Christina Klein
Roadtrip mit Emma
1 Van, 2 Verliebte und 40000 Kilometer
bis ins tiefste Sibirien
Knaur e-books
Christina Klein, 1992 in Sibirien geboren, kam als Kind nach Deutschland. Nach ihrem Studium beschloss sie, sich gemeinsam mit ihrem Freund Paul auf die Suche nach ihren Wurzeln im tiefsten Sibirien zu machen. Bis zu ihrem nächsten Roadtrip lebt die passionierte Köchin und Café-Betreiberin abwechselnd auf einem Bauernhof in Brandenburg und in Berlin.
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2019 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Nadine Lipp
Covergestaltung: Isabella Materne
Coverabbildung: Christina Klein
Bildnachweis: Alle Fotos im Innenteil aus dem Archiv
von Christina Klein und Paul Nitzschke
Karten: Computerkartographie Carrle unter Verwendung von
Shutterstock.com: dikobraziy und KuKanDo
Bus: Vector/Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45613-2
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Ich bin Emma. Ein Mercedes 407D, geboren 1986. Unter Fachleuten werde ich auch gerne Düdo genannt. Für mein Alter bin ich schon ein Oldtimer, und manchmal fühle ich mich auch so. Etwa wenn ich eine kleine Roststelle habe oder beim Fahren ab und zu quietsche. Aber solange man mich liebevoll pflegt und mich nicht in einer Scheune vergisst, werde ich auch noch die nächsten dreiunddreißig Jahre auf der Straße unterwegs sein.
Vor etwa sechs Jahren hat Paul mich aus meinem Schlaf geweckt. Ich war früher als Fahrzeug fürs Technische Hilfswerk im Einsatz, bis mich ein Bauer erwarb und als Transporter für seine Kälber nutzte. Doch mein wahres Potenzial hat erst Paul aus mir herausgeholt. Er baute mich innerhalb eines Jahres mit viel Liebe zu einem kleinen, gemütlichen Zuhause um. Mit allem, was dazugehört. Einem großen Bett, das tagsüber zu einer Sitzecke umfunktioniert wird, und einer kleinen Küche mit Waschbecken und Gasherd. Sogar eine Dusche und eine Markise sind an meinem Dach befestigt. Ich bin bereit, die Welt zu erkunden, solange mich meine Räder tragen. Eine schönere Berufung hätte ich mir nicht vorstellen können.
Es ist zwei Uhr morgens. Ich liege im kalten Bett. Verstecke meine Nase unter zwei dicken Daunendecken. Es ist bitterkalt auf dem brandenburgischen Land. Draußen sind null Grad, in dem Dachgeschosszimmer, in dem ich schlafe, sind es ganz sicher weniger als fünfzehn. Meine Augen fallen zu. Mein Körper konzentriert sich darauf, die etwa siebenunddreißig Grad Körpertemperatur zu halten, doch meine Kraft hat mich für heute schon verlassen.
Ich schaue neben mich, die Bettseite zu meiner Linken ist leer. Paul steht noch draußen und baut an unserem zukünftigen Zuhause. Unserem Haus auf Rädern. Woher er wohl diese Motivation nimmt? Meine Motivation jedenfalls ist auf dem Tiefpunkt. Arbeiten, Uni, Camper bauen, ausziehen, Bürokratiestuff erledigen, alles zusammen ergibt eine anstrengende Mischung. Die letzten Wochen sahen wie folgt aus: aufstehen, wenn es fürs Duschen nicht reicht, schnell Trockenshampoo ins Haar, dann Uni, Architekturstudium. Linien ziehen, Wände verschieben, passt nicht, wieder Wände schieben. Zwischendurch Facebook, Instagram, was essen. Linien ziehen, Facebook, Instagram. Dann die letzte Bahn nehmen und schlafen. Tag für Tag. Der Energydrink wird zum täglichen Muss und das schnelle Schawarma-Sandwich zu meinem besten Freund.
Wenn die Architektur nicht meine Zukunft wäre, hätte ich das wohl keine zwei Wochen durchgehalten. Aber ey, schon ganze fünf Jahre ziehe ich das durch, und so kurz vor dem Ziel ist aufgeben keine Option. Der Master ist zum Greifen nah, und unsere große Reise kommt auch immer näher. Durchhalten.
Wenn ich nicht in Brandenburg beim Umbauen von Emma mithelfe, findet mein Alltag in Berlin statt. In dem aufregenden Berlin, von dem ich momentan absolut nichts mitbekomme. Denn das da draußen sind die anderen. Nicht ich. Die anderen fahren Freitagabend zu Freunden mit einem Bier in der Hand. Ich fahre nach Hause, um mich in mein friedliches Bett zu legen. Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist die U-Bahn. In ihr sitze ich Tag für Tag. Kenne jeden bettelnden Obdachlosen. Jede stinkige Haltestelle. Die trostlosen Gesichter der Passagiere. Von Neukölln bis in die Uni nach Wedding sind es ganze vierzig Minuten. Fast zwei Stunden tägliches soziales Überleben. Ich sitze auf dem rot-blauen Camouflagemuster. Mit meinen schwarzen Klamotten sondere ich mich von der Sitzfläche ab so wie alle anderen in Berlin. Schwarz ist die Lieblingsfarbe der Berliner. Gerne melancholisch wirken, nicht zu fröhlich sein und auf keinen Fall zufrieden aussehen. Der Boden der U-Bahn ist übersät von festgetretenen Kaugummis. Man muss genau hinsehen, um sie zu erkennen. Auf dem grau melierten Laminat fallen sie kaum auf.
