Barbara Wood
Spiel des Schicksals
Roman
Roman
Aus dem Amerikanischen von Xénia Gharbi
Fischer e-books
Barbara Wood wurde in England geboren, lebt aber seit ihrer Kindheit in den Vereinigten Staaten. Sie arbeitete u.a. als Kellnerin und Hunde-Sitterin, dann zehn Jahre lang als technische Assistentin im OP-Bereich eines Krankenhauses. Seit 1980 widmete sie sich dem Schreiben. Die Recherchen für ihre Bücher führten sie um die ganze Welt. Barbara Woods Romane sind internationale Bestseller und in 30 Sprachen übersetzt. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet.
Während einer komplizierten Operation erhält Lydia Harris, eine hochqualifizierte OP-Schwester in einem Krankenhaus im kalifornischen Malibu, einen mysteriösen Anruf von ihrer Schwester Adele, von der sie seit Jahren nichts gehört hat. Adele bittet sie ebenso dringlich wie verworren, sofort zu ihr nach Rom zu kommen. Wenig später trifft ein Päckchen von Adele ein. Es enthält eine Figur aus Elfenbein mit einem kunstvoll geschnitzten Schakalskopf. Lydia zieht den mit ihr befreundeten Chirurgen Dr. Kellerman zu Rate, der sich privat als Kunstsammler betätigt. Dr. Kellerman findet schnell heraus, daß es sich bei dem Schakal um eine Figur aus einem uralten ägyptischen Brettspiel handeln und daß diese Figur äußerst wertvoll sein muß. Lydia macht sich indessen große Sorgen um ihre Schwester. Gegen den Rat von Dr. Kellerman fliegt Lydia kurzentschlossen nach Rom. Aber das ist erst der Anfang einer gefährlichen Odyssee, die Lydia schließlich bis in das ägyptische Tal der Könige führt.
Die amerikanische Originalausgabe
erschien unter dem Titel ›Hounds and Jackal‹
bei Doubleday & Company, Inc., New York 1965
© Barbara Wood 1978
Copyright für die deutsche Übersetzung:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1994
Digitalisierung: pagina GmbH, Tübingen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400177-7
»Da ist ein Anruf für dich! Jenny löst dich ab, damit du ans Telefon gehen kannst.«
Mrs.Cathcart wartete geduldig, während ich Dr.Kellerman eine Arterienklemme reichte. Ohne den Blick vom Operationstisch zu wenden, antwortete ich: »Ich möchte jetzt lieber nicht weggehen. Wer ist am Telefon? Kann ich nicht zurückrufen?«
»Ich glaube nicht, Lydia. Es ist deine Schwester Adele, die aus Rom anruft. Sie sagt, es sei dringend.«
Überrascht hob ich den Kopf und schaute die Oberschwester, meine Vorgesetzte, an. »Italien?« entfuhr es mir. »Sind Sie sicher?«
»Das hat die Telefonistin gesagt. Aus Rom. Ein Ferngespräch und noch dazu dringend. Jenny macht für dich weiter.«
In diesem Augenblick ließ sich Dr.Kellermans barsche Stimme vernehmen: »Schnell!« rief er. »Die Herztätigkeit setzt aus!«
Ich warf einen raschen Blick auf den Kardiographen. Das Gerät registrierte keinen Pulsschlag mehr. Augenblicklich zog sich Mrs.Cathcart zurück und machte Platz für die Leute vom Rettungsteam, die sich, aufgeregt durcheinanderrufend, um den Operationstisch drängten. Von ferne meldete eine gleichgültige Stimme über Lautsprecher: »Code Blue in den OP. Code Blue in den OP. Code Blue in den OP.« Sogleich waren die Gedanken an Adele und Rom wie weggeblasen, und ich wandte mich wieder voll meiner Arbeit zu. Dr.Kellerman war dabei, das Herz des Patienten abzutasten. Ich öffnete rasch sterile Spritzen mit Adrenalin und Natriumbikarbonat. Scheinbar aus dem Nichts wurden die Elektroden des Defibrillators zu mir heraufgereicht, und man vernahm das Geräusch von zerreißendem Stoff. Irgend jemand deckte das Bein des Patienten auf und entblößte einen Knöchel zum Legen eines Einschwemmkatheters. Jemand schrie: »Zurücktreten! Los!« Der Körper auf dem Operationstisch sprang in die Höhe. Die Linie auf dem Bildschirm des Kardiographen blieb gerade. »Wir müssen’s noch mal versuchen. Zweihundert Volt diesmal. Alle Mann zurück! Los!« Noch immer keine Veränderung auf dem Bildschirm. »Noch eine Ampulle Natriumbikarbonat. Lydia, halt die Elektroden. Laß sie nicht los! Habt ihr die Blutgruppe von dem Mann bestimmt und die Kreuzprobe gemacht? Bringt ein paar Blutkonserven her! Und daß ihr mir noch kein Wort zu der Familie sagt! Lydia, die Elektroden! Fertigmachen. Los!«
Alle starrten erwartungsvoll auf das Meßgerät. Man vernahm einen Piepston und gleich darauf einen zweiten. Der dritte Piepston kam verspätet. Die Linie auf dem Bildschirm schwankte und zitterte. »In Ordnung. Noch einmal. Wir müssen das Kammerflimmern abstellen. Los!«
Diesmal wirkte es. Die zweihundert Volt aus dem Defibrillator hatten das Herz wieder zum Schlagen gebracht. Klinisch war der Patient dreieinhalb Minuten lang tot gewesen.
»In Ordnung, das war’s. Ihr könnt gehen.« Dr.Kellermans Stimme klang sicher und beruhigend. »Laßt ein Bett von der Intensivstation kommen. Dieser Patient muß beobachtet werden. Lydia, das Nahtmaterial für die Bauchhöhle bitte.«
Als ich ihm Nadel und Faden in die Hand gab, warf mir Dr.Kellerman ein kurzes Lächeln zu. Sein Blick sagte soviel wie: Der hier war schon ganz nahe dran, Mädchen, aber wir haben’s geschafft!
Langsam verließ die Rettungsmannschaft den OP. Wir blieben wieder allein in Saal zwei zurück und führten die Operation ruhig zu Ende. Doch jetzt war die Stimmung anders, denn wir waren besorgt und dachten an nichts anderes als an den Patienten und sein Leben. Unsere Anspannung ließ erst nach, als er sicher in dem Bett von der Intensivstation lag und über den Flur weggerollt wurde.
Ich betrachtete das Durcheinander um mich her: die Haufen von blutigen Tupfern, die überall verstreut liegenden Instrumente und leeren Spritzen, der sonderbar aussehende Wagen mit den Herzmeßgeräten. Nach einer Operation beeindruckte es mich jedesmal aufs neue, wie sehr der OP einem Schlachtfeld glich, das jetzt verlassen dalag. Und als ich angesichts der lästigen Reinigungsarbeiten, die mir bevorstanden, widerwillig den Kopf schüttelte, schaute Mrs.Cathcart nochmals in den Saal.
»Lydia, mach mal eine Pause. Jenny hat angeboten, für dich sauberzumachen. Geh und erledige deinen Anruf.«
Ich blickte auf. Natürlich, Adele in Rom. Ein dringender Anruf. Das hatte ich völlig vergessen.
