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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2015

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ISBN Printausgabe 978-3-499-62925-9 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-53981-5

www.rowohlt.de

 

ISBN 978-3-644-53981-5

Für Maria

Vorwort

Die meisten Entscheidungen, die wir im Alltag treffen, basieren auf Informationen, die wir von anderen Menschen erhalten. Ob unsere Entscheidungen gut sind oder schlecht, richtig oder falsch, ist deshalb weit weniger von unserem eigenen Urteilsvermögen abhängig, als wir glauben. Denn es steht und fällt alles mit den Menschen, die uns diese Informationen zur Verfügung stellen – und ihren Absichten, ihrer Ehrlichkeit, ihrer Objektivität, ihrer Intelligenz und ihrer Sorgfalt.

Um im Leben erfolgreich zu sein, sei es im Beruf oder im Privatleben, ist es daher von entscheidender Bedeutung, unsere Gesprächspartner bestmöglich wahrnehmen und beurteilen zu können. Dazu gehört nicht nur die Fähigkeit, Menschen charakterlich zutreffend zu analysieren, sondern auch das Vermögen, die Informationen, die wir von ihnen erhalten, systematisch auszuwerten und hinter die Kulissen dessen zu schauen, was uns unsere Gesprächspartner auf rein sprachlicher Ebene mitteilen.

Wenn es darum geht, unsere Mitmenschen zu entschlüsseln, denken die meisten lediglich an die körpersprachliche Ebene, also an Mimik, Gestik und Haltung, weil sie zunächst am offensichtlichsten zu sein scheinen. Auch viele Vernehmungsmethoden richten ihr Hauptaugenmerk auf die Körpersprache. Dabei ist das noch nicht einmal die halbe Miete! Vielmehr muss man sich die Analyse eines Gesprächspartners als großes Puzzle vorstellen, von dem die Körpersprache nur ein einziges Teil ist. Wir brauchen es zwar dringend, um später das Gesamtbild erkennen zu können, aber es ist eben nur eines von vielen.

Wenn wir unsere Gesprächspartner wirklich durchschauen möchten, müssen wir sie auf vielen unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen analysieren. Welche das sind und wie Sie dabei am besten vorgehen, werde ich Ihnen in diesem Buch zeigen.

Während meines Polizeidienstes habe ich über 5000 Vernehmungen systematisch ausgewertet und bin dabei auf immer wiederkehrende Muster in Sprache, Verhalten, Mimik, Gestik usw. gestoßen, anhand derer man nicht nur erkennen kann, ob das Gegenüber lügt oder die Wahrheit sagt, sondern die darüber hinaus Hinweise auf dessen Absichten, seinen Charakter, die Gefühlslage und seine Geheimnisse geben.

Ich werde mit Ihnen also nicht nur das Geheimnis der Körpersprache lüften, sondern Ihnen auch zeigen, wie Sie die Gedanken, Intentionen und Emotionen erkennen können, die sich hinter der Kommunikation verbergen. Dafür mache ich Sie u.a. mit unseren Ur-Instinkten bekannt und zeige Ihnen, wie Sie diese Instinkte im Verhalten anderer erkennen und zu Ihrem Vorteil nutzen.

Am Ende des Buches haben Sie alle Puzzleteile, die Sie zur Analyse Ihrer Mitmenschen brauchen – damit Ihnen nie wieder jemand etwas vormachen kann.

 

Viel Spaß und Erfolg wünscht Ihnen herzlich

Ihr Marco Löw

Schlüssel 1: Die menschlichen Ur-Instinkte

Was sind Ur-Instinkte?

Kommen Ihnen die folgenden Situationen bekannt vor? In einem Meeting sucht der Chef Freiwillige für eine unbeliebte Aufgabe. Keiner meldet sich, stattdessen versuchen plötzlich alle Teilnehmer, sich besonders unauffällig zu verhalten: Sie vermeiden den Blickkontakt, manche sinken gar in ihrem Stuhl zusammen und machen sich klein, das Gespräch erstirbt – und das alles nur, um möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Oder aber: Unter den Abteilungsleitern einer Firma kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit. Als ein Befürworter des zur Debatte stehenden Projekts sich mit Sachargumenten nicht durchsetzen kann, versucht er, den Kollegen persönlich und emotional anzugreifen. Der Streit eskaliert, einer der beiden Kontrahenten springt auf und verlässt den Konferenzraum, um Zeit zu gewinnen und seine Strategie zu überdenken. Er wählt die Flucht.

In beiden skizzierten Situationen kommen die Ur-Instinkte zum Tragen: Einen Sachverhalt zu durchdenken benötigt Zeit – Zeit, die wir gerade in brenzligen Situationen aber oft nicht haben. Genauso wenig wie unsere Vorfahren, wenn diese plötzlich einem wilden Tier oder einem Feind begegneten: Da konnte eine Sekunde des Zögerns bereits über Leben und Tod entscheiden. Deshalb mussten Entscheidungen – z.B. Flucht oder Kampf – sofort getroffen werden. Das war aber nur möglich, wenn man instinktiv reagierte: reflexartig, ohne den Umweg über das Bewusstsein und ohne abzuwägen.

