Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Alaskas wilde Geister, always inspiring

ISBN 978-3-492-96374-9

September 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2013

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Auf dem Herbert Glacier bei Juneau (Dirk Rohrbach)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Vorweg

Size matters – Klar kommt’s auf die Größe an!

Amerikaner lieben Statistiken. Das belegen eindrucksvoll die unzähligen Grafiken und Tabellen, die selbst den größten Flatscreen bei jeder Sportübertragung zuzupflastern drohen. Karrierebestleistungen von NBA-Stars, längste Siegesserien von Footballteams, Spitzengeschwindigkeiten geworfener Baseballs, Chancen für Aufholjagden in reziproker Abhängigkeit von Mondstand und dem Mittelwert der Hotdog-Verkäufe in der Südkurve bei Montagsspielen. Oder so …

Nähern wir uns Alaska also wie die Amerikaner. Berauschen wir uns an Zahlen, die uns ehrfürchtig erstarren lassen werden ob der Unfassbarkeit der Dimensionen, die vor allem eins klarmachen: Größe spielt in jedem Fall eine Rolle! Basta. Für Bescheidenheit ist hier kein Platz, denn Alaska ist groß. Verdammt groß. Und zwar so groß, dass sogar die sonst auf ihre Dimensionen so stolzen Texaner kleinlaut werden. Denn selbst wenn man Alaska halbieren würde, wäre Texas immer noch kleiner als die eine Hälfte. Mit seinen riesigen 1,5 Millionen Quadratkilometern entspricht Alaska etwa einem Fünftel der Fläche der gesamten lower 48, der anderen 48 kontinentalen Bundesstaaten. Deutschland passt mit dagegen mickrigen 350 000 Quadratkilometern mehr als viermal in Alaska. Dafür gibt es bei uns mehr als hundertmal so viele Einwohner. Die zurzeit gut 730 000 Einwohner Alaskas bedeuten rein rechnerisch, dass auf einen Quadratkilometer etwa ein halber Mensch kommt. Sonst aber übertrumpft Alaska in fast allen mehr oder minder relevanten Aspekten auf eindrucksvolle Weise den Rest der USA. 54 000 Kilometer Strand und Küste entsprechen mehr als dem Doppelten dessen, was die 48 südlichen Kontinentalstaaten zusammengenommen an Meereslinie aufzuweisen haben. Die flächenmäßig größte Stadt Amerikas liegt ebenfalls in Alaska: Sitka im Südosten umfasst rund 12 000 Quadratkilometer und ist damit viermal größer als der Bundesstaat Rhode Island und etwa zehnmal größer als New York oder Los Angeles. Die etwa 9000 Einwohner von Sitka haben zudem deutlich mehr Platz hinter ihren Häusern und müssen sich in ihrem Alltag weder mit Smog noch Megastaus plagen. Dass der höchste Berg Nordamerikas in Alaska liegt, ist hinlänglich bekannt. Mit seinen massigen 6194 Metern thront der Denali über dem gleichnamigen Nationalpark inmitten Zentralalaskas und ist Teil von über einer Million Hektar Naturschutzgebiet in Alaska. Fast genauso viele Karibus leben hier, also mehr als Menschen. Und auch das stärkste jemals aufgezeichnete Erdbeben Nordamerikas wurde in Alaska registriert. Am Karfreitag 1964 bebte der Prince William Sound mit einer Stärke von 9,2, mehr noch als das Beben vor Japan im März 2011. Die Seiten dieser Gebrauchsanweisung ließen sich problemlos mit weiteren imposanten Zahlen füllen, am Ende stünde vor allem die Erkenntnis: Size matters! Klar kommt’s auf die Größe an, egal, was Ihnen in Ihrer Kindheit und Jugend eingebläut wurde. Aber Alaska allein darauf zu beschränken würde diesem in vielerlei Hinsicht großartigsten aller amerikanischen Bundesstaaten nicht gerecht werden. Genug also der Zahlenspiele, für den Moment.