Mit einer Hand, die von dem Operationshandschuh ganz verschwitzt war, hielt ich den Hörer ans Ohr, während ich mit der anderen nervös an der Maske zerrte, die mir um den Hals baumelte.
»Hallo?« rief ich in den Hörer.
Die unpersönliche Stimme der Telefonistin ließ sich in der knisternden Leitung vernehmen: »Ich versuche immer noch, die Verbindung wiederherzustellen. Kann ich Sie zurückrufen?«
»Nein, es ist dringend. Ich bleibe am Apparat.«
»Wie Sie wünschen, ich probiere es weiter.«
Ich lauschte. Es klang, als spräche die Telefonistin hinter einer Glasscheibe.
Der Aufenthaltsraum war menschenleer. Nach den hektischen Ereignissen der vergangenen Stunde empfand ich die äußere Ruhe, die sich über alles gelegt hatte, nur als scheinbar. Hinzu kam, daß ich nun ungeduldig wartend am Telefon saß. Ich fragte mich, welche Neuigkeiten mich da wohl erwarteten. Immerhin hatte ich seit über vier Jahren keine Verbindung mehr zu Adele gehabt, und die Oberschwester hatte gesagt, der Anruf sei aus Rom gekommen.
Rückblickend auf das Durcheinander der letzten Stunde, konnte ich jedoch nicht bestimmen, was mich mehr aufgeregt hatte: die Nachricht, daß ich soeben einen Anruf aus Europa von meiner Schwester Adele erhalten habe, oder der Herzstillstand, der sich gleichzeitig auf dem Operationstisch ereignet hatte.
»Einen Moment bitte«, meldete sich die Stimme mit dem italienischen Akzent. Die Telefonistin war zu dem Anschluß durchgekommen, dessen Nummer Adele hinterlassen hatte – ein gewisses Hotel Palazzo Residenziale in Rom –, und ich sollte nun gleich mit meiner Schwester, die schon so lange nichts mehr von sich hatte hören lassen, verbunden werden. Bei all meinen wirren Gedanken an die Operation, an den Herzstillstand und die Strapazen meines Berufs versuchte ich auch herauszufinden, was in aller Welt Adele veranlaßt haben mochte, mich anzurufen und – noch rätselhafter – was nach Adeles Meinung wohl so überaus dringend sein könnte.
Meine Schwester und ich hatten uns vor langer Zeit sehr nahegestanden. Aber das war vor dem plötzlichen tragischen Tod unserer Eltern und unseres Bruders gewesen. Dieser harte Schicksalsschlag – der Tod von geliebten Menschen –, der Familienmitglieder normalerweise enger zusammenrücken läßt, hatte Adele und mich auf merkwürdige Weise auseinandergebracht. Die Jahre der Trauer und der Schmerz hatten uns entfremdet, hatten Menschen aus uns gemacht, die nur noch höflich miteinander umgingen, bis sich unsere Wege vor vier Jahren endgültig trennten. Ich war damals dreiundzwanzig, Adele zweiundzwanzig. Ich stand gerade in der Ausbildung zur Operationsschwester; Adele bildete sich selbst darin aus, Männer zu betören. Am Tag des Abschieds hatte sie etwas unklar davon gesprochen, daß sie reisen wolle, und ich hatte ein wenig von meinen Berufspflichten geredet. Dann waren wir mit einem schlaffen Händedruck auseinandergegangen, so wie man sich nach einem sonntäglichen Verwandtenbesuch voneinander verabschiedet. Und seit diesem Zeitpunkt bis heute morgen hatte ich nichts mehr von meiner Schwester Adele gehört.
»Lyddie? Lyddie, bist du das?«
Beim Klang ihrer Stimme erschien Adele wie ein Geist vor mir.
»Ja, bist du es denn wirklich, Adele? Lieber Himmel!«
»Oh, ich bin ja so froh, daß ich dich erreicht habe. O Lyddie, eine ganz aufregende Sache! Einfach aufregend! Ich kann es gar nicht erwarten, es dir zu erzählen!«
Mit heller, aus weiter Entfernung kommender Stimme plapperte sie schrill und aufgeregt und in jugendlich-übermütiger Weise darauflos. Als ich diesen vertrauten Klang aus dem Telefon hörte, starrte ich ungläubig auf die Wand mir gegenüber. Sie nannte mich Lyddie! Adele nannte mich Lyddie, als hätten wir uns gestern noch gesehen.
»Beruhige dich erst mal«, unterbrach ich sie und fühlte schon ein wenig von ihrer Aufregung auf mich überspringen.
»Was ist passiert? Geht es dir gut?«
»Natürlich! Mir geht es einfach großartig. Ich bin in Rom, Lyddie!«
»Das weiß ich. Ist etwas passiert?«
»Oh, ich bin nicht krank oder so etwas. Aber es ist trotzdem dringend. Lyddie, kannst du nach Rom kommen?«
»Ob ich was …?«
»Hör zu. Ich habe dir etwas geschickt, das alles erklären wird. Es müßte jetzt jeden Tag bei dir eintreffen, denn aus deinen Worten schließe ich, daß du es noch nicht hast. Ich habe es per Luftpost geschickt. Vielleicht hätte ich es als Einschreiben senden sollen. Jetzt bereue ich, daß ich es nicht getan habe. O Lyddie, du mußt einfach kommen, bitte!«
Es lag eine Anspannung, eine Art Panik in ihrer Stimme, die mich aufhorchen ließ. Adele war offenbar über irgend etwas ganz besonders glücklich und aufgeregt. Und doch warnte mich gleichzeitig ein wohlbekannter Instinkt (schließlich war sie ja meine Schwester), daß all dies nicht ganz so war, wie es schien. »Was stimmt denn nicht?«
»Ich kann es dir jetzt nicht sagen. Aber es ist einfach phantastisch. Ich muß es dir persönlich erzählen, nicht am Telefon. Kannst du nach Rom kommen?«
»Natürlich nicht. Sei nicht albern.« Das war typisch Adele, ungestüm und launenhaft. »Ich kann nicht von der Arbeit weg. Jetzt sag mir doch erst mal, was pass …«
»Ach, häng doch deinen doofen Job an den Nagel! Du mußt kommen. Hör zu, Lyddie, ich hab’s eilig …«
Sie brach mitten im Satz ab und verstummte. Nachdem ich einen Augenblick gewartet hatte, sagte ich: »Erzähl weiter, ich höre dir zu.«
Sie antwortete nicht.
»Ehrlich, Adele, mach es nicht so spannend. Ich habe diesen unverschämt teuren Rückruf nicht aus Jux und Tollerei getätigt. Was auch immer du mir sagen willst, mach endlich den Mund auf. Ich habe keine Lust, dir die Würmer aus der Nase zu ziehen. Adele?«
Die Leitung war tot. Ich nahm den Hörer von meinem Ohr und schaute erstaunt auf die Muschel. »Hallo? Adele? Vermittlung?« Ich tippte mit dem Finger auf eine Taste. Die Krankenhauszentrale meldete sich. »Mein Gespräch wurde unterbrochen«, erklärte ich. »Können Sie mich nochmals verbinden?«
»Einen Moment bitte.«
Ich wartete und horchte. Aus dem Hörer an meinem Ohr klang es wie Meeresrauschen. In der Leitung knackte es, und ich vernahm Atemgeräusche. Endlich meldete sich die Telefonistin wieder.
