Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2020
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Lektorat Uwe Naumann
Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung Mary Evans/Medici/INTERFOTO; Patrick Wirbeleit
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63243-3 (1. Auflage 2020)
ISBN E-Book 978-3-644-00048-3
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00048-3
Eines Tages, kurz vor Winterbeginn, wurde ein Paket ins Haus gebracht. Ungewöhnlich groß und schwer, es kam völlig überraschend und irgendwie auch nicht. In diesen Jahren nach 1989 geschahen viele Wunder. Europa war im Rausch einer neuen, hoffnungsvollen Epoche. Ich erinnere mich an die klebrigen Hände des Paketboten und an sein vorwurfsvolles Gesicht. Und an den Duft, der aus dem ramponierten Karton strömte: Honig, jemand hatte mir Honig geschickt! Die blaue geschwungene Tintenschrift auf dem Adressaufkleber, ein Standardetikett der Deutschen Post, war durchtränkt davon. Absender war eine im Rheinland lebende Gräfin, dem Namen nach aus Ostpreußen stammend, aus einem der bekannten, von dort vertriebenen Adelsgeschlechter.
Schichten von Wellpappe, dann ein grob gewebter, verschossener Rosenstoff, da ahnte ich schon etwas. Holzwolle, wieder Wellpappe, Lage für Lage kämpfte ich mich durch. Zerknüllte Zeitungsseiten, mit kyrillischen Lettern bedruckt, offenbar aus der «Kaliningradskaja Prawda». Schließlich stand ein weißer Plastikeimer vor mir, aus dem durch einen Riss auf der Vorderseite zähflüssig dunkelgelber Honig quoll. Auf dem Deckel die Reste eines Aufklebers курúный корм, demnach enthielt das Behältnis früher Hühnerfutter. Nicht vom Rhein also kam der süße Gruß, die Gräfin hatte nur den Kurier gespielt. Vermutlich war sie in der alten Heimat gewesen, reimte ich mir zusammen, und jemand hatte ihr das Paket übergeben, mit der Bitte, es mitzunehmen und an mich weiterzuleiten. Dieser Jemand wollte auf Nummer sicher gehen, der Postweg von der westlichen Exklave der UDSSR über Polen war damals äußerst unsicher. In dem handgeschriebenen Brief, der beilag, konnte ich zunächst nur die Unterschrift entziffern. ГАЛИНА, es war Galina!
Galina, die schöne Imkerin von Jasnaja Poljana. Während ich den Honig kostete, sah ich sie wieder vor mir: Eine Frau von Mitte dreißig mit grünbraun gesprenkelten Augen. Im Mai 1991 waren wir einander begegnet, in der Endzeit der Sowjetunion. Seitdem hatte ich immer wieder an Galina gedacht und das Foto mit Imkerhut betrachtet, das ich seinerzeit von ihr gemacht hatte. Ein Gesicht, das mich an die stilisierten Frauenbilder von Modigliani erinnerte – blasser Teint und schwarze Haare, ein sehr schmaler Nasenrücken, Lippen wie ein Strich. Sie lacht etwas verschämt, die glitzernden Goldzähne sind unter dem Schleier nur zu erahnen.
Der Tag mit Galina war ein Lichtblick gewesen. In jenem Mai war ich wochenlang durchs Kaliningrader Gebiet gestreift, durch die verwilderte Kulturlandschaft, armselige, verfallene Dörfer. Verzweiflung, Lethargie überall. Ob Traktoristen oder Sowchos-Vorsitzende, Lehrer, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, niemand, der nicht schwarzsah. Und ich war krank von ihren Geschichten. Vom Wind der Freiheit, der das benachbarte Polen und Litauen durchwehte, war hier nichts zu spüren. Von allen Orten war Jasnaja Poljana, das frühere Trakehnen, der traurigste. Das Preußische Hauptgestüt mit seinen herrschaftlichen Bauten lag weitgehend in Ruinen, das Landstallmeisterhaus und die Pferdeställe waren im Dreck versunken. In den Wipfeln der alten Eichen Hunderte von Krähen, ein ohrenbetäubendes Geschrei, das mir Angst machte und auch in den Nächten nicht aufhörte.
Mit Galina hatte ich nicht gerechnet. Bis heute hat dieser Tag auf der blühenden Wiese, mit Galina und ihren hundertfünfzig Bienenvölkern, für mich etwas Unwirkliches. Zum ersten Mal in meinem Leben beobachtete ich das Ritual: wie ein Mensch sich in einen Imker verwandelt. Es fängt an mit den Händen, die gründlich gewaschen werden müssen. Galina tat es mit beinahe religiösem Ernst, als müsse sie in der nächsten Stunde vor ihren Herrgott treten. Dann streifte sie ihr Arbeitskostüm über, einen weißen, geräumigen Overall, der vermutlich mal einem Mann gehört hatte. Und die Spuren vieler Arbeitsjahre trug, jeder Riss, jede dünne Stelle war sorgfältig ausgebessert. Als Nächstes holte sie etwas aus dem Schuppen, «Dimar», erklärte sie, zu Deutsch «der den Rauch macht», eine zylindrische Kammer mit Tülle und einem Blasebalg. Sie füllte das verbeulte, rostige Ding mit Hobelspänen, stopfte noch eine Handvoll Gras dazu. Kaum angezündet, verlosch das Feuer wieder, noch ein Streichholz und noch eines, es dauerte, bis Qualm aufstieg. Weitere Minuten vergingen, bis er mit Hilfe des Blasebalgs stetig und dicht wurde. Mit jeder Handlung wurden ihre Bewegungen konzentrierter. Zuletzt die Kopfbedeckung, kurze Prüfung, ist der Tüll noch dicht, das Gummiband am Rande fest genug. Bevor sie hinter dem Schleier verschwand, suchte Galina noch einmal meinen Blick, als wollte sie auf Wiedersehen sagen. Vielleicht genoss sie auch nur mein Interesse?
Von jetzt an war sie woanders, auf einem anderen Planeten, so schien es, weit weg von Jasnaja Poljana. Sie stapfte von einem Bienenkasten zum nächsten, zog Wabenrähmchen heraus und überprüfte etwas. Worum genau es ging, verstand ich damals noch nicht. Ich hielt Abstand, schaute durch mein Teleobjektiv, aus sicherer Entfernung. Richtete die Kamera auf den Dimar, der im Gras leise vor sich hin rauchte, mal auf Galinas Hände, die überhängendes Wachs wegbrachen. Oder mit einem Gänseflügel hantierten, anscheinend eines der wichtigsten Werkzeuge, und damit gelborangefarbene Kügelchen, die sich vor den Einfluglöchern türmten, in eine Schüssel kehrten.
«Oi, oi, oi», hörte ich sie rufen, immer wieder «oi, oi, oi,» kleine, singende Laute der Zufriedenheit, manchmal ein freudiges «O Gospodi!», «Mein Gott!».