Es ist erstaunlich: Wir leben in einer zivilisierten und hoch technologisierten Gesellschaft, aber unser Verhalten wird nach wie vor von Instinkten geprägt, die bereits unsere Vorfahren in der Steinzeit für die Auseinandersetzung mit Säbelzahntigern oder feindlichen Stämmen benötigten.

Man unterscheidet drei Arten von Ur-Instinkten: Angriff, Flucht und Erstarren. Sie treten meist in Verbund mit Beruhigungsverhalten auf, das in erster Linie dazu dient, den Körper nach Angst und Anspannung wieder in den Normalzustand zu versetzen, d.h., den Pulsschlag zu verlangsamen, die Atmung zu beruhigen etc.

Versetzen Sie sich einmal in die folgende Ausnahmesituation: Sie sitzen gemütlich mit Freunden in einer Kneipe, als die Stimmung unerwartet umschlägt. Ein junger Mann betritt die Wirtschaft, zückt wortlos eine Waffe, eröffnet das Feuer und schießt wahllos um sich. Wahrscheinlich werden Sie nun nicht lange überlegen, was Sie tun, sondern instinktiv handeln: Wenn Sie in unmittelbarer Nähe zur Tür sitzen, versuchen Sie bestimmt zu fliehen. Befinden Sie sich weit vom Eingang entfernt und hat der Amokläufer Sie noch nicht bemerkt, verhalten Sie sich vermutlich so unauffällig wie möglich und würden versuchen, sich zu verstecken. Käme der Killer jedoch direkt mit der gezückten Waffe auf Sie zu, dann bliebe Ihnen nur noch die Wahl, ihm entweder die Waffe zu entreißen oder ihn kampfunfähig zu schlagen – trotz der geringen Aussicht auf Erfolg.

Die Ur-Instinkte brechen sich jedoch nicht nur in derartigen Ausnahmesituationen Bahn, sondern begleiten uns in ganz alltäglichen Momenten: Die meisten von uns haben wohl schon einmal erlebt, wie jemand bei einer heftigen Diskussion wutentbrannt und türenknallend aus der Situation geflohen ist, sprachlos wurde oder zur verbalen Attacke unter der Gürtellinie übergegangen ist. Die Ur-Instinkte Flucht, Angriff und Erstarren sind immer Reaktionen auf eine Bedrohung, ganz gleich welcher Art.

Flucht – wenn nachzugeben klüger ist, als anzugreifen

Die Flucht als Ausweg aus einer bedrohlichen Situation wird meist dann gewählt, wenn die Bedrohung übermächtig ist und ein Angriff die sichere Niederlage bedeuten würde. Stellen Sie sich vor, Sie werden in einer U-Bahn-Station von fünf alkoholisierten Halbstarken bedroht, die ganz offensichtlich auf Streit aus sind. Wenn Sie nicht gerade eine Spezialausbildung im Nahkampf absolviert haben, sollten Sie es nicht mit einer Gruppe aggressiver junger Männer aufnehmen. Da ist es klüger, das Weite zu suchen.

In Alltagsgesprächen geht es glücklicherweise weit weniger gewalttätig zur Sache, dennoch kommen die Prinzipien der Ur-Instinkte auch hier zum Tragen. Denn Diskussionen mit dem Partner, Verhandlungen mit Geschäftspartnern oder auch Besprechungen mit Kollegen können dafür sorgen, dass sich ein Teilnehmer bedroht fühlt – sei es, weil seine Argumentationskette ins Wanken gerät, sein Verhandlungsziel in weite Ferne rückt oder Druck auf ihn ausgeübt wird.

Wie äußert sich der Fluchtinstinkt konkret? Was sagt uns sein Auftreten über unseren Gesprächspartner? Und wie kann man ihn zum eigenen Vorteil nutzen?

Empfindet Ihr Gegenüber eine Aussage, Feststellung, Frage oder ein Argument von Ihnen als Bedrohung, auf die er instinktiv mit Fluchtverhalten reagiert, ist dies für den geschulten Beobachter wahrnehmbar. Denn auf der körpersprachlichen Ebene spiegeln sich gemäß des Carpenter-Effekts (vgl. Seite 251ff.) Gedanken in bestimmten Bewegungen wider. Man spricht in diesem Zusammenhang von ideomotorischen Bewegungen, die sehr subtil ablaufen, aber durchaus sichtbar sind, so wie kleinste Fingerbewegungen oder ein unwillkürliches Kopfnicken. Ein weiteres Beispiel sind Augenbewegungen: Werden wir in einer Gesprächssituation mit Vorwürfen konfrontiert, würden wir häufig am liebsten den Raum verlassen und verschwinden. Dieser Gedanke kann dafür sorgen, dass unser Blick dann kurzzeitig zur Tür wandert oder wir unbewusst unsere Füße in diese Richtung drehen.

Auch die Bitte, die Toilette aufsuchen zu dürfen, ist oft Ausdruck des Fluchtinstinkts. Und zwar nicht nur, weil man sich der Situation entziehen und sich buchstäblich aus dem Staub machen möchte, sondern, weil man tatsächlich Harndrang verspürt. Der evolutionäre Hintergrund: Mit leerer Blase läuft man schneller! Was also in grauer Vorzeit über Leben oder Tod entscheiden konnte, beispielsweise bei der Flucht vor einem wilden Tier, ist bis zum heutigen Tag instinktiv in uns verankert.

