Lee Bacon
Legendtopia
Verschwörung der Schatten
Aus dem amerikanischen Englisch von Uwe-Michael Gutzschhahn
FISCHER E-Books
Lee Bacon wurde 1979 in Texas geboren und wuchs dort auf. Zwei Jahre lang lebte er in Deutschland, wo er viele Burgen, aber keinen einzigen Drachen gesehen hat. Heute wohnt er mit seiner Frau und zwei Katzen in New Jersey, USA.
Die Legendtopia-Bücher von Lee Bacon bei FISCHER KJB:
Legendtopia – Im Bann der Zauberin (Band 1)
Legendtopia – Verschwörung der Schatten (Band 2)
Außerdem von Lee Bacon bei FISCHER KJB erschienen:
Joshua Schreck
Joshua Schreck – Die Allianz des Unmöglichen
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Das Märchenreich Heldstone ist in Gefahr. Alle Hoffnung ruht auf Kara und dem jungen Thronfolger, Prinz Fred. Zusammen müssen sie eine Verschwörung der dunklen Mächte aufdecken und die böse Zauberin besiegen. Aber das ist alles andere als leicht.
Während das ganze Land sich auf den großen Ball zu Ehren des Königshauses vorbereitet, verwandelt die böse Zauberin sich in ein Schattenwesen. Zusammen mit mächtigen Verbündeten plant sie, das Königspaar zu stürzen. Als sie es tatsächlich schafft, die Eltern von Prinz Fred zu vergiften, bleiben nur drei Tage Zeit, um das Gegenmittel zu finden. Fred und Kara begeben sich auf eine turbulente Reise durch das Märchenreich voller magischer Wesen und ungeahnter Gefahren. Doch die Soldaten der Zauberin sind ihnen auf den Fersen.
Können die beiden das Königspaar retten und die Märchenwelt von der bösen Zauberin befreien?
Erschienen bei FISCHER E-Books
Das englischsprachige Original erschien 2017 unter dem Titel ›Legendtopia: The Shadow Queen‹ bei
Delacorte Press, an imprint of Random House Children's Books,
a division of Penguin Random House LLC, New York.
Copyright © 2017 Lee Bacon
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: punchdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0294-9
Für Evan
Willkommen zum schlimmsten Tag meines Lebens.
Im Lauf der letzten vierundzwanzig Stunden wurde ich von sprechenden Fröschen angegriffen, von Killer-Einhörnern gejagt und mit Drachensabber überzogen. Ich habe herausgefunden, dass mein Dad in einer anderen Dimension gefangen gehalten wird. Ich habe auf einer Jungentoilette gegen Menschenfresser kämpfen müssen und erlebt, wie eine böse Hexe meine ganz normale kleine Stadt in einen Fantasy-Themenpark verwandelt hat.
Ich bin Kara Estrada. Bis vor kurzem war mein Leben völlig durchschnittlich. Ich war eine typische Sechstklässlerin in Shady Pines. Doch das alles kommt mir inzwischen vor wie eine ferne Erinnerung. Meine Welt wurde komplett durcheinandergewirbelt und ich kopfüber in eine absolute Fantasygeschichte geworfen.
Alles begann mit einem Schulausflug ins Legendtopia (das geschmackloseste Restaurant aller Zeiten). Irgendwann wurde ich von dem Rest meiner Klasse getrennt. Als ich in einen begehbaren Kühlschrank geriet, stieß ich darin zufällig auf eine kleine Holztür.
Und idiotisch, wie ich bin, öffnete ich sie.
Jenseits der Tür entdeckte ich eine andere Welt. Eine Welt, die sich Heldstone nennt. Dort begegnete ich erstmals Prinz Fred. Mit vollem Namen heißt er Prinz Frederick Alexander Blabla-irgendein-Titel-und-hast-du-nicht-gesehen der Vierzehnte. Doch ich nenne ihn einfach Prinz Fred. Ist wesentlich einfacher.
Wie auch immer, der Prinz ist mir zurück in meine Welt gefolgt. Unglücklicherweise aber auch die Zauberin. Sie hat einen schrecklichen Bann gesprochen. Sie hat das Legendtopia in eine Festung des Bösen verwandelt und versucht, die Erde in ihr eigenes finsteres Reich zu verwandeln.
Wir haben es geschafft, die Zauberin aufzuhalten. Als ihre düstere magische Burg um uns herum in Flammen aufging, sind wir haarscharf entkommen.