The Last Frontier, prangt es unmissverständlich und nicht ohne einen gewissen Stolz auf den Nummernschildern der alaskanischen Trucks und SUVs. Und der Name ist Programm und Erklärung für viele Phänomene, auf die man hier im Norden trifft. Aber der bei Weitem größte amerikanische Staat, der erst 1959 offiziell in den Verbund aufgenommen wurde, ist mehr als nur die letzte Wildnis. Alaska ist die Verkörperung eines Mythos von Freiheit und Gesetzlosigkeit, wo man sich das Abendessen noch selbst mit der Flinte schießt und dann in seine mit eigenen Händen erbaute Blockhütte schleift.

Selbst für viele Amerikaner bleibt Alaska das Land ihrer Träume und Phantasien. Nicht um hier zu leben, dazu wäre es im Winter ja viel zu kalt und dunkel. Nein, aber einmal im Leben alaskanischen Boden betreten heißt das Gelobte Land sehen. Ein Land, das für viele Erstbesucher jenseits jeglicher Vorstellungskraft und offensichtlich auch weit abseits der eigenen Realität liegt. Anders lassen sich tatsächlich gestellte Fragen wie »Wann genau schaltet ihr das Nordlicht an?«, »Ist das da Styropor auf dem See oder ein Eisberg?«, »Lebt ihr nicht alle in Iglus und fahrt Hundeschlitten?«, »Wann verwandeln sich die Karibus in Elche?«, »Kann ich auf den Gipfel des Denali fahren?«, »Nehmt ihr amerikanisches Geld?«, »Kostet das Porto von hier aus mehr in die USA?« kaum erklären. Manche freuen sich auch über den überraschend gut verständlichen in Alaska geborenen Tourguide und beglückwünschen ihn zu seinem nahezu akzentfreien Englisch. Das sind vermutlich die gleichen Touristen, die mit Tanktop und Shorts aus dem Flieger steigen und sich wundern, warum es so kühl ist und keiner Spanisch spricht, nachdem Alaska auf der Landkarte doch direkt neben Mexiko liegt. Womit sie ja rein grafisch recht haben, weil aus Platzgründen eben auf vielen Karten nur ein kleiner Kasten für Alaska gleich neben der Baja eingeklinkt wird. Man mag sich über die vermeintlich törichten Fragen amüsieren, sie sollten aber auch alarmieren. Denn wer mit einer solchen Vorstellung hierher reist, ist vielleicht nur einen Schritt von einer wirklich gefährlichen Situation entfernt, in die er aus Unwissenheit hineinschlittert.

Ich machte meine erste Alaska-Erfahrung im Sommer 2009. Mit einem Mietwagen war ich Anfang August am Ende eines langen roadtrips aus Los Angeles im Norden angekommen. Ich wollte für meine im darauffolgenden Jahr geplante Komplettbefahrung des Yukon in einem Birkenrindenkanu* recherchieren und auch ein paar Tage auf dem Fluss paddeln. Der Norden hatte mich schon fast zwanzig Jahre zuvor bei einer mehrwöchigen Tour durch den Sarek-Nationalpark im schwedischen Teil Lapplands in seinen gern und viel zitierten Bann gezogen. Gepaart mit den Geschichten von Jack London wuchs meine Sehnsucht nach der reinen Klarheit und Weite der Landschaft ins Unermessliche. So war die Idee des Kanu-Abenteuers auf der mehr als 3000 Kilometer langen Lebensader des amerikanischen Nordens entstanden. In jenem Sommer 2009 erkundete ich zunächst das kanadische Yukon Territorium, paddelte in einem Mietcanadier von Whitehorse nach Carmacks und besuchte Dawson City, die Hauptstadt des legendären Goldrausches Ende des 19. Jahrhunderts, der auch das Leben von Jack London verändern sollte. Als junger Mann zählte er zu den Abertausenden erfolgloser Glückssucher, landete aber wenig später mit seinen Romanen über diese Zeit doch noch den großen Coup und schuf damit den unvergleichlichen Mythos, der bis heute anhält. Zwar befanden sich auch damals schon fast alle relevanten Orte auf kanadischem Gebiet, nicht selten allerdings scherten sich die vielen Abenteurer aus den USA einen Dreck darum. Für sie lag das Gold in Alaska, das erst wenige Jahre zuvor für schlappe 7,2 Millionen Dollar von den Russen an die Amerikaner verhökert worden war. Zumal die meisten ihr Wagnis auch genau dort in Alaska begonnen hatten. Mit Schiffen aus San Francisco, Seattle oder Vancouver erreichten sie durch die Inside Passage einen Fjord am schmalen alaskanischen Küstenstreifen, wo innerhalb kürzester Zeit gleich zwei Städte florierten. Skagway und Dyea buhlten um Gunst und Profite. Während die eine Anlegemöglichkeiten für die Schiffe bot, war die andere der Start des sagenumwobenenen Chilkoot Trail. Dieser Handelspfad der Küstenindianer galt als vielversprechendste Route zu den Quellseen des Yukon und damit als idealer Ausgangspunkt für den kürzesten und schnellsten Weg zu den Goldfeldern am Klondike River.