Dieses Phänomen ist auch der Grund, warum viele Menschen vor einem Auftritt o.Ä. noch einmal dringend zur Toilette müssen: Die meisten sind nervös oder haben Angst, vor Publikum z.B. eine Rede zu halten. Am liebsten würden sie der Situation entfliehen – und der Gang zur Toilette ist vorprogrammiert.

Ein klassischer, im Gegensatz zu anderen ideomotorischen Bewegungen recht offensichtlicher Hinweis auf den Fluchtinstinkt ist auch der Blick auf die Uhr, verbunden mit dem Satz «Ich muss jetzt dringend los». Häufig hat der Betreffende gar keinen Termin, sondern will einfach auf diese Weise der unangenehmen Situation entfliehen.

Was verrät uns nun der Fluchtinstinkt über unseren Gesprächspartner? In erster Linie wissen wir dann, dass er das Gespräch, Teile des Gesprächs oder uns selbst als Bedrohung oder zumindest als sehr unangenehm empfindet. Darüber hinaus teilt uns der Gesprächspartner unbewusst mit, dass er die Bedrohung als überlegen ansieht und ein Gegenangriff in Form einer verbalen Attacke für ihn nicht in Frage kommt.

Zunächst muss man nun analysieren, was konkret bedrohlich auf den Gesprächspartner wirkt. Ist es Ihre Person an sich oder vielmehr eine Äußerung oder Frage von Ihnen? Spielt sich die Bedrohung auf der Beziehungsebene oder auf der Sachebene ab? Ein wertvoller Indikator ist hierzu der bisherige Verlauf des Gespräches. Wenn das Gespräch bisher spannungsfrei und in einer guten Atmosphäre verlief, Ihr Gegenüber plötzlich bei einer bestimmten Frage oder einem bestimmten Thema aggressiv, ängstlich oder schockiert reagiert, dann liegt der Schluss nahe, dass nicht Sie persönlich, sondern der Kontext diese Reaktion ausgelöst hat.

Wenn die Gesprächsatmosphäre hingegen von Anfang an angespannt war und der Gesprächspartner Ihnen nicht auf Augenhöhe oder mit Respekt begegnet ist, dann liegt offenbar ein Problem auf der Beziehungsebene vor, das sich durch den weiteren Gesprächsverlauf und weitere Fragen einfach zunehmend aufbaut. Die Frage ist also: Geht es um Persönliches oder um Argumente, die als überlegen wahrgenommen werden?

So kann ein Gespräch zwischen einem Teenager und seinen Eltern auf der Beziehungsebene völlig reibungslos ablaufen, weil Eltern und Kind sich gegenseitig lieben und ein harmonisches Verhältnis zueinander pflegen, bis die Frage nach dem Erfolg beim anderen Geschlecht aufkommt. Selbst wenn das Verhältnis zu den Eltern auf der Beziehungsebene gut ist, ist das Thema Sexualität für Jugendliche auf der Sachebene häufig peinlich und unangenehm.

Haben Sie mit Hilfe der besprochenen Vorgehensweisen die Ursache für das Fluchtverhalten Ihres Gesprächspartners herausgefunden, ist dies eine Information, die Sie der Entschlüsselung Ihres Gegenübers einen Schritt näher bringt. Wichtig dabei: Sie müssen die Verhaltensweisen Ihres Gesprächspartners immer im Kontext betrachten, also in Abhängigkeit von der Aussage oder der Frage, welche diese Reaktionen ausgelöst haben – nie isoliert davon! Haben Sie erst einmal festgestellt, wie Ihr Gesprächspartner auf bestimmte Fragen, Aussagen oder Themen reagiert, dann fragen Sie weiter, warum er gerade bei diesen Fragen so reagiert. Hier gilt es zu entscheiden, ob Sie direkt oder indirekt nachfragen möchten; beide Optionen haben Vor- und Nachteile. Wenn Sie Ihren Gesprächspartner direkt darauf ansprechen, können Sie dadurch das Gespräch dominieren und Ihren Gesprächspartner zu Festlegungen und Konkretisierungen auffordern. Beispielsweise mit folgenden Fragen: «Mir fällt auf, dass du immer ausweichst, wenn wir zum Thema XY kommen, warum tust du das?» Darauf muss er dann entweder eine Begründung liefern, oder er streitet ab: «Das tue ich doch gar nicht!» In diesem Fall haken Sie nach: «Gut, dann würde ich jetzt gerne wissen …» Der Nachteil dieser Methode ist natürlich der verschenkte Überraschungseffekt, weil der Gesprächspartner dann auch Sie besser einschätzen kann und fortan vielleicht vorsichtiger argumentiert. Geht es Ihnen erst einmal darum, möglichst viele Informationen zu erhalten, sollten Sie einfach so tun, als hätten Sie die Auffälligkeit nicht wahrgenommen, und einfach weiter um den kritischen Punkt herum Fragen stellen. Wenn Sie aber auf eine oder zwei Fragen konkrete Antworten haben möchten, ist die direkte Art nachzufragen meist die bessere Option. Die Beispielsfragen für den Fluchtinstinkt können Sie auch genauso auf den Angriffsinstinkt ummünzen. «Mir ist aufgefallen, dass du dich immer aufregst/aggressiv wirst, sobald wir auf das Thema XY kommen, warum tust du das?»