Rein in den Kühlschrank und schnell durch die kleine Holztür, die Zauberpforte zu Freds Welt.
Jetzt, wo wir hier sind, bin ich guter Hoffnung, meinen Dad wiederzufinden. Er wird irgendwo in Heldstone gefangen gehalten.
So sieht es also aus: Ich stecke in einer fremden Welt, ohne zu wissen, ob ich je wieder nach Hause zurückkehren und ob ich je meinen Dad wiedersehen werde.
Wie gesagt …
Der. Schlimmste. Tag. Meines. Lebens.
Was für ein herrlicher Tag!
Wir haben die Zauberin besiegt. Wir haben ihre Burg zerstört. Und wir haben es durch die kleine Tür geschafft. Die Pforte nach Heldstone. Die Pforte zu meiner Welt. Und nun werden wir auf die aufregende, abenteuerliche Suche nach Karas Vater gehen, um ihn zu retten.
Er hat Heldstone auf die gleiche Weise entdeckt wie Kara: indem er durch einen magischen Kühlschrank herkam. Doch er kehrte nie mehr zurück. Viele Jahre lang wusste Kara nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Jetzt weiß sie es: Er wurde in meiner Welt festgehalten.
Wir werden ihn finden.
Und wir werden ihn in Sicherheit bringen.
Ich lasse meinen Blick durch die Zauberkammer schweifen. Sie war mal die Werkstatt der Zauberin. Wer weiß, was sich hier noch an bösartiger Magie versteckt. Einmal das Falsche angefasst, und schon verwandelt sich deine Hand in einen Käse.
Die Zauberin ist tot, mache ich mir klar. Besiegt durch die Feuerexplosion, die das Legendtopia zerstört hat. Sie ist fort, für immer.
Wieso also habe ich weiter das unheimliche Gefühl, als ob sie noch da ist, als ob ich sie spüren kann? Gerade so, als wenn ich von ihren grausamen schwarzen Augen beobachtet würde.
»Wir sollten gehen.« Meine Stimme überschlägt sich. »Was ich sagen will: Niemand sollte uns hier finden. In der Zauberkammer. Das würde Verdacht wecken.«
Kara nickt. »Ist dein Palast. Geh du vor.«
Als wir die Zauberkammer verlassen, sehe ich mich noch einmal im Raum um. Und genau da bewegt sich etwas am Rand meines Sichtfelds. Ein schwarzer Schatten im äußersten Winkel. Doch als ich den Kopf drehe und genauer hinschaue, ist er schon wieder verschwunden.
Wir eilen den Flur entlang. An den vertrauten Dingen vorbei: einer Porzellanvase mit exotischen Blumen, einem Plüschsessel, in dem nie jemand sitzt, einem Porträt meines Ururururururururururgroßvaters König Frederick des Kühnen.
Kara geht neben mir, die eine Hand zur Faust geballt. Sie umklammert damit einen Gegenstand von unglaublicher Zauberkraft und Bedeutung. Einen Gegenstand, den wir brauchen werden, wenn wir auch nur die geringste Chance haben wollen, unsere Suche erfolgreich zu meistern.
Sie sollte ihn besser nicht verlieren.
In einem goldgerahmten Spiegel erhasche ich einen kurzen Blick auf uns beide. Wir geben ein trauriges Bild ab. Unsere Gesichter sind von Asche überzogen. Unsere Kleidung ist zerrrissen und versengt. Wir sehen aus, als ob wir gerade einen Ringkampf mit einem Feuertroll verloren hätten.
»Hier rein. Schnell.«
Ich reiße eine Tür auf und zerre Kara in einen Waschraum für die Dienerschaft. Zum Glück hält sich gerade niemand in der kleinen Kammer auf.
Kara schaut sich verwirrt um. »Was tun wir hier drinnen?«
»Uns saubermachen.« Ich drücke ihr ein seifiges Stück Stoff in die Hände. »Möglichst bevor die Waschfrau zurückkommt.«
Ich selbst nehme auch eines und beginne zu rubbeln. Sobald ich den Ruß aus Gesicht und Haaren entfernt habe, durchwühle ich die Wäschehaufen, bis ich für uns beide etwas Passendes zum Wechseln gefunden habe.
