Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel «The Name of the World» bei HarperCollins, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2018
Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Name of the World» Copyright © 2000 by Denis Johnson
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Hamburg
Umschlagabbildung: Andrea Völkel/plainpicture
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen
ISBN Printausgabe 978-3-499-27520-3 (Neuausgabe 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00141-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00141-1
Für Cha und Ellie
Seit früher Jugend verbinde ich alles, was mit Universitäten, dem «akademischen Leben», zu tun hat, mit bestimmten Bildern, die mir wahrscheinlich durchs Fernsehen zugetragen wurden, insbesondere durch Filme aus den dreißiger Jahren, die, als ich ein Kind war, ständig liefen, und vor allem mit einer Szene: Rotwangige junge Menschen betreten an einem Herbstabend das Haus eines verehrten Professors und versammeln sich vor dem Kamin. Ich rieche den Rauch des Novemberfeuers in ihren Kleidern und den aromatischen Pfeifentabak des Professors, und ich empfinde die allgemeine, unbefangene Wonne von Jugend, Herbst, von College – die Wonne dieses Lebens. Nicht dass ich dieser Phantasie je erlegen oder auch nur besonders von ihr angezogen gewesen wäre. Nur schloss ich daraus, dass sie irgendwo Wirklichkeit war. Meine eigene Studienzeit erstreckte sich über sechs, sieben Jahre, unterbrochen von Phasen des Geldverdienens und vom Wechsel erst an ein zweites, dann an ein drittes College, und ich erinnere mich an das alles als eine einzige Abfolge von Leistungsnachweisen und Prüfungen. Ich ging nicht zu den Footballspielen. Ich erinnere mich an keine Novemberfeuer. Einige meiner Lehrer beeindruckten mich oder flößten mir sogar Ehrfurcht ein, und ihr Einfluss prägte mich wie alles andere, was mir widerfahren ist, aber nie warf ich in eines ihrer Häuser einen Blick. Dies vorweg, um zu sagen, dass es mich dann doch überraschte, mit welcher Dankbarkeit ich der Aufforderung, an einer Universität zu lehren, folgte.
Als sich die Gelegenheit dazu bot, war ich fast fünfzig. Nach dem Studium hatte ich über ein Jahrzehnt lang an Highschools unterrichtet und in den Sommern meine Promotion vorangetrieben. Eines Tages schrieb ich an einen Präsidentschaftskandidaten, um ihm Tipps in Programm- und Strategiefragen zu geben (es handelte sich um Senator Thomas Thom aus Oklahoma; er schied schon früh in den Vorwahlen aus), und obwohl ich mir nicht hatte vorstellen können, dass Leute, die solche Briefe schreiben, jemals beachtet, geschweige denn beschäftigt werden, verwandelte ich mich im Nu von Mr. Reed, dem Sozialkundelehrer, in Mike Reed, den Redenschreiber, Stabsleiter und heimlichen Beichtvater, und verbrachte beinahe zwölf Jahre in Washington. Ich kündigte, kurz nachdem Senator Thom seine fünfte Amtszeit angetreten hatte. Den Job an der Universität nahm ich an, als meine Buchidee auf Ablehnung gestoßen war – ich hatte mich angeboten, Zeugnis vom korrumpierenden Einfluss der Macht abzulegen, aber offenbar gab es an solchen Zeugen keinen Bedarf.
Also fand ich mich bei den Komparatisten im Gebäude der Geisteswissenschaften wieder, obwohl ich eigentlich Assistenzprofessor für Geschichte war. (Die geisteswissenschaftliche Fakultät hatte man vor langem zugunsten mehrerer größerer Institute aufgelöst; das alte Gebäude beherbergt jetzt Fächer, die beim Kampf um die Etats auf sich gestellt sind, bezuschusste Studiengänge und dergleichen, Projekte, die ihre Fördermittel aufzehren und langsam eingehen. Irgendwie wurde dort auch das Historische Institut angesiedelt.) Ich veranstaltete kleine Seminare, forderte kluge, aber orientierungsbedürftige Studenten zur Lektüre von Büchern auf, die ich schon kannte, und hörte dann zu, wie sie ihre Referate vor dem Rest der Schar zur Diskussion stellten. Mit anderen Worten, ich tat gar nichts. Das hätte einer leuchtenden Zukunft an diesem Ort nicht im Geringsten im Weg gestanden, aber ich kümmerte mich auch nicht um die andere Seite des Tagesgeschäfts, die Sitzungen, den Schreibkram und so weiter.
