Für Jenny, Leonhard und Johannes
»Sieht er wohl, Herr Wirt?«
HEINRICH VON KLEIST
Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege
Sie saßen auf der Bank hinter dem Empfangsgebäude und rauchten. Es versprach ein schöner Tag zu werden, aber so früh am Morgen war die Aprilsonne doch noch ziemlich schwach.
Fritz war sechsunddreißig, seit sieben Jahren verheiratet, sein Sohn war vier. Die steckten jetzt draußen in Caputh, halbwegs sicher bei Tante Trudchen.
Schultz war zweiundvierzig, ohne Familie. Seine Eltern waren auf dem Weg zur Elbe, zu Fuß, mit Margarinekoffer.
Schräg gegenüber, in der Versuchsanstalt, war der größte Teil der Leute schon verschwunden. Zwei, drei Wachmänner fütterten eine Art Lagerfeuer mit Akten und kippten, damit’s schneller ging, ab und zu Benzin in die Flammen. Die schossen dann so hoch und schwarz blakend auf, dass die Männer feixend zurücksprangen.
Überhaupt schien sich eine Art Wurschtigkeit breitzumachen, die die beiden auf der Bank erstaunt auch an sich selbst bemerkten. Rußpartikel legten sich auf die Frühlingsluft und segelten gemächlich, die Zeit dehnend, auf und ab. Viel gab’s nicht mehr zu tun. Nur abhauen war unmöglich.
Der Flugverkehr war längst eingestellt, höchstens in Gatow landete mal ein Versorger, oder ein Verwundetentransport hob ab.
Schultz wie Fritz waren Segelflieger gewesen, hatten sich bei der Ausbildung in Rossitten auf der Kurischen Nehrung kennengelernt und waren als Fliegerreserve schließlich in Johannisthal gelandet. Schultz, weil er für die Front nicht mehr zu gebrauchen war, und Fritz, weil er sie nie gesehen hatte.
Fritz hatte das gemacht, was er sein Leben lang am besten konnte: ausweichen, sich maskieren, sich rausreden und mit unheimlicher Geschicklichkeit seinen Vorteil suchen. Er war helle, aber nicht zu sehr, Nachdenklichkeit war seine Stärke nicht, und trotz Diabetes konnte er saufen, dass neben ihm bald keiner mehr stand.
Ganz ohne Folgen blieb das nicht. Er neigte zur Dicklichkeit, bekam Züge eines Riesenbabys. Wenn er getrunken hatte, provozierte er gern, wurde lustig, nahm kein Blatt mehr vor den Mund und genoss das Leben in vollen Zügen. Traurigkeit war seine Sache nie. Er war schnell beleidigt, und oft haltlos.
Schultz war anders. Stiller, zäher, schmaler, grübelnder, planender und ratloser. Nicht gerade ein schöner Mann, seine Augen schienen nicht ganz symmetrisch ins Gesicht geraten, und sein Kinn floh, wie man sagte. Ein fliehendes Kinn, das ihm einen flachsinnigen Ausdruck gab. Er hatte in Ostpreußen einen Steckschuss bekommen, der ihn, besser ging’s nicht, zurück nach Berlin gebracht, sonst aber nicht weiter beschädigt hatte.
Fritz war lange durchgekommen, aber Anfang des Jahres kam es doch wie befürchtet. Die Gaststätte musste geschlossen werden, alle zuvor als unabkömmlich eingestuften Angestellten hatten sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu melden. Auch der Chef. Nun war er mit seinem Drückebergerlatein am Ende, aber bevor man ihn an die Front, das heißt an die Oder, schickte, gelang es ihm wenigstens, in Berlin zu bleiben.
Oberst Schwarzmann aus dem Segelclub hatte sich für ihn eingesetzt, und natürlich waren in dem Offizierskasino, das er in der Friesenstraße nebenbei als Pächter betrieben hatte, auch ein, zwei Fliegergeneräle gewesen, die ihn mit drohend erhobenem Zeigefinger vor dem sicheren Tod im Endkampf retteten und schnurstracks von Tempelhof nach Johannisthal beförderten. Ein unheimliches Glück. Hier auf dem ältesten Flugplatz des Reichs war eigentlich nichts los.