»Hier.« Ich halte ein Kleid für Kara hoch. »Scheint Eure Größe zu sein.«
Karas Gesicht zieht sich zu einem missfälligen Ausdruck zusammen. »Gibt’s nichts … Normaleres?«
»Das hier ist nicht Örde. Ihr könnt hier nicht in T-Shirt und Keans rumlaufen.«
»Die Dinger heißen Jeans.«
»Ihr seid eine junge Dame. Und in Heldstone tragen Damen nun mal Kleider.«
Kara seufzt und schnappt sich das Kleid. »Okay. Was soll’s.«
Ich ziehe einen Vorhang quer durch den Raum, um ein bisschen Privatsphäre zu schaffen, solange wir uns umziehen. Mein eigenes neues Gewand ist zwar nicht so elegant, wie ich es gewohnt bin, aber zumindest wirkt es nicht wie durch den Ofen gezogen.
Als wir mit Anziehen fertig sind, stopfe ich unsere alten Sachen ganz tief in einen Abfallbehälter. Dann sehe ich etwas, das von einem Haken an der Wand hängt. Eine Damentasche. Die Säume sind mit goldener Seide vernäht und die vordere Klappe dicht mit glitzernden Juwelen besetzt. Doch ein Soßenfleck an einer der Ecken trübt das Bild. Und erklärt, warum so eine teure Tasche im Waschraum ist: Sie soll gereinigt werden.
Ich fische sie vom Haken und halte sie Kara hin. »Die solltet Ihr auch nehmen.«
Sie betrachtet das Accessoire. »Sieht wertvoll aus. Bist du sicher?«
»Ihr könnt nicht die ganze Zeit … das da in der Hand halten.« Ich deute auf ihre geballte Faust. Auf das, was sich, wie wir beide wissen, darin befindet. »Es ist zu wichtig. Was, wenn Ihr es verliert? Was, wenn es jemand hört?«
»Okay. Verstehe.«
Kara öffnet vorsichtig ihre Hand. Ich halte den Atem an, während ich beobachte, was zum Vorschein kommt. Eine kleine silberne Eule an einer Kette. Die weit aufgerissenen silbernen Augen sind leer, blind. Doch die Flügel schlagen wie wild. Auf und ab, auf und ab. Wollen in eine bestimmte Richtung.
Zu Karas Vater.
Jahrelang hat Kara die Eule als Kette getragen. Erst gerade eben hat sie entdeckt, dass der Vogel viel mehr ist als das. Er ist ein Sucher-Amulett. Etwas, das auf jemand anderen geprägt wurde. Karas Vater hat ihr die Eule geschenkt, bevor er nach Heldstone kam. Jetzt dient sie uns als Wegweiser. Unsere einzige Möglichkeit, Karas Vater zu finden.
Kara pflückt die Eule aus der Luft und steckt sie vorsichtig in die Tasche. Als die Kette sicher im Innern verborgen ist, beruhigen sich die winzigen flatternden Flügel.
»Hier.« Ich reiche Kara die Tasche. »Bis auf den kleinen Soßenfleck ist sie perfekt. Verliert sie nur nicht.«
Kara hält die Tasche dicht an die Brust, fast als ob sie ihr Vater wäre. »Da musst du echt keine Angst haben.«
Gerade als wir den Waschraum verlassen haben, kommen zwei Herren um die Ecke. Der eine ist äußerst groß und dünn, mit weißem Haar und der gebeugten Haltung eines Fragezeichens. Der Typ neben ihm erinnert dagegen mehr an einen Punkt. Klein und rund. Sein Kopf ist so kugelförmig und glatt wie eine Murmel.
Auch wenn ich mir sicher bin, ihn noch nie gesehen zu haben, hat Fragezeichen doch etwas seltsam Vertrautes an sich. Sobald er mich entdeckt, weiß ich, er hat mich erkannt. Nicht dass es mich überrascht. Als Prinz wird man immer erkannt.
»Ah, hier seid Ihr!«
Die Stimme von Fragezeichen hallt durch den Flur, während er auf uns zuschreitet. Punkt versucht mitzuhalten und walzt neben ihm her.
Ich beuge mich dicht an Kara heran. »Wir dürfen ihnen auf keinen Fall sagen, dass Ihr aus Örde stammt«, flüstere ich. »Erlaubt mir, dass ich das Reden übernehme.«
»Seid gegrüßt, Prinz Frederick.« Fragezeichen spricht mit tiefer, respekteinflößender Stimme. Einer Stimme, die es gewohnt ist, Diener herumzukommandieren und Armeen zu befehligen. »Es ist mir eine große Ehre, Euch endlich von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen.«
»Auch mir ist es eine Ehre«, antworte ich ausweichend.