»Es tut mir leid, Ihr Gespräch wurde nicht getrennt. Der andere Teilnehmer hat eingehängt.«
»Was? Das kann nicht sein.«
»Soll ich noch einmal versuchen, den Anruf durchzustellen?«
»Aber Adele hat doch nicht eingehängt. Jemand hat uns getrennt. Vielleicht das italienische Fernamt. Oder irgend jemand vom Hotel.«
»Bedaure, aber man sagte mir, Ihr Gesprächspartner habe aufgelegt. Soll ich Sie nochmals verbinden?«
Ich zögerte einen Augenblick und überlegte blitzschnell, ob ich mit Adele hier vom Aufenthaltsraum der Krankenschwestern aus weiterdiskutieren sollte oder später von meiner Wohnung aus, wo ich ungestört war. »Nein«, erwiderte ich schließlich, »ich werde es später noch einmal probieren, danke.«
Im Umkleideraum nahm ich schnell eine Dusche, zog mir Straßenkleidung an und gab Bescheid, daß ich eine halbe Stunde früher gehen wolle. Niemand hatte etwas dagegen.
Auf der Ocean Avenue, die am Pazifik entlangführt, geriet ich in ein Nebelfeld, das sich wie eine weiße Wand vor mir auftürmte. Nach einem solchen Tag fand ich es richtig erfrischend. Ich freute mich auf einen ruhigen Feierabend in meiner gemütlichen Wohnung in Malibu in der Nähe von Los Angeles, wo ich mir die Zeit mit Hausarbeit oder Lektüre vertreiben würde. Meine Stunden nach der Arbeit waren nie besonders aufregend. Der heutige Abend würde da keine Ausnahme bilden. Abgesehen natürlich von dem Telefongespräch, das ich mit meiner Schwester zu führen beabsichtigte.
Entnervt wartete ich mit dem Hörer am Ohr, während die Person am anderen Ende der Leitung jemanden suchte, der Englisch sprach. Nachdem ich beim Fernamt das Gespräch nach Rom bestellt hatte, war mir von der Telefonzentrale des Hotels Palazzo Residenziale mitgeteilt worden, daß Adele Harris nicht als Gast eingetragen sei. Daraufhin hatte ich die Vermittlung gebeten, mich mit irgend jemandem an der Rezeption zu verbinden, da es sich wohl nur um einen Irrtum handeln konnte. Mir schwante, daß dies einige Zeit in Anspruch nehmen würde, und so sank ich resigniert in meinem Sessel zurück.
In Rom mußte es aufgrund der Zeitverschiebung bereits nach Mitternacht sein.
»Hallo?«
Die Stimme ließ mich zusammenzucken. Es hatte nur wenige Augenblicke gedauert, bis sich jemand auf englisch meldete.
»Ja?« Ich setzte mich auf.
»Sie wünschen Miss Adele Harris zu sprechen? Sie ist nicht hier, Madam. Sie hat das Hotel inzwischen verlassen.«
»Sind Sie sicher? Wohin ist sie gegangen?«
»Ich weiß nicht, Madam. Sie hat nichts darüber gesagt.«
»Hm, tja, verstehen Sie, ich bin ihre Schwester. Ich rufe aus Amerika an. Ich habe gerade erst heute nachmittag mit ihr gesprochen, da befand sie sich in Ihrem Hotel. Sie muß eine Nachricht für mich hinterlassen haben. Eine Telefonnummer, unter der ich sie erreichen kann. Ganz bestimmt.«
»Leider nein, Madam. Uns liegt keine Nachricht vor.«
»Für Lydia Harris? Sind Sie sicher?«
Ich konnte fast sehen, wie er die Schultern zuckte. »Miss Harris ist vor einer Weile abgereist. Ihr Zimmer ist geräumt, und sie hat ihre Hotelrechnung bezahlt. Sie hat keine Nachricht hinterlassen.«
»Ich verstehe.« Natürlich verstand ich nicht. »Nun dann, vielen Dank, auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Madam.«
Mein Gesicht war warm vom Feuer im Kamin. Ich starrte mit glasigen Augen vor mich hin. Dieses Kind, dachte ich bei mir, sie war ja von jeher ein wenig zerstreut. Ruft mich in der Klinik an, verlangt mich zu sprechen, erzählt jedem, es sei dringend. Und als sie mich dann am Apparat hat, lacht sie, gibt mir keinerlei Hinweis, um was es eigentlich geht, legt dann einfach den Hörer auf und verläßt obendrein noch ihr Hotel! Adele, du elende Göre!
Ich war drauf und dran, das Telefon ins Feuer zu schleudern, als mich ein Klopfen an der Tür ablenkte. Es war Shelly, meine Nachbarin, eine Kellnerin, die bis in den späten Abend arbeitete und tagsüber meist zu Hause war. Sie hielt ein ziemlich mitgenommen aussehendes Päckchen in Händen.
»Hallo, Lydia, ich habe gesehen, daß du zu Hause bist. Das hier ist heute für dich mit der Post gekommen.«
»Oh!« Ich nahm die in braunes Packpapier eingeschlagene Schachtel entgegen. Sie war verbeult und abgewetzt. Die Adresse war in Adeles Handschrift geschrieben.
»Der Postbote wollte es nicht vor deiner Wohnungstür abstellen. Da habe ich ihm angeboten, es für dich anzunehmen. Er ließ mich unterschreiben. Macht dir das etwas aus?«
»Nicht im geringsten. Vielen Dank. Komm auf ein Glas herein.«
»Ich bin leider todmüde. Sag mal, was, glaubst du, ist das? Kommt es von deiner Schwester?«
Adeles Name stand in der Ecke, über der Anschrift des Hotels Palazzo Residenziale, Via Archimede in Rom.
»Scheint so, ganz recht.«
»Ist das nicht diejenige, die sonst nicht mal eine Weihnachtskarte schreibt? Schickt sie dir jetzt etwa ein Geburtstagsgeschenk?«
»Wohl kaum. Danke, Shelly. Ich danke dir vielmals.«
Ich schloß die Tür und starrte auf das Päckchen in meiner Hand. Das mußte der Gegenstand sein, den Adele per Luftpost geschickt hatte und von dem sie wünschte, sie hätte ihn per Einschreiben gesandt. Vielleicht mehr als ein Andenken …
Plötzlich fiel mir ein, daß da drin vielleicht ein erklärender Brief liegen könnte, also riß ich das Packpapier ab. Es ließ sich spielend leicht entfernen, und eine einfache weiße Schachtel kam zum Vorschein. Darin befand sich eine zerknüllte italienische Zeitung und einige Servietten aus dem Hotel. Inmitten dieser Polsterung ertastete ich etwas Hartes. Als ich das Füllwerk entfernte, entdeckte ich ein kleines Stück Briefpapier. Ich zog es hervor und las das Wort VORSICHT darauf. Das war alles.
Nun schälte ich die Umhüllung vollends ab und hielt schließlich den merkwürdigsten Gegenstand in Händen, der mir je untergekommen war.