Dort hatte der Tlingit-Indianer Skookum Jim im Sommer 1896 den ersten Klumpen Gold aus dem Wasser gefischt. Die Kunde verbreitete sich im Norden wie ein Lauffeuer, der Süden allerdings erfuhr erst knapp ein Jahr später mit der Ankunft der ersten, mit reichlich Gold beladenen Schiffe an den Häfen der Westküste davon. Verzweifelt und gierig setzten sich Zehntausende hastig in Bewegung, nahmen eine monatelange Anreise und unmenschliche Torturen auf sich, um am Ende meist kläglich zu scheitern. Auch davon erzählen die historischen Fotografien, Berichte und Relikte in den Museen des Nordens. Besonders eindrücklich in Skagway, das sich am Ende gegen Dyea, von dem heute nur noch die spärlichen Reste der Pieranlagen bei Ebbe aus dem Meerwasser ragen, durchsetzen konnte.

Und genau dort zog es mich gegen Ende meiner ersten Stippvisite im amerikanischen Norden hin. Der Trubel auf dem Broadway überraschte mich. Tausende von Kreuzfahrttouristen flanierten hektisch über die hölzernen Bürgersteige. Ihre Alaska Fleece Sweater hatten viele vermutlich schon bei den Stopps in Ketchikan, Juneau oder an Bord ihrer riesigen Kasinoschiffe im Souvenirshop erstanden. Nun galt es, in den zahllosen Schmuckgeschäften, in denen arabischstämmige Saisonarbeiter Diamant-Colliers, Ohrringe oder Uhren feilboten, den Nepp vom Schnäppchen zu unterscheiden, bevor der Dampfer am Abend wieder ablegte. Die proper renovierten Häuserfassaden aber entschädigten für den schrillen Tinnef-Marathon. Ich besuchte das wirklich sehenswerte visitor center der Nationalparkbehörde gleich neben dem Bahnhofsgebäude der historischen White Pass & Yukon Railroad, die kurze Zeit nach Ende des Goldrausches in Betrieb genommen worden war und heute Besucher über eine der spektakulärsten Eisenbahnschluchten der Welt bis zur kanadischen Grenze und manchmal auch ein Stückchen weiter transportiert. Schließlich kaufte ich ein Buch, das den Aufstieg über den Chilkoot Trail mit anschließender Kanutour bis nach Dawson beschrieb, besuchte den alten Friedhof von Dyea, auf dem unter dichten Baumwipfeln Lawinenopfer aus dem Goldrausch begraben liegen, und campierte für eine Nacht auf dem Zeltplatz des Nationalparks. Am nächsten Morgen erhaschte ich noch einen kurzen Blick auf den Chilkoot-Trailhead und machte mich auf den Weg zurück nach Süden. Für mich stand fest: Ich würde im nächsten Jahr zurückkehren, hier über den Chilkoot Pass zu den Quellseen des Yukon aufsteigen und dann wie die Goldsucher zunächst bis Dawson City und weiter durch Alaska zum Beringmeer paddeln. Diese Reise wurde zu einem Wendepunkt, in vielerlei Hinsicht. Noch nie zuvor hatte ich ein Land erlebt, das mich mit seinen Bewohnern so geflasht hat!