»Yallah, yallah!«, höre ich jemanden beim Einsteigen rufen. Ich blicke zu ihm auf. Ein Mann um die dreißig mit kurzen schwarzen Haaren und einem sehr akkurat rasierten Bart. Er drängelt sich an den anderen Passagieren vorbei. Er wirkt etwas genervt und hektisch. Während er sich durch die U-Bahn schlängelt, um einen Platz zu finden, kann ich nicht aufhören, ihn anzustarren. Wo kommt er wohl her? Wie ist er in Berlin gelandet? Ist es diskriminierend, wenn ich bei seinem Erscheinungsbild denke, dass er Ausländer ist? Sein Gesicht erzählt eine Geschichte. Ich würde nur zu gerne genauer wissen, was für eine. Ich lasse meinen Blick weiterschweifen und sehe mir die Personen im Bahnabteil an. Keine gleicht der anderen. Wo sie wohl alle herkommen? Das blonde Mädchen mit den hochgezogenen Socken oder der attraktive große Mann mit den zerrissenen Jeans. Welchen Ort oder welche Gegend würden sie als ihre Heimat angeben? Berlin? Das Vogtland? Oder ein Land im Fernen Osten? Was würde ich antworten, wenn man mich fragen würde? Würde ich Deutschland-Bayern-Unterfranken sagen oder doch Russland?
Diese Frage begleitet mich, seit ich denken kann, seit ich in Deutschland lebe. Meine Vorfahren waren Deutsche, die in Russland lebten. Sie sind eines Tages ausgewandert, um Hunderte Jahre später wieder einzuwandern. Wir sind als sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, doch die russische Zeit wiegt schwer. Sie hat sich wie ein Schleier über das Leben gelegt. Er bestimmt, wie dich jemand ansieht und wie du andere siehst. Wie du fühlst und denkst, wie du tanzt und dich in der Welt bewegst. Was dich zum Weinen bringt und was dich krümmen lässt vor Lachen. Die Zeit lässt den Schleier immer dünner und dünner werden. Doch er bleibt. Er lässt sich niemals endgültig abstreifen. Ich kann nicht sagen, ob ich deutsch oder russisch bin. Ich bin etwas dazwischen. Immer dazwischen zu sein lässt einen nachdenklich werden.
Als wir 1995 ausgewandert bzw. wieder eingewandert sind, ließen meine Eltern alles, was sie hatten, zurück. Allein mit uns Kindern im Gepäck ging es in ein fremdes Land. Sie waren Deutschrussen. Jedoch war zu dem Zeitpunkt absolut nichts Deutsches an ihnen. Der deutschen Sprache nicht mächtig, mussten sie sich ein neues Zuhause aufbauen. Ein neues soziales Umfeld erschaffen. Ich weiß noch, als ich mit meiner Mutter zum Metzger gegangen bin. Es war Herbst. Herbstzeit war die Zeit, um Wurst zu machen. Dafür setzten sich meine Eltern ein ganzes Wochenende lang in die Küche, mit einer Flasche Wodka bewaffnet, und kochten Schweineohren, Füße und Leber. Diese wurden durch den Fleischwolf gejagt, um dann in echten Darm gestopft zu werden. Den Darm mussten wir uns extra beim Schlachter besorgen.
»Sechs Meter Magen, bitte«, forderte meine Mutter ganz selbstverständlich.
»Magen? Sechs Meter? Was soll das für ein Tier sein?«
»Na Schwein. Ich brauche für Wurst«, sagte meine Mutter, »zum Stopfen.«
Der Metzger begriff so langsam, was meine Mutter von ihm wollte. Er ging nach hinten, verschwand für eine Weile und kam mit einer kleinen Tüte voll Darm zurück. Meine Mutter zahlte zufrieden.
Ach, Mamuschka. Als Kind hatte ich von da an das Problem, Magen und Darm zu unterscheiden. In der Tiefkühltruhe hatten wir dann Vorräte, um mindestens den ganzen Winter über unsere eigene Wurst zu verspeisen. Eier mit Wurst. Kartoffeln mit Wurst. Pausenbrote mit selbst gemachter Wurst. Letzteres machte bei den anderen Kindern in der Schule keinen besonders coolen Eindruck. Wenn ich die Alufolie von meinem Wurstbrot abnahm, wanderten alle Augen zu mir und schauten fragend, was für ein ekliger Knoblauchgeruch das sei.
