Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-20277-3
ISBN E-Book 978-3-688-10648-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10648-6
Rot, rot, rot – blau – grün. Rot, rot rot – blau – grün, blau.
Die Scheinwerfer zuckten durch die Dunkelheit, färbten Rauchkringel, brachen sich in Rauchschwaden. Fast jedes Mädchen, das sie trafen, strich sich die Haare aus dem Gesicht, schräg zur Seite oder glatt zurück. Man sah immer nur den Ansatz einer Geste, merkwürdig unfertig, bevor die Lichtkegel weiterwanderten.
Die Band ersetzte durch Lautstärke, was ihr an Rhythmus fehlte. Michael hatte das Gefühl, daß die Wände von den Schallwellen zerdehnt wurden, sich wieder zusammenzogen, zuckten wie seine Beine und seine Finger.
Über dem hämmernden Schlagzeug erwischte er hier und dort einen Gesprächsfetzen. Kreischendes Lachen, höher noch als die jaulende Gitarre. Er beschloß, zu gehen. Markus war ohnehin längst mit einer Semmelblonden verschwunden, der würde ihn nicht vermissen. Michael stand auf, zwängte sich am Rand der Tanzfläche zwischen den Paaren durch, bekam einen Ellbogen in die Rippen gestoßen, stieg jemandem auf die Füße, murmelte automatisch eine Entschuldigung und kam sich hinterher lächerlich vor.
Im Vorraum war es kühler. Auf den Bänken saßen ineinander verstrickte Paare.
«Mike!»
Markus rückte noch näher zu seiner Semmelblonden und klopfte auf ein postkartengroßes Stück Bank. «Setz dich zu uns. Du willst doch nicht schon gehen! Was machst du denn zu Hause?» Michael setzte sich, eingezwängt zwischen der Semmelblonden und einem auffallend geschminkten Mädchen.
«Das ist Fiona», stellte Markus vor, wobei er auf die Geschminkte zeigte. Den Namen der Semmelblonden erwähnte er nicht. Vielleicht wußte er ihn selbst nicht.
Fiona nickte Michael zu. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor.
Hier draußen hämmerte der schwere Beat fast noch stärker als drinnen, vielleicht, weil die Melodiestimmen von der Geräuschkulisse gedämpft wurden und nur der Rhythmus übrigblieb.
Die Semmelblonde klopfte mit den Füßen den Takt mit. Ihre Schenkel rieben an Michaels Hose. An sich hätte er nichts dagegen gehabt, aber eine, die gerade eng verschlungen mit Markus flüsterte – nein, also das nicht. Er versuchte wegzurücken, was ihn noch enger an Fiona brachte. Sie schälte sich aus den Armen des Burschen an ihrer anderen Seite.
«Magst du tanzen?» fragte sie.
Michael sah den Jungen einen Moment lang an, ärgerte sich, daß er das für nötig hielt, war erleichtert, als der andere gleichmütig nickte.
«Gern.»
Sie stand auf. Sie war gar nicht so dünn, wie er nach ihrem Gesicht vermutet hätte.
«Komm, gehen wir raus», sagte sie. «Die Band hört man draußen auch, und wir haben Platz.»
Beim Hinausgehen fiel ihm ein, woher er sie kannte. Er hatte sie im Autobus gesehen. Sie war auf dem Schoß eines Jungen gesessen und hatte so gekichert, daß sich nicht nur ältere Damen nach ihr umdrehten.
Sie tanzte mit Witz und Phantasie, ließ sich nicht nur von der Musik schütteln und rütteln. Anfangs kam er sich neben ihr vor wie ein Klotz, dann hatte er Spaß daran, auf ihre Ideen einzugehen. Es war fast eine Mischung aus Pantomime und Tanz. Sogar die langweilige Band schien lebendiger zu werden.
Aus. Pause.
Fiona lehnte sich an die Mauer. Warum grinste sie so? Beim Tanzen war sie ganz anders gewesen.
«Du tanzt gut», sagte er.
«Es macht mir Spaß.» Sie schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. «Hast du eine Zigarette für mich? Ich habe meine Tasche dringelassen und mag jetzt nicht hineingehen.»
«Tut mir leid. Aber ich kann dir welche holen.» Er hoffte, daß es einen Automaten gab. Beim Kellner waren die Zigaretten sicher furchtbar teuer, wie alles hier.