Die Tätigkeiten wiederholten sich, trotzdem langweilte ich mich nicht. Ich saß auf der Bank vor dem hölzernen Büdchen, in dem die Imkerin ihre Gerätschaften aufbewahrte, und sog die Düfte in mich ein, eine betörende Mischung aus Honig, Wachs und Rauch, von Holunderblüten und jungem Gras, und lauschte dem Gesumm der ein- und ausfliegenden Bienen. Ganz allmählich vergaß auch ich, nach Wochen äußerster Anspannung, die Welt jenseits der Wiese.
«Ein exterritorialer Ort», notierte ich seinerzeit in meinem Reisetagebuch. «Sauber! Jedes Ding an seinem Platz! Galina achtet die Bienen.» Obwohl diese nicht ihr gehörten, fühlte sie sich persönlich für sie verantwortlich. Während die Milchwirtschaft dagegen, der Haupterwerbszweig der Kollektivwirtschaft, in einem jammervollen Zustand war. In den ehemals preußischen Pferdeställen standen abgemagerte, frierende Kühe, bis über die Knöchel in ihrer Scheiße. Auf den Misthaufen davor halbverweste Kälber, Totgeburten wurden einfach rausgeworfen, den Krähen und Hunden überlassen. «Soll doch Gorbatschow kommen und sauber machen!», hieß es, als ich eine der Melkerinnen danach fragte.
Wie war dieser Unterschied zu erklären? Galina hatte ähnliche Sorgen wie die meisten hier. Das Geld reichte nur fürs Allernötigste, wenn es denn überhaupt etwas zu kaufen gab. Sie war Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern, alleinerziehend, den trunksüchtigen Ehemann hatte sie schon vor langer Zeit vor die Tür gesetzt. Wodka war die große Plage in den Familien und in diesem Gemeinwesen, das sich ganz offenbar aufgegeben hatte. Vielleicht war es auch nie eines gewesen? Es wird Krieg geben, sagten die Alten von Jasnaja Poljana, dem Untergang des Imperiums sahen sie mit Bangen entgegen – im August 1991 war es so weit.
Trotz dieser dramatischen Lage war Galinas Reich intakt. Sie regierte es souverän und mit einem gewissen königlichen Stolz, den sie jedoch nicht nach außen hin zeigte. Schwer zu sagen, ob es vor allem ihr Charakter war, der sie dazu befähigte. Galina heißt «Ruhe», der aus dem Griechischen stammende Name passte zu ihr. Womöglich hatte es eher mit ihrer Aufgabe zu tun, ihrer Rolle als Imkerin. Ihr Arbeitsplatz lag abseits, war von der Straße nicht einsehbar. Sie war eine Einzelgängerin, hatte niemand über oder neben sich, nur zu «Erntezeiten», erzählte sie, habe sie einige Helfer, kräftige Männer, die die honigschweren Kästen schleppen und beim Schleudern assistieren. Außerdem war ihr Tun vielseitig und hochkomplex, im Vergleich zu den anderen Abteilungen des Sowchos, die arbeitsteilig organisiert waren. Die einen molken die Kühe, andere fütterten sie, wieder andere machten Feldarbeit oder fuhren Traktor, jeder zuständig für ein spezielles Fragment. Galina hingegen musste immer das Ganze im Auge haben, versuchen zu verstehen, was in einem Bienenstock zu den verschiedenen Jahreszeiten vorgeht. Es beschäftigte sie darüber hinaus, sie philosophierte darüber, träumte. Ein guter Sowchos, sagte sie an diesem Tag im Mai, muss wie ein Bienenstaat sein. Damals kam mir der Gedanke, dass Imker besondere Leute sind.
Dass Galina auch mich nicht vergessen hatte und mir aus Jasnaja Poljana Honig schickte, freute mich. Wie mochte es ihr gehen? «Bitte, Ulla, besorge mir einen Mann in Deutschland», stand da, kurz und knapp. Es dauerte einige Tage, bis ich verstand: Ihr Gruß war ein Hilferuf, der Honig kein Geschenk, sondern eine Anzahlung für meine Dienste. Fünf oder sechs Kilo waren es, ziemlich viel. «Wenn es klappt, bekommst du mehr.» Anscheinend imkerte sie nach Auflösung des Sowchos privat weiter. Wie auch immer, sie wollte Russland verlassen, und das machte mich traurig. Was war geschehen? Nach einigem Überlegen antwortete ich ihr wahrheitsgemäß und sachlich, ich verstünde nichts von Heiratsvermittlung.
So hat es begonnen. Seit der Geschichte mit Galina waren die Imker in meinem Blickfeld. Zunächst bei meinen immer ausgedehnteren Entdeckungsreisen durch das östliche Europa, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zugänglich war. Dort erlebte ich mit, wie mühselig es für die Länder, Städte und für jeden Einzelnen war, nach Jahrzehnten der Diktatur neu anzufangen. Auch nur zu überleben – Wirtschaftskrise, Inflation, die 1990er waren arme Jahre. Unterwegs auf polnischen Landstraßen, bemerkte ich die Tischchen mit aufgetürmten Honiggläsern, daneben oft Behältnisse mit Blaubeeren oder Pfifferlingen, was eben der Wald gerade hergab. Die Bienenkästen vor den Häusern, sei es auf der litauischen Seite der Memel, in Schlesien oder Galizien. Nicht selten traf ich Imker in Aktion: Sie waren in den Dörfern wie in der Landschaft präsent, fielen auf in ihren seltsamen Kostümen. Schwärme fangen war das Größte! Sobald ich eine verschleierte Gestalt auf einer Leiter entdeckte, die eine Bienentraube vom Baum holte, hielt ich an und verfolgte das Schauspiel bis zum Ende. Auch um ein Gespräch anzuknüpfen, sofern meine Sprachkenntnisse dazu reichten. In der Nähe von Wrocław zum Beispiel erzählte mir ein Pole, seine Eltern hätten schon Bienen gehalten, in der Gegend von Lemberg, und nach der Vertreibung von dort das «ungeheure Glück» gehabt, im Obstgarten der schlesischen Familie, deren Haus sie im Frühjahr 1946 bezogen, einen Bienenschwarm zu finden. «Und so ging es weiter», lachte er, «mit fleißigen deutschen Bienen. Die stechen tüchtig!»
Viele Geschichten, die ich hörte, gingen weit zurück in die Vergangenheit, über mehrere Generationen. Bienenhalten schien etwas zu sein, das man nicht so schnell aufgibt, auf lange Zeiträume hin angelegt ist. Und die imkernden Zeitgenossen schienen mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. Honig war in diesen Jahren, neben Wodka, eine solide Währung, eine Kostbarkeit, die manche Tür öffnete. So abwegig, dachte ich, war Galinas Strategie, ihr Leben zu verbessern, vielleicht gar nicht.
Mein erster Honig war Rapshonig. Er sah aus wie Bohnerwachs und war für mich als Kind keine Versuchung. Honigkuchen kannte ich nur in der Billigversion aus Holland.