Während ein anderer ekliger Geruch mir in der U-Bahn in die Nase steigt, knallt mir eine leere Flasche Bier bei jedem Stopp an einer Haltestelle gegen die Sneakers. Ich werde aus meinen Tagträumereien gerissen. Ich würde die Flasche gerne zur Seite schieben oder, besser noch, ein gutes Vorbild sein und die Flasche aufheben und bei der nächsten Gelegenheit neben einem Papierkorb abstellen, damit sie ein Pfandsammler mitnehmen kann. Aber selbst dafür reicht meine Kraft momentan nicht aus. So lasse ich die Flasche die nächsten acht Haltestellen immer und immer wieder gegen meinen Fuß rollen. Fast schon angenehm. So komme ich nicht in die Versuchung, meine Augen zu schließen und die Haltestelle zu verschlafen. Aber bald ist es vorbei. Bald ist ja Mai. Dann ist die Wohnung abgegeben, der Master abgeschlossen, und wir sitzen beseelt in unserem orangen Bus Richtung Ferne. Der Gedanke an den baldigen Aufbruch in die Freiheit lässt mich in einen tiefen Schlaf fallen.
Am nächsten Morgen versuche ich meine letzten Kräfte dafür zu nutzen, mich in meine Arbeitsklamotten zu zwängen. Paul steht schon draußen in der Kälte und schraubt. »Dieser Verrückte«, denke ich. Es ist Samstagmorgen und mitten im Februar. In einem kleinen Dorf in Brandenburg namens, wie passend, »Klein Mutz« befindet sich der Hof von Pauls Eltern. Ein alter Vierseitenhof mit Scheunen aus Klinker, die jetzt als Ferienwohnungen dienen. Der perfekte Ort, um dem Stadtgetümmel zu entfliehen und um ganz in Ruhe am Camper zu werkeln. Dieser Samstag zeigt sich von seiner besonders eisigen Seite. Die kurzen Tage zwingen uns zu einem enormen Tempo. In ein paar Stunden wird es schon wieder dunkel, und die Sonne verschwindet dann langsam hinter dem altersschwachen Schuppen. In ein paar Minuten ist sie nicht mehr zu sehen, und die Kälte legt sich wie ein frostiger Schleier über den gesamten Hof. Dann werden aus zwei Grad gefühlte minus fünf, und die Hände gefrieren zu steifen Klumpen. Ich ziehe mir noch ein zweites Paar Socken an, bevor ich in meine Stiefel schlüpfe. Als ich aus dem Haus trete, sinkt meine Arbeitsmotivation gegen null. Jetzt macht mir nicht nur meine Müdigkeit zu schaffen, wegen der zusätzlichen unerträglichen Kälte wünsche ich mich erst recht ins Bett zurück.
Ich laufe über den Hof zum Camper. Es brennt ein kleines Licht in der Werkstatt. Ich höre schon den Akkuschrauber von Weitem dröhnen, bevor ich Paul erreiche. Er versteckt sich im vollgestellten Wagen zwischen all dem Holz und befestigt die Schranktür der Küche. Als ich laut nach ihm rufe, dreht er sich zu mir um. Erschöpft sieht er aus. Unter seinen Augen haben sich tiefe, dunkle Ringe gebildet. Sein Bart ist lang und wirkt ungepflegt. Er wischt sich die laufende Nase mit seinem schmutzigen Ärmel ab und schaut mich ganz entmutigt an. Die Tür passt nicht.
Du hast dich beim ersten Mal verschnitten und die Löcher für die Scharniere falsch gesetzt. Für den zweiten Anlauf war nicht mehr genug Holz da. Nun werkelst du an dem ersten Fehlversuch rum und gibst dein Möglichstes, um wenigstens einen Punkt auf der heutigen To-do-Liste abzuhaken. Am liebsten würde ich dich jetzt in meine Arme schließen und dir den ganzen Druck von den Schultern nehmen. Aber dafür ist keine Zeit. Mein Ziel für heute sind die Mosaikfliesen in der Küche. Die kleine Camperküche soll aus einer Arbeitsfläche zum Hochklappen, aus einem Wasch- und Spülbecken und einem Herd bestehen. Im Bereich des Beckens und des Gasherdes muss die Fläche mit kleinen schwarzen Mosaikfliesen bestückt werden. Während ich den Mörtel für die Fliesen anmische, schweifen meine Gedanken ab.
Ich sehe Paul im Klub vor mir stehen. Wie er mich mit großen Augen anschaut. Das Licht so schräg, die Musik so laut. Es sind nun fast genau zwei Jahre her, dass wir uns kennengelernt haben. Es begann mit einer Dating-App.
Nein. Nein. Hm. Nee. Next. Nope. Ach, der vielleicht. Weiter. »Du hast ein Match mit Paul« erscheint groß auf meinem Handydisplay. Wer war noch mal Paul? Ach ja, der mit dem schwarz-weißen Foto. Weiter. »Hallo« zeigt mir Tinder an. Eine Nachricht von Paul. »Hallo« schreibt er. Mehr nicht. Ich schaue mir seine Fotos noch einmal an. Irgendwie nicht mein Typ, denke ich und gehe zurück zur allgemeinen Fleischbeschau. Ich muss ja nicht antworten. Mit einem Wisch sind sie weg. Wisch und weg. Weg auch jegliche Toleranz, Persönlichkeit, Selbstachtung und die eigene Würde. Hier zählt nur der erste Eindruck. Manchmal sogar die erste Emotion, die aufkommt. Ich lasse Pauls »Hallo« unbeantwortet. Wer hätte da schon ahnen können, dass das von Tinder groß angekündigte »Any swipe can change your life!« mein Leben wirklich auf den Kopf stellen und es um 180 Grad drehen würde.
