten habe ich unbeschadet überstanden, aber beim zweiten Mal bin ich nicht so glücklich davongekommen. Mir sind Sachen zugestoßen, also, ihr werdet wahrscheinlich kreischen, wenn ihr davon lest. Aber das kann ich nicht ändern. Die Wahrheit muss berichtet werden. Die Tatsache, dass ich immer noch existiere und auch zu euch sprechen kann (egal, wie komisch ich aussehe), hab ich ganz und gar meiner wunderbaren Großmutter zu verdanken.
Meine Großmutter ist Norwegerin. Die Norweger wissen genau über Hexen Bescheid, denn Norwegen ist mit seinen finsteren Forsten und eisigen Gletschern die eigentliche Heimat der Hexen. Mein Vater und meine Mutter sind auch Norweger gewesen, aber weil mein Vater in England gearbeitet hat, bin ich hier geboren und aufgewachsen und auch in die Schule gegangen. Zweimal im Jahr, Weihnachten und in den Sommerferien, sind wir nach Hause nach Norwegen gefahren und haben meine Großmutter besucht. Soweit ich das in Erfahrung gebracht habe, ist diese alte Frau die einzige noch lebende Verwandte aus unserer gesamten Familie gewesen. Sie ist die Mutter meiner Mutter, und ich hab sie ganz besonders lieb. Wenn sie und ich zusammen sind, dann sprechen wir entweder Norwegisch oder Englisch. Das macht gar keinen Unterschied. Wir beherrschen beide Sprachen fließend, und ich muss zugeben, dass ich mich tiefer mit ihr verbunden fühle als mit meiner Mutter.
Kurz nach meinem siebenten Geburtstag nahmen mich meine Eltern wie üblich mit, um bei meiner Großmutter in Norwegen Weihnachten zu feiern. Und dort geschah es, dass mein Vater und meine Mutter und ich bei Schnee und Eis nicht weit von Oslo auf der Straße fuhren: Unser Wagen geriet ins Rutschen, kam von der Straße ab und stürzte in eine Schlucht. Meine Eltern waren tot. Ich war auf dem Rücksitz fest angeschnallt gewesen und trug nur eine Schramme auf der Stirn davon.
Von diesem schrecklichen Nachmittag will ich nicht mehr erzählen. Ich krieg immer noch das Zittern, wenn ich daran denke. Zum Schluss war ich natürlich wieder im Haus meiner Großmutter, und sie nahm mich fest in die Arme, und wir weinten miteinander die ganze lange Nacht.
«Was werden wir denn jetzt nur machen?», fragte ich sie beim Weinen.
«Du wirst hier bei mir bleiben», entgegnete sie, «und ich werde mich um dich kümmern.»
«Muss ich nicht nach England zurück?»
«Nein», sagte sie. «Das könnte ich nicht über mich bringen. Meine Seele soll gen Himmel fahren, aber meine Knochen sollen in Norwegen bleiben.»
Schon am nächsten Tag begann meine Großmutter, mir Geschichten zu erzählen. Das tat sie wahrscheinlich, um uns beide aus unserer großen Traurigkeit zu holen. Sie war eine großartige Erzählerin, und mich interessierte alles, was sie sagte. Aber so richtig in Schwung gekommen bin ich erst, als sie von den Hexen angefangen hat. Sie war offensichtlich eine große Kennerin dieser Kreaturen, und sie machte mir unmissverständlich klar, dass ihre Hexengeschichten im Gegensatz zu den anderen nichts Ausgedachtes waren. Sie beruhten alle auf Wahrheiten, so wie die Bibel. Sie waren Geschichte. Alles, was sie mir von Hexen erzählte, hatte sich tatsächlich ereignet, und wenn ich klug wäre, so glaubte ich es auch. Schlimmer war jedoch, weit, weit schlimmer, dass diese Hexen immer noch unter uns waren. Sie trieben sich ganz in unserer Nähe herum, und wenn ich klug wäre, glaubte ich das auch.
«Sagst du wirklich die Wahrheit, Großmama? Wirklich und ehrlich die Wahrheit?»
