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René Pollesch

Kill Your Darlings

Stücke

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über René Pollesch

René Pollesch, geboren 1962, studierte am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Seit Anfang der 1990er zeigte er eigene Abende im Frankfurter Theater am Turm, 2001 wurde er künstlerischer Leiter des Prater an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Mittlerweile inszeniert er seine Stücke an den größten deutschsprachigen Theatern, darunter am Wiener Burgtheater, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg und den Münchner Kammerspielen sowie im Ausland (zuletzt u.a. São Paulo, Tokio und Warschau).

2001 und 2006 wurde er mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet, 2002 zum besten Autor des Jahres gewählt sowie 2012 mit dem Else-Lasker-Schüler-Preis für sein dramatisches Gesamtwerk geehrt.

René Pollesch gilt als einer der einflussreichsten Dramatiker unserer Zeit.

Über dieses Buch

René Pollesch hat mit seinen Stücken und Regiearbeiten in den letzten Jahren nicht nur an den bedeutendsten deutschsprachigen Theatern sensationelle Erfolge gefeiert, sondern auch international Beachtung gefunden. Dieser Band enthält einen Überblick über Polleschs Texte der letzten Jahre, für die er 2012 mit dem Else-Lasker-Schüler-Preis für sein dramatisches Gesamtwerk ausgezeichnet wurde. Nicht nur für Pollesch-Fans und Theater-Liebhaber eine interessante Lektüre, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur zeitgenössischen Kultur.

 

«Pollesch hat das politische Theater neu belebt … Seine Stücke handeln von der Ausbeutung im Zeitalter der Globalisierung und von den Irrtümern der Zweierbeziehungswirtschaft, vom angeblichen oder tatsächlichen Verlust der Individualität.» (Der Spiegel)

 

«So lustig, klug, präzise in der Gesellschaftsdiagnose war das Theater lange nicht.» (Süddeutsche Zeitung)

 

«Polleschs Theater ist eines, mit dem man sich wappnen will gegen die Zumutungen einer durchrationalisierten Welt.» (der Freitag)

Impressum

Originalausgabe

Herausgegeben von Nils Tabert

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Fantasma, Ein Chor irrt sich gewaltig, Der perfekte Tag (Ruhrtrilogie Teil 3), Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen, Schmeiß dein Ego weg!, Fahrende Frauen, Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia, DON JUAN nach Molière © René Pollesch 2008, 2009, 2010, 2011, 2012

Laudatio auf René Pollesch © Diedrich Diederichsen, 2012.

Aufführungsrechte der Stücke (Bühne, Film, Funk Fernsehen):

Rowohlt Theater Verlag, Hamburger Straße 17, 21465 Reinbek

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Kathrin Günther

(Foto: Sebastian Hoppe)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26758-1 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51341-9

www.rowohlt.de

www.rowohlt-theater.de

ISBN 978-3-644-51341-9

Diedrich Diederichsen

Laudatio auf René Pollesch zur Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Preises 2012 für das dramatische Gesamtwerk

Ich war mir nicht ganz sicher, ob es mir gelingen würde, den Bogen von René Pollesch zu Else Lasker-Schüler zu schlagen. Bzw. umgekehrt. Der Gemeinsamkeiten sind wenige. Selbst die Einführung stilisiert exotischer Sehnsuchtsnamen, die es in beider Autoren Werk gibt – Jussuf von Theben, Pablo in der Plusfiliale –, ist jeweils komplett anders gemeint. Vielleicht kann man es bei der Feststellung belassen, dass René Pollesch einen Preis verdient hat, der ihren Namen trägt, und sie diesen Preisträger verdient. Vielleicht gibt es jenseits dieser Verdienste keine Gemeinsamkeit; und daher wende ich mich jetzt dem einen der beiden Verdienste zu, dem von René Pollesch. Dem müsste dieses Wort – VERDIENST – zunächst allerdings verdächtig vorkommen: Denn ein Misstrauen, ein selbstverständlich berechtigtes Misstrauen gibt es in vielen seiner Stücke gegenüber der Naturalisierung ökonomischer Metaphern. Wie soll denn bitte ein Autor, Regisseur heute Verdienste erwerben, die von so einer abstrakten Art sind, dass man sie vergleichen könnte mit denen einer Dichterin einer ganz anderen Epoche; was für merkwürdige Tauschbeziehungen will man herstellen in diesem universellen Netz der verdienten Preise?

 

Okay, bleiben wir beim Misstrauen, nicht beim Verdienst. Alle anderen Preisträger sind klar identifizierbar als Autoren von Stücken, hier wäre eine wunderbare Äquivalenzkette über einen, wenn auch sehr kleinen gemeinsamen Nenner herstellbar. Jedoch: René Pollesch ist natürlich nicht einfach ein Autor von Stücken. Es gibt, das ist ja gerade der Punkt, überhaupt keine der konventionellen Job-Descriptions und Funktionsbeschreibungen innerhalb des Theaters, ja der Künste, die er nicht in Frage gestellt hätte. Ein Text von Pollesch, so sagte er selbst einmal, «will noch etwas wissen. Er soll keine Bilanz sein.» Das, was René Pollesch macht, ist mithin nicht fertig, wenn der Text fertig ist. Darum führt er anschließend Regie bzw. erarbeitet den Text mit seinen berühmten Band-artigen Kollektiven, von denen er einige über die deutschsprachige Welt verteilt, unterhält. Ich will das natürlich nicht so erotisierend verstanden wissen, wie der Ausdruck «unterhalten» in diesem Zusammenhang klingen mag – a collective in every port, wie der Sailor bei Howard Hawks sagen könnte: in jedem Stadttheater ein Mikro-Ensemble; auch wenn uns seine Stücke der letzten Jahre nahelegen, die Beziehungen Einzelner zu Gruppen und Vielheiten zu erwägen und zu bedenken. Schließlich geht es dort immer wieder um die Liebe zu Chören, Netzwerken und anderen vielteiligen Subjektverkettungen.