Alaska ist für viele nur riesig, kalt und wild. Überleben können hier ausschließlich raubeinige Haudegen, die Grizzlys mit bloßen Händen niederringen, ihre Beute noch mit der Keule erlegen und nach jeder erfolgreichen Elchjagd zuerst in die blutige Leber beißen. Ja, hier oben kommen nur die härtesten Kerle durch! Das zierliche Vergissmeinnicht als offizielle Staatsblume wirkt da zunächst etwas unpassend. Aber auch das Motiv der Staatsflagge, das bei einem Malwettbewerb für Schüler im Jahr 1927 ausgewählt wurde, belegt, dass selbst in Alaska Platz für sentimentale Romantiker bleibt. Der dreizehnjährige Gewinner Benny Benson zeichnete das Sternbild des Großen Bären und den Nordstern auf dunkelblauem Grund. Während die meisten der rund 700 eingereichten Entwürfe Eisbären, Goldpfannen, Nordlichter oder die Mitternachtssonne kombinierten, ließ sich Benny von dem inspirieren, was er jeden Abend sah, wenn er nach oben blickte. »Das Blau steht für den Himmel über Alaska und die Farbe des Vergissmeinnichts, das hier wächst. Der Nordstern steht für den zukünftigen Staat Alaska, den nördlichsten der Union, und der Große Bär symbolisiert seine Stärke!«

Harte Schale, weicher Kern. Auch deshalb habe ich mich in Alaska verliebt.

Into the Wild

Unterwegs auf Wasserwegen und legendären Highways durch die wilde Weite

Zu Land, zu Wasser oder aus der Luft. Sie haben die freie Wahl, wie Sie Ihre Reise in die letzte Wildnis beginnen möchten. Wobei eine Variante eigentlich von vornherein ausscheidet, die mit dem Flugzeug. Dann berauben Sie sich nämlich der Urerfahrung, wie weit Alaska vom Rest der amerikanischen Welt entfernt und wie abgelegen es tatsächlich ist. Der sommerliche Direktflug aus Frankfurt macht Anchorage schneller erreichbar als zum Beispiel Los Angeles oder Seattle an der Westküste. Wenn Sie nach nicht mal zehn Stunden aus der Maschine steigen, fehlt Ihnen aber jedes Gefühl für die Dimensionen hier oben im Norden und das essenzielle Grundverständnis, die unvorstellbare Weite des Landes zu erfassen – Voraussetzung, um viele Sonderheiten zu begreifen, denen Sie auf Ihrer Reise begegnen werden. Nur wer den langen, mitunter beschwerlichen Weg über Land oder Wasser wählt, begreift, warum die Alaskaner vom Rest wie selbstverständlich nur als outside, außerhalb, sprechen, so als ob es ein anderer Planet wäre. Und das trifft in vielerlei Hinsicht auch zu, wie Sie beim Lesen noch feststellen werden.

Ob Fähre oder Auto hängt von der zur Verfügung stehenden Zeit und Ihren persönlichen Vorlieben ab. Spektakuläre Fjorde und garantiert schlechtes Wetter oder spektakuläre Berge und nicht enden wollende, öde Prärie. Wale, Robben und Adler oder Bisons, Karibus und Bären – Tiere werden Sie in jedem Fall sehen, egal für welchen Anreiseweg Sie sich entscheiden. Vieles spricht für den Wasserweg, nicht nur die spektakuläre Szenerie. Auch die Russen als erste Europäer entdeckten Alaska für sich übers Wasser. Gut, damals, Mitte des 18. Jahrhunderts, gab’s auch keine andere Möglichkeit, als über die rauen Gewässer des amerikanischen Nordpolarmeers nach Osten zu segeln. Allen voran der dänische Marineoffizier Vitus Bering, der, im Auftrag des Zaren stehend, als Entdecker Alaskas gilt. Die wenig heroische Expedition 1741 endete für ihn zwar tödlich, sein Name aber blieb untrennbar mit Alaska verbunden und findet sich seither auf jeder Landkarte der Region. Mit an Bord damals war übrigens auch der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller aus Bad Windsheim, der als erster Europäer naturwissenschaftliche Erkenntnisse über Alaska sammelte. Berings Schiff erreichte die Südküste Alaskas, bevor der ausgelaugte Kapitän umgehend die Rückreise über die Aleuten befahl. Heute vernetzt das Alaska Marine Highway System diesen Teil der Küste und die Inside Passage, die vielfältige Inselwelt vor der nordamerikanischen Westküste. 1963 in Betrieb genommen, verkehren mittlerweile elf staatliche Fähren zwischen 33 Siedlungen, die sonst fast alle nur noch aus der Luft erreichbar wären. Eine herausragende Besonderheit im ansonsten komplett rund ums Autofahren konzipierten Amerika, die wesentlichen Anteil hat am entspannten Wesen der Alaskaner. Wer für seine Mobilität abhängig ist von quasi öffentlichen Verkehrsmitteln und nicht mal eben in den Truck springen kann, um einen Arzttermin wahrzunehmen oder eine dringende Besorgung zu machen, muss sich in gewisser Weise von Stress und Termindruck verabschieden. Oder wahnsinnig werden. Denn ob Fähren anlegen und Flugzeuge landen können, hängt zusätzlich noch von der manchmal sehr eingeschränkten Kooperationsbereitschaft von Mutter Natur ab. Auch eine Grunderkenntnis, die jeder Alaskaner und Besucher demütig akzeptieren muss, will er nicht sich oder andere ernsthaft in Gefahr bringen. Aber davon wird später noch ausführlich die Rede sein.