Der Punkt-Typ neben ihm versucht eine Verbeugung – gar nicht einfach, wenn man so klein und rund ist wie er. »Meinen demütigsten Gruß, Euer Hoheit. Ich bin Gimothy Hudd, Chefberater der Familie Sturmenburg.«
Sturmenburg. Sobald ich den Namen höre, weiß ich, wo ich Fragezeichen schon mal begegnet bin. Sein Porträt hängt in der Halle der Diplomatie. Genau zwischen zwei Streitäxten und einem an der Wand befestigten Eberkopf.
Er ist Großherzog Nem Sturmenburg.
Die Sturmenburgs sind die zweitreichste und zweitadeligste Familie im Königreich. Ihr Ansehen wird nur vom Königshaus selbst übertroffen. Also von meiner Familie. Die Sturmenburgs beherrschen die Südwestprovinz, eine Region, die bekannt ist für ihre zahlreichen Diamantenminen. Was vielleicht erklärt, wieso der Mantel des Großherzogs von solch ungewöhnlichen Knöpfen zusammengehalten wird.
Riesigen strahlenden Diamanten.
Einer kompletten Reihe von Diamanten.
Seine Kleidung ist wertvoller als ein ganzes Geschwader unserer besten Schiffe.
Der Großherzog hebt eine Augenbraue. »Ich bin froh, Euch gefunden zu haben. Eure Eltern waren schon drauf und dran, einen Suchtrupp auszusenden.«
Mein Magen zieht sich schlagartig zusammen. »Einen Suchtrupp?«
»Sie haben erzählt, dass Eure Diener heute Morgen Euer Schlafgemach leer vorfanden«, sagt Hudd. »Und dass Ihr auch nicht zum Unterricht erschienen seid.«
Ich schaue ängstlich von dem Großherzog zu seinem Berater. Was soll ich Ihnen sagen? Die Wahrheit kann ich wohl schlecht gestehen. Dass ich die letzten vierundzwanzig Stunden weg war, weil ich in eine andere Welt gereist bin, die Pläne der Zauberin durchkreuzt habe und mit einem Ördling zurückgekehrt bin? Die werden glauben, ich habe den Verstand verloren.
»Euer Hoheit.« Der Großherzog späht auf mich herab. »Ich weiß genau, wieso Ihr verschwunden wart.«
Ich erstarre. »Ja?«
»Aber natürlich. Ihr wart beschäftigt, Euch auf den Mondscheinball vorzubereiten.«
Der Mondscheinball. Natürlich. Alle sieben Jahre reisen die Vertreter sämtlicher Regionen des Reichs von nah und fern zum Königspalast, um dem König und der Königin ihre fortwährende Treue zu erweisen. Die ganze Woche ist der Palast von fremden Besuchern und ihrer Dienerschaft überlaufen. Jeden Tag gibt es Paraden, jede Nacht Feste. Alles ist großartig, phantastisch und üppig geschmückt. Außerdem ist der Ball eine wunderbare Ausrede.
»Der Mondscheinball, genau.« Ich stoße ein nervöses Gekicher aus. »Ich dachte, ich helfe einfach ein bisschen. Ihr wisst schon – Gäste begrüßen, Diener herumschicken. An einem Tag wie diesem ist jede noch so kleine Unterstützung hilfreich.«
»Wie edel von Euch!« Hudd versucht, sich noch tiefer zu verbeugen – und fällt dabei fast auf die Nase. »Ihr seid wahrlich der warmherzigste und gütigste Junge von ganz Heldstone!«
Kara verdreht die Augen. Offensichtlich ist sie von meiner Großmut weniger beeindruckt als Hudd.
»Und darf ich fragen …« Der Großherzog wendet den Blick in Karas Richtung. »Wer ist Eure bezaubernde Freundin?«
Ehe ich antworten kann, tritt Kara vor und sagt: »Hi, ich bin Kara.«
Ich zucke zusammen. Hier in Heldstone ist »Hai« ein Fisch, dessen Flossen man isst, aber kein Wort, mit dem man einen Adligen anspricht, der auf Besuch ist.