Wie vielfältig und wie bedeutsam Honig sein kann, habe ich erst in den großen Wäldern und Wildnissen Ostpolens erfahren. Freunde haben dort, an der Grenze zu Litauen, im Städtchen Sejny, ein kleines Utopia geschaffen: die «Borderland-Foundation». Seit 1989 ist sie Treffpunkt für Grenzgänger aus aller Welt und für die Bewohner der multikulturellen Region. In den Gesprächen und Projekten geht es um die Frage: Wie können wir nach all den Tragödien – Krieg, Mord, Vertreibung, Diktatur – wieder Heimat finden? Dabei spielen auch Bienen eine Rolle. Zum Beispiel haben junge Leute die Tradition der Waldimkerei wiederentdeckt. Man ließ den früheren Grenzstreifen verwildern und erklärte ihn zur Bienenweide, er wird von polnischen und litauischen Imkern gemeinsam genutzt. Ihr «Grenzlandhonig» ist inzwischen eine von der EU zertifizierte Marke.
In Sejny habe ich richtigen Honigkuchen kennengelernt. Meine Wirtin Hanna stellte ihn auf den Frühstückstisch, zu Wurst und Käse. «Der Rest von Weihnachten», sagte sie lachend. Es war Mai, und er war saftig und roch himmlisch.
Das Rezept stammt aus dem Kochbuch von Hannas Urgroßmutter Janka. Damals lebte die Familie noch in Wilno, der polnisch-jüdischen Stadt, die heute litauisch ist und Vilnius heißt.
Ich zitiere Hannas Übersetzung:
Zutaten: 2 Gläser Honig, 2 Gläser Zucker, 15 Dag Butter, 4 Eier, 1 Kilo Mehl, 2 Päckchen Gewürzmischung für Pfefferkuchen, 1 Teelöffel Soda, 2 Esslöffel Kakao.
Man nehme vorerst den Zucker und den Honig, tue es in einen hohen Topf und bräune sie langsam, bis es schön riecht. In die kochende Flüssigkeit vorsichtig 2 Glas kalte Milch eingießen und von der Kochplatte wegtun. Dazu die Butter geben und stehen lassen, bis es kalt wird. Dann alle anderen Zutaten hinzufügen. Zum Schluss 1 Esslöffel Olivenöl und Backobst, Rosinen, Nüsse, Mandeln, klein geschnitten. Eine Stunde bei 180 Grad backen.
Zusatz von Hanna: In Backpapier einwickeln und darum eine Frischhaltefolie. Im Kühlschrank reifen lassen.
Ergänzung von mir: 1 Glas = 250 Milliliter. 1 Dag = 1 Dekagramm = 10 Gramm. Bräunen, «bis es schön riecht» = ein Erfahrungswert. Man braucht kein Candy-Thermometer, nur Nase und Augen und etwas Übung. Dabei hilft die alte siebenteilige Skala der Erhitzungsgrade. «Schwarzen Bruch» nennen Profi-Zuckerbäcker den Aggregatzustand, den Janka meinte, der entspricht etwa 140 Grad Celsius.
Bald tauchten die Überlebenskünstler aus dem Osten auch in deutschen Städten auf, in den Grenzregionen, in Berlin, sogar im äußersten Westen, bei uns in Baden-Württemberg. Ältere Männer zumeist oder Paare, ihre Koffer und Rucksäcke waren voll mit Honig in den seltsamsten Behältnissen. Nach der letzten Ernte, spätestens sobald die Bienen eingewintert waren, gaben sie ihre Sesshaftigkeit auf und boten ihre Ware in unseren Fußgängerzonen feil, bis kurz vor Heiligabend. Andere tippelten von Tür zu Tür, «Honig. Guter Honig!», riefen sie in die Gegensprechanlage unseres Mietshauses, mit fremdem, brockigem Akzent, singend wie die Lumpensammler meiner Kindheit. Der Erste, von dem ich kaufte, war ein Tscheche, «Honig von schöne, böhmische Land, Madame».
Ich kaufte fast immer, teils aus Mitleid, teils aus Neugier. Mit der Zeit entdeckte ich die Verschiedenheit der Honige, versuchte, die Frühlingswiesen des Isergebirges herauszuschmecken, die Wälder des Suwalki, mecklenburgische Rapsfelder. Aus den fünf neuen Bundesländern wurde viel angeboten, ein schnauzbärtiger Mann, der bei Stendal zu Hause war, klärte mich darüber auf: In der DDR hätte der Staat den Großteil des Honigs aufgekauft, zu einem «anständigen Preis, darauf war Verlass», jetzt müsse er selbst für Kundschaft sorgen. Ein Jungunternehmer also, ein Nomade auf Zeit, wie es damals in Europa viele gab.
Irgendwie verrückt! In den Nischen der modernen Ökonomie florierte ein uraltes Gewerbe. Auf den Bauernmärkten entdeckte ich plötzlich russlanddeutsche Imker. Vor gerade mal drei, vier Jahren aus Sibirien oder Kasachstan ausgereist, schon waren sie im Besitz einiger Völker. Victor Gilfer hieß einer, den ich etwas näher kennenlernte, ein ehemaliger Stahlarbeiter aus dem Ural.
Wie die hiesigen Imker wohl auf die Neulinge reagieren mögen, fragte ich mich. Diese Sonderlinge, die einmal im Monat im Gasthaus «Löwen» oder «Goldener Schwan» zusammen kommen, über Königinnen und Bienenkrankheiten fachsimpeln, seit Kaiser Wilhelms Zeiten in Ortsvereinen organisiert – Vorstand, Kassierer, Schriftführer, alles sehr deutsch. Multikulti in Imkervereinen? Undenkbar, dachte ich, sie werden die Letzten sein, die sich für Zuwanderer öffnen.
Inzwischen lebten eine halbe Million Kriegsflüchtlinge aus dem zerbrochenen Jugoslawien in Deutschland. Und ich fragte mich, was aus den Bienenvölkern geworden war, die sie zurückgelassen hatten. In den fürchterlichen Geschichten aus Mostar oder Srebrenica, Sarajevo oder Novi Sad kamen sie nicht vor. Einmal nur sah ich spätnachts im Fernsehen in gebirgiger Landschaft einen bosnischen Bauern, der um seine Bienen weinte. Serbische Soldateska hatte die Strohkörbe und honiggefüllten Waben zerstört. Eine Szene, die mich an Isaac Babels Chronik des russischen Bürgerkriegs erinnerte. Der junge Dichter, als Rotarmist selbst am Töten beteiligt und zugleich voller Mitgefühl für die leidende Zivilbevölkerung, berichtete auch über die Tiere, Pferde, Hunde und Vögel. Und immer wieder über das Schicksal der Bienen. «Ich trauere um die Bienen. Sie wurden von den kämpfenden Armeen vernichtet», schrieb er damals, 1920. «Wir haben die Bienenstöcke geschändet. Wir haben sie mit Schwefel ausgeräuchert und mit Pulver gesprengt. In Wolhynien gibt es keine Bienen mehr.»