Etwa zwanzig Zentimeter lang und aus cremefarbenem, glattem Material, vermutlich Elfenbein, hergestellt, ließ sich der Gegenstand am ehesten als so etwas wie ein dicker Brieföffner beschreiben, der an einem Ende spitz zulief und am anderen mit Schnitzerei verziert war. Fast wie ein Miniatur-Spazierstock war das gelbliche Stück Elfenbein an diesem Ende mit einem ungewöhnlichen Tierkopf versehen, der von ferne an einen Hund erinnerte.
Ich muß dieses »Ding« ziemlich lange betrachtet haben, denn als ich mich endlich aus dem Bann löste, stellte ich fest, daß das Feuer niedergebrannt und die Temperatur im Raum empfindlich abgekühlt war. Ich packte den Elfenbein-»Hund«, das Füllmaterial, die Schachtel und die Umhüllung zusammen und ging damit zu meinem Sessel hinüber, wo ich einigermaßen verwirrt niedersank. Mit großer Sorgfalt nahm ich jedes Stück Papier und den Karton nacheinander in Augenschein, fand aber zu meiner Bestürzung keine weitere Mitteilung als das Stückchen Briefpapier, auf dem das Wort VORSICHT stand. Das war alles. Kein Brief. Nichts, das mir Aufschluß darüber geben konnte, was dieser Gegenstand darstellte oder warum Adele ihn mir geschickt hatte.
War er so kostbar, daß sie seinetwegen aus Europa angerufen hatte, um mich von seiner Ankunft in Kenntnis zu setzen, und sich im nachhinein wünschte, sie hätte das Päckchen per Einschreiben geschickt? Doch was mir das größte Rätsel aufgab: Warum hatte sie ihn ausgerechnet mir geschickt?
Ich drehte und wendete das Elfenbein – mittlerweile war ich davon überzeugt, daß es sich um dieses Material handeln mußte – in meinen Händen. Es schien ziemlich alt zu sein, aber ob das wirklich so war, konnte ich natürlich nicht beurteilen. Und was das für ein »Hundekopf« sein sollte, der in das breitere Ende hineingeschnitzt worden war, erschien mir auch völlig schleierhaft. Wenn es sich dabei überhaupt um einen Hundekopf handelte. Und was für eine merkwürdige Form das Ding hatte; wie eine sich nach unten verjüngende Kerze, wobei der Hundekopf auf dem breiten Ende aufsaß. Welchem Zweck diente so etwas?
Ich war ratlos und wußte überhaupt nicht, was ich als nächstes tun sollte. Adele wollte, daß ich nach Rom komme. Warum? Sollte ich dieses … dieses Souvenir mitbringen? Aber warum hatte sie es erst hierher geschickt und dann ihr Hotel verlassen, ohne mir eine Nachricht über ihren Verbleib zu hinterlassen?
Am nächsten Tag kam mir eine Idee: Wenn irgend jemand mir einen Hinweis darauf geben könnte, was dieser Gegenstand darstellte, so war es Dr.Kellerman, denn er sammelte Antiquitäten und Kunstgegenstände. Im Krankenhaus bat ich darum, ihn besuchen zu dürfen, und er lud mich für den Abend in sein Haus ein, das ungefähr zehn Kilometer von meiner Wohnung entfernt lag.
»Ich wüßte gerne Ihre Meinung in einer Sache, die mir rätselhaft erscheint«, begann ich, nachdem ich es mir in seinem Arbeitszimmer bequem gemacht hatte. Dankend nahm ich ein Glas Wein entgegen und wandte mich dem prasselnden Kaminfeuer zu. Dr.Kellermans »Bibliothek« war ein Raum, in dem ich mich stets gerne aufhielt. Er war in warmen Brauntönen gehalten und über und über voll mit Ledersesseln, alten Stichen und kleineren Skulpturen. Dicke Orientteppiche dämpften alle Geräusche, und die Bücher, die in hohen Regalen die Wände säumten, standen so dicht gedrängt, als ob sie dazu dienten, die Kälte einer nebligen Nacht auszusperren.
»Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann, Lydia. Aber seien Sie diesmal bitte nicht wieder so kurz angebunden. Sie huschen jedesmal herein und heraus wie ein scheuer Hase. Ich hoffe, daß der Nebel draußen Sie ein wenig bei mir verweilen läßt.« Er setzte sich neben mich, und der Schein des Kaminfeuers spiegelte sich in seinen Augen wider. »Nun denn, womit kann ich Ihnen dienen?«
Ich erzählte ihm von dem Telefongespräch, das Adele am Tag zuvor mit mir geführt hatte. Ich unterrichtete ihn auch von meinem Anruf am Abend, bei dem ich festgestellt hatte, daß Adele abgereist war. Dann beschrieb ich ihm das Päckchen und seinen Inhalt. Und zuletzt zog ich den »Hund« aus meiner Handtasche hervor.
Zuerst sagte Dr.Kellerman gar nichts. Während er den Gegenstand eingehend betrachtete und nach allen Seiten drehte und wendete, schien er völlig in Gedanken versunken zu sein. In seinen unter dichten weißen Brauen liegenden Augen erkannte ich, daß ich mit diesem Gegenstand sein Interesse geweckt hatte, und allmählich wurde mir klar, daß ich möglicherweise in den Besitz von etwas ganz Außergewöhnlichem gelangt war. Vielleicht sogar von etwas Wertvollem.
»Das wurde Ihnen aus Rom geschickt, sagen Sie?«
Ich nickte.
»Sehr merkwürdig. Ich habe dieses Ding schon einmal irgendwo gesehen, aber ich kann mich nicht mehr recht entsinnen, wo.« Seine blauen Augen verengten sich, als er sich zu konzentrieren versuchte. »Es sieht aus wie ein Hund, aber es ist keiner. Betrachten Sie nur einmal die Ohren. Schauen Sie, wie lang und spitz sie sind. Und die Schnauze. Ein seltsam anmutendes Tier. Wild lebend, würde ich sagen, kein Haustier. Und der Gegenstand ist tatsächlich aus Elfenbein. Aber was …?« Er schlug sich mit dem spitz zulaufenden Ende auf die Handfläche. »Wo habe ich so etwas nur schon mal gesehen?«
Dr.Kellerman ließ seinen Blick durch den Raum und über die unzähligen Bücher auf seinen Regalen schweifen. Auch ich überflog mit den Augen die Buchrücken, und mit einem prickelnden Gefühl ahnte ich, daß wir vielleicht in irgendeinem dieser Bücher ein Foto von genau diesem Gegenstand finden würden.
»Jetzt fällt es mir wieder ein!« rief er plötzlich. »Es stammt überhaupt nicht aus Italien. Und ich weiß jetzt auch, wo ich es gesehen habe.«
Er stand auf, lief mit großen Schritten zum entferntesten Regal, das mit dickleibigen Kunstbänden vollgestellt war. Dr.Kellerman griff zielbewußt nach einem Band in Augenhöhe, der den Titel Die Schätze des alten Ägypten trug. Er zwinkerte mir zu, wie er es so oft schon über den Operationstisch hinweg getan hatte, und kehrte dann auf seinen Platz neben mir auf der Couch zurück.