Sie wissen nun nicht nur, was Ihr Gegenüber als Bedrohung empfindet und warum, sondern auch, wie er auf eine Bedrohung reagiert. Denn jeder Mensch besitzt individuelle, sich wiederholende Verhaltensmuster. Haben Sie diese einmal kennengelernt, können sie Ihnen, auch wenn sie nur subtil sind, als wertvolle Verräter in Sachen Gemütszustand des Gegenübers dienen.

Nehmen wir an, sein Fluchtverhalten äußert sich stets durch ideomotorische Bewegungen des Auges in Richtung Ausgang. Mit Hilfe dieser Information sind Sie in der Lage, nun auch zu einem anderen Zeitpunkt des Gespräches zu erkennen, wann sich Ihr Gegenüber bedroht fühlt. Wann immer sein Blick in die entsprechende Richtung wandert, können Sie sicher sein, dass Ihr Gesprächspartner insgeheim einer Bedrohung ausweichen möchte: Hat er sich mit seiner letzten Aussage vielleicht auf dünnes Eis begeben und nicht die Wahrheit gesagt? Oder verbergen sich hinter seinem Fluchtverhalten weitere «Leichen im Keller»? Denkbar wäre zum Beispiel die Angst vor Bestrafung oder die Angst vor Gesichtsverlust. Sicher ist, dass Sie auf eine Schwachstelle in seinem Kommunikationsverhalten gestoßen sind. Diese Schwachstelle gilt es wie besprochen kommunikativ auszunutzen, denn sie bietet optimale Ansatzpunkte für Ihre weitere Gesprächsstrategie.

Übung

Treffen Sie sich mit einem guten Freund, und unterhalten Sie sich eine Weile unbefangen. Lenken Sie dann das Gespräch auf ein Thema, von dem Sie wissen oder vermuten, dass er es als unangenehm empfindet. Es sollte sich dabei jedoch nicht um ein Tabuthema oder eine für den Freund emotional schwierige Angelegenheit handeln – Sie möchten sicherlich weder Ihren Freund verprellen noch einen Angriff seinerseits provozieren. Übertreiben Sie es also nicht. Wenn Ihnen nichts Passendes einfällt, dann denken Sie einfach an Charaktereigenschaften oder Einstellungen, die sich von seinen unterscheiden: So könnten Sie einen Macho auf ein Gleichberechtigungsthema ansprechen oder eine Feministin auf das konservative Rollenbild der Frau.

Ziel der Übung ist es, ein instinktives Fluchtverhalten hervorzurufen. Beobachten Sie sehr genau Gestik, Mimik und Körperhaltung des Gegenübers, und merken Sie sich die jeweiligen individuellen Reaktionen.

Wiederholen Sie dies in leicht abgewandelter Form, also mit derselben Person an einem anderen Tag und zu einem anderen Thema. Versuchen Sie nun, in den Reaktionen ein Muster festzustellen. Welche auffälligen Signale es gibt, erfahren Sie im weiteren Verlauf des Buches, insbesondere in den Rubriken zu Körpersprache und Mikromimik.

Angriff – die Überlegenheit der Vorwärtsverteidigung

Zu Beginn der 1980er Jahre versetzte die bis dato in Europa nahezu unbekannte Kampfkunst Wing Chun die Szene in Aufruhr. Deren Kämpfer liefen ansatzlos und völlig überraschend, ja kamikazeartig, mit schnellen Serien von Fauststößen regelrecht in ihre Gegner hinein. Bevor diese begriffen, wie ihnen geschah, waren sie bereits getroffen und k.o. geschlagen worden. Nach einiger Zeit hatte sich die neue Strategie herumgesprochen, und die Vertreter anderer Kampfkünste konnten sich darauf einstellen. Aber solange der Überraschungseffekt genutzt werden konnte, schien gegen diese Taktik kein Kraut gewachsen.

«Angriff ist die beste Verteidigung!», heißt nicht umsonst das altbekannte Sprichwort. Und häufig, wenn auch nicht immer, trifft es zu: Eine in Bedrängnis geratene Person, die von einem überlegenen Gegner attackiert wird, hat im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder zu flüchten oder, wenn das nicht möglich oder Erfolg versprechend ist, den Gegner so anzugreifen, dass dieser kalt erwischt wird. Vermutlich wird er kurz innehalten und überlegen, wie er sich verteidigen soll. Selbst wenn dieser Moment des Nachdenkens nur einen winzigen Augenblick lang dauert, kann sein Gegenspieler in dieser Zeit schon einige entscheidende Treffer erzielen. Wer schon einmal den renommierten Gründer und Meister des Acht Pattern Wing Chun, Matthias Gruber, live oder auf Video bei einer Kampfdemonstration gesehen hat, bekommt eine eindrucksvolle Vorstellung von der Effizienz dieser Methode.

Nicht anders verhält es sich im kommunikativen Zweikampf: Auch in verbalen Scharmützeln ist es vorteilhaft, sein Gegenüber zu überraschen und unvorbereitet zu treffen, beispielsweise mit einem überraschenden Argument. Das Ziel dabei ist, ihm die Gesprächsführung zu entreißen und ihn so in eine unterlegene Position zu drängen, aus der er nicht mehr ohne weiteres wieder herauskommt.