Manchmal steht ein Thema an der Straßenecke und wartet. Dieses wartete ungewöhnlich lange auf mich, bis weit ins neue Jahrtausend. Es wartete, während es mich immer weiter gen Osten zog, in die Steppen Kasachstans. Eigentlich wollte ich ein Buch über Hirten schreiben, die Nachkommen des biblischen Abel erforschen, wie sie leben und auf unsere moderne, globalisierte Welt schauen. Doch weil diese Welt immer schneller rotierte, nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 mein Optimismus von 1989 dahinschwand, zögerte ich das Abenteuer hinaus.
Es ging mir wie vielen: Ich brauchte Schutz, schlief gern zu Hause, im eigenen Bett. Auf einmal gewannen die kleinen Dinge, nahebei, an Bedeutung.
In meiner Stadt breitete sich zum Beispiel der Löwenzahn mächtig aus. Vielleicht achtete ich auch nur mehr darauf? Von Jahr zu Jahr schossen mehr von diesen frechen gelben Gesellen aus den Ritzen zwischen Straße und Trottoir, besetzten Baumscheiben und kleine Parks, vom Grünflächenamt unbehelligt, von Hundepisse und Kot zu enormem Wachstum getrieben. Am Rande der Dauerbaustellen etablierte sich der Sommerflieder, sein Violett überzog die Abraumhügel und zog die Pfauenaugen an. So zahlreich hatte ich sie nie zuvor gesehen.
Wir zogen von Mannheim nach Stuttgart um, in eine Wohnung mit Gärtle – ein handtuchschmales Plateau am Bopserberg, mit einem alten Mirabellenbaum und Rosenbüschen. Gleich in der ersten Woche begrüßte uns eine Füchsin. Sie stand da, im verharschten Schnee, und schaute uns lange an. Und wich nicht von der Stelle, als wir uns näherten, als wollte sie sagen: Was macht ihr denn hier? In den Nächten hörten wir das langgezogene Hu-Huhuhu-Huuuh eines Waldkauzes. Bald bemerkten wir die Wanderfalken und Bussarde über dem dicht besiedelten Talkessel. Es war etwas im Gange, das wir bislang nicht wahrgenommen hatten.
Kurz darauf diskutierte ganz Stuttgart das Thema Stadtnatur. Es ging um Fledermäuse, Feldhasen, Wildbienen und um den unter Artenschutz stehenden Juchtenkäfer, von dem die meisten von uns noch nie zuvor gehört hatten. Ihre Habitate würden durch den geplanten Tiefbahnhof «Stuttgart 21» erheblich leiden, argumentierten die Gegner des Milliardenprojekts. Viele nahmen diese Lebensräume zum ersten Mal zur Kenntnis, sahen den Schlosspark, der weichen sollte, mit neuen Augen, entdeckten das Gleisvorfeld, die artenreiche Wildnis am Rande des Schotterbetts. Während die Proteste eskalierten und die Schwabenmetropole in ihren Grundfesten erschütterten, entstand in den Köpfen vieler Bürger so etwas wie ein neuer Stadtplan. In dem nicht Autostraßen und Häuserzeilen die Hauptsache waren, sondern die Räume dazwischen, das Grün, teils kultivierte Natur, zum größeren Teil ohne Regie des Menschen vor sich hin wachsend – Zwickel und Säume, ausgedehnte Brachen.
Eines Abends im Mai sah ich den ersten Bienenschwarm. Ich trudelte die Reichelenberg-Staffel hinunter, einen der Stuttgarter Treppenwege, der in dieser Jahreszeit dschungelartig zugewachsen ist, und hörte ein lautes, irritierendes Summen. Es kam aus einem verwilderten Birnbaum. An einem der unteren Äste hing eine halbmeterlange Traube von Bienen. Unzählige, Zehntausende vielleicht, zu einer Formation verbunden, die sich leicht bewegte oder zu atmen schien. Wo war der Imker, dem das entflogene Volk gehörte? Ich suchte ihn und fand ihn nicht, aber er konnte nicht weit sein.
In diesen Tagen erreichte mich eine lang erwartete E-Mail aus Kaliningrad. Olga, meine Dolmetscherin von damals, antwortete, sie habe Galina ausfindig gemacht. «Sie lebt noch in Jasnaja Poljana. Ihr Sohn ist im Gefängnis wegen Drogenhandels. Sie hat vierzig Bienenvölker und wartet auf dich.»
Meine Reise zu den Imkern Europas beginnt im Stuttgarter Westen. An einem Montag im Frühsommer, dem ein Unwetter vorausging, in dessen Fluten drei Menschen ertrunken sind. Etwas davon liegt noch in der Luft, die Vögel sind ungewöhnlich still. Wir springen über Pfützen und wassergefüllte Schlaglöcher, Tobias Miltenberger in Gummistiefeln voran.
«Die Bienen werden unruhig sein», warnt er, bevor er das Gittertor aufschließt – zu einem Gelände, das von der Straße aus nicht zu sehen ist, hinter Buschwerk und wilden Brombeerranken verborgen.
«Bauerwartungsland. So sagt man heute. Die Stadt hat es mir überlassen für zwei Sommer oder drei.»
Ein Niemandsland auf Zeit. Im hohen Gras acht Bienenkästen, sogenannte «Wirtschaftsvölker». Vor den Einfluglöchern summt und dröhnt es, ein Verkehr wie auf dem Airport.
«Vorsicht! Wir brauchen viel Rauch!» Miltenberger heizt den Smoker an.
«Ich fürchte mich.»
Obwohl ich innerlich vorbereitet bin, am Beginn einer wohlgeplanten Expedition sozusagen, überkommt mich Panik. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, den Rücken zum Tor, und sehe den blonden Imker, wie er sich ohne Schleierhut mitten in das Dröhnen hineinbegibt. Den Deckel eines Kastens mit bloßen Händen hochnimmt, zum Smoker greift und sofort von Bienen attackiert wird, noch bevor der Rauch seine Wirkung entfaltet. Trotzdem macht er ungerührt weiter.
«Viel Honig», ruft er, hochzufrieden.
«Ist ja toll.»
Ich tue so, als müsse ich dringend telefonieren, und verdrücke mich auf die Straße. Diese verdammte Angst! Ob es mir je gelingen wird, sie zu überwinden? Wie werden die Imker damit fertig, Tobias Miltenberger und die anderen, die ich demnächst besuchen werde – in Slowenien, auf Gotland oder in Gegenden, wo die schwarze europäische Honigbiene, die stechlustige Apis mellifera mellifera, überlebt hat?
Angstschweiß provoziert die Bienen, hatte mir vor Jahren Galina erzählt, die erste Imkerin, der ich bei der Arbeit zusah. Sie sprach von den Signalen, die die Haut aussendet, ich erinnere mich an ihre Worte: Angstschweiß, ebenso Parfum bedeutet Gefahr, während Alkoholdünste die Bienen auf Abstand halten. Ihre besten Assistenten bei der Honigernte waren пья´ници, die Säufer des Ortes.