«Mein Schätzelchen», sagte sie. «Du wirst nicht lang auf dieser Erde leben, wenn du nicht weißt, wie man auf den ersten Blick eine Hexe erkennt.»
«Aber du hast mir doch erzählt, dass Hexen wie normale Frauen aussehen. Wie kann ich sie dann erkennen?»
«Hör mir genau zu», sagte meine Großmutter. «Du darfst nichts von dem vergessen, was ich dir erzähle. Und danach kannst du nur den Daumen halten und zum Himmel beten und auf das Beste hoffen.»
Wir saßen in dem großen Wohnzimmer in ihrem Haus in Oslo, und ich war schon fertig zum Schlafengehen. Die Vorhänge wurden in diesem Haus niemals zugezogen, so konnte ich durch die Fenster sehen, wie draußen dicke Schneeflocken langsam zum Boden sanken, der kohlrabenschwarz war. Meine Großmutter war ungeheuer alt und runzlig, kräftig und dick und ganz und gar in graue Spitze gehüllt. Sie thronte wie eine Königin in ihrem Sessel und füllte ihn bis zur letzten Ritze aus. Nicht einmal eine Maus hätte sich noch neben sie quetschen können. Ich hockte, sieben Jahre alt, zu ihren Füßen auf dem Teppich. Ich hatte meinen Pyjama an, Bademantel und Hausschuhe.
«Und schwörst du, dass du mich nicht auf den Arm nimmst?», fragte ich immer wieder. «Schwörst du, dass du mir nichts vormachst?»
«Hör zu», antwortete sie. «Ich kenne mindestens fünf Kinder, die einfach vom Erdboden verschwunden sind. Nie wieder aufgetaucht. Das haben die Hexen getan.»
«Ich glaube immer, du willst mir nur Angst einjagen», sagte ich.
«Ich will nur verhindern, dass du auf die gleiche Art und Weise verschwindest», sagte sie. «Ich hab dich lieb, und ich möchte, dass du bei mir bleibst.»
«Erzähl mir von den Kindern, die verschwunden sind», sagte ich.
Meine Großmutter ist die einzige Großmutter gewesen, die ich je in meinem Leben habe Zigarren rauchen sehen. Sie zündete sich eine an, eine lange schwarze Zigarre, die nach versengtem Gummi stank. «Das erste Kind, das ich gekannt habe und das dann verschwunden ist», begann sie, «hieß Ranghild Hansen. Ranghild war damals ungefähr acht Jahre alt, und sie spielte mit ihrer kleinen Schwester auf dem Rasen. Ihre Mutter, die in der Küche war und Brot backte, kam heraus, um Luft zu schnappen. ‹Wo ist denn Ranghild?›, fragte sie.
‹Sie ist mit der großen Dame fortgegangen›, antwortete die kleine Schwester.
‹Mit was für einer großen Dame?›, fragte die Mutter.
‹Die große Dame mit den weißen Handschuhen›, entgegnete die kleine Schwester. ‹Sie nahm Ranghild an der Hand und führte sie fort.› Und niemand», schloss meine Großmutter, «hat Ranghild jemals wiedergesehen.»
«Haben sie nicht nach ihr gesucht?», fragte ich.
«Meilenweit in der ganzen Umgebung. Jeder in der Stadt hat geholfen, aber wir haben sie niemals gefunden.»
«Was ist mit den anderen vier Kindern passiert?», fragte ich.
«Sie sind genauso verschwunden wie Ranghild.»
«Wie denn, Großmama? Wie sind sie verschwunden?»
«In jedem dieser Fälle hat man eine fremde Dame vorm Haus gesehen. Kurz bevor es geschah.»
«Aber wie sind sie verschwunden?», fragte ich weiter.