«Wozu?» sagte sie. «Du kannst mir meine Tasche bringen, die braune mit dem zerfransten Riemen. Das heißt – gehen wir lieber spazieren. Ich habe heute ohnehin zu viel geraucht.»
Sie gingen hinaus auf den weiten Platz. Vor dem Reiterdenkmal blieb sie stehen. Sie setzte sich auf eine der schweren schmiedeeisernen Ketten und schaukelte hin und her.
«Setz dich doch auch!» sagte sie. «Es sind vier Ketten zum Aussuchen.»
Er kam sich ein wenig lächerlich vor, als er auf der Kette saß und sich mit den Beinen abstieß.
«Willst du etwas trinken?»
Sie schüttelte den Kopf. «Was machst du eigentlich?» fragte sie.
«Schaukeln.»
«Ich weiß, aber sonst?»
«In die Schule gehen.»
«Ich auch. Aber es steht mir bis da.»
Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, daß sie auf ihren Hals zeigte.
«Es gibt Schlimmeres», sagte er.
«Ich weiß. Du, wollen wir auf das Pferd rauf? Ich vor dem Herrn General und du hinter ihm?»
Er war keineswegs begeistert, aber er machte ihr die Räuberleiter und kletterte dann selbst hinauf. Er lehnte sich an den breiten Rücken des kaiserlichen Feldmarschalls.
Die Bäume im Park waren fast schwarz und klobig. Die Autokolonne auf der Straße sah von hier oben wie ein vielgliedriger Wurm aus.
Wenn die Ampel Rot zeigte, wehte der Geruch von Abgasen herüber. Fiona summte vor sich hin.
Eigentlich müßte er irgend etwas sagen. Man konnte nicht mit einem fast wildfremden Mädchen schweigend auf kaiserlichen Rossen hocken.
«Müssen wir nicht zurück?» fragte er.
«Warum? Ach so, du meinst – nein, den kenne ich doch gar nicht. Der ist inzwischen längst weg. Und Markus nimmt sicher meine Tasche mit. Die hole ich mir morgen von ihm.»
Er sagte nichts.
«Du meinst, weil ich mit ihm geschmust habe?»
Er war froh, daß sie ihn nicht sehen konnte. «Nein, nur so.»
«Du lügst unheimlich schlecht.» Sie fing wieder an zu summen.
«Übrigens, jetzt habe ich doch Durst.»
Sie sprangen vom Pferd und gingen zurück in den heißen Lärm.
Fiona hielt sich an seinem Ärmel fest, als sie sich durch die Menge drängten. Markus und die Semmelblonde waren nirgends zu sehen.
«Was machst du wirklich ohne deine Tasche? Da hast du ja dann auch keinen Haustorschlüssel?»
«Ich will ohnehin noch nicht heimgehen. Und später kann ich sowieso nicht. Da gehe ich zu meinen Großeltern.»
«Und dort kommst du hinein?»
«Die haben eine Gegensprechanlage, und meine Oma macht mir auf, gleichgültig, wann ich komme.»
«Muß eine nette Oma sein.»
«Ist sie auch.»
Sie tanzten noch einmal, aber die Band spielte jetzt langsame Sachen, richtige Schleicher. Nach drei Nummern sagte Fiona: «Das ist ja fad.»
Er überlegte, ob sie eigentlich meinte: Du bist fad.
Er brachte es einfach nicht fertig, sie an sich zu drücken, so wie der sie an sich gedrückt hatte, mit dem sie zuvor gesessen war. Und zwar deshalb, weil sie ihm gefiel.
Du bist ein ausgemachter Trottel, sagte er sich, aber es half nichts.
«Ich glaube, ich gehe doch heim», sagte sie, fügte aber sofort hinzu: «Kommst du mit?»
Es war zwar erst elf Uhr, aber die Stadt wirkte ausgestorben. Nur hier und dort schimmerte es bläulich hinter den Fensterscheiben.
«Offenbar kein Nachtkrimi», stellte sie fest. «Minderheitenprogramm.»
Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster. Sie gingen ziemlich rasch nebeneinander her, ohne viel zu reden, beide mit weitausholenden Schritten, als könnten sie stundenlang vor sich hin laufen. An der Kreuzung vor dem Krankenhaus zögerte Fiona plötzlich, trat erst auf die Straße, als die Ampel schon lang Grün zeigte, betrachtete dann eingehend die Schaufenster, nicht nur Schuhe, Kleider und Bücher, sondern auch Elektrogeräte und orthopädische Artikel. Schließlich bog sie in eine Seitengasse ein und blieb vor einem frisch renovierten Haus in Dunkelgelb mit weißleuchtendem Stuck stehen.
«Die Hausmeisterin ist wenigstens noch auf», sagte sie. «Aber bei uns brennt kein Licht. Was meinst du, soll ich doch zur Oma gehen?»
«Ich weiß nicht.»
«Du bist auch keine große Hilfe.»
«Nein.»
«So wahnsinnig spät ist es ja gar nicht.»
«Nein, wirklich nicht.»
«Außerdem ist heute Samstag. Und schließlich kann ich doch nichts dafür, daß Markus früher verschwunden ist. Oder?»
Bevor er noch antworten konnte, blieb ein grauer Wagen mit quietschenden Bremsen vor dem Haus stehen. Eine Radkappe schepperte gegen die Gehsteigkante. Fiona zuckte zusammen. Die Wagentür wurde aufgerissen, ein großer, schwerer Mann stieg aus, stolperte, fummelte fluchend mit dem Schlüsselbund herum, bis es ihm gelang, den Wagen abzuschließen.
Fiona stand immer noch auf dem linken Bein, das Gesicht Michael zugewendet.
Der große, schwere Mann hob das rechte Bein weit höher, als es der Gehsteig erforderte, zog das linke nach und stelzte auf das Haustor zu. Er kramte in der Tasche seines eleganten Regenmantels, zog einen Schlüsselbund heraus und drehte sich ruckartig um.
«Wo hast du dich wieder rumgetrieben?» fuhr er Fiona an. «Und wer ist der da?» Er stocherte mit dem Finger in die Luft.
Fiona trat einen Schritt zurück und sagte: «Das ist kein ‹Derda›. Das ist ein Freund.»
Die Hand des Mannes schoß vor, verfehlte Fiona, suchte Halt am Haustor. Fiona nahm ihm den Schlüsselbund aus der Hand, sperrte das Tor auf und ging an ihm vorbei ins Haus. Der Mann drehte sich noch einmal nach Michael um, murmelte etwas und schwankte hinter ihr her. Das Tor blieb offen.
Michael wartete. Er sah im ersten Stock Licht angehen, zuerst in einem Zimmer, dann im nächsten.
Langsam wurde ihm kalt.
Ich zähle noch bis hundert, dann gehe ich, dachte er.
Er zählte etliche Male bis hundert.
Schritte. Jemand kam die Treppe herunter.
«Mike?»
«Ja?» Seine Stimme klang hoch, richtig unangenehm. «Ist alles in Ordnung?»
«In Ordnung ist gar nichts», sagte sie. «Treffen wir uns morgen? Um zehn vor dem Eissalon?»
«Ja.»
Sie sperrte das Haustor zu und lief hinauf. Er ging langsam nach Hause.
Seine Mutter hatte, wie immer, das Vorzimmerlicht brennen lassen. Die Schlafzimmertür stand einen Spalt offen. Wenn sie tatsächlich einschlief, bevor er zu Hause war, wußte sie, sobald sie aufwachte, ob er inzwischen heimgekommen war. Nur einmal hatte er vergessen, das Licht abzudrehen. Damals war sie mitten in der Nacht plötzlich in seinem Zimmer gestanden, mit zerrauften Schlafhaaren, und sie hatten einander verwirrt angesehen.
Er hörte die regelmäßigen Atemzüge seines Vaters, hörte, wie sich die Mutter umdrehte.
Er schlich auf den Zehen ins Badezimmer.
Vor dem Eissalon standen vier Mopedfahrer und unterhielten sich mit drei Mädchen, die in dem staubigen Vorgarten Eisbecher auslöffelten. Einer ließ am Ende jedes Satzes seine frisierte Maschine aufheulen. Die Mädchen schien es nicht zu stören.
Heiße Schokoladesoße und Abgase ergaben eine schlechte Geruchsmischung. Michael ärgerte sich wieder einmal über seine empfindliche Nase. Er ging auf die gegenüberliegende Straßenseite, in den winzigen Park. Es war erst zehn vor zehn.