Vier Verlängerungen waren ungefähr das Limit für diese Art von Stelle, und ich näherte mich dem Ende meiner dritten. Anfang des übernächsten Jahres würden sie mir den Laufpass geben. In der Zwischenzeit machte ich Ferien.
Aber Leute in Positionen wie meiner müssen nach neuen Ausschau halten, weshalb ich mich eines Abends im Haus von Ted MacKey, dem Leiter der Musikhochschule, einfand und dort mit zehn anderen zu Abend aß. Das Drumherum kam der Dreißiger-Jahre-Kintoppversion dieses Lebens nahe: Draußen fiel Schnee auf die nächtliche College-Stadt, die auch noch mit dem Klingeln von Schlittenglocken und den Liedern junger Sternsinger aufzuwarten drohte, während wir drinnen im landsitzgroßen Haus Rumpunsch tranken und um ein warmes Feuer saßen, ein Feuer, das unter dem schimmernden Kaminsims hervor ein changierendes Licht auf Bleiglasfenster, ein antikes schwarzes Teleskop und einen monströsen beigefarbenen Globus warf, von dem ich gewettet hätte, er stellte die Welt dar, wie sie vor langer Zeit gewesen war, aber nie wieder sein würde. Mit anderen Worten, wir tranken Rumpunsch im Ambiente eines hochpreisigen Geschenkeladens. Das bedrückte mich. Es bedrückte mich, obwohl ich an anderen Universitäten und in Washington schon in vielen Häusern wie diesem zum Dinner eingeladen gewesen war und im vorletzten Winter sogar bereits einmal in Ted MacKeys Haus gegessen hatte. Es bedrückte mich vielleicht nicht zuletzt wegen dieses Gedankens, der Vorstellung, dass sich da tausend solcher Gebäude, Fenster an Fenster, über der indifferenten Luft eines weiten, klaffenden Abgrunds aneinanderdrängten, und in jedem einzelnen davon, mit einem Löffel, einem Suppenteller und einem Lächeln, ich.
Das Dinner an diesem Abend fand zu Ehren eines bedeutenden Campus-Besuchers statt, des israelischen Komponisten Izaak Andropov. Aber wie es so geht, hatte er Fieber bekommen und war nicht erschienen.
Ich war hier, um jemanden kennenzulernen, den Leiter einer universitären Pfründe namens Forum für interpretierende Wissenschaft. Die vom Forum hatten Geld. Sie hatten Stellen auf der Assistenzprofessoren-Ebene zu vergeben. Sie hatten Büros, Gehälter, alles. Besser noch, sie hatten keine Verpflichtungen, mussten nicht lehren. Zumindest hatte Ted MacKey das durchblicken lassen, indem er so beiläufig, als müsste ich mir keineswegs im übernächsten Jahr irgendwo eine neue Stelle suchen, darauf zu sprechen gekommen war. Es geschah übrigens dauernd, dass mir Leute, die ich kaum kannte, auf die eine oder andere Weise andeuteten, sie würden mir gern behilflich sein. Ich war das Objekt geballten Wohlwollens – entweder, weil man den Mann, für den ich in Washington gearbeitet hatte, nicht mochte und ich bei ihm gekündigt hatte, oder umgekehrt, weil man ihn mochte und ich für ihn gearbeitet hatte. Jedenfalls bot sich hier eine Chance, meine Ferien um ein, zwei akademische Jahre zu verlängern. Beim Forum tat sich nie etwas, abgesehen von gelegentlichen Vorträgen eines der Gelehrten, meist Emeriti von einer der zehn Spitzenuniversitäten oder so, die, wie schon zu den Zeiten, da Ted MacKeys beigefarbener Globus noch gewusst hatte, was Sache war, ihre Vorlesungsthemen weiter breittraten.
Ich glaube nicht, dass die Gäste einander mehr als flüchtig kannten, trotzdem brauchten wir nicht krampfhaft nach Gesprächsstoff zu suchen, weil Ted MacKey ein kleines Konzert für uns arrangiert hatte. Eine junge Frau spielte Gitarre und eine andere Cello, und danach spielte Teds Sohn, der noch zur Grundschule ging, in Schlafanzug, Bademantel und flauschigen Hausschuhen mit erstaunlicher Gelassenheit die Laute, erkennbar nicht auf seine Finger konzentriert, sondern auf den Gehalt der Musik.