»Das ist kein Hund, Lydia. Es ist ein Schakal. Ein ägyptischer Schakal. Und es handelt sich um eine Spielfigur.«
»Eine was?«
»Eine Spielfigur. Wie ein Dame-Stein oder eine Schachfigur. Und ich wette mit Ihnen«, – er blätterte in Windeseile die Buchseiten durch, wobei er Dutzende von farbigen Abbildungen überschlug, »ich wette mit Ihnen, daß es genau hier drinnen … Aha!« Er schlug mit der flachen Hand auf eine bestimmte Buchseite. »Hier ist er ja, unser Schakal.«
Meine Augen weiteten sich vor Staunen. Wenn es nicht sogar dasselbe Stück war, das wir in Händen hielten, so war das auf dem Foto abgebildete doch ein nahezu identisches Gegenstück. Ich hörte aufmerksam zu, während Dr.Kellerman die kurze Beschreibung eines altägyptischen Brettspiels mit dem Namen »Hunde und Schakale« vorlas, das neben dem Foto von dem Elfenbeinschakal auf einer Abbildung zu sehen war. Das aus Ebenholz gefertigte Spielbrett war mit komplizierten Schnitzmustern verziert und mit symmetrischen Lochreihen durchbohrt. Das spitze Ende der Spielfigur steckte in dem Loch. Gewürfelt wurde mit Knöchelchen, die über das Weiterrücken der Spielfigur entschieden. Obgleich man heute nicht genau weiß, wie und nach welchen Regeln das Spiel damals gespielt wurde, gab es anscheinend mehrere Exemplare von jeder Figur – Hunde (die schon eher wie gewöhnliche Hunde aussahen) und Schakale. Womöglich wurden sie seinerzeit in ähnlicher Weise gerückt wie schwarze und weiße Dame-Steine. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
»Wenn die Figur echt ist, Lydia, dann, würde ich sagen, ist sie ziemlich wertvoll.« Dr.Kellerman reichte mir das Buch. Ich betrachtete mir genau das Pendant zu meinem Schakal. »Wenn das Stück wirklich aus dem alten Ägypten stammt, und ich wette, es ist so, dann haben Sie hier ein recht bemerkenswertes Souvenir.«
»Ja, das scheint mir auch so.« Ich starrte verwundert auf den Elfenbeinschakal in meiner Hand. »Aber warum schickte sie es ausgerechnet mir? Ich bin gewiß keine Ägyptologin. Ich interessiere mich nicht einmal für solche Dinge.«
»Interessiert sich Ihre Schwester dafür?«
»Nicht daß ich wüßte. Aber sie hatte schon immer einen Hang zum Geheimnisvollen. Sie glaubte an Wahrsagerinnen und an die Kraft von Verwünschungen und Flüchen. Wahrscheinlich ist sie in Rom zufällig auf diese Figur gestoßen und dachte, sie könnte mich damit begeistern.« Aber ich runzelte die Stirn, als ich dies sagte, denn ich glaubte es selbst nicht. Nichts von dem, was ich bisher geäußert hatte, klang wahrscheinlich. An die einzige Erklärung, die ich mir für solch eine Geste vorstellen konnte, wollte ich nicht glauben: daß Adele nämlich versuchte, mir eine Botschaft zu übermitteln.
»Ihre Schwester hat Sie aufgefordert, nach Rom zu kommen, sagen Sie? Und sie hat keinen Grund dafür genannt? Tja.« Er rieb sich das Kinn. Im Gegensatz zu den meisten Chirurgen seines Alters – er war in den Fünfzigern – trug Dr.Kellerman einen Bart. »In diesem Fall glaube ich, daß sie versucht, Sie durch eine List dazu zu bringen, nach Rom zu kommen. Aus irgendeinem Grund möchte sie Sie dort haben. Und aus irgendeinem Grund, in der Tat aus gutem Grund, mußte sie annehmen, daß Sie ihrem Wunsch nicht nachkommen würden. Deshalb hat sie einen Trick angewandt.«
»Das klingt nicht plausibel, nicht einmal für Adele. Nicht nach vier Jahren. Sie würde schreiben. Und wenn es nur ein kurzer Brief wäre. Aber nicht …« Ich betastete den seltsamen Schakal.
Dr.Kellerman schürte das Feuer. »Warum nicht?« Er kniff die Augen zusammen, um sie vor fliegenden Funken zu schützen. Er war einer der wenigen Menschen, Ärzte mit eingeschlossen, auf deren Meinung ich große Stücke hielt. Doch diesmal konnte ich mich nicht so recht mit ihm einverstanden erklären. »Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht. Sie wird bestimmt noch einmal anrufen.«
»Möglich. Sagen Sie mir, werden Sie sich von ihr nach Rom locken lassen?«
»Rom!« Ich lachte und berührte seinen Arm. »Wie albern! Wenn ich das täte, nach wem würden Sie dann Ihre Klemmen werfen, wenn die Dinge nicht laufen, wie sie sollen?«
»Sie kommen nie raus, Lydia.«
»Aber ich komme doch viel herum«, protestierte ich nachdrücklich.
»Natürlich. Wollen wir doch mal sehen: Letztes Jahr waren Sie in Columbus, Ohio, für die OP-Krankenpflegertagung. Davor fuhren Sie nach Oakland zur Versammlung des kalifornischen Krankenpflegerbunds. Im Jahr zuvor …«
»Dr.Kellerman, ich reise eben nur nicht ins Ausland.«
»Das will ich meinen. Columbus und Oakland, von allen Orten, die man bereisen kann, waren es ausgerechnet diese beiden. Wenn ich mich recht entsinne, wären Sie einmal beinahe nach Hongkong geflogen, aber im letzten Moment haben Sie gekniffen.«
»Das gehört doch jetzt überhaupt nicht zur Sache, Dr.Kellerman. Ich denke, ich werde jetzt nach Hause fahren. Ich nehme das Buch und meinen treuen Schakal mit und warte darauf, daß meine launenhafte Schwester wieder anruft. Ich bin mir übrigens sicher, daß sie das tun wird.« Ich stand auf und legte den Schakal vorsichtig in meine Handtasche zurück. »Ich kann mir gar nicht denken, warum sie so einfach den Hörer auflegte und warum sie danach abreiste, ohne mich vorher zurückzurufen. Oh, Adele!«
Während ich mich zum Gehen bereitmachte, bemerkte ich, daß Dr.Kellerman zu der großen Wanduhr über seinem Kamin aufblickte. Nach einem kurzen Moment fragte er: »Um wieviel Uhr bekamen Sie Adeles Anruf?«
»Um wieviel Uhr? Da muß ich nachdenken. Es war während des Herzstillstands. Etwa gegen eins, würde ich sagen.«
»Und wann haben Sie ihn erwidert?«
»Ungefähr eine Stunde später. Warum?«
»Demnach war es hier zwei Uhr nachmittags, als Sie mit ihr sprachen.«
»So in etwa, ja. Warum fragen Sie?« Auch ich begann auf die reich verzierte alte Wanduhr zu starren, die leise tickte.