Rund 300 000 Passagiere, 100 000 Fahrzeuge und unzählige Güter werden jährlich auf den Fähren über 5500 Wasserstraßenkilometer transportiert, auch um den Bewohnern der Siedlungen eine möglichst hohe Lebensqualität zu sichern, wie der staatliche Betreiber stolz auf seiner Website verkündet. Wie abhängig Alaska, vor allem im Südosten, tatsächlich vom Wasserweg ist, wird deutlich unterstrichen durch die Lage der Hauptstadt an der Inside Passage. Zwar gibt es nach Juneau regelmäßig Linienflüge, aber keine Straße führt von außerhalb hierher. Wenn das Wetter also durch Sturm oder schlechte Sicht den Flugverkehr für manchmal mehrere Tage lahmlegt, sind die Fähren die einzig verlässliche Möglichkeit rein- oder rauszukommen. Solange der Seegang ein Andocken und Auslaufen zulässt.

Noch eindrucksvoller als die Zahlen des Alaska Marine Highway System sind die Bilanzen der Kreuzfahrtindustrie, die zuletzt stetig zu wachsen schien. Rund eine Million Besucher werden so schätzungsweise im Jahr nach Alaska transportiert, auffallend wenige davon aus Europa, wo man es offenbar lieber unabhängiger mag und als Individualtourist sein Wohnmobil über den Alaska Highway nach Norden steuert. Fähren und Kreuzfahrtschiffe teilen sich die Route durch die Inside Passage weitgehend und liegen preislich gar nicht so weit auseinander, wie man gemeinhin annehmen würde. Für den Fährtransport von Bellingham im Staat Washington, gut anderthalb Autostunden nördlich von Seattle, bis nach Skagway am Ende der Inside Passage zahlen Sie pro Person zurzeit um die 400 Dollar (allerdings ohne Kabine, für die nochmal mindestens 400 Dollar fällig wären). Die gleiche Strecke mit dem cruise ship muss nicht, kann aber deutlich mehr kosten, je nach Kabinenlage und Komfortlevel. Auf die Fähre steigen Sie außer in Bellingham auch in Prince Rupert in British Columbia, die Kreuzfahrtschiffe starten und enden in Seattle oder Vancouver. Großer Vorteil für viele Nutzer der Fähren: Sie können ihren Truck, das Wohnmobil, Fahrrad oder Kajak gegen Aufpreis mitnehmen und jederzeit unterwegs aussteigen, in den Siedlungen verweilen und dann die nächste Fähre für die Weiterfahrt nutzen.

Mehr als tausend Inseln formen die Inside Passage als Teil des südöstlichen Alaska Panhandle, des dem kanadischen British Columbia vorgelagerten Landzipfels. Ist man hier unterwegs, funken die Netzbetreiber ihre Willkommensnachrichten an die Handys, die beim Durchfahren signalisieren, dass die scheinbare Wildnis offenbar doch nicht so wild ist, und wenn der kanadische oder amerikanische Anbieter jeweils dominiert. Denn wer auf dem Wasser nach Alaska will, segelt erst mal anderthalb Tage vor der Westküste Kanadas nach Norden, bis er mit Ketchikan die erste alaskanische und damit auch wieder amerikanische Siedlung erreicht. In dieser Zeit bleibt ausreichend Gelegenheit, sich auf das mitunter rustikale Jugendherbergsambiente der Fährschiffe einzustellen.