Schultz schaute auf die Uhr.
Um diese Zeit kamen normalerweise die Amis. Das war vorbei. Untrügliches Zeichen, dass die andern nicht mehr weit sein konnten. Der letzte Abwurf, von dem nur eine Bombe am hinteren Ende der Rollbahn explodiert war, lag drei Tage zurück.
Er stieß Fritz an.
Zwei Kahlköpfige in gestreiften Anzügen krochen über den Boden hinter dem Fahrradschuppen. Sie nahmen sich wohl einen Blindgänger vor. Ihre Bewacher, zwei SS-Männer, hielten feige einen Abstand von sicher hundert Metern.
Vorsichtig, vorsichtig, dachte Schultz, der schon öfter erlebt hatte, dass so ein Blindgänger in die Luft flog.
»Die hauen ab«, sagte Fritz und zeigte auf die SS-Männer, die sich zwei Fahrräder aus dem Schuppen holten und eins fix verschwunden waren.
Die Sträflinge merkten es nicht gleich, und weder Fritz noch Schultz traute sich, ihnen was zuzurufen. Beihilfe zur Flucht. Wer konnte sagen, ob nicht immer noch irgendwelche Spitzel hinter irgendwelchen Ecken lauerten, um einen zu verpfeifen. Ungemütlich. Zurück zum Empfangsgebäude schien das Beste.
Sie standen auf, traten die Kippen aus und gingen zügig hinüber.
Die Tür auf, der Gang leer, die Schreibstube nicht besetzt. Der Abzug der letzten Leute war wohl hinter ihrem Rücken passiert, als sie auf ihrer Bank – und also Zeitinsel – gesessen und geraucht hatten.
»Fritz, Schultz, hierher!« Eine Stimme vom Ende des Gangs ertönte, der wachhabende Feldwebel winkte sie zu sich. Also hin.
»Ihr beide bringt jetzt die Kasse hier zum Luftfahrtministerium. Bei uns ist Schluss. Der Russe kann jeden Moment hier sein. Ihr meldet euch da im RLM beim Referat IV, dritter Stock, und erhaltet dort weitere Befehle. Abtreten.«
»Kein Marschbefehl?«, fragte Fritz misstrauisch.
»Keine Sorge«, sagte der Spieß grinsend und übergab Schultz den Zettel.
»Abseits der Truppe, im Auftrag der Truppe« stand deutlich gestempelt auf dem blitzblanken Wisch mit einer Unterschrift des Wachhabenden, einem Vermerk über die Summe und einem weiteren Stempel der Flughafenkompanie.
»Und wie sollen wir da hinkommen?«, fragte Schultz.
»Privatsache«, ordnete der Spieß an. »Könnt ja ’n Taxi bestellen. Hahaha. Draußen stehen noch Fahrräder, ihr Hampelmänner. Raus jetzt. Hier ist alles weg. Klappe zu, Affe tot.«
Er drückte Schultz eine graue Metallkassette in die Hand, verschlossen und mit einer Banderole versehen, Aufschrift: »RM 750.–«.
Draußen knallte es plötzlich. Schüsse. Sie pirschten zum Fenster und spähten raus.
Die Wachmänner der Versuchsanstalt hatten bemerkt, dass die Gestreiften sich davonmachen wollten, und versucht, sie trotz der großen Entfernung einmal quer über den Platz zu erwischen.
Stattdessen hatten die jetzt die beiden letzten Fahrräder ergattert und wollten weg. Fritz stürmte raus, riss seine Pistole aus dem Halfter. »Verschwindet«, rief er, »verdrückt euch, aber die Räder nehmen wir!«
Der stämmigere der beiden dachte nicht daran, fluchte auf Polnisch oder Russisch, versuchte sich auf den Sattel zu schwingen, aber da war Fritz schon bei ihm. Er haute ihm den Knauf der Pistole in den Rücken, schwang sich selbst aufs Rad und fuhr los.
Verdammt, wo blieb Schultz?
Ohne den Zettel bin ich so gut wie tot, dachte Fritz, bremste und blieb stehen, aber da war er schon.