 

Nein, mir geht es darum, dass es keine Kleinigkeit, keine Marotte, kein bloßes ATTRIBUT des hier geehrten Autors ist, dass er sich als solcher nur im Zusammenhang mit seinen anderen Tätigkeiten und seinen anderen Autoren verstanden wissen will, sondern dass es in seiner Arbeit seit mehr als zehn Jahren um nichts anderes geht, als grundsätzlich die Funktion der einzelnen Beteiligten des arbeitsteiligen Unternehmens Theater neu zu bestimmen: Autorin, Darstellerin, Souffleur, Ensemble, Text, Musik – und soweit ich sehe, hat das nicht nur seit Ewigkeiten sonst keiner versucht. Es gibt auch kein Wort für diese grundstürzende Tätigkeit. Neuerfindung ist jedenfalls schon für zwangsflexible Lebensentwürfe unter neoliberalen Bedingungen vergeben.

 

Mein Background, um kurz vom Laudator zu reden, ist ja weniger das Theater als Bildende Kunst und Popmusik. Für diese Präferenz sprach, als sie sich während der 80er Jahre verfestigte, pauschal gesprochen, dass ich mich meistens darauf verlassen konnte, dass in diesen beiden Disziplinen die Gegenwart auch formal sich schneller und plastischer artikulierte und diskutierbar wurde, während das Theater immer nur eine längst von Feuilleton und Massenmedien durchdiagnostizierte Realität zu sich hereinließ, um sie dann auf Klassikerstoffe zu projizieren. Doch schon in den späten 90er Jahren ließen mich meine Stammkulturbereiche im Stich: Der Gegenwartsbezug verblasste, weil niemand mehr die radikalen Formfragen stellte, die in der Bildenden Kunst in der ersten Hälfte der 90er neokonzeptuell und unter dem Eindruck der neuen Verhältnisse nach ’89 so heftig gestellt wurden. Vor allem aber vernachlässigten diese Künste jenen in den 90ern erstmals diagnostizierten epochalen Wechsel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, von der Dominanz fordistischer zu postfordistischer Produktion, von Repression zu Zwangspartizipation, von sedierender Passivierung durch Konsum und Massenkultur zu aktivierender Überidentifikation mit McJob und interaktiver Massenkultur, von Rollenspielenmüssen zu Authentischseinmüssen, von Industrie zu Information, vom externen Befehl zum internen Befehl, von Schizophrenie zur Depression, von körperlicher Unterdrückung zu seelischer Überforderung, von Märkisches Viertel zu Prenzlauer Berg, von Stammtisch zu Facebook – für die meisten Künste war dies nur ein Thema, kein Grund, die eigenen Formate neu zu bedenken. René Pollesch, ein Theaterkünstler war der Erste überhaupt, der im deutschsprachigen Raum die Konsequenzen der neuen Verhältnisse nicht einfach nur thematisierte und benannte, sondern sich daranmachte, seine Kunstform, eben das Theater, neu zu bestimmen.

 

Aber anders, als das bei solch avantgardistischen Unternehmungen normalerweise der Fall ist, sind René Polleschs Stücke große Erfolge. Eine große und in den letzten Jahren immer noch zunehmende Zahl deutschsprachiger Theater möchte auf sie nicht mehr verzichten, und pflichtgemäß werden ihre Aufführungen von den Feuilletons und Fachzeitschriften registriert, leider meist nur als Phänotyp. Alles, was es über die Shows zu sagen gibt, ergibt sich aus dem, was man sieht. Was man nicht unmittelbar sieht oder nicht versteht, wird den Eigenarten des Autors zugerechnet, als typisch Pollesch. Dabei ist dieser Autor nun endlich mal einer, der nicht aus der Schatulle der liebevoll gehegten Idiosynkrasien oder der Überfülle seiner Emotionen lebt, noch als Könner eines lange eingeübten Könnens nervt, sondern in Übereinstimmung mit selbst entwickelten und mit anderen geteilten guten Gründen seine künstlerischen Entscheidungen trifft. Innerhalb dieser Gründe gibt es große Spielräume, in denen tatsächlich Kontingenz und so etwas wie das Selbst sich austoben kann: Verwundert sind die Leute aber vor allem darüber, dass jemand ein neues Genre darstellender Kunst entwickelt hat. Ärgerlich ist oft, dass man ihnen diesen Akt als bloße Autorenmacke und Eigenart verkauft.

 

Auch ich war von solchen Fehlern natürlich nicht immer frei. Als ich das erste Mal einen längeren Text über René Pollesch geschrieben habe, nannte ich seine Erfindungen noch Regeln. Ich zählte Regeln auf, nach denen Polleschs Theater funktioniert – so als hätte er sie wie eine Versuchsanordnung ex nihilo festgelegt: Es gibt kein Drama. Die auftretenden Personen stellen keine je ihnen zurechenbare einzelne Person dar: Mal spielen mehrere einen oder einer mehrere, Zuordnungen wechseln zuweilen mitten im Satz; die Auftretenden verkörpern keine Rollen, sondern Subjektpositionen, in erster Linie tragen sie dazu bei, dass Sätze auf den Widerstand einer Person treffen, um die Sätze selbst dann wieder als übertragbar und austauschbar vorzuführen. Theoretische Texte sollen wie Bekenntnisse und Liebeslyrik gesprochen werden, emotionale Texte wie reine Reflexion. Als theoretisches Textmaterial wird der Diskussionsstand in avancierter kunst- und kulturwissenschaftlicher und politischer Diskussion herangezogen – die anderswo zum Gegenstand gemachten Texte werden hier zu Akteuren, die über die Versetzung in die erste Person Erfahrungen machen; «nicht Bilanz» werden oder bleiben.