«Mit dem zweiten war das sehr merkwürdig», antwortete meine Großmutter. «Diese Familie hieß Christiansen. Sie lebten oben in Holmenkollen, und in ihrem Wohnzimmer hing ein altes Ölgemälde, auf das sie sehr stolz waren. Es stellte ein paar Enten dar, vor einem Bauernhaus. Keine Leute, nur diese Enten auf einer Wiese und im Hintergrund das Bauernhaus. Es war ein ziemlich großes Gemälde und wirklich sehr schön. Nun gut, eines Tages kam ihre Tochter Solveg aus der Schule und aß einen Apfel. Sie sagte, eine nette Frau hätte ihn ihr auf der Straße geschenkt. Am nächsten Morgen lag die kleine Solveg nicht in ihrem Bett. Die Eltern suchten überall, aber sie konnten sie nicht finden. Dann schrie ihr Vater plötzlich: ‹Da ist sie ja! Das ist Solveg, sie füttert die Enten!› Er deutete auf das Ölgemälde, und wahrhaftig, da war Solveg geblieben. Sie stand mitten auf der Wiese und war dabei, die Enten mit altem Brot zu füttern, das sie in einem Korb trug. Der Vater stürzte zu dem Gemälde und berührte sie. Das nützte aber gar nichts. Sie war einfach ein Teil des Gemäldes geworden, ein Bild, auf Leinwand gemalt.»
«Hast du das Gemälde selber gesehen, Großmama, mit dem kleinen Mädchen drauf?»
«Viele, viele Male», erwiderte meine Großmutter. «Und das Merkwürdigste war, dass die kleine Solveg ihre Stellung auf dem Bilde immer wieder wechselte. Eines Tages war sie zum Beispiel im Bauernhaus drin, und man konnte ihr Gesicht erkennen, hinter dem Fenster. Und an einem anderen Tag stand sie ganz weit links und hatte eine Ente im Arm.»
«Hast du gesehen, wie sie sich auf dem Bild bewegt hat, Großmama?»
«Das ist niemandem gelungen. Ob sie nun draußen die Enten gefüttert hat oder drinnen aus dem Fenster geschaut hat, sie war steif und still, einfach eine in Öl gemalte Figur. Das war schon sehr merkwürdig», sagte meine Großmutter, «wirklich sehr merkwürdig. Und noch merkwürdiger war: So wie die Jahre vergingen, so wurde sie auf diesem Bilde auch immer älter. Nach zehn Jahren war eine junge Frau aus dem kleinen Mädchen geworden. Nach dreißig Jahren begann sie ältlich zu werden. Und dann plötzlich, vierundfünfzig Jahre nachdem das alles geschehen war, war sie vollkommen aus dem Bilde verschwunden.»
«Glaubst du, dass sie gestorben ist?», fragte ich.
«Wer weiß?», gab meine Großmutter zurück. «Es gibt sehr merkwürdige Dinge in der Welt der Hexen.»
«Jetzt hast du mir von zweien erzählt», stellte ich fest. «Was ist mit der dritten passiert?»
«Die dritte war die kleine Birgit Svenson», sagte meine Großmutter. «Sie wohnte uns gegenüber, auf der anderen Seite der Straße. Eines Tages begannen ihr am ganzen Körper Federn zu wachsen. Innerhalb eines Monats hatte sie sich in ein großes weißes Huhn verwandelt. Ihre Eltern hielten sie sich jahrelang im Hintergarten in einem Käfig. Sie hat sogar Eier gelegt.»
«Was für eine Farbe hatten die Eier?», fragte ich.
«Braun», entgegnete meine Großmutter. «Die größten Eier, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Ihre Mutter hat daraus Omelettes gebacken. Köstlich, ganz köstlich sind die gewesen.»
Ich blickte zu meiner Großmutter empor, die wie irgendeine uralte Königin in ihrem Sessel thronte. Ihre Augen waren so grau wie der Nebel, und sie schienen etwas zu sehen, was meilenweit entfernt war.
In diesem Augenblick war ihre Zigarre das einzig Wirkliche an ihr, und der Rauch, der von ihr aufstieg, wogte in blauen Wolken um ihr Haupt.
«Aber das kleine Mädchen, das ein Huhn wurde, ist doch nicht verschwunden, oder?», fragte ich.
«Nein, Birgit nicht. Sie hat noch viele Jahre gelebt und ihre braunen Eier gelegt.»
«Du hast aber doch gesagt, sie seien alle verschwunden.»
«Ich habe mich geirrt», entgegnete meine Großmutter. «Ich fange an, alt zu werden. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.»