Ich war neben Dr. J.J. Stein platziert worden, dem, der beim Forum für interpretierende Wissenschaft die Fäden zog. Eine Art Schottische Graupensuppe wurde gereicht. Obwohl mir bewusst war, dass ich schon an zu vielen solcher Dinner teilgenommen hatte, störten sie mich, zumal in Universitätskreisen, nicht. Ich fühle mich wohl unter Leuten, die sich in ihrem Umfeld wohlfühlen. In der akademischen Welt, der Welt des Geistes, trifft man viel häufiger als in der Welt der Politik auf Menschen, die sich ihr annehmliches Leben redlich verdient haben, zumindest insofern, als sie die Phasen der Kindheit, die für Gelehrte, helle Köpfe, Intellektuelle so unerfreulich sind, durchstehen und hinter sich lassen konnten. Da sind sie nun, endlich respektiert und abgesichert, während sich die anderen auf dem freien Markt herumschlagen. Dr. J.J. Stein war genau der Mensch, der mir vorgeschwebt hätte, wenn ich mir unser Zusammentreffen vorher hätte ausmalen wollen, ein glücklicher, bärtiger, zur Glatzköpfigkeit neigender Gelehrter. Und prompt setzte er zu einer Erläuterung an, wie ich sie ebenfalls erwartet hätte – erstaunlicherweise müssen einem tiefschürfende Denker stets die Namen erklären, die sie ihren Projekten gegeben haben, weil diese Namen, wenn man sie hört, absolut nichts bedeuten –, etwa warum «Forum» der richtige Begriff sei, warum nur «interpretierend» den Sinn exakt treffe und warum, wenn man die Vielzahl der sprachlichen Möglichkeiten bedacht habe, nur das Wort «Wissenschaft» in Frage komme.
Ich war mir nicht sicher, wie entschlossen ich mich anpreisen durfte, um Dr. J.J.s Erwartung gerecht zu werden, aber zufällig hatte ich da eine Idee, die ich ihm unterbreiten wollte, die Idee zu einem Projekt, das wissenschaftliche Hilfskräfte und mehr als ein Büro erfordern würde, ein möglicherweise fächerübergreifendes Vorhaben, bei dem ein Sammelband mit Beiträgen zum Thema herausspringen mochte, und diese Vision legte ich ihm dar, während er begeistert dazwischenfragte und die Cellistin neben ihm sich einen reizenden Schwips antrank. Mittendrin ließ ich ganz spontan einfließen, dass Dr. J.J. ja das Vorwort zu diesem Sammelband schreiben und das zum Anlass nehmen könnte, sich über sein Forum zu verbreiten. Die Cellistin, eine von Teds fortgeschrittenen Studentinnen, bekundete so etwas wie ironisches Interesse an meinem Plan, stellte ebenfalls Fragen, und ziemlich bald begann sie die Zwischenfragen des Doktors ihrerseits zu unterbrechen, indem sie hauptsächlich, ja beinahe ausschließlich «Ach – wirklich?» sagte. Ein auffallender Rotschopf in einem blauen Samtkleid, so saß sie am Kopfende des Tisches: Mitten beim Essen war sie auf Izaak Andropovs frei gebliebenen Ehrenplatz umgezogen. Ihre elfenbeinfarbenen Wangen und elfenbeinfarbenen Schultern überzogen sich mit Röte, und ihre Stimme bekam ein klangvolles, gefährliches Timbre. Ich weiß nicht genau, warum es so vergnüglich ist, bei einer derart steifen kleinen Veranstaltung einem talentierten jungen Menschen dabei zuzusehen, wie er sich ein bisschen zum Narren macht. Doch als sie die allgemeine Aufmerksamkeit so sehr auf unsere Tischecke zu lenken begann, dass man sich an sie erinnern würde, ahnte ich, dass mein eigenes Geschwafel darüber in Vergessenheit geraten könnte, und es tat mir nicht besonders leid darum.