 

Diese Regeln, die sich inzwischen auch ein bisschen geändert haben, sind aber eigentlich keine Regeln wie die eines Spiels, die man sich ausdenkt, um vielversprechende Strukturen zu generieren, sondern sie sind viel eher direkte Reaktionen auf verschiedene Typen von Elend der Theatersituation, also auf bereits bestehende, meistens unmarkierte Regeln. Konkrete Negationen! Es sind unterschiedlich dauerhafte, wiederholbare künstlerische Eingriffe, die alle unmarkierten, scheinbar natürlichen Voraussetzungen des Theaters, auch der meisten des sogenannten Regietheaters und des sogenannten postdramatischen Theaters, durch sichtbare Methoden ersetzen – ohne allerdings die Attraktionen des Theaters zu kassieren. Schneller Wechsel von Ereignissen, Menschen, die sich nach formalen Regeln bewegen und sprechen, schöne Körper, Katharsis, Musik und, wie die Performance-Theorie sagt, Ko-Präsenz von Darstellern und Darstellerinnen mit Zuschauerinnen und Zuschauern in einem Raum.

 

Die mit dem Drama verbundene Idee von Entwicklung und Verstrickung setzt eine immer schon gegebene Idee eines sich entfaltenden oder an der Entfaltung gehinderten Subjekts normativ voraus, die Pollesch mindestens anachronistisch findet und wenigstens der Markierung wert, wenn nicht drastischerer Maßnahmen; also kein Drama oder ein markiertes Drama, keine klassische zeitbasierte Entwicklungsarchitektur, sondern Wiederholungen, Schleifen, Loops, keine Dialoge, sondern Monologe, keine Vernichtung, sondern Insistieren, keine Plotpoints, sondern Zusammenbrüche oder Musik oder beides. Dass mitten in dieser Operation gerade die Kicks und Reize des Theaters überleben, ist eine Art von Beweis, sozusagen die Probe aufs Exempel: Man kann das auch alles – Drama, Rollenspiel – weglassen, und es geht trotzdem. Was geht? Reiner Surplus? Theater an sich? Marmelade ohne Brot?

 

Nicht zu verwechseln wäre dies jedenfalls mit einer Befreiung zu wahrer Natur, wie in der klassischen Performance-Art, die rausfinden wollte, wie Schauspiel ohne Rollen geht, Auftritt ohne Repräsentation, es geht vielmehr im Gegenteil darum, allem, was sich aufführt, als wäre es Natur, eine Maske aufzusetzen, auf dass es kenntlich werde. Oder zum Verschwinden zu bringen. Zum Beispiel die Vorstellung von einer Lebenswelt und ihrer Repräsentierbarkeit, die Idee des Sittengemäldes und Gesellschaftsporträts: stattdessen sprechen die Darsteller theoretische Texte. Texte, die an ihnen, an den Darstellern die Erfahrung machen, geprüft und getragen zu werden wie Kleidungsstücke. Die gesellschaftliche Realität setzt sich auf solchen Fetzen schon ganz von alleine fest.

 

Und wirft man nicht den kritischen, in Universitätssubkulturen diskutierten theoretischen Texten immer wieder vor, sie wären reine Modeerscheinungen? Das war schon bei der studentischen Kritischen-Theorie-Begeisterung der 60er so und ist heute immer noch so, wenn es um Haraway, Nancy oder Rancière geht. Genau, und hier treten sie offensiv als Mode auf, als das notwendig der Gegenwart zugewandte Supplement menschlicher Körper in einer gegebenen historischen Situation; verstecken sich nicht hinter der Naturwüchsigkeitsbehauptung bestimmter Repräsentationen von Gesellschaft, von Schicht und Szene, sondern sprechen als theoretische Behauptung alles Wissenswerte über die Lage heutiger Personen aus. Und damit der theoretische Text nicht einfach nur negativ fixiert eine Gegenposition zum milieuplausiblen Naturalismus oder zur literarisierenden Hochkulturprosodie einnimmt, wird die Sprachmelodie, die Körperlichkeit der Aufführung nun wiederum äußerst «naturalistisch» gestaltet, sodass er zu einer komischen Synthese kommt – einer überaus theaterfähigen. Doch alles, was der Rezension dazu in der Regel einfällt, ist entweder, Pollesch wolle Theorie popularisieren, predigen, mache seine Stücke also zum Sprachrohr eines found objects von Text, oder er wolle sich lustig machen, wolle die ganze verdammte Kopflastigkeit parodieren.

 

Komisch ist aber vielmehr das von den theoretischen Texten Beobachtete, die Erfahrung eben, die sie machen, wenn sie gesprochen werden. Die besteht unter anderem in der bittersüßen Einsicht, dass sie wie jeder andere heutzutage nur gut leben und überleben können, wenn sie rasend schnell und virtuos werden, wenn sie nicht zur Ruhe kommen. Vor allem in der letzten Zeit, wenn auch schon in Motiven wie der nur mikrosekundenlangen Heroin-Oper vor über zehn Jahren, wird in den Inszenierungen von René Pollesch aber auch immer klarer, dass selbst diese Flucht in die Geschwindigkeit noch eine alt-antirepressive Gewohnheit ist, das «Abhauen des Schizos», wie es bei Deleuze/Guattari heißt, und dass Figuren wie die von Fabian Hinrichs und teilweise auch von Sophie Rois aufgeführten Solisten oder auch die Rolle des alten litauischen Regieassistenten noch etwas anderes verkörpern als die Negation der Ideologie, die gegenwärtiges Leben im Theater vor der Folie vermeintlicher anthropologischer Konstanten repräsentieren und typisieren will. Darüber hinaus gelingt es Pollesch in der präzis eingespielten Arbeit mit diesen Darstellern, dass sie dort, wo sie purer, glänzender Effekt werden, das zeigen und sagen, was man nur in dieser historischen Sekunde zeigen und sagen kann. Der Effekt wird zur genauesten und gerechtesten Gegenwartsdiagnose. Dabei kann er oder sie oder es auch ganz ruhig werden. Die hohe Konzentration verfliegt dabei nicht.