«Und was ist mit dem vierten Kind geschehen?», fragte ich.
«Das vierte war ein Junge, der Harald hieß», sagte meine Großmutter. «Eines Morgens wurde ihm die Haut am ganzen Leibe gräulich gelb. Dann wurde sie hart und rissig, wie die Schale einer Walnuss. Bis zum Abend war der ganze Junge zu Stein geworden.»
«Stein?», fragte ich. «Meinst du wirklich Stein?»
«Granit», antwortete sie. «Wenn du willst, gehen wir zusammen hin, damit du ihn dir anschauen kannst. Sie heben ihn in seinem Haus immer noch auf. Er steht in der Halle, wie ein richtiges kleines steinernes Denkmal. Die meisten Besucher benutzen ihn als Schirmständer.»
Obgleich ich noch sehr jung war, nahm ich meiner Großmutter nicht alles ab. Sie sprach jedoch mit einer solchen Überzeugung, mit einem so tiefen Ernst, und es zuckte auch nicht das leiseste Lächeln um ihre Augen oder ihre Mundwinkel, dass ich allmählich doch unsicher wurde.
«Erzähl weiter, Großmama», bat ich. «Du hast mir gesagt, insgesamt wären es fünf gewesen. Was ist mit dem letzten passiert?»
«Willst du mal an meiner Zigarre ziehen?», fragte sie.
«Ich bin erst sieben.»
«Es ist mir egal, wie alt du bist», antwortete sie. «Wenn du Zigarren rauchst, kriegst du niemals eine Erkältung.»
«Was war mit Nummer fünf, Großmama?»
«Nummer fünf», murmelte sie und kaute am Mundstück ihrer Zigarre herum, als ob es der köstlichste Spargel wäre, «das war ein recht interessanter Fall. Ein neunjähriger Junge namens Leif verbrachte die Sommerferien mit seiner Familie an einem Fjord, und eines Tages veranstaltete diese ganze Familie auf einer dieser kleinen Inseln ein Picknick, und sie schwammen um die Felsen herum. Der kleine Leif sprang ins Wasser und tauchte, und sein Vater, der ihn dabei beobachtet hatte, stellte fest, dass er außergewöhnlich lange unter Wasser blieb. Als er endlich wieder herauskam, war er kein Leif mehr.»
«Was war er denn?»
«Er war ein Tümmler.»
«Das ist nicht wahr! Das stimmt doch nicht!»
«Er war ein anmutiger junger Tümmler», fuhr sie fort, «und so freundlich, wie man sich das nur vorstellen kann.»
«Großmama!», sagte ich.
«Ja, mein Schätzelchen?»
«Ist er wahr und wahrhaftig ein Delfin geworden?»
«Voll und ganz», erwiderte sie. «Ich kannte seine Mutter recht gut. Sie hat mir das alles erzählt. Sie hat erzählt, dass Leif der Tümmler den ganzen Nachmittag bei ihnen geblieben ist und seinen Geschwistern gestattet hat, auf seinem Rücken zu reiten. Sie haben sich herrlich amüsiert. Dann hat er ihnen mit seiner Flosse zugewinkt und ist fortgeschwommen. Danach haben sie ihn nie wiedergesehen.»
«Aber Großmama», sagte ich, «woher haben sie denn gewusst, dass der Tümmler auch wirklich Leif gewesen ist?»
«Er hat sich mit ihnen unterhalten», berichtete meine Großmutter. «Während er sie auf sich hat reiten lassen, hat er die ganze Zeit mit ihnen gescherzt und gelacht.»
«Aber hat das nicht einen fürchterlichen Wirbel gegeben, damals, als das passiert ist?», fragte ich.
«Eigentlich nicht», antwortete meine Großmutter. «Du musst doch wissen, dass wir hier in Norwegen mehr oder weniger an solche Sachen gewöhnt sind. Wir haben hier überall Hexen. Wahrscheinlich wohnt auch jetzt eine in unserer eigenen Straße. Nun wird es aber Zeit, dass du ins Bett gehst.»
«Heute Nacht kann doch keine Hexe durch mein Fenster kommen, oder?», fragte ich, und meine Stimme wackelte ein bisschen.