»Wenn ich mich recht erinnere, ist Rom uns in der Zeit um neun Stunden voraus. Das würde also bedeuten, daß es dort etwa elf Uhr war, als Ihre Schwester anrief.«
»Stimmt.«
»Und das hieße auch, daß sie ihr Hotel irgendwann kurz vor Mitternacht verließ.« Dr.Kellerman sah mich an. »Ich finde das ziemlich merkwürdig. Finden Sie nicht auch?«
Ich erwiderte seinen Blick. »Doch, allerdings.«
»War der Telefonist sicher, daß Ihre Schwester auflegte und das Gespräch nicht durch einen technischen Fehler unterbrochen wurde? Warum um alles in der Welt sollte sie aber anrufen und mitten im Gespräch den Hörer auflegen? Und warum sollte sie mitten in der Nacht plötzlich ihr Hotel verlassen?«
Ich ließ meinen Blick wieder zur Wanduhr schweifen, während ich mir das schlafende Rom um Mitternacht vorstellte. Ich sah, wie Adele bei einem schläfrigen Hotelangestellten die Rechnung bezahlte und dann auf einer menschenleeren Straße nach einem Taxi Ausschau hielt.
»Das ist einfach lächerlich!« Ich war schon drauf und dran, Einspruch zu erheben. Ganz egal, wie flatterhaft und unberechenbar meine Schwester auch sein mochte, sie würde doch nie ein dringendes Ferngespräch führen und dann mitten im Satz auflegen. Da bemerkte ich den besorgten Ausdruck auf Dr.Kellermans Gesicht. Er starrte abwesend ins Feuer.
So meinte ich mit gespielter Lässigkeit: »Nun, so lächerlich es auch erscheinen mag, bin ich mir doch sicher, daß es eine einleuchtende Erklärung für alles gibt. Adele wird mich zurückrufen und alles klarstellen. In der Zwischenzeit benutze ich diesen Schakal als Briefbeschwerer oder so.«
Dr.Kellerman begleitete mich zum Auto; der dichte Nebel schlug sich in Form von Wasserperlchen auf Haar und Schultern nieder, und unser Atem wurde in der Luft als Dampf sichtbar. Er lebte in einer schönen Wohngegend. Ein altes und elegantes Viertel. Und ruhig gelegen.
»Ich wünschte nur zuweilen, Sie würden länger bleiben, Lydia.«
Ich erwiderte sein Lächeln. In den drei Jahren, die ich Dr.Kellerman nun schon assistierte, waren wir sehr gute Freunde geworden. »Gute Nacht«, sagte ich leise und fuhr in die weiße Nacht hinaus.
Als ich nach Hause zurückkehrte, blieb ich beim Betreten meiner Wohnung wie angewurzelt stehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Die Arme in die Seite gestemmt, stand ich da und fühlte eine unglaubliche Wut in mir hochsteigen. »So eine Gemeinheit!« rief ich.
Bei mir war eingebrochen worden.
Es war nichts geschehen, was ein flüchtiger Beobachter, ja sogar ein häufiger Besucher bemerkt haben würde, denn die Anzeichen waren sehr geringfügig. Nur ich als Bewohnerin dieses tadellos aufgeräumten Appartements war imstande, diese winzigen Anzeichen von Unordnung zu erkennen. Sobald ich zur Tür hereingekommen war und noch bevor meine Augen irgend etwas wahrnahmen, hatte ich das Gefühl, daß die Luft im Raum sich verändert hatte und nicht mehr die gleiche war. Und dann sah ich untrügliche Spuren: Ein Lampenschirm hing ein wenig schief; das Telefon war verrückt; eine Schublade des Schreibtischs war nicht ganz geschlossen. In meiner Wohnung herrscht dieselbe peinliche Ordnung wie in dem Operationssaal, in dem ich arbeite, auch wenn das schon ans Extreme grenzen mag. Doch so lebe ich nun mal. Daher wußte ich auf Anhieb, schon während der ersten Sekunden meines Eintretens, daß jemand in meine Wohnung eingedrungen war.
Der Gedanke, mich zu fragen, wer das wohl getan haben könnte oder auch warum, kam mir zunächst gar nicht. Ganz automatisch griff ich zum Telefon und wählte Dr.Kellermans Nummer. Ich war völlig entnervt und heulte fast vor Wut, denn es machte mich rasend, daß ein Fremder meine Privatsphäre verletzt hatte. Diese Vorstellung war mir unerträglich.
Erst als Dr.Kellerman mir die in einem solchen Fall naheliegendste Frage stellte, kam mir plötzlich zum Bewußtsein, wie entrüstet ich über die bloße Tatsache des Eindringens gewesen war. »Ist irgend etwas gestohlen worden?« fragte er. Bis dahin hatte ich dem Umstand, daß etwas entwendet worden sein könnte, noch gar keine Beachtung geschenkt. Dr.Kellerman versuchte mich zu beruhigen und versprach, sogleich bei mir vorbeizuschauen.
Eine kurze, aber gründliche Überprüfung, während ich auf Dr.Kellermans Ankunft wartete, ergab, daß nichts abhanden gekommen war. Nicht das geringste: weder Schmuck noch Geld oder andere Wertgegenstände wie der Fernseher oder die teure Stereoanlage. Die Wohnung war einfach durchsucht, aber nicht ausgeraubt worden.
Als es an der Wohnungstür klingelte, erschrak ich zunächst, beruhigte mich aber sofort wieder bei dem Gedanken, daß es sich ja um Dr.Kellerman handeln mußte. Ich ließ ihn ein, und er schaute sich vorsichtig um. Dann blickte er mich fragend an.
Etwas verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich konnte mir keinen Reim auf all das machen: »Es fehlt nichts, Dr.Kellerman. Überhaupt nichts. Es sieht eher aus wie eine fein säuberlich durchgeführte Hausdurchsuchung, nicht wie das grobschlächtige Durchwühlen nach Raubgut. Alles ist, so gut es ging, in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden, wohl in der Absicht, daß ich gar nichts merken sollte. Aber ich habe es natürlich trotzdem gemerkt. Ich verstehe das nicht. Wer könnte ein Interesse daran haben, meine Wohnung zu durchsuchen?«
Ich sank erschöpft neben ihn auf die Couch und starrte in den kalten Kamin. Dr.Kellerman tat dasselbe, und an seinem konzentrierten Blick ließ sich ablesen, wie sehr ihn das Problem beschäftigte.
Nach einer Weile fragte er leise: »Kann ich einmal die Schachtel sehen, in der Ihr Schakal ankam?«
Ich schaute ihn überrascht an. »Meinen Sie nicht, daß ich im Moment ein dringenderes Problem habe?«
»Lassen Sie mich nur einen Blick darauf werfen, Lydia.«
Ich stand auf und wollte zum Schreibtisch gehen. Doch plötzlich hielt ich inne und überlegte einen Augenblick lang. Wo hatte ich denn bloß diese Schachtel mit dem Füllmaterial hingestellt? Ich sah mich um. Nein, nicht im Schlafzimmer. Ich hatte sie nicht dorthin getragen. Dann blickte ich zu Dr.Kellerman hinunter. Er lächelte mich mit den Augen an, so wie er es immer tat, wenn bei einer Operation sein Gesicht von dem Mundschutz halb verdeckt war.