Nach dem Dessert führte Ted drei oder vier von uns auf einen Austritt über dem Haus. Aus dem zweiten Stock schraubte sich eine Wendeltreppe zu einer Kanzel auf dem Dach empor, einer seltsamen Konstruktion, die einem verglasten Vogelkäfig ähnlich sah, knapp drei Meter im Durchmesser und unbeleuchtet, sodass unsere kleine Schar unversehens in der Nacht stand und im Himmel. Es hatte aufgeklart, der Schnee war vom Glas geweht, und nun waren Sterne und vom Mond beschienene, dekorative Wolken am schwarzen Firmament. «Früher war das mal so eine Art Witwensteige», erklärte Ted, «aber wie ihr seht, ist es in – na, ich weiß, ehrlich gesagt, auch nicht, in was es eigentlich umgebaut worden ist. Ich führe Gäste nur deshalb hier herauf, weil ich rauskriegen will, ob es irgendeinem erkennbaren Zweck dient.» Den Zweck erkannte keiner von uns. Schließlich wurde ich mit dieser Frage und einer Frau namens Heidi Franklin, einer Kunsthistorikerin, dort oben allein gelassen. Einer freundlichen, aber unbeholfenen Frau, steif und der Verzweiflung nah – einer unscheinbaren Frau, was ich wohl sagen darf, weil ich selbst unscheinbar bin, dazu älter als sie, also war ich schon vor ihr unscheinbar. Ich bin puttenhaft, babygesichtig und über fünfzig, obwohl ich für Jahre jünger gehalten werde, mit lustigen blauen Augen, und eben deshalb unscheinbar. In der funkelnden Dunkelheit sprachen wir sehr leise, wahrscheinlich über die Sterne. Vielleicht hätte Heidi noch Lust auf einen Schlummertrunk in der Stadt gehabt, vielleicht auch ich. Dass keiner von uns sozusagen den Finger auf die Waagschale legte und sie in diese Richtung neigte, lag an der Ahnung, die uns vermutlich beide, mich aber ganz gewiss beschlich, dass wir mit Absicht dort oben zurückgelassen worden waren. Wenn ich sie gefragt hätte, hätte ich womöglich erfahren, dass sie allein lebte, so wie ich, oder noch schlimmer, dass sie sich kürzlich hatte scheiden lassen, so wie ich kürzlich Witwer geworden war.
Wenn ich kürzlich sage, meine ich das nicht so, als hätte ich mir kürzlich ein Auto gekauft oder wäre kürzlich im Kino gewesen. Ich spreche davon, wie ich von einem kürzlich eingetretenen Klimawechsel oder von einem kürzlich ausgebrochenen Krieg sprechen würde, von einem kürzlich – das ist hinreichend klar, denke ich. Es war beinahe vier Jahre her, lange genug, um mich wieder verfügbar zu machen. Jedenfalls schienen andere das zu glauben, und ich hätte es nicht bestritten.
Als irgendwie feststand, dass der Abend gelaufen war, brachen alle Gäste zusammen auf, und diejenigen, die fuhren, ließen ihren Wagen an und saßen darin mit offener Tür, während alle sich noch einmal voneinander verabschiedeten. Hier und da im Nadelgehölz fielen Klumpen Schnee, an den Zweigen zerrend, von Ast zu Ast zu Boden. Wir hatten uns alle mit Mütze und Schal vermummt, alle außer der Cellistin, die mit unbedecktem Kopf herumlief und ihren Mantel über der Schulter trug. Im fluoreszierenden Licht der Peitschenlampen am Straßenrand sah sie gespenstisch aus, ihr blaues Samtkleid plötzlich trauerschwarz. Ich hörte sie drei Worte sagen: «Lahm? Oder zahm?» Ihr volles rotes Haar leuchtete violett, ihre großen blauen Augen wirkten unecht, nicht-menschlich, ihre Lippen standen auffällig hervor. Sie sprach mit ihrem Tischherrn, blendete vollkommen aus, dass der Rest von uns existierte, der alternde Rest von uns, der lahme oder zahme Rest von uns. Vielleicht weil sie betrunken war und so achtlos gegen sich selbst, fühlte ich mich sehr zu ihr hingezogen, war froh über ihre Anwesenheit.
«Tut mir leid, dass wir vorhin so vom Thema abgebracht worden sind», sagte J.J. Stein zu mir, als wir aufbrachen. «Kommen Sie uns doch mal besuchen. Schauen Sie einfach vorbei. Dann zeige ich Ihnen das Forum.»