Und los ging’s, runter vom Gelände. Die beiden Gestreiften überließen sie ihrem Schicksal. Sie traten so heftig in die Pedale, als seien sie nun selbst auf der Flucht, und irgendwie war da ja auch was dran.
Nach ungefähr zehn Minuten, als alles ruhig blieb, verschnauften sie erst einmal. Sie hielten an und versuchten, sich zu sammeln. Das war jetzt schnell gegangen. Schultz kontrollierte den Inhalt seiner Jackentaschen. Ein angefangenes Päckchen Finas, Streichhölzer, seine Taschenlampe und seltsamerweise ein Esslöffel. Den hatte er wohl unerlaubterweise aus der Kantine mitgehen lassen. Was zu essen wäre sinnvoller gewesen, dachte er.
Die Luft war äußert angenehm, roch nach Vorstadtschrebergarten und nach Mai.
Natürlich brummelte und bumste es in der Ferne, aber eben in der Ferne.
Am Himmel war nichts als Blau und Sonne, auf dem Segelfliegerdamm kein Mensch. Sie versuchten sich zu orientieren.
»Am besten, wir fahren immer mit der Spree rechter Hand.«
»WC«, sagte Fritz, »die ist ja allerbeste Orientierung für Flieger.«
Schultz wusste, dass Fritz WC als Abkürzung für »wohl kaum« benutzte.
Er selber verabscheute diese Art des ordinären Kasinotons und fand, dass er ab sofort darüber nachzudenken hatte, wie er seinen ungehobelten Begleiter loswerden konnte.
Der würde ihn aber nicht aus den Augen lassen, solange er, Schultz, den Marschbefehl hatte. Skrupellos war er außerdem, das hatte er vorhin ja bewiesen.
Wenn ich versuche mich davonzumachen, schießt er, dachte Schultz, und Fritz lachte auf einmal meckernd auf, als könne er Gedanken lesen.
»Wir sind jetzt Pat und Patachon«, sagte er. »Wenn ich ’n Platten kriege, nimmst du mich hintendrauf. So leicht werden wir uns nicht mehr los. Fahr du einfach voraus, ick sach dir schon, wo’t langjeht.«
Dabei hatte auch Fritz gar keine genaue Vorstellung davon, wie sie in die Wilhelmstraße kommen sollten. Nach Nordwesten durch Neukölln und Kreuzberg mussten sie, das war klar. Also erst mal links in den Groß-Berliner Damm.
»Wieder links.«
»Ist gesperrt.«
»Wieso?«
»Steht ’n Posten.«
»Na und, wir ham Befehl.«
Stopp! Schon präsentierte ein Leutnant an der Kreuzung Sterndamm seine Kelle.
»Was seid ihr denn für Komiker?«, blaffte er sie an. »Runter von den Rädern! Wo wollt ihr hin?«
»Wir haben Marschbefehl zum RLM«, sagte Schultz, und Fritz fügte hinzu: »Kommandosache«, salutierte und machte sein wichtigstes Gesicht.
Der Leutnant sicherte eine Panzerabwehrstellung, die aus einigen wahllos zusammengesuchten Tischen, Stühlen, zwei Kleinlastwagen und einem Sturmgeschütz errichtet war, hinter dem eine improvisierte Feldküche dampfte.
Er schielte nach den fünf älteren Männern und acht Jünglingen, die mit sehr unterschiedlich entschlossenen Gesichtern keine Handbreit Boden herzugeben bereit waren.
»Verzieht euch, aber schleunigst«, sagte der Offizier, nachdem er sich den lebenswichtigen Zettel von allen Seiten genau angesehen hatte.
Er schwitzte.
Ungewöhnlich, dachte Schultz. Der scheißt sich in die Hose, weil er genau weiß, wie idiotisch seine Stellung hier ist, als einziger Militär mit einer Bande von Ahnungslosen.
»Einen Schluck Suppe könnten wir auch ganz gut vertragen«, sagte Schultz, der, so wie Fritz immer Durst, eigentlich immer Hunger hatte.
»Ich will dir mal was sagen«, wurde er jetzt angefahren.