Zwei Wochen später begegne ich Paul im Kater, einem Berliner Klub. Als ich ihn im Vorbeilaufen sehe, rattert es in meinem Kopf. Mein Gehirn scrollt alle meine Matches durch. All die fremden Männer, die unverbindlichen Nachrichten. Wie bei einem einarmigen Banditen. Man zieht an ihm, und das Glück nimmt seinen Lauf. Kirsche, Kirsche, Paul. Nun kann ich sein Gesicht zuordnen. Ihn in Person und im echten Leben vor mir zu haben lässt mich gar nicht mehr so abgeneigt sein, ihn kennenzulernen. Nun habe ich eine Mission. Ich gehe auf ihn zu und erkläre ihm, dass wir doch ein Match auf Tinder hatten, ich aber leider auf seine Nachricht nicht geantwortet habe. Er sieht mich erstaunt an, und ich kann ganz genau sehen, wie sein einarmiger Bandit im Kopf anfängt zu rattern. Nur leider macht es bei ihm nicht »Jackpot«. Wir gehen trotzdem zusammen an die Bar in der Hoffnung, dass der Alkohol schon sein Übriges tun wird.
Betrunken vom Alkohol und der Nacht und den bunten Lichtern, kommt ein Gefühl der Wärme auf. Ich spüre, dass dieser Mann mir großen Ärger bereiten wird. Dass er große Veränderungen in mein Leben bringen wird. Ich spüre, dass es was ganz Besonderes wird.
Zwei Monate später erzählt er mir von seinen großen Plänen. Er möchte gerne verreisen, nicht nur für ein oder zwei Monate, nein, für ein ganzes Jahr oder mehr. Sogar vom Auswandern spricht er. Aussteigen aus dem Alltagsleben und von unterwegs arbeiten, komplett unabhängig sein.
Als diese Zukunftspläne auf den Tisch kommen, sehe ich schon den schmerzhaften Abschied vor mir. Ein Mann mit großen Träumen und Fluchtgedanken. Ich ärgere mich darüber. Wieso passiert mir das jetzt? Ich hatte doch schon unsere 08/15-Zukunft vor uns gesehen. Eine gemeinsame Wohnung, am Wochenende Freunde treffen, abends nach der Arbeit gemeinsam essen. Faul und zufrieden vom Leben werden. Gemeinsam. Doch dann kommen meiner Vision seine Ideen und sein Wunsch nach Freiheit in die Quere, und plötzlich stelle ich alles infrage. Unsere Beziehung, meine Zukunft, das Leben, das sich andere für mich vorgestellt haben.
Für Paul ist es keine Option, das Leben zu verschlafen. Ich für meinen Teil habe nie etwas lieber getan, als Tage, Wochen, Monate zu verschlafen. Für Paul stand auch immer schon außer Frage, ein Leben wie alle anderen zu führen. Für mich war es das Normalste der Welt, zu denken, dass alle anderen das richtige Leben führen.
Ich habe mir nie groß Gedanken um meine Zukunft gemacht. Es wird schon kommen, wie es kommt. Wie es halt auch die letzten fünfundzwanzig Jahre gewesen ist. Ich hatte nie großartig geplant. Klar, ich hatte genug von dem Kleinstadtleben und dem Kleinstadtdenken, deswegen ging ich zunächst nach Erfurt, dann nach Hamburg und schließlich nach Berlin.
Sobald man aber in Berlin ist, merkt man, dass man die Kleinstadt, die in einem drinsteckt, nicht wegkriegt. Zwischen all den alternativen Leuten fühlt man sich erst recht wie eine Landpomeranze.
Aber was will ich eigentlich? Paul hält mir mit seinen Zukunftsplänen und seinen Vorstellungen vom Leben ständig den Spiegel vor. Er weiß, was er will. Ich dachte immer, dass ich es auch weiß. Aber als ich anfing, darüber nachzudenken, wie meine Zukunft wirklich aussehen soll, wusste ich es nicht mehr. Nimmt man nämlich seine Familie, jegliche Vertrautheit und Sorglosigkeit einer sich nach den Gesetzen der Logik aufbauenden Zukunft und die Geschichten, die andere vom Leben erzählen, heraus, was bleibt dann? Ist das dann der eigene Wunsch?
Ich fing an, mir immer mehr Gedanken darüber zu machen, wohin ich will. Wo ich in zehn Jahren sein möchte. Und es kam immer mehr Unsicherheit in mir auf. Aber nur weil ich nicht weiß, wie meine Zukunft konkret aussehen soll, bedeutet das, dass ich den Traum anderer leben soll?
Innerlich drehte ich schon langsam meine Gefühle zu Paul auf Sparflamme. »Das hat doch keine Zukunft«, dachte ich mir. Als verzweifelte Strohwitwe in Berlin sah ich mich nicht, und so war nur noch das Ende der Beziehung ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma. Doch so rational, wie ein Mensch fühlt, so rational handelt er auch – nicht. Ich ließ es einfach laufen. In der Hoffnung, dass Paul seine Pläne über Bord werfen und doch bei mir bleiben würde, in Berlin und bei seinen Freunden. Doch es kam alles anders. Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr liebäugelte ich mit seiner Vorstellung von der Zukunft.