 

So wie René Pollesch vor zehn Jahren das erste künstlerische Programm entwickelt hatte, das ich kenne, welches der neuen Zeit entsprach, die spätestens mit dem seit den frühen 90ern erkennbaren Ende des Endes der Geschichte begonnen hat, so glaube ich im Moment zu beobachten, dass er auch für die jetzt nach der Bankenkrise angebrochene Zeit dieses Programm entsprechend zu modifizieren begonnen hat. Er negiert die traditionellen Funktionen von Theaterleuten nicht abstrakt, indem er sie anarchisch abschafft, sondern konkret, indem er sie durch andere ersetzt: die von ihren Vorgängern etwas gelernt haben. Dabei ist auch mit ihm etwas Dialektisches passiert, ist er geworden, was er als Kategorie womöglich ablehnt, was ihn am Ende aber vielleicht auch mit Else Lasker-Schüler vergleichbar macht: zu einem der an einer Hand abzählbaren maßgeblichen Künstler der Gegenwart.

Fantasma

Sachiko Hara (Sa)

Sophie Rois (S)

Daniel Jesch (D)

Hermann Scheidleder (H)

Stefan Wieland (St)

Martin Wuttke (M)

Eine Pianistin

 

Regie: René Pollesch

Bühne: Bert Neumann

Kostüme: Nina von Mechow

Licht: Felix Dreyer

Video: Meika Dresenkamp

Dramaturgie: Sebastian Huber

 

Premiere: 06.12.2008 Burgtheater (Akademietheater) Wien

Leseempfehlung: Boris Groys, «Das kommunistische Postskriptum» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2005) und «Die Kunst des Denkens» (Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 2008)

S: Tja, meine Herren! Was machen wir jetzt? Wir haben hier eine Geisterbahn vor uns. Wir sind im falschen Bühnenbild. Wer ist dafür verantwortlich??

 

H: Es ist wirklich grauenhaft, was hier passiert ist, ich hoffe, dass Sie die Verantwortlichen finden.

 

S: Tut mir leid, dass ich nicht optimistischer sein kann, aber wir haben einen langen Weg vor uns. Es ist wie beim Sex: Es ist eine mühsame, anstrengende Aufgabe, die niemals ein Ende zu nehmen scheint, und gerade wenn man glaubt, die Sache würde endlich laufen, passiert gar nichts.

Jane!

 

M: Frank!

 

H: Was ist das hier?

 

S: Das ist unser Forschungslabor.

 

St: Hier werden Hunderte von Experimenten durchgeführt, und alle Temperaturen werden von der Maschinerie unter uns kontrolliert.

 

D: Viele unserer Wissenschaftler haben jahrelang gearbeitet und stehen jetzt kurz vor ihrem Durchbruch!

 

S: Die Frage, an der wir arbeiten, ist: Warum hat die chinesische Führung das kommunistische Projekt aufgegeben und ist zum Aufbau des Kapitalismus übergegangen? Warum nur? Das muss doch zu beantworten sein. Das Hauptproblem einer Gesellschaft, die noch kein Ende hat, keinen Körper hat, keine historische Form, die wiederholt werden kann, ist es, ihre Projekte zu limitieren, zu begrenzen. Damit sie einen Körper bekommt, damit eine Gesellschaft eine historische Form bekommt und wiederholbar wird. Vielleicht komm ich so auf eine Lösung. Wie machen wir das? Etwas zu begrenzen, ohne auf den Tod warten zu müssen oder darauf, dass uns das Geld ausgeht.

 

M: Ja, genau. Wie kommt es, dass du von einem Tag auf den andern aufhörst, dich für mich zu interessieren? Ich kann dich das nicht fragen, obwohl das doch, wie bei der chinesischen Führung, auf dialektischer Vernunft beruht, du wirst es mir nicht sagen können.

 

S: Ich wusste nicht, dass du hier lebst!

 

M: Ich bin vor zwei Jahren hergezogen.

 

S: Wie geht’s den Kindern?

 

M: Wir hatten keine Kinder.

 

S: Oh! Ja, du hast recht.

 

M: Frank, ähm, ich weiß, es ist eine dumme Frage, aber du bist doch nicht mehr besessen von unserer Beziehung, oder?

 

S: Besessen? Wer ist besessen!? Nur weil du kurz vor unserer Hochzeit einen Rückzieher gemacht hast? Ich hab das völlig vergessen, es ist Vergangenheit!

Wie kam es dazu, dass er von einem Tag auf den andern aufhörte, mich zu lieben? Ich kann es mir nicht erklären. Es scheint auch keiner Logik zu folgen, also müssen wir es mit etwas zu tun haben, was auch die kommunistische Führung bewegt hat, den Übergang zum Kapitalismus zu unternehmen. Die großen Umwälzungen bringen einen vielleicht darauf, wie im Kleinen gedacht wurde.

 

H: Warum haben die kommunistischen Parteien der Sowjetunion und Chinas die Arbeit am kommunistischen Projekt eingestellt und sind zum Aufbau des Kapitalismus übergegangen? Warum nur?

 

M: Der Kommunismus ist weder tot, noch ist ihm das Geld ausgegangen, wie dem Kapitalismus. Also warum bricht er sein Projekt ab und geht zu seinem Kontext über? Warum wechselt er die Perspektive? Ich liebe dich. Und weißt du … manchmal, wenn ich vor dir stehe, denke ich auch und vor allem durch deine letzte SMS, ich bin ein Projekt, das du der schlechten Unendlichkeit entrissen hast, ihm einen Körper gegeben hast, aber leider einen historischen. Und vielleicht deshalb, damit es wiederholbar wird. Jetzt kann ich das wiederholen, dieses Abgeschlossene, dadurch, dass du dich einfach abgewendet hast. Und ich frag mich jetzt natürlich: War das Natur, oder war das einfach nötig, die Perspektive zu wechseln, und wenn ich an dich denke, denke ich nur noch an das Projekt der kommunistischen chinesischen Partei, die Arbeit am kommunistischen Projekt aufzugeben und sich an den Aufbau des Kapitalismus zu machen.