Tobias Miltenberger verzieht keine Miene, als er zurück kehrt und mich da stehen sieht. Auf seiner Stirnglatze zwei Stachel, um sie herum ist die Haut ein wenig gerötet.
«Zur Seite ziehen, nicht nach oben. Sonst platzt die Giftblase.» Er zeigt mir wie. «So!» Lektion Nummer 1, die ich hoffentlich nicht so bald brauche.
Und weiter geht es mit nassen Füßen, die nächsten Völker stehen in einem Hinterhof in der Rosenbergstraße. Wir befinden uns in dem am dichtesten besiedelten Gebiet der Landeshauptstadt. Ein bunt gemischtes Quartier mit gut erhaltenen alten Bürgerhäusern, kleinen Läden, schwäbische, türkische, russische, in denen es fast alles gibt. Man kann Samoware kaufen, sogar Seife aus Aleppo, selbst jetzt noch, wo in Syrien Krieg herrscht und die meisten Siedereien zerstört sind. Fast jedes alltagswichtige Handwerk ist hier vertreten, vom Friseur bis zum Installateur. Und seit zwei Jahren, in der Johannesstraße, ein Imker namens Miltenberger. Bis dahin kannte man in Stuttgart-West Bienenhaltung, wenn überhaupt, nur aus der Ferne, als ländlichen Beruf. Entsprechend groß sei das Erstaunen gewesen.
«Aufsehen haben vor allem die Schwärme erregt.» Miltenberger zeigt auf eine Robinie. «Da hing gestern noch einer, ziemlich hoch oben.»
Etwa zwanzig habe er in diesem Mai im Viertel eingefangen. Oft unter großem Hallo, umringt von neugierigen Passanten, von Kindern und Halbwüchsigen, die mit ihren Smartphones das Spektakel festhalten: Slapstick. Gehampel auf der langen Leiter. Wie er die Traube mit Wasser besprüht und die Fangkiste darunter platziert. Und dann der große Schlag, der den Schwarm vom Ast löst, «einschlagen» nennen es die Imker.
«Die Kids stellen das auf Youtube.»
Der Stadtimker ist auf dem Präsentierteller. «Fünfzig Prozent meiner Arbeit ist Kommunikation.» Damit hat Miltenberger Erfahrung, in einem früheren Leben ist er mal Bundesvorsitzender der deutschen Pfadfinder gewesen.
Es ist ganz anders als auf dem Land, wo der Imker so vor sich hin wirtschaftet, am Waldrand, auf der Wiese, irgendwo hinten im Garten, und niemanden stört oder gestört wird. Keine Rushhour, keine Balkone mit frühstückenden Nachbarn oder offene Schlafzimmerfenster.
«Anfangs hatte ich in West nur zwei Kästen im Hinterhof.»
Von seiner Wohnung im ersten Stock kann Tobias Miltenberger sie sehen. Und nicht nur er. Sechzig, siebzig Parteien leben in diesem Häusergeviert, mit Blick auf die grüne Oase, die Stadtplaner um 1900 für Bäume und Beete vorgesehen haben.
«Bienen waren hier nie.»
Über Mittag sitzen wir in der Wohnküche, seine Lebensgefährtin und die kleine Tochter sind nicht da, nur Mia, die junge Hündin.
«Kommunikation, wie gesagt, ist das A und O.» Der traditionelle Imker habe das nicht gebraucht, Wortkargheit war früher geradezu Berufsmerkmal, Stumpen oder Pfeife im Mund. Das zweite die Geheimniskrämerei, über Bienenzucht redete er nur mit seinesgleichen.
«So einer wäre in Stuttgart-West verloren, wo ständig jemand fragt: Sind das Killer-Bienen? Oder sterben die bald? Darauf zu antworten ist extrem wichtig. Anlässe gibt es mehr als genug.»
Im Juni bevölkern seine Bienen die Linden in der Johannesstraße. Sobald es hell wird, brummt es in der Allee. Die Frühaufsteher haben anfangs die Köpfe eingezogen, erst ab sieben Uhr dreißig übertönt der Verkehrslärm das ungewohnte Naturgeräusch. Jetzt im Mai die Schwärme, alle Tage irgendwo im Viertel, sei es als Traube an Bäumen oder Balkonen, sei es im Flug, als Bienenwolke.
«Ein richtiges Event, damit krieg ich die Leute!»
Dieser Augenblick von Faszination und Angst ist offenbar die beste Gelegenheit, den Städtern das Fremde näherzubringen. Was passiert da eigentlich? Tobias Miltenberger, der Mann auf der Leiter, wird ganz zwangsläufig zum Lehrer. Er versucht, das Komplizierte einfach zu machen. Etwa so: Wenn es im Kasten zu eng wird, weil immer mehr junge Bienen schlüpfen und bald auch eine neue Königin, dann zieht die alte Königin mit einem Großteil des Volkes aus. Ein neues Volk entsteht, man kann auch sagen, es wird geboren. Für den Imker ist dann schnelles Handeln angesagt, er muss dem Schwarm, der ihm entflogen ist, hinterhersausen und ihm ein Zuhause geben. Und wenn er Glück hat, fängt er Schwärme von anderen Imkern ein, die nicht gut aufgepasst haben. Miltenberger entlässt sein Publikum meist mit der Bitte, Schwärme zu melden, man möge ihn entweder auf dem Handy anrufen oder die «Schwarmbörse» im Internet anklicken. Geoposition angeben und fertig. Inzwischen hat er ein kleines Netzwerk von Informanten.
Was für ein seltsames Business! Ein Start-up, das vermutlich die Kreditabteilung keiner Bank überzeugt und noch in den Mühen des Anfangs steckt. Berufsimkerei! Die Firma «Summtgart» ist die erste und bislang einzige in der Landesmetropole. Alle anderen sind Freizeitimker, das Übliche hierzulande, Imkern ist im Trend, dreihundert Völker stehen derzeit im Stuttgarter Talkessel, circa tausend im gesamten Stadtgebiet, Tendenz steigend.
Ende dreißig ist Miltenberger, für einen Existenzgründer schon ziemlich alt. Er träumt davon, eines Tages sich und seine Familie davon ernähren zu können. Während draußen wieder ein Regenschauer niedergeht, erzählt er, wie er zum Stadtimker wurde.