In den Augen des Großherzogs schwimmen Diamanten. Der Hauch eines Lächelns zuckt in seinen Mundwinkeln. »Einen äußerst seltsamen Dialekt habt Ihr, Kara. Woher kommt Ihr?«
Ehe Kara noch mal ins Fettnäpfchen treten kann, mische ich mich schnell ein. »Sie ist – äh … Sie ist zum Mondscheinball hier. Die Tochter eines Würdenträgers, der zu Besuch ist. Sie sind …« Ich versuche, mich an die entlegenste und unzugänglichste Provinz von Heldstone zu erinnern. »Aus Stonk.«
Der Großherzog neigt den Kopf zur Seite. »Aus Stonk?«
»Genau.«
»Letztes Jahr bin ich gerade durch Stonk gereist. Kann mich gar nicht erinnern, jemand mit so einem Dialekt begegnet zu sein.«
Ich knirsche mit den Zähnen. Wir sind gerade erst angekommen, und schon steht Karas Identität in Frage. Wenn irgendwer rausfindet, dass sie aus Örde stammt, werde selbst ich nicht mehr in der Lage sein, sie zu beschützen. Gelehrte und Zauberer werden aus allen Ecken von Heldstone kommen, um einen Blick auf den Ördling zu werfen. Sie wird eingesperrt, endlos befragt, untersucht und analysiert werden. Als wissenschaftliche Kuriosität. Als Fremde. Sie werden sie nie wieder freilassen.
Die Situation ist schon schlimm genug. Und sie wird noch schlimmer durch das, was Kara als Nächstes vorbringt.
»Prinz Frederick sagt nicht die Wahrheit«, erklärt sie. »Ich bin nicht aus Stonk.«
Mir gefallen die Typen nicht.
Der große buckelige Heini lächelt zu mir runter. Doch es ist kein freundliches Lächeln, sondern ein verhohlenes. Und was hat es mit den ganzen Klunkern auf sich? Er schleppt einen kompletten Juwelierladen mit sich rum.
Und sein Kumpel macht mir noch mehr Angst. Hudd ist klein und rund, hat eine Vollglatze und wirkt mit seinen stechenden rosa Augen wie eine rasierte Ratte.
»Wie könnt Ihr es wagen, den Thronprinzen einen Lügner zu nennen!« Sein Kinn zittert vor Empörung. »Solche Aussagen dürfen nicht ungestraft getätigt werden. Man sollte Euch hängen! Oder enthaupten. Oder –«
»Ist gut, Hudd.« Der Großherzog legt seinem Berater eine beruhigende Hand auf die Schulter. Er trägt zu viele Diamanten an den Fingern, als dass man sie zählen könnte. »Wir sollten nicht zu hart mit dem Mädchen sein. Ich bin sicher, sie hat sich nur falsch ausgedrückt. Ist es nicht so, mein Fräulein?«
Er hebt eine Augenbraue. Das verhohlene Lächeln flattert kein einziges Mal.
Ich atme tief ein. Dann erkläre ich: »Was ich meinte, war nur: Ich bin nicht in Stonk aufgewachsen. Ich bin eigentlich nirgendwo richtig aufgewachsen. Da mein Dad ein Würdenträger ist, reist er viel. Und ich durfte immer mit. Deshalb habe ich so einen merkwürdigen Akzent, nehme ich an.«
Der Blick des Großherzogs wandert langsam von mir zu Prinz Fred und zurück. »Seht Ihr, Hudd? Die junge Dame hat eine absolut überzeugende Erklärung. Und Ihr wolltet sie gleich ohne nachzudenken an den Pranger stellen.«
»Ich bitte um Verzeihung«, antwortet Hudd, auch wenn es nicht sehr nach einer Entschuldigung klingt.
Prinz Fred räuspert sich. »Es war mir eine Freude, Sie beide zu treffen. Doch wir müssen wirklich weiter.«
»Natürlich, Euer Hoheit.« Das geheimnisvolle Lächeln verliert sich kein einziges Mal aus dem Gesicht des Großherzogs. »Ich freue mich sehr, Euch beide heute Abend auf dem Mondscheinball zu sehen.«
Eilig gehen wir weiter.
»Das war eine Katastrophe«, stöhnt Prinz Fred.