»Sie ist weg«, stellte ich sachlich fest. »Also ist doch etwas gestohlen worden.«
Während ich mich abermals auf der Couch niederließ und mein Kinn auf die Hände stützte, dachte ich laut über diese neueste Erkenntnis nach. »So … Irgend jemand ist also hier eingebrochen, hat die Wohnung durchsucht und dann meine Schakal-Schachtel an sich genommen. Er nahm die Kordel, das Packpapier, den Karton, das Papier zum Ausstopfen und den Zettel, auf dem VORSICHT stand. Aber warum? War dieser Jemand etwa hinter dem Schakal her?«
»Es sieht ganz danach aus.«
»Aber wer könnte denn so versessen darauf sein? Und warum nimmt er die Schachtel und die Verpackung?«
»Sie dürfen auch eines nicht vergessen, Lydia: Wer auch immer es gewesen ist, er wußte, daß der Schakal gestern angekommen war. Und man nutzte Ihre Abwesenheit aus, um hier einzubrechen.«
Meine Augen weiteten sich vor Verwunderung. »Wollen Sie damit sagen, man hat mich beobachtet?«
»Wie hätte man sonst wissen sollen, wann man ungestört eindringen konnte? Womit die Einbrecher nicht gerechnet haben, war, daß Sie den Schakal mitnehmen würden. Andernfalls könnte ich wetten, daß der Schakal ebenfalls fehlte.«
Ich dachte kurz über diese Theorie nach und hatte dabei ein ganz ungutes Gefühl. Ich stand auf, ging rasch zu der Stelle, an der ich meine Handtasche hatte fallen lassen, zog den Elfenbein-Schakal heraus und kehrte zu meinem Platz auf der Couch zurück. Eine ganze Weile saßen Dr.Kellerman und ich nur da und starrten ihn an.
»Rufen Sie die Polizei, Lydia«, riet er mir schließlich.
»Nein«, widersprach ich, noch bevor ich überhaupt nachgedacht hatte, »das ist kein Fall für die Polizei. Sie würde weder Fingerabdrücke noch sonstige Anhaltspunkte finden. Das wissen Sie doch. Wem sollte sie denn nachjagen?«
»Immerhin wurde in Ihre Wohnung eingebrochen, und es wurde etwas entwendet.«
»Ach, Dr.Kellerman, seien Sie vernünftig. Was könnte die Polizei schon für mich tun? Etwa diese verbeulte alte Schachtel ausfindig machen und mir zurückgeben? Soll ich den Beamten sagen, daß die Schachtel das einzige war, was gestohlen wurde, und daß ich sie zurückhaben will? Nein, nicht die Polizei.« Ich rollte den Schakal zwischen meinen Fingerspitzen hin und her. Er fühlte sich kühl und glatt an. Das Gesicht des Tieres wirkte irgendwie schaurig. Es hatte die Lefzen zurückgezogen und schien höhnisch zu grinsen, während die großen Augen wie Menschenaugen anmuteten. Die Ohren waren ungewöhnlich lang und spitz und verliehen dem Schakal ein teuflisches Aussehen. Es war wirklich ein merkwürdiger Gegenstand.
»Nun, der Schakal ist massiv, keine Hohlräume«, stellte ich fest. »Somit können wir davon ausgehen, daß wir es nicht mit raffinierten Juwelendieben zu tun haben.« Ich sagte das in scherzhaftem Ton, aber es war mein voller Ernst. Ich faßte jedes nur erdenkliche Motiv ins Auge. »Ich will wissen, warum sie hinter ihm her sind. Die ganze Sache gefällt mir überhaupt nicht, und sie kam für mich so völlig überraschend. Ich weiß gar nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Rätsel und Überraschungen sind mir etwas höchst Ungewohntes. Ich lebe in einer wohlgeordneten Welt, wo Probleme auf wissenschaftliche Art gelöst werden. Doch ich spüre, daß sich seit dem Telefonanruf meiner Schwester mein Leben verändert hat. Dann kam ein Päckchen mit der Post, das ein eigenartiges ›Geschenk‹ enthielt, dem jedoch keine Erklärung beigefügt war. Und jetzt …« – Ich streckte meine Hand aus und deutete um mich herum – »… und jetzt auch noch das hier. Welche Bedeutung diesem Schakal auch zukommen mag, irgend jemandem muß verdammt viel daran gelegen sein. Und ich will den Grund dafür herausfinden, weil es mein Schakal ist und weil es meine Wohnung ist, die widerrechtlich betreten wurde. Ich frage mich nur …« – verwirrt und ungeduldig schweifte ich erneut ab – »… ob er wohl viel Geld einbringen würde? Sie sagten doch, er könnte wertvoll sein, wenn er echt wäre.«
»Ja, aber so viel auch wieder nicht. Bedenken Sie: eine Figur aus einem ganzen Spiel!« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist ein Sammler dahinter her. Aber niemand würde deswegen in Ihre Wohnung einbrechen …«
»… und dann bloß die Verpackung stehlen!« ergänzte ich. »Das ist das Verwirrende daran. Was hat es nur mit diesem Ding auf sich?« Ich hielt es hoch ins Licht, als ob das Elfenbein durchsichtig wäre und die Antworten in seinem Innern lägen. »Es gab noch weitere Exemplare, sagen Sie?«
»Im alten Ägypten, ja, aber heute, ich glaube nicht …«
»Wenn es so wäre, Dr.Kellerman, wenn dieser Schakal der einzige existierende wäre, hätte er dann einen großen Wert?«
Er zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Aber schließlich wissen wir ja sicher, daß er nicht der einzige ist.«
»Natürlich. Die Abbildung in Ihrem Buch. Es gibt noch andere. Warum dann ausgerechnet dieser? Es sei denn …« Ein Gedanke begann allmählich Gestalt anzunehmen. »Es sei denn, jemand versucht, einen vollständigen Figurensatz von diesem Spiel zusammenzubekommen, und bräuchte noch den letzten Schakal, um ihn komplett zu haben. Wäre ein vollständiger Satz dieser Figuren wertvoll? Die Hunde und die Schakale zusammen?«
»Unbezahlbar, könnte ich mir vorstellen.«
»Gut. Nehmen wir einmal an, jemand hätte schon fast einen ganzen Satz beisammen, den er vielleicht über Jahre hinweg zusammengetragen hat, und bräuchte jetzt nur noch eine oder zwei weitere Figuren. Dann wäre mein Schakal für diese Person doch wertvoll. Die Begierde könnte sie sogar dazu treiben, ihn mir zu stehlen.«
»Das ist absurd, Lydia. Ein solcher Sammler würde einfach auf Sie zukommen und Ihnen einen Preis bieten. Sie argumentieren wie jemand, der zu viele Krimis im Fernsehen gesehen hat, und denken dabei nicht logisch. Jeder Raritätensammler würde versuchen, auf ganz legale Weise an Ihren Schakal zu gelangen. Er würde davon ausgehen, daß Ihnen der Schakal nicht mehr bedeutet als eine x-beliebige Nippsache oder ein Souvenir und daß er in Ihrem Besitz möglicherweise zum Briefbeschwerer degradiert würde. Ich glaube, Sie übersehen den wichtigsten Faktor in dem ganzen Verwirrspiel. Es ist nicht der Einbruch in Ihre Wohnung, auch nicht die gestohlene Schachtel und ihre Verpackung und wahrscheinlich genausowenig der mögliche Wert des Schakals.«
»Was ist es dann?«
»Es ist Ihre Schwester Adele.«
»Adele!« Ich preßte meine Hände fest gegeneinander. »Natürlich! Sie hat die ganze Sache ja ins Rollen gebracht. Aber würde uns das nicht doch wieder zu dem unbekannten Sammler zurückbringen? Nehmen Sie einmal an, daß er versucht hätte, Adele den Schakal abzukaufen. Nehmen Sie an, daß sie sein Angebot ausgeschlagen und ihn mir zugeschickt hat. Das würde allerhand erklären.«
»Ja«, meinte er langsam, aber ich konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, daß ihn diese Erklärung nicht so recht befriedigte. Ich wußte, wie er fühlte. Je mehr wir versuchten, der Sache auf den Grund zu gehen, um so rätselhafter wurde sie. Nichts schien zusammenzupassen. Wenn nun der Schakal hohl wäre und gestohlene Diamanten enthielte, dann wäre alles viel leichter gewesen.