Dutzende von Rucksacktouristen haben sich vor dem Ablegen in hastiger Manier auf dem solarium, dem Sonnendeck, einquartiert und die Klappstühle unter den wärmenden Heizstrahlern der überdachten Liegefläche mit Schlafsäcken und Reisetaschen befüllt. Eine Etage tiefer rüttelt die unablässige Meeresbrise beängstigend heftig an den mitgebrachten bunten Zelten, die ganze Familien beherbergen und sich nur durch grobe Klebestreifen gesichert ans Metalldeck klammern. Auch die recliner lounge ähnelt mehr einem Sammellager für Flüchtlinge als einer hippen chillout zone, in der unaufdringlicher Trancesound aus den Satellitenlautsprechern wabert. Die plüschigen Sitzpolster sind zerschlissen oder weisen dunkle Fleckenränder auf, deren Herkunft man lieber nicht weiter ergründen möchte. Da wirken die zwar nicht verstellbaren, aber auch weniger überfüllten Sitze der observation lounge mit der zweifelsohne besten Sicht auf die meist tief hängenden Wolken ein wenig einladender. Wenn der Nachbar in der Reihe dahinter nicht gerade die mitgebrachte Proviantbox öffnet, aus der plötzlich ein strenger, undefinierbarer Duftmix aus verrottendem Fleisch und saurer Milch entströmt, vor dem man sich unweigerlich aufs Deck retten möchte.

Hier angekommen, peitscht der Wind feinen Wasserstaub ins Gesicht, und man kühlt so rasch aus, dass man bald zurück in den Aussichtsraum flieht, wo weit weg vom Picknicker ein übernächtigter Mitreisender seine Ruhestätte unter einem der wenigen fest installierten Tische fand. Dort produziert er im offenkundigen Bestreben, den gesamten alaskanischen Regenwald entlang der Inside Passage bis zur Endstation niederzusägen, Geräusche, die man keinem normal entwickelten menschlichen Rachenraum zugetraut hätte. Ähnliches gilt übrigens für seine bis auf die Socken entblößten Füße und das Aroma, das sie verströmen. Da erscheinen die Gemeinschaftsduschen und Toiletten überraschend sauber, auch wenn die eine oder andere Nasszelle während der Fahrt garantiert wegen Funktionsuntüchtigkeit vorübergehend oder auch bis zur Ankunft außer Betrieb genommen werden muss.

Ja, spätestens mit dem ersten Landgang nach anderthalb Tagen Isolation auf der Fähre fühlen Sie sich ein wenig zugehörig zur verschworenen Gemeinschaft der Alaskaner, die das verlässliche öffentliche Verkehrssystem der Fähren genauso schätzen und nutzen wie Sie zu Hause in Europa womöglich Bus oder Straßenbahn. Das monotone Röhren der Motoren hat sich längst zu einer äußerst meditativen Variante des white noise gemausert, die Sie nachts sanft in den Schlaf wiegt. Der undurchdringlich scheinende Wolkenvorhang zeigt erste Lücken, durch die das unwirkliche Blau der Gletscherkappen zwischen den Küstenbergen schimmert. Die Weißkopfseeadler auf der Hafenmole verfolgen zunächst misstrauisch Ihren Landgang, um sich dann majestätisch zu einem weiter entfernten Baumwipfel zu schwingen. Und Sie sind froh, sich Alaska zu nähern wie die Alaskaner, gemächlich und ohne Glamour. So bereitet Sie diese wahrhaftige Entschleunigungserfahrung gleichsam vor auf Ihr unvergessliches Alaska-Abenteuer, und die Fahrt mit der Fähre wird Teil der Reise statt nur pragmatisches Fortbewegungsmittel zum Zweck. Wenn dann nach fast drei Tagen unterwegs am Ende der Inside Passage im Taiya Inlet die Piers von Skagway auftauchen, fällt es nicht schwer, sich in die Erleichterung und Begeisterung der Goldsucher zu versetzen, die sich zu Zehntausenden Ende des 19. Jahrhunderts über den gleichen Weg Richtung Klondike aufmachten.