Um mit Paul mehr Zeit verbringen zu können, musste ich mich entscheiden: Entweder ich werkle mit am Bus rum, oder unsere Beziehung besteht nur aus wöchentlichen Treffen. Es war anfangs schwierig zu akzeptieren, dass der Bus Emma mehr Aufmerksamkeit bekam als ich. Manchmal verspürte ich sogar eine leichte Eifersucht. Sie genoss täglich seine Streicheleinheiten, und ich musste mich nur mit der Vorstellung vertrösten. So beschloss ich, einfach selbst mit anzupacken. Eine kleine Dreier-Liebesgeschichte entstand. In jeder freien Minute schraubten wir gemeinsam an Emma. Der Boden wurde neu verlegt, die Wände und die Decke mit Holzlatten verkleidet. Plötzlich wurde der Camperausbau zu einem gemeinsamen Projekt, und ich wurde ein Teil von Pauls Reiseplänen. Langsam nahm alles eine realistische Gestalt an. Je kompletter der Ausbau wurde, desto greifbarer wurde die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft auf Reisen. Stück für Stück konnte ich mich mit dem Gedanken anfreunden, Deutschland zu verlassen und ein Leben außerhalb der Norm zu führen. Was hatte ich denn zu verlieren? Meine Skepsis wich einer unnatürlichen Euphorie. Ich bildete mir manchmal ein, endlich den Sinn meines Daseins verstanden zu haben. Ich bin doch frei. Ein Individuum. Wer hat schon das Recht, mir zu sagen, wie ich meine Zukunft zu gestalten habe? Ich werde reisen. Keinen Urlaub machen, sondern reisen. Weit weg und unabhängig. Wie die Nomaden von Land zu Land umherziehen. Nicht wissend, wo der Tag endet und der Morgen startet. Essen, was die Natur hergibt. Sprachen lernen. Kulturen verstehen. Mich bis auf das Minimum reduzieren. Und dann holte mich die Realität wieder ein. Ist es mein Traum, oder werde ich den Traum eines anderen leben?
Nun hatten Paul und ich nicht nur ein gemeinsames Projekt, sondern auch ein gemeinsames Ziel. So traumhaft das jetzt auch klingen mag, so furchtbar war es manchmal. Wir kannten nur noch das Arbeiten auf das Ziel hin. Dinge erledigen, um die nächsten Dinge anzufangen. Das Projekt Emma forderte alles von uns und unserer Beziehung. Wir gaben unsere Beziehung im Jetzt auf, um eine Beziehung im Später zu haben. Das war verrückt. Es entfernte uns mehr, als es uns zusammenführte. Gemeinsame erholsame Tage – Fehlanzeige. Mal ein entspanntes Abendessen oder ein Kinobesuch waren nicht mehr drin. Es kreiste alles nur noch um Emma. Ich erkannte eine Beziehung in unserer Beziehung nicht mehr. Das, was andere Pärchen hatten, war bei uns nicht üblich. Aber der Gedanke an eine gemeinsame Reise ließ uns weitermachen. Es einfach durchstehen. Aus einem Flirt wurde eine lebensverändernde Entscheidung.
Hier sitze ich nun. Mit den kleinen Mosaiksteinen in der Hand in meinem zukünftigen Zuhause auf Rädern. Wer hätte das wohl gedacht, als es bei Tinder hieß: »Any swipe can change your life!«
Ich bin gerade die falsche Straße abgebogen. Ich versteh das nicht. Zum bestimmt dreißigsten Mal fahre ich diese Strecke von Berlin nach Klein Mutz, und ausgerechnet jetzt biege ich falsch ab. Eine kleine abgelegene Straße, auf der zwei Autos kaum aneinander vorbeipassen. Die Äste der an der Straße stehenden Bäume biegen sich durch den Fahrtwind. Ich muss aufpassen, dass ich ihnen nicht zu nah komme und die feinen Spitzen den Lack des Autos zerkratzen. Im Gepäck ist meine Familie. Mein Vater sitzt neben mir und brodelt innerlich, weil ich seinen 3er-BMW mit sechzig Kilometern pro Stunde auf einer nie befahrenen Landstraße entlangjage. Meine Schwester sitzt hinter mir und brüllt mir ins Ohr, was ich sowieso schon längst weiß, dass ich falsch abgebogen bin, und meine Mutter versteht momentan gar nicht, was los ist.
Wir sind auf dem Weg zu Pauls Familie. Ich weiß gar nicht, wer diese blöde Idee zuerst hatte. Pauls Mutter, meine Mutter? War das doch ich, in einem euphorischen Moment? Auf jeden Fall ist es jetzt zu spät, umzukehren. Dank der Schotterpiste ist es im Auto zu laut, und die Lautstärke meiner panischen Gedanken wird dadurch immer leiser. Meine russischen Eltern treffen auf Pauls deutsche bürgerliche Familie. Das kann ja nur heiter werden – oder auch nicht. Ich war noch nie ein Fan davon, Familien zusammenzuführen. Außer es würde in irgendeiner fernen Zukunft eine Hochzeit stattfinden. Wieso sollte man sich treffen? Es muss doch seinen Grund haben, warum jeder seine eigene Familie hat. Meiner Mutter war es wichtig, Paul kennenzulernen. Den Mann, mit dem ich das nächste Jahr ununterbrochen zusammen sein werde und der mich durch die halbe Weltgeschichte kutschieren wird. Er muss ja begutachtet und für gut befunden werden, bevor ich in seine Obhut gelassen werde. Nur fürs Gewissen aller Beteiligten, weil sich an meiner Entscheidung ja sowieso nichts mehr ändern wird. Macht man ja so. Bei den Russen. Da werden alte Sitten noch bis ins 21. Jahrhundert getragen und über den halben Kontinent gezerrt.