Stellen Sie sich zur Verdeutlichung folgende Situation vor: Sie müssen in Ihrem Job eine wichtige Verhandlung führen. Sowohl Ihnen als auch Ihrem Verhandlungspartner ist daran gelegen, den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen und die eigenen Ziele durchzusetzen. Bislang ist die Verhandlung gut für Sie verlaufen, denn Sie haben die besseren Sachargumente vorgebracht. Möglicherweise konnten Sie sogar die Argumente des anderen widerlegen oder ihn eines Bluffs oder einer Lüge überführen. Kurz und gut: Ihr Verhandlungspartner muss einsehen, dass Sie seine Verhandlungsziele bedrohen, er Ihnen aber – zumindest heute – argumentativ unterlegen ist.

Die meisten würden nun erwarten, dass der Verhandlungspartner aufgibt. Nun, da seine Argumente widerlegt worden sind, bleibt ihm nichts anderes übrig, oder? Leider ist genau diese Annahme ein (weitverbreiteter) Irrtum, und das Gegenteil oft der Fall. Aufzugeben ist keine sinnvolle Überlebensstrategie und daher kein Ur-Instinkt; erst, wenn wir total erschöpft und/oder zermürbt sind, geben wir auf. Dies habe ich schon früh in meiner Zeit als Vernehmungsexperte bei der Kriminalpolizei gelernt: Der Täter resigniert – und gesteht – erst dann, wenn weder Angriff, Flucht noch Erstarren ihm weitergeholfen haben.

Ihr Verhandlungspartner wird sich folglich nicht so schnell geschlagen geben, sondern in vielen Fällen aggressiv und/oder manipulativ, meist jedoch sehr emotional reagieren, um das Ruder noch einmal herumzureißen. Dies ist eine besonders perfide und wirkungsvolle Methode, denn die Verhandlung wird dadurch von der Sachebene auf die persönliche Ebene verlagert. Hier kann Ihr Verhandlungspartner wieder ein mindestens ausgeglichenes Kräfteverhältnis schaffen, nachdem er argumentativ gescheitert ist.

Wie kann eine solche emotionalisierte Offensive aussehen? Womöglich unterstellt Ihnen Ihr Gegenüber plötzlich schlechte Absichten, Charakterschwäche, Voreingenommenheit oder mangelnde Integrität. Das Ziel: Ihr persönliches Ehrgefühl zu verletzen, Sie eventuell zu unüberlegten Äußerungen zu verführen, zu emotionalen Reaktionen, die Sie unsouverän wirken lassen. Er bezieht sich nicht mehr auf den Sachverhalt an sich, sondern versucht, Sie als Person im Allgemeinen zu treffen, zu verletzen, aus der Reserve zu locken, Sie vom eigentlichen Thema abzulenken. Dies spiegelt sich in seiner Wortwahl wider, denn auffallend häufig benutzt er verallgemeinernde Wörter, die es in sich haben, zum Beispiel

Sie meinen, es handele sich dabei um harmlose Wörter? Lassen Sie einmal die folgenden Vorwürfe auf sich wirken:

Wie Sie sicherlich bemerkt haben, unterstellen diese Vorwürfe Egoismus, Dummheit, Voreingenommenheit und dergleichen mehr. Wer möchte sich schon Derartiges vorwerfen lassen? Die meisten Menschen neigen zu starken emotionalen Reaktionen, wenn ihre Integrität in Frage gestellt wird. Genau das aber ist die Absicht, die hinter solchen Angriffen steckt. Tun Sie Ihrem Verhandlungspartner bitte nicht den Gefallen, sich auf diese Art der Diskussion einzulassen! Bislang waren Sie in Ihren Sachargumenten unangreifbar, Ihr Gegenspieler hat Ihnen nicht gefährlich werden können. Schlagen Sie aber auf der emotionalen Ebene zurück – eine nur allzu menschliche Reaktion –, dann verlassen Sie Ihre überlegene Position und begeben sich auf eine Ebene, auf der es nicht mehr um Fakten, die besseren Argumente oder die Wahrheit, sondern um Gefühle geht. Jetzt wird es gefährlich: Niemand zeigt sich in einer emotional aufgeheizten Verbalschlacht von seiner besten Seite – das gilt auch für Sie. Ihre bisherige Souveränität können Sie in einer solchen Debatte jedenfalls nicht länger aufrechterhalten.

Besonders, wenn ein solcher Angriff vor Dritten stattfindet, etwa im Rahmen einer Konferenz oder eines Meetings, ist Vorsicht geboten. Sollte es Ihrem Gegner gelingen, die anderen von Ihren «schlechten Absichten» oder Ihrer angeblichen Inkompetenz zu überzeugen, treten die Fakten in den Hintergrund und Sie können nur noch verlieren, wie bereits Plutarch, ein Philosoph der griechischen Antike, wusste: «Verleumde nur dreist, etwas bleibt immer hängen.»

Daher lautet der oberste Grundsatz in der taktischen Kommunikation: Wehren Sie verbale Angriffe immer sachlich ab, unabhängig davon, ob es sich um sachliche oder emotionale Angriffe handelt! Dies zu beherzigen, wird nicht immer leicht sein, aber dafür sorgen, dass Sie in Diskussionen die Oberhand behalten.