Eine Freundin aus Deutschland erzählte mir begeistert, dass die Inside Passage das einzig wahre »Gateway to Alaska« sei. Dreimal war sie selbst so mit der Fähre eingereist, hatte auf dem solarium gewohnt und dort in einem Jahr vier Menschen kennengelernt, die ihr nachhaltig in Erinnerung geblieben sind und das Lebensgefühl Alaskas und den Pioniergeist derer, die dort heute ihr Glück suchen, eindrucksvoll verkörpert haben.

Brian aus Pennsylvania, in den Fünfzigern, Forstarbeiter, geschieden, hatte seinen gesamten Besitz verkauft und nur behalten, was auf die Ladefläche seines alten roten Toyota Trucks passte. Dann war er mit seinem Hund, einem Retriever-Labrador-Mischling, losgefahren, nach Bellingham. Den ersten Winter in Alaska wollte er in der Nähe von Juneau als Holzfäller verbringen und sich eine Hütte bauen. Jahre später lebte er in der Nähe von Cantwell und führte inzwischen Touristen durch den Denali-Nationalpark. Nach Pennsylvania ist er nie wieder zurückgekehrt, zu viele Menschen.

Kid, in seinen Vierzigern, war von Texas aus bis nach Bellingham getrampt. Sein gesamter Besitz passte in einen alten Seesack der US Army. Er hatte zehn Jahre Haft hinter sich, war gezeichnet von zu viel Nikotin, Whiskey und anderen Drogen, hager, hatte jede Menge Tattoos und nur noch wenige Zähne. Seine Kleidung war abgetragen und schäbig. In der Hosentasche trug er ein in Folie eingeschweißtes, zerknittertes und leicht verblichenes Farbfoto, vor seiner Inhaftierung aufgenommen. Es zeigte seine Frau und die beiden damals drei und fünf Jahre alten Kinder. Seine Frau ließ sich später scheiden, noch während er im Gefängnis war, der Kontakt zu seinen Kindern wurde ihm untersagt. Wenn er das Bild rauszog, fing der Zwei-Meter-Mann an zu heulen wie ein Schlosshund. Er hoffte in Alaska auf Arbeit im Strassenbau. Geld besaß er kaum, aber er war stolz darauf, seit dem Knast clean zu sein. Begleitet wurde Kid vom zwanzigjährigen Leo, den er irgendwo auf der Straße getroffen hatte. Leo kam von einer Farm aus Wyoming und war von dort abgehauen, weil er den gewalttätigen Vater und die vielen kleinen Geschwister nicht mehr ertragen konnte. Er hatte nie richtig die Schule besucht, konnte mehr schlecht als recht lesen und schreiben, hatte bisher nur auf der Farm seiner Familie geschuftet. Alaska sollte für die beiden vielleicht ihr last resort, ihre letzte Zuflucht, werden, in der sie es endlich schaffen wollten.

Und dann war da noch John, um die sechzig, aus Santa Monica, Kalifornien. Ein typischer businessman, der geschäftlich in Bellingham zu tun hatte. Als er in Fairhaven die »Malaspina«, eines der Fährschiffe, liegen sah, kaufte er sich kurzerhand eine Karte und ging an Bord – so, wie er war, im Anzug, mit Schlips und Aktenkoffer, ohne Jacke oder sonstiges Gepäck. Er wollte einmal in seinem Leben etwas Verrücktes machen. Beim Schiffspersonal schnorrte er Decken und Kissen fürs solarium, kam strahlend wieder aufs Deck zu seinen neuen Freunden und rief freudig mit dem Kissen wedelnd: »I’ve got pillows!«. Im Bordladen kaufte er dann doch noch eine Windjacke mit dem Alaska Marine Highway-Logo. Als John zwei Tage später in Juneau wieder von Bord ging, meinte er, dass die Zeit auf dem Schiff die schönste seines Lebens gewesen sei. Auf solche Erfahrungen zugunsten eines vielleicht relativ bequemeren und deutlich kürzeren Direktflugs zu verzichten wäre doch schade, oder?