Eine lange, verrückte Geschichte: Geboren und aufgewachsen ist er am Stadtrand von Neckarsulm. Ein Naturkind von Anfang an. Einer, der am liebsten Banden gründete und es meist zum Chef derselben brachte, der anders als seine Geschwister, die allesamt Akademiker wurden, keine Lust auf Schule hatte, nur den Hauptschulabschluss schaffte. Jungen wie er gingen damals in die Autoindustrie. Autos, das täglich Brot und die heilige Kuh der Schwaben, was sonst. Nach seiner Ausbildung zum Elektriker hielt er auf dem eingeschlagenen Weg noch einmal inne. Bevor alles in feste Bahnen kam, wollte er noch «irgendwie die Welt erkunden». Über katholische Verbindungen, seine Mutter war Religionslehrerin, gelangte er 1997 nach Argentinien, in einem Berufsbildungsprojekt im Norden brauchten sie Elektriker. Es ging um Jugendliche, die verschiedene Handwerke lernen sollten und so auf dem Land ihr Auskommen finden und nicht in die traurigen Vorstädte von Buenos Aires ziehen. Projektleiter war ein gewisser Josef Majer, ein Priester aus einem schwäbischen Dorf, der sein Amt aufgegeben hatte, weil er mit dem Zölibat und der Kirchenhierarchie in Konflikt geraten war. Miltenberger schwärmt von ihm. Aus dem Reservoir der Erfahrungen schöpft er heute noch. Imkerei war einer der Lehrberufe, sie begeisterte ihn sofort. Verblüfft stellte er fest, dass sie ein wichtiger, hochproduktiver Teil der Landwirtschaft ist, Argentinien ein Imker-Dorado und einer der großen Honigexporteure der Welt.
Und so lernte er von Josef Majer das neue Handwerk, Spanisch natürlich, und noch eine ganze Menge mehr. Vor allem: viele Dinge unter einen Hut zu bringen: Sozialarbeit, kombiniert mit Erfindergeist, unter anderem baute er mit den Jugendlichen Solarkisten für Dörfer in den Anden und Bewässerungsanlagen für Johannisbrotbäume. Nicht zuletzt unorthodoxe Geschäftspraktiken, wie man in einem durch und durch korrupten Land Schleichwege findet. Zum Beispiel exportierte Majer, genannt «José», Schmuck, den eine benachbarte Aussteiger-Kolonie fertigte, via Kirchenkurier nach Deutschland, versteckt in Honiggläsern.
Nach dieser großen Reise, sagt Tobias Miltenberger, habe er sich nicht mehr vorstellen können, Motorblöcke für Acht- oder Zwölfzylinder herzustellen.
«Ich wollte unbedingt etwas Grünes machen. Etwas zur Gesellschaft beitragen.»
Noch einmal Schulbank also, die ganze Ochsentour des zweiten Bildungswegs, mittlere Reife, Fachabitur, dann Studium der Landwirtschaft in Nürtingen. Die wichtigsten Fächer rund um Schwein und Kuh hakte er so schnell wie möglich ab. So und so viel Kilo Proteine ergeben so und so viel Kilo Fleisch, das war nicht sein Ding. Ein Berater von Demeter brachte ihn auf den Weg, ein Vortrag über «wesensgemäße Imkerei». Fortan war die Biene sein Thema, ihre Rolle als Bestäuber für die Kultur- und Wildpflanzen. Sein zweiter Schwerpunkt und Examensthema: «Die Bedeutung des Regenwurms» für die Verbesserung von Mutter Erde. Jeder der beiden von allergrößter Wichtigkeit für den Kreislauf der Natur, und genau das interessierte ihn. Von da aus war es nicht weit zu Rudolf Steiner, den Ideen der Anthroposophie. Es bedurfte noch einiger Umwege, bis er endgültig wusste, nicht die Pfadfinderorganisation, nicht die Solarbranche wird sein Leben sein. Nach der Geburt der Tochter vor sieben Jahren und einem Jahr Elternzeit war er so weit und steuerte auf sein Ziel zu.
Mir war die kleine Bibliothek in der Wohnküche sofort aufgefallen – zwei Regalmeter Bienen- und Naturkunde. Rudolf Steiners «Über das Wesen der Bienen» neben dem Klassiker «Das Leben der Bienen» von Maurice Maeterlinck, Rachel Carsons «Der stumme Frühling», in dem sie, 1962, die Auswirkungen des Giftes DDT auf Vögel und Insekten beschrieb. Fachbücher wie Karl Pfefferles «Imkern mit dem Magazin» in braunem, unverwüstlichem Einband, auf dem Titel Bienenhäuser vor Schwarzwaldkulisse.
«Ach der», habe ich bemerkt und das Buch in die Hand genommen, um nach meiner Blamage am Bienenstand wenigstens als Leserin zu glänzen. «Der ist für viele Imker wie ein Papst», hat Miltenberger kurz kommentiert und auf meine Frage, ob sich eine Pilgerfahrt in Pfefferles Heimat lohne, mit dem Kopf genickt.
«Ich lese viel», sagt er jetzt, bevor wir wieder aufbrechen, «aber nur im Winter.»
Ein jahrtausendealter Genuss! Noch bevor der Mensch zum Bauern wurde, gab es die Verbindung von frischem, säuerlichem Käse und süß-würzigem Honig.
Ziegen wie Bienen ernährten sich von wilden Kräutern und dornigen Büschen, im mediterranen Raum nennt man es Macchia, und deren Aromen gingen in die tierischen Produkte ein. Ziegenkäse ist der älteste Käse der Welt, schon der Hirte beherrschte meist die Technik, ihn herzustellen. Den Honig musste er den wilden Bienen abjagen, die in hohlen Baumstämmen oder Felshöhlen lebten.
Wer einmal auf Kreta Ferien gemacht hat, der Bieneninsel, die schon in der antiken Mythologie gerühmt wird, hat eine Vorstellung von dieser Köstlichkeit: Man gibt eine Kelle Joghurt (er kann auch vom Schaf sein), auf einen Teller, gräbt in der Mitte eine Kuhle und füllt den flüssigen Honig hinein.
Ähnliches gibt es, in verfeinerter Form, in den Regionalküchen des Mittelmeerraums. Eine Variante lernte ich bei meinen jüdischen Freunden Hans und Tamara in Haifa kennen. Obwohl sie schon ewig auf dem Berg Karmel lebten und Israel als ihre Heimat ansahen (er hatte seine Kindheit in Königsberg verbracht, sie im noch kälteren Moskau), waren sie immer wieder erstaunt über die Gaumenfreuden der orientalischen Welt. In dem Gericht spielen reife Feigen die dritte Hauptrolle:
Ein Kilo Feigen waschen und vierteln, mit reichlich Butter in einem Topf anschwitzen. Wenn sie ein wenig gebräunt sind, herausnehmen und beiseitestellen. In der verbliebenen Butter wird der Honig verflüssigt. Tamara nahm Thymianhonig, etwa fünf große Esslöffel voll. Den braunrötlichen Sirup gab sie auf einen tiefen Teller, legte darauf gewürfelten frischen Ziegenkäse. Zum Schluss drapierte sie die Feigen am Tellerrand und streute frische Minze darüber.
Für die dritte Hauptrolle ist auch der Kürbis geeignet. Den Namen des Gasthauses auf der Schwäbischen Alb, wo wir den Abend verbrachten, habe ich vergessen. Die Kreation jedenfalls sah so malerisch aus, dass ich das Rezept unbedingt haben musste.