Dies gilt auch für alle anderen Situationen, in denen Sie Gefahr laufen, Opfer des Angriffsinstinkts Ihres Gesprächspartners zu werden. Während Männer gerne Angriffe mit harten Bandagen, also z.B. mit Vorhaltungen, führen, sind Frauen oftmals Meisterinnen der subtilen Kriegsführung und formulieren Angriffe indirekter – wenn auch nicht weniger wirkungsvoll. Haben solche Frauen das Gefühl, unterlegen zu sein, dann setzen sie gerne vermeintliche Schwächen als Stärken ein: notfalls mit Tränen. Dies weckt schnell den Beschützerinstinkt bei den Anwesenden und ist somit ein hervorragendes Mittel, die anderen auf die eigene Seite zu ziehen. Wie besagt das Sprichwort so schön? Recht haben und recht bekommen sind oft zwei Paar Stiefel.

Sollten Sie in eine solche Situation geraten, bleiben Sie auch hier ruhig, gefasst und sachlich. Bieten Sie der weinenden Gesprächspartnerin ein Taschentuch an, aber hüten Sie sich vor Entschuldigungen. Das wäre zwar gut gemeint, würde Sie jedoch als Täter erscheinen lassen, denn man entschuldigt sich schließlich nicht ohne Grund. Seien Sie also höflich, aber neutral, und fragen Sie einfach, ob das Gespräch weitergehen kann. Dann knüpfen Sie wieder an die Sachdiskussion an.

Übung

Diese Übung dient dazu, ein Gespür dafür zu bekommen, wie man mit den verallgemeinernden Wörtern «typisch», «immer», «nie» und «nur» angegriffen werden kann. Dazu ist es erforderlich, sich in die Gegenseite hineinzuversetzen. Formulieren Sie zu den unten genannten Personengruppen Angriffssätze, welche die Wörter «typisch», «immer», «nie» oder «nur» beinhalten. Alle Mittel sind erlaubt, auch die Zuhilfenahme von Vorurteilen und Klischees.

Friseurin:

Bauarbeiter:

Rechtsanwalt:

Ärztin:

Hausmann:

Demokratin:

Hundebesitzer:

Sportwagenfahrer:

Bodybuilder:

Bodybuilderin:

Arbeitsloser:

Übung

Spielen Sie mit einem Freund folgende Situationen durch: Schlagen Sie die Tageszeitung auf und suchen Sie nach streitbaren Themen, zum Beispiel die Debatten um Organspende, Sterbehilfe oder die Zukunft der Energieversorgung. Verteilen Sie dann die Positionen, die jeder von Ihnen in der Diskussion vertreten soll. Achten Sie dabei auf zwei Dinge: Erstens sollen die beiden Ansichten in ihren Standpunkten so gegensätzlich wie möglich sein, zweitens sollen Sie die Position wählen, mit der Sie sich identifizieren und für die Sie deshalb leichter argumentieren können. Bei Ihrem Freund soll es umgekehrt sein: Ist er ein überzeugter Anhänger der Demokratie, so bietet es sich an, ihm die Rolle eines politischen Despoten aufzuerlegen. Liegt ihm die Energiewende am Herzen? Dann sollte er sich als Atom-Lobbyist versuchen.

Aufgrund dieser Rollenverteilung wird es Ihnen leicht- und Ihrem Gegenüber schwerfallen, eine sachliche Argumentationskette aufzubauen und weiterzuverfolgen. Weil Ihr Freund stets entgegen seiner tatsächlichen Einstellung argumentieren muss, wird er früher oder später an einen Punkt gelangen, an dem ihm die Argumente ausgehen. Erfahrungsgemäß ist das der Moment, an dem er stressbedingt aggressiver wird und Sie persönlich angreift. Sollte er Schwierigkeiten haben, sich in seine Rolle hineinzufinden, können Sie alternativ vereinbaren, dass er Sie bewusst verbal attackiert, sobald ihm die Argumente ausgehen. Beobachten Sie ihn dabei genau, und stellen Sie sich stets die Frage, warum er in einer bestimmten Situation genau so und nicht anders angreift. «Warum bringt er immer wieder das gleiche Argument? Warum wird er bei meinem Argument XY immer aggressiv?» Versuchen Sie ferner, ruhig zu bleiben, ihm stets auf der Sachebene zu begegnen, beispielsweise so: «Das, was du sagst, finde ich interessant, aber wie du es sagst, finde ich nicht in Ordnung, bitte lass uns sachlich bleiben!»

Danach wählen Sie ein anderes Streitthema und tauschen die Rollen. Diesmal sollen Sie den argumentativ unterlegenen Part einnehmen.

Je öfter Sie diese Rollenspiele einüben, desto sicherer werden Sie im Erkennen von Angriffsmustern und deren Bedeutung. Typische Angriffsmuster sind persönliche Beleidigungen, Abstreiten der Fachkompetenz, vermeintliche Beweise, nonverbale Drohgebärden durch dominante Körperhaltungen, Distanzunterschreitungen oder vorgetäuschte Wutausbrüche. Auf solche Angriffe sollten Sie reagieren, indem Sie selbstbewusst und klar argumentieren oder je nach Situation den Angriff durch eine ironische Bemerkung abwenden. Beispiele: «Ich stelle fest, Sie sind mit meinem Argument nicht einverstanden, welche konkreten Argumente haben Sie denn dagegen?» oder «Sie unterstellen mir also Geldgier, weil man in meinen Augen die Euroscheine sehen kann, mit dieser Fähigkeit sollten Sie auftreten!». Sie werden sehen, dass Sie schon nach wenigen Durchgängen an Souveränität gewinnen und von den Erkenntnissen profitieren können.