«Prima. Sehr gern.»
Ted MacKey, ein hochgewachsener, elegant ergrauender Mann, stand, beide Hände zum Abschied erhoben, in der bernsteinfarbenen Wärme hinter dem Fensterglas. Der erste Eindruck von ihm täuschte ziemlich. Im Verlauf des Winters lud er mich noch zu einer Reihe weiterer, weit weniger förmlicher Treffen bei sich zu Hause ein, und es stellte sich heraus, dass er ein Hipster war, ein begabter Trompeter, der Beziehungen zu allerlei welterfahrenen, wortkargen, sanften Jazz-Musikern vom oberen und unteren Lauf des Mississippi unterhielt, die sein Essen aßen, seinen Schnaps tranken und mit ihm in Trios oder Quartetten improvisierten. Kein bisschen herablassend, muss ich dazusagen, sondern einfach nur geehrt, mit ihm zu spielen, diese Männer, bisweilen auch Frauen, die ihre Seele durch ihre Instrumente sprechen ließen und sich darüber hinaus, wie ich bemerkte, nur durch ein Neigen des Kopfes, ein Schulterzucken oder ein leichtes Senken der Lider mitteilten.
Genau das war auch Ted MacKeys Stil. Aus dem Zusammenhang gerissen, hatte er professoral gewirkt. Und wie die Leute Ted falsch einordneten, neigten er und unsere Kollegen dazu, mich falsch einzuordnen. Ich war als ein Mann, der unter Schock stand, zu ihnen gekommen, der Politik überdrüssig und damals frisch, im Gegensatz zu kürzlich, verwitwet. In den vier Jahren unserer sehr flüchtigen Bekanntschaft hatte Ted meine anhaltende Lähmung als Distanziertheit, vielleicht als Ironie gedeutet. Ich war hip, ich war beat. Ich hätte jederzeit mit Chet Baker dort sitzen können, wenn ich ein Instrument beherrscht hätte. Was meine Historiker-Kollegen betrifft, so verwechselten sie meine Betäubung mit Furcht. Sie schauten mich an und sahen einen J. Alfred Prufrock – schauten mich an und sahen sich selbst.
Die Treffen bei Ted waren eine Art Erholung. Nicht nur von den Sitzungen und dem einen oder anderen grauenhaften Dinner mit den Marionetten, zu denen wir Angestellten des Historischen Instituts uns gemacht hatten, sondern auch von der Trostlosigkeit meines vierten Winters dort. Die einen Monat langen Weihnachtsferien waren eine Strafe für das Institut. Ich blieb wie jedes Jahr in der verlassenen College-Stadt, und als der Studienbetrieb wieder losging, schien es, als hätte sich jeder einzelne Kollege über die Ferien irgendein furchtbares Leiden zugelegt. Clara Frenow, die Geschäftsführerin des Fachbereichs, hatte nach einer Krebsdiagnose mit der Chemotherapie begonnen. In derselben Zeit fiel unser einziger farbiger Kollege, der einzige auch mit so etwas wie einer Persönlichkeit, ein beinahe pathologisch hochbegabter Westinder namens Tiberius Soames, der seine großen Einführungsvorlesungen mit so viel Aplomb hielt, dass sich die Zahl der Studenten mit Hauptfach Geschichte seit seiner Ankunft verdoppelt hatte, plötzlich in ein tiefes psychisches Loch und musste mit einer schweren Depression in die Klinik. Zwei Wochen nach der Winterpause war er zurück, geschwächt und verstört gab er eine qualvolle Imitation seiner selbst. Andere litten unter anderen Malaisen: ein Sohn wegen Drogenmissbrauchs verhaftet, ein Sommerhaus samt Familienerbstücken bis auf die Grundmauern abgebrannt, ein Lehrbuchvertrag wegen einer Schreibblockade aufgelöst und Ehekrach bei einem jungen Paar, das sich eine volle Stelle teilte.