Ich schaue ihn an. »Was meinst du damit? Ist doch ganz gut gelaufen, fand ich.«
»Man nennt den Thronprinzen nicht einen Lügner! Es gibt bestimmte Regeln, die Ihr beachten müsst, wenn Ihr Euch bei uns einfügen wollt.«
»Ich bin nicht hier, um mich einzufügen.« Ich zerre energisch an meinem Kleid. »Ich bin hier, um meinen Dad zu suchen. Und wen kümmert überhaupt, was die zwei Schwachköpfe denken? Ist ja nicht so, dass wir lange in deinem Palast bleiben werden. Von mir aus lass uns sofort gehen und nach meinem Dad suchen.«
»Wir können noch nicht weg.«
»Wieso nicht?«
»Weil«, antwortet Fred, »wir am königlichen Ball teilnehmen müssen.«
Mir fällt die Kinnlade runter. »Das Leben von meinem Dad ist in Gefahr, und du willst … tanzen?«
Freds eilige Schritte klacken auf dem Boden, während er spricht. »Es ist nicht irgendein Tanz. Es ist der Mondscheinball. Das größte Fest des Königreichs. Besucher aus ganz Heldstone kommen, um ihre Ehre zu erweisen. Verträge werden unterzeichnet, Bündnisse erneuert –«
»Mir egal, wie groß die dämliche Party ist. Wir haben Wichtigeres zu tun.«
Fred stößt einen Seufzer aus. »Ich muss da hin, Kara. Ich bin der Thronprinz. Wenn ich nicht teilnehme, wird es das ganze Königreich erfahren. Meine Eltern werden eine komplette Armee ausschicken, um mich zu suchen. Wir würden es nicht mal bis hinter die Stadtmauern schaffen.«
Ich durchforste mein Hirn nach einer anderen Möglichkeit. Irgendeinem Schlupfloch. Aber keine Chance, denn als wir um eine Ecke biegen, kommt uns eine Gruppe Mädchen entgegen. Es sind vier, alle ungefähr in unserem Alter. Mit Rüschenkleidern, die Haare perfekt, das Make-up perfekt, alles perfekt.
Als sie den Prinzen sehen, stoßen die Mädchen entzückte Schreie aus. Es ist, als hätten sie gerade einen Popstar entdeckt. Wenn wir in meiner Welt wären, würden sie wahrscheinlich schnell Selfies mit dem berühmten Prinzen machen. Aber wir sind nicht in meiner Welt. Die Mädchen in ihren wallenden Kleidern bauen sich eine neben der anderen auf, als ob sie es für diesen Moment einstudiert hätten.
Die Größte und Hübscheste macht einen Hofknicks. »Euer Hoheit. Welch unsägliche Freude, Euch wiederzusehen. Es ist so lange her.«
»Komtess.« Der Prinz beugt sich vor, um den Handschuh des Mädchens zu küssen. »Wie schön, dass Ihr kommen konntet.«
»Um nichts in der Welt würde ich dieses Ereignis versäumen.«
Auch die anderen drei beeilen sich, Fred angemessen zu begrüßen. Jede neigt sich noch tiefer als die vorige bei ihrem Hofknicks, gefolgt von weiteren Handküssen des Prinzen. Als sie endlich durch sind mit der Handknutscherei und den Komplimenten, bin ich kurz vorm Platzen.
Die Größte schaut jetzt in meine Richtung. Ihre Augen passen perfekt zu dem riesigen Ring an ihrem Finger. Grün und funkelnd.
Und stechend genug, um Schmerzen zu verursachen.
»Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind.« Ihre roten Lippen bilden die Imitation eines Lächelns. »Ich bin Francesca Gravuria Thomasina Ondietta te Xavienne, Komtess der Wrendstone-Provinzen. Und wer seid Ihr?«
»Äh …« Während ich den starren Blick des Mädchens erwidere, komme ich mir plötzlich sehr fade und durchschnittlich vor. Ich versuche mich an das zu erinnern, was der Prinz vorhin gesagt hat. »Ich bin Kara Estrada. Ich komme aus Stonk.«
Das Mädchen neben Francesca zieht ein Gesicht. »Aus Stonk? Ich bin überrascht, dass es Euch gelungen ist, so weit zu reisen. Es heißt, die ganze Bevölkerung von Stonk hat nur einen gesunden Esel, den sie sich alle teilen.«
Zwei der Mädchen müssen sich den Mund halten, um nicht laut loszulachen. Doch nicht Francesca. Sie beruhigt ihre Freundinnen mit einem kurzen Blick ihrer grünen Augen.