 

S: Was in dir hat bloß, wann hast du beschlossen, dass du mich nicht mehr verliebt ansiehst? Ich weiß, ich kann dich das nicht fragen. Es gibt keine Erklärung für diese Kälte, für diese Lieblosigkeit. Und man kann Wärme nicht einklagen. Da scheint etwas nicht mit mir zu sprechen. Da scheint etwas für keine Fragen zugänglich zu sein. Aber das Schicksal muss doch mit mir sprechen! Das kann doch nicht alles stumm sein. Wie krieg ich es dazu? Ich kann einfach nicht glauben, dass es vorbei sein soll. Ich weiß ja auch, dass es nicht vorbei ist, aber das lässt sich nicht sagen. Woher weiß die chinesische kommunistische Partei, dass es nicht vorbei ist, während sie sich an den Aufbau des Kapitalismus macht? Vielleicht ist es gar nicht vorbei.

 

M: Dr. Meinheimer … Frank, das ist Albert Meinheimer.

 

St: Jedenfalls will ich nicht, dass du dieses Projekt hier abbrichst. Du kannst doch nicht dauernd die Perspektive wechseln und mich zum historischen Projekt erklären. Ich will kein historisches Projekt sein!

 

Sa: Ja, das war es! Diese eine Frage stieg immer wieder und wieder in mir auf. Was bewegte die Führung der chinesischen kommunistischen Partei, das kommunistische Projekt aufzugeben und sich an den Aufbau des Kapitalismus zu machen?

 

M: Ich würde mir jetzt gern den Rest ansehen. Wenn’s nichts ausmacht, Dr. Steinberger.

 

D: Eine gute Idee! Er heißt übrigens Meinheimer!

 

M: Jane, was kannst du mir über den Mann sagen, den du gestern Abend gesehen hast?

 

S: Ähm, er ist ein Weißer …

 

M: Wal? Eisbär?

 

S: Nein, nein, ein weißer Mann. Mit Schnurrbart. Etwa ein Meter neunzig groß.

 

St: Na, das ist aber ein verdammt großer Schnurrbart.

 

S: Mir ist etwas wegen des Verbrechens eingefallen. Als ich aus dem Fenster sah, da war vor dem Bühneneingang ein roter Lieferwagen.

 

M: Ah, ein roter Lieferwagen, oh danke, das wird sehr hilfreich sein. Du hast deinen Spruch aufgesagt, jetzt kannst du abhauen.

Frank! Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde.

 

S: Ed, setz dich, kramen wir ein paar Erinnerungen raus.

 

M: Du warst weg, bevor ich mit dir reden konnte.

 

S: Ich kann das nicht, ich kann hier nicht die Dubarry spielen! Das hast du ja schön eingefädelt!

Ist denn die ganze Welt verrückt geworden? Ich passe hier nicht rein …

 

M: Du denkst sicher schon wieder an ihn, nicht wahr? Wie war sein Name … Frank?

 

S: Ja.

 

M: Du kannst ihn einfach nicht vergessen!

 

S: Wen?

 

M: Frank!

 

S: Oh ja. Nein, ich kann es nicht. Ich hab’s versucht, es ist nur … wenn du mal so einen Haufen Mann hattest … aber das … das kannst du nicht verstehen. Ich liege eigentlich die ganze Zeit irgendwo rum und liebe ihn in der Vorstellung.

 

M: Sie hat recht … In meiner Vorstellung bringt sie ein Käsesandwich zum Schmelzen. Dieses zarte wunderschöne Gesicht. Und ein Körper, der auf eine kilometerweite Entfernung ein Käsesandwich zum Schmelzen bringen konnte. Und Brüste, die zu sagen schienen: «Hey, sieh dir die an!» Sie war eine dieser Frauen, bei denen du auf die Knie fallen möchtest, um Gott zu danken, dass du ein Mann bist. Ja, sie erinnerte mich an meine Mutter, genau, da konnte kein Zweifel bestehen.

 

St: Frank, komm zu dir! Du siehst sie ja an, als wäre sie deine Mutter! Herrgott noch mal!

 

M: Das ist mir egal! Ich lass mir dieses Phantasma nicht als eine Minderung von Wirklichkeit diffamieren. Das war mal die Wirklichkeit. Dass jemand in unserer Vorstellung ein Käsesandwich zum Schmelzen bringt. Und ihr wisst, wie hoch mein Siedepunkt ist.

 

S: Wir lieben in unserer Vorstellung. Und vielleicht ist es sogar der einzige Ort, an dem wir Erfahrungen machen können.

Und jetzt küss mich!

 

M: Nein, das mach ich nur in der Vorstellung!

 

S: Ich möchte mich in die Krankheit flüchten, wenn du in der Nähe bist. (Sieht in die Handtasche)

 

M: Das ist doch aus der Dubarry! Hör sofort auf, in das Manuskript zu sehn.

 

S: Unsere Körper würden sich gar nicht begegnen ohne ein Manuskript. Wir begegnen uns hier doch.

 

M: Ja, aber das passiert nur in der Vorstellung.

 

S: Du willst doch nicht behaupten, dass sich unsere Körper hier nicht begegnen.

 

M: Doch. Nur wir beide sind nicht gemeint.

 

S: Ich finde aber gerade ganz gut, dass weder du noch ich gemeint sind. Und trotzdem begegnen wir uns!

 

M: Nein.

 

S: Doch.

 

M: Nein.

 

S: Doch, wir brauchen ein Manuskript, das uns verfehlt. So können wir uns lieben!

 

M: Aber du liebst mich ja nur in der Vorstellung! Und weil es zu eng hier ist! Ich will einen unmittelbaren Zugang zur Realität.