»Mit diesen Fahrrädern kommt ihr nie durch. Ich kassiere jetzt euern Zettel, und ihr gehört ab sofort zur Einheit hier. Solche wie euch können wir hier grade sehr gut gebrauchen. Die Fahrräder sind konfisziert, ihr haltet euch bei den andern hinten bereit.«
Nun rächte sich, dass die beiden keiner ordentlichen Abteilung angehörten, sondern als Hilfskräfte der Flughafenleitung nur Uniform und Mütze des Arbeitsdienstes trugen. Ohne den Marschbefehl waren sie vogelfrei, und auch er bot nur einen gewissen Schutz. Jeder konnte sie rumkommandieren.
Aber nun war Fritz’ Stunde gekommen.
»Natürlich, klar, Sie brauchen Leute hier«, legte er los. »Was machen wir aber mit der Kasse? Wollen Sie die einstweilen beschlagnahmen? Wegschmeißen können wir das Geld ja wohl nicht. Wir können natürlich auch fragen, ob hier jemand was braucht. Gardinen, zum Beispiel, sind grade schwer zu kriegen. Ich weiß allerdings, dass Oberst Schwarzmann im RLM dringend drauf wartet. Man müsste mit ihm teilen. Aber wie ihm das erklären?«
Fritz sprach ziemlich schnell und erweckte den Eindruck, ernsthaft zu überlegen, wie man dem Wunsch des Leutnants nachkommen könnte.
Der Mann wurde leise. Er zog seine Pistole, ließ den Arm hängen, zum Zielen bereit, und Fritz wusste, dass an diesem Tag, in dieser Zwischenzeit, sein Stündchen jederzeit schlagen konnte. Niemand würde darüber nachdenken, dass er gewesen war, niemand würde ihn vermissen, und niemand würde auch nur den Kopf nach ihm umdrehen, wenn er im Graben lag. Die Flüchtigkeit seiner Existenz wurde so deutlich, dass ihm schwindelte.
Er hielt sich reglos, als der Offizier ihm den Zettel zurückgab und ganz ruhig sagte: »Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn ihr dann noch zu sehen seid, knall ich euch ab.«
Wie sollte man so schnell wie möglich in die Pedale treten, das Rad dabei rumreißen und losstürmen, ohne hinzufliegen? Es blieb ihnen nichts anderes übrig, denn sie versuchten gar nicht erst, die Entschlossenheit des Soldaten zu bezweifeln.
Ihr Glück war, dass uneinsehbar für den Schützen, gleich fünfzig Meter weiter, eine kleine Stichstraße abbog, die in die nächste Laubenkolonie führte.
Und trotzdem war die Zeit zu kurz, denn zählen kann man auf verschiedene Weisen.
Sie hatten sozusagen auf dem Absatz kehrtgemacht, waren überstürzt in die Pedale getreten, doch kurz nach dem Abbiegen in die Nebenstraße war Schultz gestürzt.
Der Leutnant hatte tatsächlich geschossen und ob er nun ein schlechter Schütze oder ein Mann mit einem schlechten Humor war, die Kugeln trafen nicht, sondern pfiffen irgendwo herum, und nachdem es fünf-, sechsmal laut geknallt hatte, war Schluss.
»Verdammte Scheiße«, beklagte sich Schultz bei wem auch immer und betrachtete seine aufgeschürfte Hand, seine Jacke, die einen Riss hatte, und sein Luftwaffenfahrrad, das eben nicht fliegen konnte, sondern mit verbogenem Lenker auf der Erde gelandet war.
Er stellte es auf, nahm das Vorderrad zwischen seine Beine, spürte dabei die Verwundung im Oberschenkel pochen und drückte mit einer Drehbewegung den Lenker wieder in seine Position.
Er klopfte sich den Staub ab, fand seine Mütze im Dreck, fluchte erneut, weil er mit seiner verletzten Hand unbedacht an den Sattel gefasst hatte, schaute sich noch einmal vorsichtig nach dem Schützen um, der aber nicht mehr zu sehen war, überlegte, wohin er sich nun wenden sollte, als er begriff, dass ihm etwas Entscheidendes fehlte. Sein Kamerad.