Erstarrung – wie uns unser Tarninstinkt vor Niederlagen rettet

Während eines schrecklichen Amoklaufs an einer amerikanischen Schule spielte sich eine gleichermaßen grausige wie verblüffende Szene ab: Ein Schüler stand neben der Tür am Abfalleimer und spitzte seinen Bleistift, als der Amokläufer das Klassenzimmer betrat und sofort zu schießen begann. Er schoss auf alle Anwesenden – mit Ausnahme des Jungen, der seinen Bleistift spitzte. Obwohl der Amokläufer mehrmals an ihm vorbeilief, übersah er ihn völlig.

Wie konnte dies geschehen? Warum hatte der Attentäter den Schüler übersehen? Es gibt nur eine stichhaltige Erklärung dafür: Wie ein aggressives Raubtier griff der Amokläufer jeden an, der sich bewegte oder durch Schreien auf sich aufmerksam machte. Der Schüler, der am Abfalleimer stand, war jedoch vor Schreck erstarrt und vollkommen regungslos. Dadurch entging er der Aufmerksamkeit des Täters.

Der Ur-Instinkt des Erstarrens wird immer dann aktiviert, wenn unser limbisches System (vgl. Seite 312) der Meinung ist, dass wir oder unsere Schwächen dem Gegner noch nicht aufgefallen sind. In einer solchen Situation reagieren wir entweder mit Flucht oder erstarren, je nachdem, was wir unterbewusst als erfolgversprechender erachten.

Übertragen wir dies auf die Wahrnehmung von Körpersprache in weniger existenziellen Situationen: Denken Sie einmal an Ihre Schulzeit zurück. Sie sind, ohne zu Hause zu lernen, in die Schule gegangen, und nun fragt der Lehrer gleich in der ersten Stunde genau das Thema ab, zu dem Sie sich nicht vorbereitet haben. Ihnen wird schlagartig klar, dass Sie eine schlechte Note kassieren, wenn der Lehrer Sie aufrufen sollte. Natürlich sind Sie nicht der einzige Schüler, dem es so geht. Was also tun Sie und Ihre betroffenen Klassenkameraden? Sie verhalten sich so unauffällig wie möglich: Sie wagen kaum zu atmen, vermeiden tunlichst jeden Blickkontakt mit dem Lehrer und geben keinen Mucks von sich in der Hoffnung, dass der Lehrer Sie übersieht und jemand anderen aufruft. Und tatsächlich: Erstaunlich oft funktioniert diese Taktik.

Aber weshalb ist sie so erfolgreich? Warum können wir mit Hilfe der Erstarrung bewirken, dass wir uns wie mit einem Tarnmantel quasi unsichtbar machen und der Wahrnehmung unseres Gegenübers entziehen können?

Der Verarbeitungskapazität unseres Gehirns sind Grenzen gesetzt. Neunzig Prozent der Informationen, die unsere Sinne aufnehmen, können nicht auf die Schnelle vom Gehirn verarbeitet werden. Deshalb sortiert es alles, was es als unwichtig erachtet, aus und konzentriert sich auf die wichtigsten zehn Prozent. Unser Gehirn setzt also bei der Wahrnehmung Prioritäten und filtert dementsprechend die eingehenden Informationen, es fasst sie in Kategorien zusammen und ordnet diese nach ihrer Wichtigkeit. Diesen Prozess nennt man Perzeption. Informationen, die unser Gehirn als unwichtig einstuft, fallen in den sogenannten Wahrnehmungsschatten, d.h., dass diese Informationen zwar theoretisch vorhanden sind, aber vom Gehirn nicht bewusst umgesetzt werden. Mit diesem Mechanismus schützt sich unser Gehirn vor Informationsüberlastung: Es muss ja nicht nur die eingehenden Informationen über die Netzhaut (visuelle Informationen) bewerten und nach Priorität ordnen, sondern auch die Informationen, die uns über unsere anderen Sinnesorgane erreichen, beispielsweise Geräusche oder Berührungen.

Die zehn Prozent der eingehenden Informationen, die das Gehirn bewusst verarbeiten kann, sind also – wenn Sie so möchten – eine Art «Best-of» aller zur Verfügung stehenden Informationen im jeweiligen Moment. Dass ein Großteil der Gesamtinformationen dabei in den Wahrnehmungsschatten fällt, ist die logische Folge.

Dies möchte ich anhand eines einfachen Beispiels veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einiger Entfernung vor einem Waldgebiet. Während Sie den vor Ihnen liegenden Wald betrachten, werden sämtliche Bäume mit all ihren Details vollständig auf die Netzhaut Ihrer Augen projiziert. Sie nehmen jedoch nicht jeden einzelnen Baum inklusive all seiner individuellen Eigenschaften und Details bewusst wahr, sondern den Wald in seiner Gesamtheit. Das liegt schlicht an der limitierten Fähigkeit des Gehirns, alle eintreffenden Informationen zu verarbeiten.