 

S: Wir können uns doch nicht einfach so ohne Geschichte aufeinanderstürzen. Oder? Und da ist es doch gut, überhaupt eine zu haben, das muss ja nicht meine sein. Und während ich mir was ganz anderes erzähle als mein Leben, begegnen wir uns doch. Das muss doch nicht immer ich sein.

 

M: Ja, genau. Du musst mich ja gar nicht meinen. Wie komm ich nur darauf, dass du mich immer meinen musst mit deinem Text? Wer weiß überhaupt, von wem der Text ist, welches undurchdringliche Wesen da überhaupt mit mir redet?

 

S: Küss mich!

 

M: Nein!

 

S: Einerseits darf ich dich nicht in der Vorstellung lieben, andererseits darf ich dich nur in der Vorstellung küssen. Was ist denn das? Das macht mich völlig verrückt.

 

D: Jetzt küss sie doch schon, sonst komm ich raus und mach’s selber!

 

St: Wie es aussieht, werden Erfahrungen, die wir in der Vorstellung machen, als eine Minderung von Wirklichkeit diffamiert.

 

Sa: Vielleicht stimmt es, was Agamben sagt, dass wir von unseren Erfahrungen getrennt wurden, weil der Bereich, in dem sie einmal gemacht werden konnten, das Phantasma, ins Unendliche verbannt wurde.

 

M: Das macht mich noch ganz wahnsinnig, das mit der Vorstellung! Denkt hier außer mir vielleicht noch jemand an mich?

 

S: Vielleicht machst du es ja wie die chinesische Führung! Hast du unser Projekt abgebrochen, um uns zu limitieren und mir einen Körper zu geben? Darf ich dich daran erinnern, dass ich einen Körper habe, der auf eine kilometerweite Entfernung ein Käsesandwich zum Schmelzen bringen könnte. Und Brüste, die zu sagen scheinen: «Hey, sieh dir die an!» Und dass ich eine dieser Frauen bin, bei denen du auf die Knie fallen möchtest, um Gott zu danken, dass du ein Mann bist.

Herrgott noch mal! Jetzt sieh mich nicht an, als wäre ich deine Mutter! Ich fühle mich wie ein Projekt, das aufgegeben wurde. Aber wenigstens habe ich jetzt einen Körper. Ich hab eine historische Form. Und ich wünschte, ich hätte sie nicht! Was hast du nur gemacht??

 

H: Dass du dich nicht mehr für mich interessierst, diese Frage kann nur im Kontext der Materialistischen Dialektik behandelt werden.

 

St: Vielleicht dachtest du, dieses Projekt immer weiter zu treiben bedeutet, einseitig zu agieren.

 

M: Allerdings! Das wäre grauenhaft! Das wäre wie eine Theatervorstellung, die einfach nicht aufhört! Wenn sie nicht aufhören würde, dann gäbe es sie gar nicht.

 

S: Vielleicht hast du dir gesagt, allein um das Schicksal loszuwerden, lohnt es sich, mich zu verlassen.

 

H: Moment mal! Auf dem Theater begrenzen wir doch auch einen Vorgang, um ihn wiederholbar zu machen. Wir setzen hier doch nicht auf die schlechte Unendlichkeit. Das kennt man ja. Man weiß doch, wie die zu Tausenden fliehen aus Vorstellungen, die 24 Stunden dauern.

 

M: Nein, wir begrenzen uns auf 90 Minuten und haben es mit einem Perspektivwechsel zu tun. Wir retten die Welt, indem wir sie auf 90 Minuten begrenzen und ihr eine historische Form geben, die wiederholt werden kann.

 

S: Wir retten die Welt, indem wir sie auf 90 Minuten begrenzen und ihr eine historische Form geben, die wiederholt werden kann.

 

D: Alles andere ist die schlechte Unendlichkeit. Das hier ist der Ort, an dem wir nicht auf die natürliche Beendigung unserer Leben warten müssen oder auf die ökonomische, bis uns das Geld ausgeht. Nein, wir geben uns über diese natürlichen und ökonomischen Begrenzungen hinaus weniger Zeit. Und zwar immer wieder, mit jedem neuen Vorhang, der auf- und dann wieder zugeht. Um gegen das Schicksal vorzugehen. Um uns nicht von Natur und Ökonomie beherrschen zu lassen.

 

Sa: Sie hat einen Freund in der Vorstellung.

 

H: Ja, genau. Ihr Freund war in der Vorstellung. Und jetzt kann sie ihn nicht mehr vergessen.

 

St: Sie lebt nur in der Vorstellung!

 

H: Nein, er war wirklich in der Vorstellung.

 

M: Dein Freund war in der Vorstellung?

 

S: Ja, und ich lass mir das von euch nicht als Wirklichkeitsminderung diffamieren.

 

St: Sie hatte einen Freund in der Vorstellung.

 

D: Die Arme.

 

St: Nein, ich hab auch eine Freundin in der Vorstellung.

 

S: Im Phantasma konnte ich mir das Objekt der Begierde aneignen.

 

H: Warum muss ich denn immer eins sein mit meinem Begehren? Es findet nun mal in der Vorstellung statt. Na und?

 

St: Aber du kannst mich doch nicht nur in der Vorstellung lieben.

 

S: Was haben denn bloß alle gegen die Vorstellung?!

 

M: Dein Freund sitzt in der Vorstellung.

 

S: Ja, zur Hölle, er ist in der Vorstellung, um mit mir zusammen zu sein.

 

H: Warum muss man das immer diffamieren, dass ich einen Freund in der Vorstellung habe.

 

S: Sag ich etwa dauernd, ihr habt einen Freund in der Vorstellung?? Was ist bloß los mit euch?

 

St: Komischerweise mag er da, wenn ich Texte spreche, die nicht meine sind. In der Realität hat er damit Probleme.