Als ich meiner Mutter von meinen Reiseplänen erzählte, hat sie reagiert wie bei jedem meiner unerwarteten Pläne. Mit Kopfschütteln.
»Mama, ich mache keine Ausbildung, ich möchte mein Fachabitur machen und dann studieren.«
»Wieso?«, fragte sie ungläubig.
»Mama, ich gehe nach Erfurt zum Studieren.«
»Wieso? So weit weg? Nicht lieber in der Nähe?«, schüttelte sie den Kopf.
»Mama, ich gehe nach Hamburg.«
»Wieso? Muss das sein? Da unterstütze ich dich aber nicht«, antwortete sie verärgert.
»Mama, ich gehe nach Berlin.«
»Nein! Wieso? Ach, mach, was du willst, aber erwarte keine Hilfe von mir«, schüttelte sie erneut ihren Kopf.
Mich wundert es, dass vor lauter Kopfschütteln ihr hübscher Kopf noch so aufrecht steht. Ich weiß nicht, ob ich viele Entscheidungen getroffen hätte, wenn sie auf alles mit »Ja und Amen« geantwortet hätte. Viele Entschlüsse waren sicher aus Trotz. Nach einem »Nein« folgte für mich immer der Widerstand. Deswegen nehme ich ihr die Gegenwehr auch nicht übel. Ohne ihr Kontra wäre ich sicher niemals da gewesen, wo ich war und jetzt bin.
Als ich ihr von der Reise erzählte, kamen ihr sogar die Tränen. Natürlich hab ich erwartet, dass sie dagegen sein und weinen würde, aber ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, wieso sie es nicht verstehen konnte, dass ich um die Welt ziehen möchte. Ich verstand auch nicht, wieso eine Frau wie meine Mutter so viel Angst vor Ferne und Abstand hat. Sie hatte sich damals doch auch für eine große Reise entschieden. Eine viel größere als ich. Sie ließ Vertrautes und Geliebtes zurück. In einer schweren Zeit, mit zwei kleinen Kindern. Sie hat ihren Job gekündigt, ihre Einzimmerwohnung verkauft und hat Tschüss zu Russland gesagt. Sie hat doch ein viel größeres Opfer gebracht als ich jetzt. Ich weiß nicht, ob ich damals an ihrer Stelle genauso viel Mut gehabt hätte. Aber vielleicht ist genau das der Grund für ihre Ablehnung. Sie weiß, wie hart es für sie war, und möchte nicht, dass ich diesen Schmerz auch empfinde. Weil ihre Familie so weit weg ist, möchte sie mich nun umso näher bei sich haben. Aber ich will nicht für immer weg, ich möchte nur wissen, wo ich eigentlich herkomme. Wo meine Wurzeln sind und was mich zu dem Menschen macht, der ich jetzt bin.
Meine Eltern sind zu Zeiten der Sowjetunion aufgewachsen. Als Russland noch ein großes Reich mit viel Macht war. Als östlich von Deutschland bis in die Mongolei ein und dieselbe Sprache gesprochen wurde. Als der Rubel noch rollte, bis er schließlich aufhörte zu rollen. In der Schule lernten sie Deutsch, und nach der Schule ging es raus aufs Feld. Zum Studieren ging es in die große Stadt, und geheiratet wurde im sibirischen Winter auf dem Dorf. Bis die Zusage aus Deutschland kam. Drei Jahre haben sie auf eine Antwort gewartet. Im November 1995 begann ein neues Kapitel für uns und eine Tragödie im Leben meiner Mutter.
Wenn ich meine Mutter frage, wie es damals für sie war, spüre ich eine Menge Trauer. Ich habe sie viel über Russland und das Leben in einem kommunistischen Staat ausgefragt. Ihre Geschichten sind spannend und klingen für mich wie aus einer fremden Welt. Gerade deshalb zieht es mich nach Russland zurück. Immer wenn ich russische Musik höre, bin ich gedanklich wieder in meiner Kindheit. Ich kenne sie alle. Die Popsongs, die immer noch auf Hochzeiten gespielt werden, die Songs zum Mitsingen, die auf keiner russischen Party fehlen dürfen, und die Songs, die ich als Kind auf meinem Kassettenrekorder gehört habe. Ich höre sie immer noch. Dann überkommt mich ein gutes Gefühl und gleichzeitig eine eigenartige Melancholie. Am liebsten würde ich dann gerne weinen und lachen und tanzen und singen und alles auf einmal zur gleichen Zeit.