Ich selbst machte weiter wie seit Jahren. Wo ich eingeladen war, tauchte ich auf. Ich las viel in der Bibliothek. Ich ging allein ins Kino. Ich sah den Schlittschuhläufern auf dem Campusteich zu. Erheblich häufiger, als ich hätte öffentlich eingestehen mögen, führte ich imaginäre Gespräche mit einem Mann namens Bill, in denen ich seit dem Tod meiner Frau und meiner Tochter das ewig gleiche Terrain abschritt. Während ich wie gelähmt oder distanziert herumlief, rasten meine Gedanken, wie Hunde, die hinter einer Hasenattrappe herhetzen, permanent im Kreis.
Vielleicht kamen mir die jungen Schlittschuhläufer deshalb so zufrieden vor, selbst an den kältesten Tagen. Solange es hell war, glitten auf dem sogenannten Mittelcampus zwischen dem Juristischen Seminar und dem Institut für Sozialwissenschaften ein Dutzend bis einhundert Jungs und Mädchen über einen durch ein Geländer eingefassten Teich mit einer winzigen, nicht zu erklimmenden Insel in der Mitte, einer monolithischen Felseninsel mit einer Skulptur auf dem höchsten Punkt – Formen aus rotem Blech. Alle fuhren in derselben Richtung. «Teich» trifft es vielleicht nicht richtig. Mir wurde erzählt, das Wasser sei kaum zwanzig Zentimeter tief. Ein Spiegelpool, nehme ich an, etwa doppelt so groß wie ein Footballfeld. Es gab immer ein paar wacklige Anfänger, die sich am Geländer festhielten, aber meist saßen die jungen Studenten an der steinernen Einfassung des Teiches, um sich die Schlittschuhe anzuziehen, standen dann auf und traten mit einem langen, geübten Schritt auf ein unsichtbares Karussell. Das sah nicht mühevoll aus. Denen entkam kein Hase. Sie liefen endlos im Kreis, aber sie hetzten nichts hinterher.
Oft aß ich in einer Cafeteria im Keller des Juristischen Seminars zu Mittag und ging danach am Rand eines Radwegs um den Mittelcampus, blieb stehen, um den Schlittschuhläufern zuzusehen, bis mich die Kälte zum Weitergehen zwang, am Teich und am Naturwissenschaftlichen Kolleg vorbei zum Kunstmuseum. Und genau das tat ich zufällig auch am 20. Februar, dem vierten Jahrestag des Unfalls, der mir meine Familie genommen hatte. Ich sah den Schlittschuhläufern zu, und dann besuchte ich Bill, den Mann, mit dem ich, wie schon erwähnt, in meiner Phantasie so freundschaftlich verkehrte.
Die Freundschaft existierte nur in meiner Einbildung, Bill jedoch nicht. Ich sah ihn ein- oder zweimal die Woche. Er arbeitete im Kunstmuseum. Ich ging mir dort oft eine bestimmte Zeichnung ansehen, und Bill war der Wärter, der sich meist in der Nähe aufhielt, in blauen Hosen und einem weißen Hemd mit einem Schildchen auf der Brust, auf dem sein Name stand: W. Connors. Einmal stellte ich mich ihm vor, und er nannte mir seinen Vornamen. Ein Schwarzer, ungefähr Ende vierzig.
Dass mich diese Zeichnung derart berührte und ich ständig zu ihr hinging, ja mich regelrecht nach ihr sehnte, müsste, so meinte ich, einem Menschen wie ihm einleuchten, der genügend Zeit in ihrer Gegenwart verbracht hatte, um von ihrer Botschaft durchdrungen, vergleichbar durchdrungen zu sein, zwar vielleicht ohne die Komplizenschaft von Museumsgängern, aber doch durchdrungen. Deshalb empfand ich eine Verbundenheit mit Bill – eine illusorische Verbundenheit, ähnlich der seltsamen, schockierenden Vereinigung, wie man sie mit einer Gestalt erlebt, die einem unversehens das Gesicht zuwendet, während man in einer Bahn an ihr vorbeihuscht – man existiert für sie in einem Rahmen, so wie sie für einen selbst in einem Rahmen existiert –, und beide blicken von jeweils verschiedenen Seiten auf denselben Rahmen, Sie verstehen mich schon, in einem Moment, der mit einem Wimpernschlag kommt und geht, sich aber nie verändert, mit anderen Worten: in einem Bild. Jedenfalls liebäugelte ich mit dem Gedanken, dass wir etwas teilten, dieser Bill Connors und ich, dass wir beide von dem, was in ein und demselben Rahmen vor sich ging, gefesselt waren.