»Ich bin sicher, Stonk ist eine faszinierende Gegend«, sagt sie. »Natürlich war ich noch nicht dort. Vater meint, es ist zu gefährlich. Außerdem ist das Wüstenklima schrecklich für meinen Teint.«
Eine ihrer Freundinnen schüttelt heftig den Kopf. »Selbst die Trostlosigkeit von Stonk könnte Eurem Teint nichts anhaben, Francesca!«
»Ich würde alles geben für Euren rosigen Schimmer«, ergänzt eine andere.
Doch Francesca ignoriert die schleimenden Kommentare ihrer Freundinnen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt immer noch mir. »Werdet Ihr auch auf dem Mondscheinball sein, Kira?«
»Kara«, sage ich. »Und – äh … Ich weiß noch nicht, ob ich es schaffe, zu –«
»Ja«, sagt Fred. »Sie wird dort sein.«
Ich werfe dem Prinzen einen bösen Blick zu und versuche, mit den Augen zu kommunizieren, dass ich null Interesse habe, an irgendeinem schicken Ball teilzunehmen. Ich war überhaupt erst einmal in meinem Leben bei einem Tanzabend. Es war das Frühlingsfest meiner Schule in Shady Pines. Meine beste Freundin Macy und ich haben den ganzen Abend bloß verlegen in der Ecke gestanden und versucht, keine Bowle über unsere Kleider zu kippen.
Das Schlimmste war die Angst gewesen. Was, wenn ich eine schreckliche Tänzerin bin? Wie weiß ich, wohin ich meine Hände legen muss? Werde ich einem armen Jungen auf die Füße latschen? Doch im Verlauf des Abends kamen neue Sorgen auf mich zu. Wieso hat mich noch kein Junge zum Tanzen aufgefordert? Verbreite ich schlechte Stimmung? Rieche ich unter den Armen, weil ich vor lauter Nervosität schwitze?
Deshalb, nein … Tanzen ist nicht mein Ding.
Ich bin nicht die Einzige, die enttäuscht ist, dass ich am Mondscheinball teilnehmen soll. So, wie mich Francesca und ihre Freundinnen anstarren, weiß ich, dass sie mich nicht dort haben wollen.
Doch als Prinz Fred die Mädchen ansieht, verwandelt sich ihr Ausdruck schlagartig. Ihre Lippen breiten sich zu einem schmalen Lächeln aus. Ihre zarten Hände umschließen einander in gestellter Begeisterung. Und ihre Stimmen zwitschern wie die exotischer Vögel.
»Wunderbar!«
»Wie aufregend!«
»Ich bin sicher, es wird tausendmal besser als alles, was Ihr in Stonk erleben könntet.«
Francesca zieht ihre funkelnden grünen Augen zusammen. »Ihr müsst einfach mit uns kommen. Wir sind auf dem Weg in den Großen Salon.«
»Oh, nein danke«, sage ich schnell.
»Ich fürchte, das steht außer Frage. Alle jungen Damen werden dort sein. Wir machen uns für den Ball fertig!«
»Schon okay. Echt. Aber ich muss –«
Francesca packt mich am Handgelenk. Ihre Fingernägel graben sich in meine Haut, doch sie strahlt mich dabei an, als wären wir für immer beste Freundinnen. »Ich muss darauf bestehen, in der Tat. Ziert Euch nicht, Kira. Wir werden so viel Spaß haben!«
Ich werfe Prinz Fred einen verzweifelten Blick zu, doch er bringt bloß ein mitleidiges Achselzucken zustande und formt mit den Lippen die Worte: Tut mir leid.
Francesca reißt an meinem Handgelenk. Ihre Freundinnen schlingen mir ihre Arme um die Taille. Die Gruppe umringt mich und führt mich fort von dem einzigen Menschen, den ich in dieser Welt kenne.
Als Kara um die Ecke verschwindet, verknoten sich meine Finger. Sie ist gerade erst in Heldstone angekommen, und schon lasse ich sie aus den Augen.
Aber sie ist zumindest in guten Händen. Ich kenne Francesca schon mein ganzes Leben. Die enge Verbindung unserer Familien reicht Jahrhunderte zurück. Unsere Eltern haben sogar schon von möglicher Heirat gesprochen.