Ich will Paul den Ort zeigen, an dem ich meine Kindheit verbracht habe. Den Ort, der mich im Tiefsten geprägt hat. Zeigen, wo meine Narbe am Knie herkommt und meine Leidenschaft für Teigtaschen. Vielleicht versteht er dann, wieso ich diese schreckliche Musik immer noch höre und lautstark voller Begeisterung mitsinge. Gleichzeitig ist das auch eine Reise für mich, damit ich selbst sehe, wo mein Ursprung ist, und um meine Erinnerungen zu füttern, damit sie nicht vollkommen erlöschen.
Für Paul war die Entscheidung, die ehemalige Sowjetunion zu durchqueren, eine Erleichterung. Er wollte schon immer den östlichen Teil Europas und Zentralasien sehen. Doch ohne jegliche Sprachkenntnisse und ohne sich in der sowjetischen Kultur auszukennen, wäre das eine unglaubliche Herausforderung gewesen.
Um eine Strecke von 20000 Kilometern zurückzulegen, braucht man manchmal mehr als nur Abenteuerlust. Die Motivation, in eine andere Gesellschaft einzutauchen und ein bestimmtes Ziel zu haben, sollte nicht fehlen. Ich verstand mich plötzlich als Tor zur russischen Welt. Ich würde ihm russische Schimpfwörter beibringen, ihm zeigen, wie einem bei der Russenhocke die Beine nicht einschlafen und wie man nach dem zehnten Wodkashot immer noch aufrecht stehen kann. Ihn in den Kosmos der frittierten, gekochten, gebratenen Teigtaschen einführen und ihm meine Liebe zu russischem Pop begreiflich machen. Aus Paul wird Pawel. Ganz bestimmt.
Unsere Familien sitzen gemeinsam am Küchentisch. Kaffee steht bereit, Kuchen auch. Doch die Stimmung löst sich erst, als der erste Sekt geöffnet wird. Zack, finden unsere Mütter ein gemeinsames Thema: Kinder, besser gesagt Enkelkinder. Dass es doch endlich Zeit für Nachwuchs wäre und wenn wir diese Reise überstanden haben, dann wäre das doch ein Zeichen. Sie würden uns dabei unterstützen, und wir hätten doch die besten Voraussetzungen, um eine kleine Familie zu gründen. Paul und ich wissen nicht, was wir darauf antworten sollen. Doch unsere Meinung ist in dieser Angelegenheit momentan sowieso nicht gefragt. Wir lassen unseren Müttern die gemeinsame Begeisterung und stoßen alle auf unsere Zukunft und die Zukunft, die für uns beschlossen wurde, an.
Nachdem Paul begutachtet wurde, geht es nun zu Emma. Meinem zukünftigen Zuhause auf Rädern. Meinem neuen Heim, das mir die Welt zeigen wird. Meine Eltern stehen vor diesem alten Bus, der früher mal als Transporter für Kälber diente. Ein wenig sieht man dem Gefährt seine Erfahrung an, doch wenn man dieses positive Orange ein wenig auf sich wirken lässt, entsteht ein warmes Gefühl der Geborgenheit. Man fühlt, dass Emma uns dahin bringen wird, wohin wir auch immer wollen. Meine Eltern können diese Begeisterung jedoch nicht ganz nachvollziehen. Als Russe hältst du nichts von alten Autos. Sie müssen neu und schnell sein, Aufsehen erregen und nach Geld aussehen und am besten mit einem Fünfjahreskredit abbezahlt werden. Aber ey, Hauptsache coole Karre!
Ich sehe meiner Mutter den leichten Schock an. Sie schaut sich im Camper um und wirkt etwas überfordert. Während mein Vater anfängt, kleine unwichtige Details zu bemängeln, höre ich von ihr kein Wort. Ich merke, wie ihre sorgenvollen Gedanken in ihrem Kopf immer lauter werden.
»Mama. Es ist gut, dass das Auto so alt ist. Paul kann dadurch ganz viel selbst reparieren«, versuche ich, ihr die Sorgen zu nehmen.
»Schau, wie gemütlich es sein wird, mit dem Bett und der kleinen Küche. Richtig schön. Mein kleines neues Zuhause.«
Mist. Nur noch fünf Stunden. Ich renne von A nach B. Sortiere ein und um. Die gelben Säcke füllen sich immer mehr mit dem Müll vom Ausbau. Ich versuche, das Chaos der letzten Monate zu ordnen. Paul hat noch bis in die Morgenstunden die letzten Handgriffe am Camper getätigt und ist zwei Stunden später zur Arbeit gefahren. Ich musste schon um drei Uhr nachts kapitulieren, weil mein Körper nicht mehr konnte. Nicht mehr wollte. Zwei Tage zuvor hatte ich meine Masterverteidigung. An Feiern durfte ich keinen Gedanken verschwenden. Direkt danach ging es wieder auf den Hof, und es wurde weitergebaut. Denn bis heute musste alles stehen. Jedes Gewürz, alle Teller und Töpfe an ihrem Platz sein. Mit dem ganzen Stress hatte ich noch gar keine Zeit, mir Gedanken zu machen, was ich überhaupt genau einpacken muss. Geplant ist ja, dem Sommer hinterherzufahren. Also werden nur zwei Pullis, eine lange Hose und ein Übergangsmantel zu den Sommerklamotten gepackt. Ich darf ohnehin nicht zu viel mitnehmen. Paul hat mir ein kleines Regal zur Verfügung gestellt. Ein Miniregal für ein ganzes Jahr. Ist klar. Hab ich ein Glück, dass er beim Einräumen nicht dabei ist.