Auf einer Bank saß ein altes Ehepaar. Die Frau redete sehr laut:
«Und da habe ich ihr gesagt: Frau Haubenberger, habe ich gesagt, so geht das einfach nicht mehr weiter, ich sehe überhaupt nicht ein, wie ich dazu komme, und wenn Sie sagen, das geht jetzt schon seit dreißig Jahren so, und wenn es mir bisher recht gewesen ist, dann müßte es mir jetzt erst recht recht sein, dann ist das überhaupt kein Grund, und woher wollen Sie denn wissen, daß es mir recht gewesen ist, habe ich gesagt, es ist mir nämlich überhaupt nicht recht gewesen, ich habe nur geschwiegen, weil ich ein geduldiger Mensch bin, aber jetzt bin ich mit meiner Geduld am Ende.»
«Das hast du gesagt?» fragte der alte Mann.
«Jawohl», sagte die alte Frau und setzte sich ein wenig aufrechter, «das habe ich gesagt.»
Der alte Mann sah die alte Frau bewundernd an. «Magst du ein Eis?» fragte er.
Die alte Frau wollte ein Eis. Sie wollte das Eis aber hier im Park essen. Hier war es kühler.
Der alte Mann stand lang am Gehsteigrand. Der Autostrom riß nicht ab. Michael wollte ohnehin schon hinübergehen, es war jetzt knapp vor zehn. Er führte den alten Mann über die Straße.
Fiona kam eben auf dem Fahrrad angefahren.
«Ritter ohne Furcht und Tadel, was? Beschützt Jungfrauen und Hilflose.»
Michael zuckte mit den Schultern.
Fiona redete über alles mögliche, nur nicht über den Mann von heute nacht. Eigentlich hätte er sie fragen müssen, ob das ihr Vater war und ob er häufig trank, aber er fand das blöd.
Wenn sie nicht darüber sprechen wollte – gut. Das war durchaus verständlich. Er wußte bloß nicht, warum sie ihn dann unbedingt hatte treffen wollen.
«Bist du eingeschnappt?» fragte sie.
«Nein. Warum?»
Sie winkte eifrig zwei Mädchen zu, die auf der anderen Straßenseite herangestöckelt kamen, beide behindert von Röcken, die um die Hüften spannten. Sie kamen herüber, Fiona stellte sie vor. Die eine hatte eine schrille, hohe Stimme und redete fast pausenlos, während die andere mit Kichern und Glucksen beistimmte. Fiona lieferte Stichwörter, wenn der Wasserfall auszutrocknen drohte.
«Ich muß heim», sagte Michael mitten in eine Geschichte ohne Anfang und vermutlich auch ohne Ende. Das Mädchen redete weiter. Fiona sah Michael an. «Warte einen Augenblick.» Dann wandte sie sich dem redenden Mädchen zu, sagte unvermittelt: «Servus! Mach’s gut!» und zerrte Michael weiter.
Einen Häuserblock entlang – den großen Häuserblock mit der Schule – gingen sie schweigend nebeneinander her, aber es war nicht das gute Schweigen von gestern. Dann stellte Fiona fest: «Du magst meine Freundin nicht.»
Michael zuckte nur mit den Schultern.
«Eigentlich ist sie gar nicht meine Freundin. Nur eine Kollegin aus der Volksschule. Aber sie ist wirklich nett. Sie würde sich für dich zerreißen lassen, wenn du in der Patsche sitzt.»
«Hilft einem das raus, wenn sie sich zerreißen läßt?»
Fiona wurde ungeduldig. «Besonders freundlich bist du heute nicht.»
«Tut mir leid.»
«Und besonders ehrlich auch nicht. Es tut dir gar nicht leid. Du bist sauer.»
Sie legte die Stirn in Falten; das sah komisch und merkwürdig kindlich aus.
«Ich war nicht direkt sauer, angesäuert eher. Jetzt nicht mehr. Okay?»
«Okay», sagte sie. «Du, hast du ein Rad? Wir könnten ein Stück rausfahren. Draußen redet sich’s leichter, wenn man nicht alle paar Schritte über Bekannte stolpert.»
Du bist gut, dachte er. Du hast sie schließlich herübergerufen.
«Ja. Ich hoffe nur, daß Luft in den Reifen ist. Meine Pumpe ist nämlich Mist», sagte er.
Sie wollte nicht mit ihm hinaufgehen und bestand darauf, vor dem Haus zu warten.