Einzig legitime Alternative zum Alaska Marine Highway System, und die Wortwahl deutet die Ebenbürtigkeit zumindest in der Wertigkeit ja schon an, ist die Anreise über den legendären Alaska Highway, kurz ALCAN (Alaska-Canadian Highway), was mit Blick auf den viel längeren kanadischen Anteil dieser Straßenverbindung auch angemessener scheint. Je nachdem, wo man die Reise mit dem Wagen beginnt, ob in Kanada oder schon in den lower 48 der USA, braucht es bereits mehrere Tage, um den mile marker »0« des Alaska Highway in Dawson Creek, British Columbia, zu erreichen.

Sein Bau gilt für manche neben dem Panamakanal als kühnstes Ingenieurprojekt des 20. Jahrhunderts. Innerhalb von nur acht Monaten stampfte die US-Armee 1942 die 2300 Highway-Kilometer in den nordischen Permafrost. Obwohl es Pläne für eine Straße durch den Norden bis nach Alaska schon länger gab, führte das japanische Invasionsbestreben im Zweiten Weltkrieg Richtung Westküste Nordamerikas letztlich zur raschen Umsetzung. Nach der Bombardierung von Pearl Harbor im Dezember 1941 konnte Präsident Roosevelt seinen kanadischen Kollegen von dieser vermeintlich so wichtigen Nachschubstraße zur Friedenssicherung überzeugen. Tatsächlich besetzten die Japaner mit einem Angriff im Juni 1942 zwei Inseln der Aleuten und drangen damit auf amerikanisches Territorium vor. Das beflügelte die Arbeiten am ALCAN weiter. In Rekordzeit schlugen Tausende von Soldaten eine Schneise durch die Wildnis, trotzten dabei arktischer Kälte, gierigen Moskitoschwärmen und heimtückischen Sümpfen. Die Fertigstellung im Oktober und damit die erste Landverbindung zwischen den kontinentalen USA und Alaska wurde zunächst als heroischer Akt gefeiert, den viele lange für unrealisierbar gehalten hatten. Wenige Monate danach aber vertrieben amerikanische Soldaten die Japaner wieder von den Aleuten, die Japaner zogen sich weitgehend zurück. Der Glanz um den Bau verblasste rasch, zumal sich die eigentliche Grundlage damit erübrigt hatte.

Aber nun war die Straße ja schon mal da, also konnte man sie auch weiter nutzen. Das blieb allerdings lange Zeit ein halsbrecherisches Unternehmen. Das Klima des Nordens, mit Eis und Schnee im Winter und Regen und Schlamm im Sommer, setzte der Schotterpiste hart zu. Manche Abschnitte blieben oft tagelang unpassierbar. Erst als die notdürftigen Brücken ersetzt waren und großflächig asphaltiert wurde, entwickelte sich der Alaska Highway zur Hauptverkehrsader, auf der Güter und vor allem im Sommer Touristen in den Norden transportiert werden. Aber selbst heute noch kann der ALCAN für Reisende eine Herausforderung sein. Die Distanzen zwischen den Siedlungen sind mitunter so lang, dass man die Tankstopps akribisch genau planen muss. Liegt die öde Prärie der kanadischen Plains erst mal hinter einem, belohnt die phantastische Bergkulisse der Northern Rockies den Autofahrer, um dann wieder monotoner Taiga Platz zu machen, durch deren dichte Fichtenwälder man kaum Abwechslung am Wegesrand ausmachen kann. Dafür werden Sie hier möglicherweise während der mindestens dreitägigen Fahrt bis zur alaskanischen Grenze mehr Tiere sehen als im Verlauf der gesamten Reise durch Alaska. Bisons, Elche, Karibus, Dallschafe, Schwarzbären und Grizzlys tummeln sich wie selbstverständlich entlang des Highways im Straßengraben, auf der Suche nach Nahrung oder einer Brise, die zumindest für einen Moment von den lästigen Moskitoschwärmen befreit. Allein deshalb schon lohnt die Fahrt, auch wenn nach vielen Highway-Stunden durch Kanada die Sehnsucht nach Alaska ins Unermessliche steigt. Endlich ankommen mag sich dann zur obersten Priorität entwickeln, egal wie oft Sie im Vorfeld betont haben, der Weg sei das Ziel.

Think Big!