Was ich als nächstes sagte, überraschte mich selbst mehr, als es Dr.Kellerman überraschte. »Ich muß nach Rom fliegen.«
»Was?« entfuhr es ihm, als hätte ich ihm eben weismachen wollen, daß der Mond aus grünem Käse beschaffen sei. Ich drehte mich zu ihm um und sah, wie er mich mit seinen sanften blauen Augen, in denen soviel Güte und Anteilnahme lagen, ungläubig anstarrte.
»Ich muß es tun, verstehen Sie?« Jetzt, da ich sie ausgesprochen hatte, erschien mir die Idee gar nicht mehr so abwegig. Es gab nur eine Möglichkeit, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen, und die bestand darin, mit Adele zu sprechen. Daß sie die Lösung dieses Rätsels kannte, daran hegte ich keinen Zweifel. Außerdem wußte ich mit Bestimmtheit, daß man wieder in meine Wohnung eindringen würde, und das zweite Mal könnte es weniger glimpflich für mich ausgehen. Ich könnte ja gerade zu Hause sein.
»Lydia, tun Sie’s nicht«, meinte Dr.Kellerman schlicht. Er gab keine unheilvollen Warnungen von sich und äußerte auch keine wilden Befürchtungen. Er sagte einfach nur: »Tun Sie’s nicht«, aber unbestimmte Warnungen, Befürchtungen und Ängste schwangen darin mit.
»Deshalb hat sie angerufen, Dr.Kellerman. Das war ihre eigentliche Absicht. Nicht, um mir die Ankunft des Schakals anzukündigen, sondern um mich aufzufordern, ihr beizustehen. Sie fand keine Gelegenheit mehr, mir zu erklären, warum. Aber ich denke, es ist wichtig. Es lag etwas in ihrer Stimme …« Ich schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich muß hinfahren. Sie ist schließlich die einzige Verwandte, die ich habe.«
»Aber vier Jahre …«
»Das ist keine so lange Zeit, wenn Sie sich vor Augen führen, daß wir dieselbe Mutter und denselben Vater verloren haben. So enge Bande wie diese werden auch durch eine zeitliche und räumliche Trennung nicht gelockert. Wenn ich Adele vom anderen Ende der Welt aus anriefe und einfach sagte: ›Komm her, ich brauche dich‹, dann würde sie kommen. Das können Sie sich doch denken.«
Der arme Dr.Kellerman schüttelte nur den Kopf. »Lydia, es ist nicht ungefährlich. Oh, dieses Zeitalter der emanzipierten Frauen! Ich bin wohl zu spät geboren.«
Da tätschelte ich ihm die Hand, als ob mein eigener Vater neben mir säße. »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ich ihn. »Ich werde dieses Hotel Palazzo Residenziale aufsuchen und dort Adele finden. Dann werde ich ihr das spontane Geschenk zurückgeben und ein Weilchen mit ihr zusammen den guten alten Zeiten nachweinen. Danach werde ich zurückkehren und wieder Ihre Operationsschwester sein. Es wird wirklich nicht allzulange dauern.«
»Es gefällt mir trotzdem nicht, Lydia.« Er hatte noch etwas anderes gegen meinen Plan einzuwenden, etwas, das er nicht aussprach, aber das in seinem Blick zu lesen war. Doch leider erkannte ich diesen zweiten Einwand nicht, da ich nur darauf achtete, was seine Stimme sagte. Jene andere, stumme Botschaft, die sich nur in einem sehnsüchtigen Blick ausdrückte, vermochte nicht, mein von Selbstüberschätzung geprägtes Äußeres zu durchdringen. Erst als es schon zu spät war, sollte ich erkennen, was Dr.Kellerman mir so lange schon hatte sagen wollen und wozu er niemals Gelegenheit gefunden hatte. Aber das sollte erst später kommen. Im Augenblick bediente er sich seiner sanften Überredungskünste, mit denen er jedoch keinen Erfolg erzielte. Er kannte mich als unabhängige, eigenständige Frau von der emanzipierten Sorte, und wenn ich mich einmal für etwas entschieden hatte, dann wußte er, daß man mich nicht davon abbringen konnte.
»Ich dachte, Sie würden sich freuen, wenn ich nach Europa flöge.«
»Schon, aber nicht auf diese Art, Lydia. Irgend etwas ist faul an der Sache. Und der Mann oder die Männer, die Ihre Wohnung durchstöberten, werden wiederkommen. Vielleicht werden sie Ihnen auch folgen. Sie befinden sich nicht in Sicherheit, nicht, solange Sie den Schakal haben.«
»Dann werde ich ihn eben persönlich dahin zurückbringen, woher er kam. Ich habe noch immer einen Paß von dieser Hongkong-Reise, die ich niemals antrat. Meine Pockenimpfung ist noch gut, und ich habe Geld auf der Bank. Brauche ich ein Visum?«
»Nicht für Italien, Lydia.«
»Ich schicke Adele ein Telegramm in dieses Hotel. Morgen teile ich Mrs.Cathcart mit, daß ich in einer dringenden familiären Angelegenheit verreisen muß, und dann nehme ich das erstbeste Flugzeug. Eigentlich könnte ich die Reservierung jetzt gleich vornehmen.« Ich lief zum Telefon.
»Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Lydia.«
Diese Worte trafen mich mit unerwarteter Wucht. Wie sonderbar recht er doch hatte! Seit ich die Abschlußprüfung der Krankenpflegerschule bestanden hatte, lebte ich allein, und in dieser ganzen Zeit hatte ich nie auch nur einen unbesonnenen Schritt getan, den ich später bereute. Und jetzt plötzlich genügte ein Anruf und ein Päckchen, um mich ebenso unvernünftig und impulsiv handeln zu lassen wie meine Schwester Adele. Innerhalb eines Tages hatte ich selbst all die Eigenschaften angenommen, für die ich sie einst getadelt hatte.
Doch es war nicht zu ändern. In diesem Augenblick, an diesem merkwürdigen, beunruhigenden Abend, schienen die Maßnahmen, die ich plante, die einzige vernünftige Antwort auf das Problem zu sein.
Wenn ich nur auf Dr.Kellerman gehört hätte!
Er verabschiedete mich am Flughafen, und zum ersten Mal innerhalb von drei Jahren gab mir Dr.Kellerman einen Kuß. Ich umarmte ihn auf kameradschaftliche Weise und versicherte ihm noch einmal, daß schon alles in Ordnung käme.