 

Sa: Warum wird das immer gemindert, dass jemand nur in der Vorstellung mit jemandem zusammen ist?

 

S: Wir können immer wieder neu beginnen. Mit jedem Manuskript, das wir in den Händen halten. Und auf dessen letzter Seite das Wort «Ende» steht. Eine Gesellschaft, die noch keinen Körper hat, keine historische Form, die wiederholt werden kann …

 

St: … fragt sich nämlich auch, wie können wir uns limitieren, wie können wir uns begrenzen? Wie machen wir das? Ohne auf den Tod warten zu müssen oder darauf, dass uns das Geld ausgeht. Eine Gesellschaft, die das nicht tut, sich selbst zeitlich zu limitieren, kann nur auf ihren Tod oder auf ihre Pleite warten.

 

S: Es lebe China und es lebe das Wort «Ende» in jedem Theatermanuskript.

 

M: Wir brauchen ein Script, das nicht das eigene ist. Das eigene Leben findet nur ein Ende, indem wir sterben oder uns das Geld ausgeht. Das Script, mit dem wir uns wirklich berühren können, das einzige, ist das, auf dessen letzter Seite «Ende» steht. Niemandem geht das Geld aus, und niemand stirbt dabei. Das ist Theater. Dieses eine Wort «Ende». Es hält jung, und es erhält einem sein Auskommen. Die einzigen Leben, die dadurch einen Körper bekommen, dass sie begrenzt werden, ohne zu sterben oder pleitezugehen. Die einzigen Leben, die sich berühren, sind die, die einem Manuskript folgen, das nicht das eigene ist.

 

D: Nur was sterblich ist, bekommt einen Körper. Und wenn wir nicht darauf warten wollen, dass uns der Tod ereilt und limitiert, nehmen wir uns eben ein Script zur Hand, das nicht unseres ist, mit dem schönen Wort «Ende» am Ende.

 

S: Als sie sagte «Verschwinde aus meinem Leben», wusste ich, dass es zu Ende war. Weißt du, manchmal denk ich an dich und Edna. Dann beneide ich dich, dass du jemanden hast. Du hast denselben Menschen jeden Tag seit über 30 Jahren. Du wachst mit ihr auf, isst mit ihr, liegst an ihrer Seite, schläfst immer mit derselben Frau. Ihr verbringt jeden wachen Moment miteinander. Während ich mich mit 20-Jährigen herumtreibe, die sich einfach nur amüsieren wollen und dazu nur billigen Sex, Sex, Sex. Mädchen, die nicht nein sagen können, Mädchen, die nicht genug kriegen können, «Mehr, mehr, mehr», Mädchen, die auf das alte Handschellenspiel scharf sind. Ich … ich möchte nur jemanden lieben, Ed.

 

Sa: Sie war so schön, die Arbeit am kommunistischen Projekt, ich kann nicht verstehen, dass das jetzt vorbei sein soll.

 

M: Warum kann ich mir das nur so erklären? Die Liebe. Was ist mit der los? Warum kann ich mir die Liebe nur erklären mit dem Aufbau des Kapitalismus in China?

 

St: Der Perspektivwechsel ist zur Erschließung des Ganzen unumgänglich. Ich kann nicht nur einseitig denken, ich muss mich befeuern lassen durch das Paradox, und deshalb verlassen wir, wenn wir lieben.

 

H: Denn nur was sterblich ist, bekommt einen Körper. Ungefähr so wie die chinesische Führung das kommunistische Projekt aufgegeben hat, um ihm eine historische Form zu geben.

 

M: Ich weiß doch, dass keine SMS zurückkommen kann, die sagt, warum du so kalt geworden bist. Sonst würde ich dich ja fragen. Du weißt doch auch, dass ich sehr glücklich war, wenn du ein paar Dinge gemacht hast, und ich würde dich so gerne fragen, warum du das jetzt nicht mehr machst, aber das geht nicht. Die Liebe lässt sich nicht befragen. Sie bleibt stumm.

 

D: Warum kann ich mir das nur so erklären? Die Opposition innerhalb von China und die Angriffsmöglichkeit von außen schrumpften so sehr gegen null …

 

Sa: … dass die chinesische Führung rein aus politischer Vernunft den Übergang zum Kapitalismus beschließen konnte.

 

H: Sie war absolut keinem Zwang unterworfen. Und diese Vernunft ist die dialektische.

 

St: Und das sage ich alles, obwohl es nicht gehört werden kann, solange diese Gesellschaft keine kommunistische ist.

 

S: Was hast du gesagt? Ich hab dich nicht gehört.

 

D: Warum kann ich mir das nur so erklären? Die Opposition innerhalb von China und die Angriffsmöglichkeit von außen schrumpften so sehr gegen null …

 

Sa: … dass die chinesische Führung rein aus politischer Vernunft den Übergang zum Kapitalismus beschließen konnte.

 

H: Sie war absolut keinem Zwang unterworfen. Und diese Vernunft ist die dialektische.

 

St: Und das sage ich alles, obwohl es nicht gehört werden kann, solange diese Gesellschaft keine kommunistische ist.

 

H: Die kommunistischen Parteien Chinas und der Sowjetunion warten nicht darauf, dass die Natur oder die Ökonomie ein Projekt beenden, und eine Theatervorstellung wartet auch nicht darauf.

 

D: Hier sind Natur und Ökonomie außer Kraft gesetzt. Hier stirbt niemand, und es geht auch niemandem das Geld aus.

 

S: Ja, genau, hier sind Natur und Ökonomie außer Kraft gesetzt! Aber wenn das hier schon subventioniert wird, kann man von dieser Elite auch verlangen, dass sie auf das Denkmaterial zurückgreift, das ihr zur Verfügung steht, und es nutzt!

 

Sa: Ja, genau. Wozu wird die ganze Scheiße hier denn subventioniert?

 

S: So, und jetzt wird es Zeit, dass ihr verschwindet!