Vom Butternut-Kürbis, dem oberen, kernlosen Teil, schneide ich feine Scheiben herunter und lege sie auf ein mit Backpapier ausgekleidetes Blech. Darüber pinsele ich reichlich Marinade aus Honig und Olivenöl, gewürzt mit einer halben ausgekratzten Vanilleschote, Salz und Pfeffer. Die Rundlinge brauchen im Ofen bei 180 Grad etwa 20 Minuten, bis sie gar sind. Zum Schluss kommt auf jeden eine ebenfalls runde, ebenfalls dünne Scheibe Ziegenfrischkäse, ein Löffelchen von der Marinade drüber. Nach weiteren zwei Minuten im Backrohr ist das Ganze fertig. Jedes Exemplar sieht aus wie ein Spiegelei, mit umgekehrter Farbverteilung. Um das schöne Bild nicht einzutrüben, sollte es auf jeden Fall ein heller Honig sein. Zum Beispiel Kirschblütenhonig vom Albtrauf, Akazienhonig passt auch. Die milde Süße, die Säure des Käses und der erdige Kürbis verbinden sich harmonisch.
Vom einfachen, regionalen Hirtenmahl ist dieser Genuss weit entfernt. Kürbis wie Gewürzvanille sind südamerikanischen Ursprungs.
In dem alten Bulli riecht es nach Rauch und Wachs. Hintendrin rumpeln verschiedene Gerätschaften – Imkerautos in Europa, werde ich bald wissen, sind einander ziemlich ähnlich. In der Mittagszeit braucht man von West bis nach Bad Cannstatt eine gute halbe Stunde. Stop and go auf einer der verstopften Hauptachsen, an Versicherungen und Geschäftszentren vorbei, dem von Baggern und Kränen umzingelten Bahnhof. Die Luft in der europäischen Hauptstadt des Feinstaubs ist nach dem Unwetter besser als sonst.
«Haben die Bienen Probleme mit dem Feinstaub?»
«Nicht so sehr. Sie filtern die winzigen Partikel, im Honig sind keine Rückstände. Allerdings haben Wissenschaftler festgestellt, dass die Bienen schlechter zu den Blüten finden, weil die Staubschicht die Farben und Gerüche dämpft, die sie anziehen.»
Über den Neckar geht es, am Wasen vorbei, rechts ab. Der Ort ist genauso unwirtlich wie auf dem Satellitenbild: ein Dreieck zwischen der Festwiese und dem Mercedes-Benz-Motorenwerk, im Zentrum das schon lange verlassene ziegelrote Zollamt. «Betriebsstätte» nennt Miltenberger sein Hauptquartier, und so prosaisch ist es auch. Ein Unterstand, der früher die Laderampe überdachte, mit ein paar Möbeln bestückt. Für Imkerzwecke gut geeignet, Strom ist da, ein Wasseranschluss, Handwerkszeug an Zahl überschaubar. Die Werkstatt ist zugleich Depot, hat genug Platz für Bienenkästen und Rähmchen, Wachs et cetera – und ein gelbes Lastenfahrrad mit Elektroantrieb.
So ein Stadtbauer braucht offenbar nicht viel. Miltenberger zählt sich zu den Bauern. So möchte er gesehen werden, als ein Bauer besonderer Art, der keinen Hof braucht und nicht einmal eigenes Land, sondern nur eine Art Lufthoheit, also Flug- und Nutzungsrechte auf der Höhe des Blütenhorizonts, im Umkreis von zwei, drei Kilometern.
Etwa dreißig Bienenstöcke, Jungvölker, stehen hier in Reihen. Mit den Augen folge ich ihrem Flug und erkenne die Vorzüge des Ortes: Zwischen geborstenen Betonplatten und Kies ranken mächtig die Brombeeren. Es gibt massenhaft Weißklee und Giersch. Hier und da eine Insel Glockenblumen, allerhand Taubnesseln, etwas weiter entfernt, Richtung Neckar, eine Lindenallee. Eine reiche Bienenweide, auf den zweiten Blick hat der Standort sogar Charme.
Mittlerweile haben sich die letzten Ausläufer des Sturmtiefs verzogen. Der Himmel ist fast blau. Und Tobias Miltenberger in voller Aktion: Er will zwei Schwärme einlogieren. Sein Kompagnon David Gerstmeier, ein zierlicher junger Mann mit Rauschebart, hat zwei nagelneue Buchenholzkästen auf dem Vorplatz aufgestellt. Auf dem Boden, vor dem Einflugloch, liegt je ein Brett bereit.
«Man kann die Bienen aus der Fangkiste auch einfach in den Kasten kippen», erklären sie mir, «die schnelle Methode. Aber die langsame ist besser. Die Bienen sollen sich ihr neues Zuhause aneignen. Einlaufen, wie es in der Imkersprache heißt.»
Miltenberger nimmt die erste Fangkiste, wiegt sie, etwa ein Kilo hat der Schwarm. «Ein kleiner.» Und schüttet den Inhalt auf das vorbereitete Brett. Ich mache einen beherzten Schritt nach vorn. Wir sind ungeschützt, die Männer haben nackte Arme. Zu unseren Füßen ein bewegter Teppich von gestreiften Leibern mit pelzigen Kragen, Flügel, Beinchen. Zehntausend Bienen oder mehr, die in alle Richtungen laufen, hier und da fliegt eine auf. Es ist unglaublich: Das ganze Volk, das normalerweise im Kasten verborgen ist, ist da zu sehen! In überwältigender Mehrheit Arbeitsbienen, nach längerem Hinschauen erkenne ich einen Drohn. Sein Körper ist etwas größer, kompakter.
«Da!» Tobias Miltenberger hat einen auf dem Arm. «Nehmen Sie!» Er lässt den Drohn auf meinen Handrücken gleiten.
«Keine Angst, die männlichen Bienen haben keinen Stachel.» Es kitzelt. Und fort ist er.
Der Imker deutet mit dem Finger in die wuselnde Menge. «Die Königin!» Ein wenig klingt es, als würde ein Herold Ihre Majestät Elizabeth die Zweite ankündigen.
Ich beuge mich tief hinunter, und jetzt sehe ich sie auch: lang und schlank der Hinterleib, das Gelb intensiv, fast golden. Obenherum ist sie nackt, ohne Pelz. Inmitten von Arbeitsbienen dreht sie sich, scheinbar ziellos, hin und her.
Auf den Armen und der Stirn des Imkers lassen sich immer wieder Bienen nieder. Er scheint ihre Nähe zu suchen – und keine sticht. Gibt es da so etwas wie Vertrautheit?
Mensch und Biene sind einander fremd, glaubte ich zu wissen. Vom wirtschaftlichen Verhältnis abgesehen, das man mehr oder weniger ausbeuterisch oder ethisch gestalten kann, und sie bleiben es auch. Wie alle Insekten, ob Fliegen, Wespen, Ohrenkneifer oder Ameisen, eklig oder feindlich, einer anderen Welt angehörig, so lernte ich als Kind.
Im Gegensatz zu Hund und Katze, die unseren Blick erwidern, die wir berühren und erziehen – und sie uns. Oder zum Pferd, das ein Individuum ist wie ich und einen Namen hat und mit dem man im Reiten eins werden kann. Selbst Nutztieren wie Kühen oder Schweinen kann man nahe sein, als kleines Mädchen habe ich sie gerne gestreichelt, mochte ihre sehr verschiedenen Gesichter und ausdrucksstarken Töne.