«Ich komme vielleicht später», sagte er zu seiner Mutter.
«Wir fahren ein Stück hinaus.»
Sie fragte nicht: Wer, wir? Und wo hinaus? Er war ihr dankbar dafür.
«Viel Spaß», sagte sie. «Ich stelle das Gulasch ins Rohr, da bleibt es warm. Wir gehen wahrscheinlich nach dem Essen spazieren.»
Michael schüttelte seiner Mutter die Ellbogen, weil ihre Hände voll Kuchenteig waren.
Fiona hörte ihn nicht kommen. Ihr Gesicht war angespannt und scharf, erst als er sie anrief, stülpte sie sich ein Lächeln über.
Sie fuhren hinunter zum Fluß. Zwischen Rudeln von Sonntagsspaziergängern und den sie umkreisenden Hunden mußten sie im Schritt fahren. Erst weit draußen verlief sich die Menge. Sie lehnten ihre Räder an zwei Betonpfosten, die ohne ersichtliche Funktion am Ufer standen, und setzten sich auf einen halbverfallenen Landungssteg. PR V T stand in gelben Lettern auf der Holztreppe, die hinunterführte.
«Da hat einer dringend Vokale gebraucht», stellte Fiona fest. Eine Entenfamilie zog vorbei. Eines der Kücken versuchte immer wieder, zum Ufer zu rudern, wurde aber von der Mutter jedesmal mit dem Schnabel flußabwärts gesteuert. Ein Holzscheit trieb heran, ragte einmal hoch aus dem Wasser, drehte sich, schien abzusinken, tauchte wieder auf. Fiona schlug nach einer Bremse und verfehlte sie.
«Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht willst», sagte Michael.
Sie warf einen Stein ins Wasser. «Es ist nicht, daß ich nicht will. Nur: Wie fängt man an? Und überhaupt …»
Sie warf noch einen Stein ins Wasser, der das Holzscheit fast zum Kentern brachte. Dann trieb es rasch seitwärts weiter.
«Das war dein Vater, nicht wahr?»
«Ja.»
«Und er trinkt oft.»
«Ja.»
Sie begann wieder, Steine ins Wasser zu werfen und versuchte die Kreise, die sich ausbreiteten und von der Strömung schnell verzogen wurden, jeweils in der Mitte zu treffen. Nach jedem Wurf sah sie Michael an, offensichtlich wartend.
«Prima», sagte er, nachdem sie fünf Ringe hintereinander genau in der Mitte getroffen hatte.
«Wieso prima? Was ist daran prima? Ist es vielleicht prima, wenn ein Besoffener mit dem Messer auf einen losgeht?» Sie riß büschelweise Gras aus und schleuderte es in den Fluß.
«Mit dem Messer?»
«Sag ich doch. Mit dem Schlüsselbund, mit einem Teller, was er eben erwischt. Aber er hat noch nie getroffen. Er zielt ja auch gar nicht. Er haut nur um sich.»
Ein Grasbüschel ließ sich nicht ausreißen; sie zerrte daran, stand auf und fiel zurück, als das Büschel endlich nachgab.
«Scheiße!» brüllte sie. «Scheißsteine!» Sie sprang auf.
Er klaubte die spitzen Steine weg.
«Jetzt kannst du dich setzen.»
Sie setzte sich tatsächlich. Er legte den Arm um ihre Schultern.
«Manchmal trinkt er nur zweimal in der Woche. Manchmal öfter.»
«Was sagt deine Mutter dazu?»
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. «Sie heult. Oder sie sperrt sich in einem Zimmer ein. Aber dann droht er, die Tür einzuschlagen. In der Früh putzt sie dann das Erbrochene auf, damit die Bedienerin nichts sieht.»
Er wußte nicht, ob sie noch gefragt werden wollte oder ob er sie in Ruhe lassen sollte. Ihre Schultern waren ganz steif. Er scheuchte eine Bremse weg.
Schließlich fragte er doch: «Und wenn er gerade nicht trinkt?»
Sie lachte. «Dann hält er Vorträge über meinen liederlichen Lebenswandel, über die wahren Werte; wie sehr er sich für uns aufopfert, und wie undankbar wir sind, Mutter und ich. Ralf nicht, Ralf ist da immer ausgenommen.
Lieber Ralf, guter Ralf.» Sie schnaubte durch die Nase.