«Nein», sagte meine Großmutter. «So etwas Dummes würde keine Hexe tun, an der Regenrinne raufklettern und bei anderen Leuten einbrechen. In deinem Bett bist du sicher wie in Abrahams Schoß. Nun komm, ich stopf dir die Decke schön fest.»
Nachdem mich meine Großmutter am folgenden Abend gebadet hatte, nahm sie mich wieder mit ins Wohnzimmer und erzählte mir die nächste Geschichte.
«Heute Abend», begann die alte Frau, «will ich dir erklären, woran man eine Hexe erkennt.»
«Kann man sich immer darauf verlassen?», fragte ich.
«Nein», entgegnete sie, «das kannst du nicht. Und das ist das Problem. Aber du kannst ziemlich genau raten lernen.»
Die Zigarrenasche bestäubte ihr den ganzen Schoß, und ich hoffte nur, sie würde nicht in Flammen aufgehen, ehe sie mir genau erklärt hatte, woran man eine Hexe erkennt.
«Zuerst einmal», begann sie, «hat eine echte Hexe Handschuhe an, wenn du sie zum ersten Mal siehst.»
«Aber sicher nicht immer», wandte ich ein. «Wie ist das im Sommer, wenn es heiß ist?»
«Selbst im Sommer», antwortete meine Großmutter. «Sie muss. Willst du auch wissen, weshalb?»
«Weshalb denn?», fragte ich.
«Weil sie keine Fingernägel hat. Statt der Fingernägel wachsen ihr nämlich dünne krumme Krallen, wie bei einer Katze, und sie trägt immer Handschuhe, um diese Krallen zu verstecken. Aber du weißt ja, es gibt massenhaft ehrliche und anständige Frauen, die auch Handschuhe tragen. Deshalb hilft dir das nicht viel weiter.»
«Mami hat auch immer Handschuhe angehabt», sagte ich.
«Aber nicht im Hause», sagte meine Großmutter. «Hexen haben die Handschuhe auch im Hause an. Sie ziehen sie nur aus, wenn sie ins Bett gehen.»
«Woher weißt du das alles, Großmama?»
«Unterbrich mich nicht», antwortete sie. «Schreib’s dirlieber hinter die Ohren. Das zweite Zeichen, das du nicht vergessen darfst, ist: Eine ECHTE HEXE ist immer kahl.»
«Kahl?», fragte ich.
«Kahl wie ein gekochtes Ei», entgegnete meine Großmutter.
Ich erschrak. Ein kahle Frau, das ist irgendwie unanständig. «Warum sind sie denn kahl?»
«Das musst du mich nicht fragen», versetzte sie darauf. «Aber glauben kannst du’s mir. Auf dem Kopf einer Hexe wächst kein einziges Haar.»
«Wie grässlich!»
«Widerwärtig», bestätigte meine Großmutter.
«Wenn sie kahl ist, dann kann man sie doch leicht erkennen», sagte ich.
«Überhaupt nicht», erwiderte meine Großmutter, «eine ECHTE HEXE trägt immer eine Perücke, um ihre Glatze zu verbergen. Und zwar eine erstklassige Perücke. Und es ist fast unmöglich, eine erstklassige Perücke von natürlichen Haaren zu unterscheiden, außer man zieht dran und sieht, ob sie abgeht.»
«Dann muss ich das also machen», sagte ich.
«Sei doch nicht so dumm», schalt meine Großmutter. «Du kannst doch nicht in der Gegend herumlaufen und alle Damen, die dir über den Weg laufen, an den Haaren ziehen, selbst wenn sie außerdem Handschuhe tragen. Du wirst schon sehen, was passiert, wenn du das tust.»
«Dann nützt das also auch nicht viel», stellte ich fest.
«Alle diese Zeichen nützen nichts für sich allein», bestätigte meine Großmutter. «Aber wenn du sie zusammenfasst, dann können sie dir schon eine Hilfe sein. Du musst nämlich wissen», fuhr sie fort, «dass diese Perücken den Hexen ziemliche Schwierigkeiten machen.»
«Was für Schwierigkeiten denn, Großmama?»