«Ich arbeite fast immer ohne Schutzkleidung», sagt Miltenberger. «Bienen suchen die Wärme des Menschen. Ihre Körpertemperatur und unsere sind ähnlich, die der Bienen bei 35 Grad, die menschliche 2 Grad höher. Durch den Kontakt sind sie freundlicher. Jedes Volk ist anders, das kann man mit etwas Übung sogar riechen.»
«Kennen die Bienen auch den Geruch des Imkers?»
«Ja, das ist auch ein Vorteil.»
«Und es scheint Spaß zu machen.»
«Es ist faszinierend. Anderen Lebewesen begegne ich von außen. Dem Bienenvolk kann ich in gewisser Weise von innen begegnen.» Er geht in die Hocke, im Bienenteppich entsteht eine kleine Unruhe.
«Wenn ich einen Bienenkasten öffne, schwirren manchmal Hunderte um mich herum. Dann tauche ich in dieses Wesen ein Stück weit ein.»
«Schöne Vorstellung!»
«Ein alter Imker hat mich mal gefragt, was denn das größte Tier auf unserem Planeten ist. Der Blauwal, was sonst, habe ich geantwortet. Aber er meinte die Bienen, das Bienenvolk. Auf der Suche nach Nahrung dehnt es sich auf zwei, drei oder sogar fünf Kilometer in der Landschaft aus. Nachts, im Kasten, ist es auf ein paar Kubikzentimeter zusammengeschrumpft. Und wird wieder zum Riesen, sobald es hell wird. Wie ein Ausatmen und Einatmen und wieder Ausatmen.»
Wenn ich ihn richtig verstehe, bewegt sich der Imker in diesem Tier, mit seinen Händen, zuweilen mit dem gesamten Körper. Ein Gebilde aus Zehntausenden Elementen in ständiger Bewegung. Mal ist es luftig, mal kompakt.
«Unser Bezugspunkt ist nicht die einzelne Biene, sondern das Ganze: der Bien.»
«Der Begriff ist von Gerstung?»
«Gerstung!» Miltenberger nickt.
Dieser Name, den ich bis vor kurzem nicht kannte, wird später immer wieder fallen, teilweise in abenteuerlichen Betonungen, die ich nicht gleich verstehe, «Gerstong» «Görstang», «Gerrschtung». Ende des 19. Jahrhunderts hat dieser Georg Ferdinand Gerstung das Bienenvolk als einen Gesamtorganismus definiert: die Arbeiterinnen, im Sommer bis zu 50000, die Drohnen, einige hundert, und die Königin, drei Bienenwesen samt Waben und Gehäuse, die nur als Gesamtes lebensfähig seien, als Einzelne zugrunde gehen. Gerstung war Imker. Fast alle Bienentheorien sind aus der Praxis geboren, dem Beobachten und Wirtschaften. Imkerhandwerk und Wissenschaft gehen in der Geschichte lange Hand in Hand. Selbst heute, wo Neurowissenschaftler und Genomforscher (2006 wurde das Genom der Biene entschlüsselt, sechs Jahre nach dem des Menschen) den Ton angeben, gehört zum Imkern der forschende Blick – verstehen zu wollen, was im Bienenvolk gerade geschieht, das Staunen über die noch immer ungelösten Rätsel.
Tobias Miltenberger ist das personifizierte Staunen. Und er respektiert das Eigenleben seiner Völker. Sich ganz und gar auf die Bienen einzulassen sei die wichtigste Fähigkeit in diesem Beruf. So ähnlich hatte ich es schon in einem Arbeitskalender für Imker gelesen, irgendwo zwischen fachlich trockenen Ratschlägen und Anweisungen hatte der Satz gestanden: «Die Grundlage des Imkerns ist die Liebe zu diesem faszinierenden Gemeinwesen Bien.»
In dem Bienenteppich vor uns verändert sich etwas, die Masse scheint sich zu ordnen. Einige waren schon in den Kasten gekrabbelt, Kundschafterinnen, und haben ihn für gut befunden. Jetzt strömen sie hinein, wie von einem Magneten angezogen. Die vordersten wackeln mit dem Hinterteil.
«Sie sterzeln», erklärt Miltenberger. «Sie klappen die siebte Rückschuppe auf, da sitzen die Duftdrüsen, und verteilen die Pheromone mit dem Flügelschlag, damit die Bienen hinter ihnen leichter reinfinden. Dadurch entsteht eine Duftschneise. So etwas Ähnliches wie die Lichtschneise, die die Landebahn für Flugzeuge markiert.»
Das Einlaufen ist zu Ende, der zweite Schwarm hat es schneller geschafft. Nun werden die Kästen zu den anderen Jungvölkern gestellt, und dort geht die Arbeit weiter. «Völkerkontrolle!» Jeder Bienenstock muss regelmäßig durchgesehen werden, jetzt in der Hochzeit des Brutgeschäfts besonders. Vorsichtig hebt Miltenberger den Deckel ab, Duft und Wärme strömen uns entgegen. Ein Stoß aus dem Smoker, und die Arbeitsbienen am Rand verziehen sich sofort ins Innere.
«Waldbrand aus Dose!» Miltenberger lacht. «Jeder hat dafür sein eigenes Rezept. Ich nehme zerrissene Eierkartons zum Anzünden, dann Sägespäne und obendrauf etwas Gras, damit keine Funken entkommen.»
Der Rauch habe nicht etwa eine betäubende Wirkung, sondern löse Alarm aus. Eine genetische Erinnerung aus der Zeit, als die Apis mellifera noch eine Waldbewohnerin war und in Baumhöhlen lebte. Waldbrand heißt höchste Gefahr, auf, auf, die Honigmägen füllen, Proviant fassen für die Flucht.
«Genau das machen sie jetzt gerade. Und ich kann so lange ruhig arbeiten.»
Stadtbauernarbeit! Da muss man wetterfest sein und körperlich fit, Holzkästen sind schwer. Ausdauernd und fingerfertig, der Imker ist der Feinmotoriker unter den Bauern. Tobias Miltenberger nimmt ein Rähmchen heraus, hier eines und dort eines. Hält das Wabengebilde mit Hunderten von Bienen gegen das Licht, dicht vors Auge, und prüft: Ist Brut da und wie viel? Ist genug Pollen eingelagert? Ausreichend Honig, den sie als Nahrung brauchen und um sich zu wärmen, oder muss man füttern? Benötigen sie mehr Platz? Dann hängt Miltenberger neue, leere Rahmen in den Kasten. Bei ihm gibt es keine vorgefertigten Mittelwände, die Bienen dürfen ihre Waben selber bauen.
Wo befindet sich die Königin? «Wenn keine Eier oder Larven da sind, ist sie womöglich nicht befruchtet.»
«Und?»
«Winzige Larven. Schauen Sie.»