Nicht dass ich an so etwas interessiert bin. Ich habe meinen Eltern unzählige Male erklärt, dass ich mich weigere, über jedwede Form einer arrangierten Heirat auch nur nachzudenken. »Strategische Bündnisse« (Vaters Ausdruck) oder »Familienverpflichtungen« (Mutters Lieblingsbegründung) sind mir egal. Eine Ehe sollte einem nicht aufgezwungen werden wie Nachhilfestunden.
Ich bin sicher, dass Francesca ganz genauso darüber denkt.
Und dass sie Kara wundervoll behandeln wird.
Als ich in mein Schlafgemach zurückkomme, werde ich von einem halben Dutzend Dienern empfangen. Sie stehen da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und bereit, alles zu tun, was ich von ihnen verlange. Es ist ein vertrauter Anblick. Seit dem Moment meiner Geburt war ich immer von Dienern umgeben. Männern und Frauen, die einem – und nur einem – Menschen ergeben sind:
Mir.
»Seid gegrüßt, Euer Hoheit«, sagt der Oberdiener. »Wir haben bereits Euren Aufzug für den Mondscheinball herausgelegt.«
»Wünscht Ihr, dass wir Euch bei der Anprobe helfen?«, fragt ein anderer.
»Oder möchtet Ihr, dass wir Euch erst ein Bad einlassen?«
Ich werfe einen Blick auf die Reihe der Diener. Frische Uniformen, steife Haltung. Sie warten auf mein Kommando.
Ich will ihnen gerade einen Befehl erteilen, halte dann aber inne. Ich räuspere mich. Und als die Worte herauskommen, sind es nicht die, die ich erwartet habe. »Ehrlich gesagt, brauche ich Eure Hilfe nicht. Ich habe beschlossen, dass ich mich heute selber ankleiden werde.«
Ein Anflug von Überraschung blitzt in den Gesichtern der Diener auf.
»Entschuldigung, Euer Hoheit«, sagt einer. »Ich muss Euch missverstanden haben. Es klang so, als hättet Ihr gesagt … Ihr wollt –«
»Ich will mich selber anziehen.« Ich nicke. »Ihr habt richtig gehört.«
Die Diener schauen verstört. Und ich verstehe, wieso. Über die Jahre habe ich gelernt, mich in allem auf sie zu verlassen. Sie sorgen dafür, dass ich korrekt gekleidet, gut gepflegt und gut genährt bin. Geschützt in einer Blase aus Komfort und Gewohnheit. Sicher und geborgen …
Und unfähig, irgendetwas selber zu tun.
All das hat sich geändert, als ich in Karas Welt trat. Während meiner Zeit in Örde gab es keine Diener, die mir die Haare kämmten oder meine Kissen aufschüttelten. Das war oft schwer. Doch ich habe auch etwas erlebt, das ich vorher nicht kannte: Unabhängigkeit. Zum ersten Mal war ich selbst verantwortlich für mein Leben. Und dieses Gefühl hat mir recht gut gefallen.
»Genauer gesagt«, füge ich hinzu, »ich werde Eure Hilfe den ganzen Tag nicht mehr brauchen.«
Die Diener werfen sich verwirrte Blicke zu. Sie sind für Millionen unterschiedlicher Szenarien ausgebildet. Offensichtlich gehört dieses nicht dazu.
Nach einem langen Moment des Schweigens schafft es der ranghöchste von ihnen zu sprechen. »Aber Euer Hoheit? Wer wird dann Eure Stiefel schnüren? Eure Nägel putzen? Und Eure Augenbrauen zupfen?«
»Ich.« Ich strecke die Schultern und fühle mich schon unabhängiger. »Oder – zumindest werde ich es versuchen. Nur so kann man doch lernen, oder?«
»Aber –«
»Das ist alles«, unterbreche ich ihn. »Ihr könnt jetzt gehen.«
Die Diener stehen noch einen Moment da, als wenn sie Angst hätten, das Ganze könne ein raffinierter Trick sein. Aber es wird verlangt, dass sie meinen Befehlen gehorchen. Auch solchen, die sie nicht verstehen. Und schließlich gehen sie der Reihe nach aus dem Zimmer und lassen mich allein.
Oder … fast allein.
Eine kleine pelzige Gestalt tritt hinter einer Kommode vor und kommt in meine Richtung geschlichen. Bereits vom anderen Ende des Schlafgemachs kann ich das Schnurren hören.
»Hallo, Xyler«, sage ich zu dem Kater. »Wie lange bist du schon da?«
»Lange genug.«