In allen möglichen Ecken verstecke ich noch Cremes und Kleider. Da noch einen Rock und dort noch ein Jäckchen. Hier noch einen Föhn. Es fällt mir schwer, einige meiner Lieblingssachen zurückzulassen. Doch ich denke, unterwegs werde ich sicher keinen Blazer oder fünf Paar Schuhe gebrauchen können. Da wird mein Lieblingsoutfit wohl aus einer Leggings und einem Hoodie bestehen. Den restlichen Platz in den Schränken nehmen Bettwäsche, Handtücher und Küchenutensilien ein. Auf dem Dach sind zusätzlich noch zwei große Boxen befestigt, in denen sich alle möglichen Werkzeuge für Emma befinden. Ersatzteile, Öl und was einem noch so zur Reparatur eines Autos einfällt, will Paul unterwegs kaufen. In den östlichen Ländern soll es viel günstiger sein. So denken wir bei vielen Dingen, die eigentlich zum Reisen dazugehören. Medikamente, Lebensmittel oder passende Kleidung können wir immer noch besorgen, sobald wir Bedarf haben. Wir fahren ja nicht für ein Jahr in die Sahara, sondern einfach nur in den Osten.
Ich kratze meine letzte Energie zusammen. In fünf Stunden müssen wir auf unserer Abschiedsparty sein. Paul kommt in zwei Stunden von der Arbeit. Sein letzter Tag heute. Emma muss abfahrtbereit sein, die Scheune aufgeräumt hinterlassen werden, und ich muss mir auch noch den Stress der letzten Monate vom Körper waschen und mich zurechtmachen, damit mir jeder die glückliche Reisende abnimmt. Denn keiner kann sich vorstellen, was wir das letzte halbe Jahr durchmachen mussten. Von durchgemachten Nächten an unserer Camper-Baustelle bis hin zu dramatischen Streitereien. Es war wirklich kein Zuckerschlecken. Diesen stetigen Kampf ums Überleben unserer Beziehung hätten wir fast nicht gemeistert, wenn wir uns nicht immer vor Augen gehalten hätten, wie kurz vorm Ziel wir sind.
Selbst ein Tag vor der Abfahrt kreist eine unangenehme Unsicherheit in meinem Kopf herum. Was, wenn das Ganze nichts für mich ist? Was, wenn ich nach ein paar Wochen diese Enge und die Zweisamkeit nicht mehr aushalte? Ich habe hier in Berlin alles aufgegeben, da kann ich dann nicht einfach wieder zurück. Vielleicht kann ich mich doch nicht mit so einem Lifestyle identifizieren. Ich brauche doch meine drei Kosmetiktaschen und die Möglichkeit, meine Ruhe zu haben. Zwar bin ich keine verwöhnte Modefanatikerin, die sich ungerne die Hände schmutzig macht, jedoch bin ich auch keine leidenschaftliche Unter-den-Sternen-Schläferin. Denn immer wenn ich an Camping denke, tauchen Lisa oder Agnes in ihren Outdoorklamotten vor meinem inneren Auge auf, wie sie Holz fürs Lagerfeuer sammeln. Sie wollen ihr Leben um 360 Grad drehen. Ihren Besitz minimalisieren und zu einem großen Abenteuer aufbrechen. Im Dorf sagt jeder ungläubig: »Oh, ist das denn nicht gefährlich? Für mich persönlich wäre das ja nichts. Ich reise dieses Jahr lieber nach Bulgarien.« Lisa oder Agnes und ihr Mann sind dann die neuen Helden im Ort. Hier in Berlin interessiert es aber niemanden, ob nun das tausendste Pärchen zu einer Weltreise aufbricht. Hier ist ja irgendwie jeder auf seiner ganz eigenen permanenten Reise.
Klar reise ich auch gerne. Bin natürlich auch schon einige Male verreist. Mal eine Woche Istanbul, mal ein paar Tage nach Italien, aber gleich 365 Tage über zwei Kontinente und durch sechzehn verschiedene Länder? Kann ein Mensch überhaupt so viel verarbeiten und in seine Erinnerungen verpacken? Hat unser Gehirn nicht eine begrenzte Kapazität, die nach, sagen wir mal, zwanzig Millionen neuen Eindrücken verbraucht ist? Sodass das, was danach kommt, einfach nicht mehr abgespeichert wird und in den Untiefen unseres Unterbewusstseins verschwindet? Wird mich das Reisen zu einem anderen Menschen machen?
Vier Stunden später als geplant erscheinen wir nun auf unserer eigenen Party. Alle sind da, Familie und Freunde. Was vier Stunden Vorsprung beim Alkoholkonsum bedeuten, wird in diesem Moment besonders deutlich. Eine schäbige Bar mitten auf der Sonnenallee. Oben Biertheke, unten Kegelbahn. Ein Schnapsglas nach dem anderen wird geleert. Auf eine gute Reise angestoßen. Auf den Erfolg, gemeinsam so weit gekommen zu sein, und auf den Abschied.