Fritz war nirgends zu sehen.
Inzwischen stand die Sonne schon deutlich höher, sogar warm wurde es langsam und eine nach der gewaltigen Ballerei erstaunliche Stille hatte sich ausgebreitet.
Natürlich trügerisch. Was sollte das? Jeder wusste, was die Stunde geschlagen hatte, wozu also diese Stille?
Wäre es nicht besser, man wäre wieder mittendrin, vorne, wo es schlimm gewesen war, aber real?
Fritz’ Verschwinden hatte natürlich mit dieser Stille zu tun, die ihn verschluckt haben musste.
»Selber schuld, warum reißt der sein blödes Maul so auf, dieser Angeber«, dachte Günther Schultz. Und dachte daran, wie die scheinbare Überlegenheit des andern ihn oft genug eingeschüchtert hatte. Er war immer Schultz gewesen in Johannisthal und Fritz, wie selbstverständlich, Fritz.
Er würde sich nicht damit aufhalten, ihn zu finden, er hatte den Marschbefehl, er hatte die Kasse. Er erschrak. Wo zum Teufel war die?
Bisher hatte er sie fest hinten auf dem Rad gehabt, auf den Gepäckträger geklemmt. Ob Fritz in der Aufregung an der Sperre, in dem kurzen Disput, die Kasse zum Beweis seiner Spiegelfechterei weggenommen und vorgezeigt hatte? So musste es gewesen sein. Wieder blickte Schultz sich um. Auf dem Boden war nichts. Beim Sturz war sie nicht weggekommen.
Er drehte sein Rad um und dachte einen Augenblick tatsächlich daran, zurückzufahren und den Spieß zu fragen, wo das Ding sei.
Ein Pirol pfiff, oder sang ein Fink, eine Amsel? Ein emsiges Schnirren und Schnarren folgte, und es dauerte so lange, wie es bei Schultz, wenn er in Umständen war, eben dauerte, bis er Richtung und Absicht erkannte, aus der die Töne kamen.
Etwa fünfzig Schritte entfernt hockte Fritz in einem Busch und tirilierte.
Sein Fahrrad hatte er ins Gras gelegt und sich dort verkrochen.
»Die Kasse?«, fragte Schultz, und Fritz zog sie grinsend unter der Jacke hervor. Schultz nahm sie mit empörtem Blick wieder an sich, befestigte sie hinten auf dem Rad, stieg auf und übernahm nun die Führung.
Es ging geradewegs in die Kolonie hinein. Von den Laubenpiepern keine Spur. Die Hütten waren verrammelt. Die Bäumchen jetzt, Ende April, mit zartem Flaum und frischem Grün überzogen. Der Weg war sandig grau, an einer Ecke ein Schild: »Kolonie an der Südostallee«.
Sie fuhren langsam, gewissermaßen im Schritttempo, und versuchten, sehr genau zu horchen, ob sich irgendwo was regte.
Schultz war sicher, dass Leute in der Nähe waren. Das hier war für viele der ideale Rückzugsort aus der zerbombten Stadt. Man hatte Vorräte eingelagert und konnte auch notdürftig wohnen.
Schultz war als Kind oft zum Spielen bei der Schwester seiner Mutter gewesen, die mit Mann und zwei Kindern in Neukölln einen Garten hatte. Ihm stieg auf einmal der Geruch verfaulter Äpfel in die Nase, und er fand sich urplötzlich in seine Kindheit versetzt. Immer hatte es hier Spielkameraden gegeben. Sehr lustig war das manchmal gewesen und manchmal sehr grob. Die größeren Jungs in der Kolonie nahmen kein Blatt vor den Mund und stichelten die jüngeren mit Obszönitäten. Einmal hatten er und seine Vettern durch ein Loch in der Bretterwand einer Bude und angelockt durch unverständliche Schreie beobachtet, wie einer der älteren mit einem nackten Mädchen hin- und herwackelte.
Lange zu bleiben hatten sie sich nicht getraut und hinterher dann in gebührender Entfernung gerätselt, wobei sie nun wohl Zeugen gewesen waren.
Würde sich das vielleicht so abspielen? Aber warum dann die Schreie?