 

Sa: Ich habe Hunger.

 

H: Was willst du denn? Vielleicht etwas Tomatensaft, Orangensaft, Traubensaft?

 

S: Himbeersaft?

 

M: Traubensaft. Wir könnten jetzt warten, bis uns das Geld ausgeht oder bis wir sterben, aber wir können diese Szene auch einfach abbrechen und von vorne beginnen, um die schlechte Unendlichkeit zu beenden.

 

S: Haben Sie denn gar keinen Himbeersaft?

 

M: Bitte auch davon ein bisschen. Und, ähm … zwei Rühreier, zwei Spiegeleier, zwei Eier im Glas und zwei mittelweiche Eier.

 

St: Und wir brauchen auch keine Rückblenden. Wir können ja alles noch mal machen. In Theatervorstellungen sind Rückblenden eh lächerlich.

 

H: Ja, genau. Limitieren und nicht imitieren!

 

Sa: Das ist ja keine Rückblende, wenn wir das einfach noch mal sagen. Da erinnert sich ja kein Selbst an etwas, was mal so schön gewesen ist.

 

M: Deshalb erinnert sich Peking bei den Olympischen Spielen auch nicht an den Kommunismus. Es gibt auch keinen Grund! Sie haben den ja nicht abgebrochen, um sich zu erinnern.

 

H: Es geht dem Kommunismus nicht um Kontinuität und Zusammenhang und um identitätsverheißende Strukturen, sondern um wechselhaftes Denken.

 

S: Der Kommunismus braucht keine Rückblende. Weder bei der Eröffnungsfeier noch im Kapitalismus. Die müssen sich nicht versichern, dass sie im Kommunismus leben.

 

M: Warum brichst du genau hier ab? Warum brechen deine Augen zusammen? Und machen was völlig anderes? Warum ist da keine Liebe mehr?

 

D: Ja gut, aber die Liebe wird ja als Feuer wahrgenommen. Und der sowjetische Kommunismus nur selten. Warum nur?

 

M: Ja, genau, du hast doch so viel investiert. Und plötzlich, wahrscheinlich wegen irgendeinem Börsengerücht, hast du aufgehört, mich zu lieben.

 

H: Eine Theatervorstellung ist nur als endliche zu denken, sonst würde sie überhaupt keinen Sinn machen.

 

S: Im Gegensatz zu wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Gerechtigkeit. Die sind uns unmöglich als endliche zu denken. Und trotzdem sind sie plötzlich weg, deine verliebten Blicke.

 

M: Und diese Frage muss doch zu beantworten sein! Warum du mich von einem Tag auf den andern verlassen hast!

 

St: Der Kommunismus hat sich ja nicht einfach für was anderes entschieden, sondern für seinen Kontext, und der ist nun mal der Kapitalismus, und bevor der Schicksal wird, ein Schicksal, das ja nicht zu einem spricht, arbeitet man lieber an seinem Aufbau, das ist nun mal notwendig, dass dem Kommunismus nichts Schicksal wird!

 

M: Bringen Sie drei ganz weiche Eier!

 

S: Drebin! Ich möchte nicht noch mal solche Probleme erleben, wie Sie sie letztes Jahr veranstaltet haben, verstanden? Das ist meine Politik.

 

M: Ja, aber wenn ich sehe, wie fünf Verrückte in Laken gehüllt mitten in einem Park einen unschuldigen Mitbürger umbringen, erschieße ich die Kerle. Das ist meine Politik.

 

S: Das war die Shakespeare-im-Park-Produktion von «Julius Cäsar», Sie Blödian! Sie haben fünf Schauspieler erschossen, sehr gute!

Und jetzt lass uns ein Häppchen essen gehen.

CLIP

S: Ach! Eine Geisterbahn! Ich schaff’s nicht! Ich krieg’s nicht hin! Ich kann hier nicht die Dubarry spielen!

 

H: Hier! Was zur Beruhigung!

 

S: Danke, Ed. Ich möchte jetzt nur eins wissen: Stimmt es, was du mir über Victoria geschrieben hast?

 

H: Ich fürchte, ja, Frank. Sie ist einfach mit so einem Kerl durchgebrannt. Sie haben in der letzten Woche geheiratet.

 

S: Alles ist vorbei. Alles ist vorbei. Alles ist bedeutungslos. Ich habe es für sie getan, ich habe alles für sie getan. Jetzt ist sie weg.

Und ihr? Ihr seid doch nur hier, um eine heiße Story zu kriegen, nicht wahr? Fotos von mir, die ihr an eure Schmierblätter verscherbeln könnt.

 

H: Frank …

 

S: Klar, ihr glaubt, ich bin ein ziemlicher Held, der Mann der Stunde! Aber weiß einer von euch, was ein Mann hier drinnen ertragen kann?

 

H: Frank, die sind nicht wegen dir da, die sind da wegen …

 

S: Was ist mit der Hochzeit? Was hat sie angehabt?

 

H: Quäl dich doch nicht selbst, streich sie einfach aus deinem Gehirn.

 

S: Einen so großen Radiergummi gibt’s gar nicht. Was ist mit diesem Kerl? Weißt du irgendwas über diesen Penner, mit dem sie zusammen ist?

 

H: Nicht sehr viel. Nur, dass er ein Olympiateilnehmer ist und dass sie mit ihm mehr Spaß im Bett hat als jemals zuvor.

 

S: Vielleicht passen Polizisten und Theaterschauspieler einfach nicht zusammen. Wie kam es dazu, dass er von einem Tag auf den anderen aufhörte, mich zu lieben? Warum kann ich mir das nicht erklären? Warum spricht das Schicksal nicht zu mir?

 

H: Und warum kann ich es nicht umstimmen? Oder mit ihm diskutieren? Wahrscheinlich haben wir es mit etwas zu tun, dessen Medium nicht die Sprache ist. Und was könnte das sein?

 

M:SMS