Wenn Sie in den Wald hineinlaufen und einen einzelnen Baum betrachten, wiederholt sich dieser Vorgang. Sie nehmen zunächst seine Form wahr, nicht aber dessen feine Verästelungen, einzelne Blätter oder die Beschaffenheit seiner Rinde. Dies geschieht erst, wenn Sie Ihren Fokus gezielt auf diese einzelnen Aspekte richten. Sofern wir unsere Wahrnehmung nicht bewusst steuern, uns also nicht aktiv auf bestimmte Details fokussieren und konzentrieren, erfolgt die Perzeption des Gehirns primär automatisch und unbewusst.

Doch was haben diese mentalen Prozesse mit dem Phänomen der Erstarrung zu tun? Wie ist es möglich, dass wir uns in bedrohlichen Situationen «unsichtbar» machen können? Wieso ist es dem Schüler aus dem Eingangsbeispiel gelungen, von dem Amokläufer nicht entdeckt zu werden, obwohl dieser mehrmals an ihm vorbeilief?

Versetzen wir uns in den Amokläufer: Für ihn ging es darum, möglichst viele Menschen zu treffen. Also ordnete sein Gehirn all jenem eine hohe Priorität zu, das nach typischem Opferverhalten aussah, in diesem Fall Schreien, Kreischen und panikartige Bewegungen. Alles, was nicht primär Opferverhalten darstellte, wurde mental niedrig priorisiert, so auch der Schüler, der regungslos und mucksmäuschenstill an der Tür stand. So ist zu erklären, warum der Junge vom Täter regelrecht übersehen wurde – und überlebte.

Schließen Sie daraus jedoch bitte nicht, dass es eine hundertprozentig sichere Methode ist, zu erstarren, wenn man nicht entdeckt werden möchte! Es ist lediglich eine von drei instinktiven Verhaltensreaktionen, aus denen unser limbisches System diejenige auswählt, die in der jeweiligen Situation die höchste Erfolgschance verspricht.

Die Sensibilisierung für diesen Ur-Instinkt ist deshalb so wichtig, weil dadurch die Reaktionen anderer Menschen unter einem ganz anderen und größeren Blickwinkel betrachtet und beurteilt werden können. Die Erstarrung liefert Ihnen Hinweise darauf, dass ein bestimmtes Argument oder eine bestimmte Frage bei Ihrem Gegenüber kurzzeitig zu einem «Schock» geführt hat. Typisch für die Erstarrungsreaktion ist es, wenn die zuvor lebendige Körpersprache des Gegenübers plötzlich «einfriert», es einem wortgewandten Redner die Sprache verschlägt oder sich im Gesicht Ihres Gegenübers eine Überraschung zeigt. Näheres finden Sie hierzu im Kapitel über Mimik und Mikromimik. Diese Reaktionen sind oft nur für wenige Sekunden, manchmal sogar nur für Sekundenbruchteile, wahrnehmbar, weshalb Sie Ihren Gesprächspartner konzentriert und unablässig beobachten sollten, damit Sie sofort erkennen, wenn Sie ihn auf dem falschen Fuß erwischen, beispielsweise, weil er bestimmte Fragen nicht beantworten kann oder er keine wirklichen Argumente hat. Viele Manipulatoren arbeiten mit fingierten Beweisen, die einem näheren Hinterfragen nicht standhalten.

Achten Sie während eines Gesprächsverlaufes stets auf die Reaktionen Ihres Gesprächspartners auf einzelne Fragen und jedes Thema, das Sie ansprechen. Diejenigen Fragen oder Themen, bei denen Ihr Gesprächspartner keinerlei Auffälligkeiten im Argumentationsverhalten, in der Körpersprache und der Mimik zeigt, sind Bezugspunkte, um das normale Verhalten Ihres Gesprächspartners kennenzulernen. Besitzt er beispielsweise die notwendige Fachkompetenz, hat er nichts zu verbergen oder spricht gerne über das jeweilige Thema, dann ist er ruhig, selbstbewusst und ausgeglichen, und Sie werden keine stressbedingten Auffälligkeiten im Verhalten feststellen können. Lösen jedoch einzelne Fragen oder Themen einen «Schock» aus, so muss dem Grund dafür nachgegangen werden. Sind es immer dieselben Themenkomplexe oder Fragen, auf die er so reagiert? Löst die Erwähnung bestimmter Personen Erstarrungsreaktionen aus? Reagiert er so, wenn man vertiefend nachfragt?

Sobald Sie ein Muster in den Reaktionen ausmachen können, wissen Sie, dass Sie einen wunden Punkt bei Ihrem Gesprächspartner entdeckt haben, dem es nachzugehen lohnt. Die Taktik muss nun lauten, über dieses Thema viele weitere Informationen zu erhalten, indem Sie vertiefende Fragen dazu stellen.

Ein Freund von mir betreibt eine Autowerkstatt. Da ich ihm gelegentlich bei der Arbeit zusehe, habe ich mir im Laufe der Zeit ein oberflächliches Wissen über Autoreparaturen angeeignet. Ich könnte problemlos vortäuschen, gelernter Mechaniker zu sein und meinen Gesprächspartnern Tipps zum Reparieren ihrer Autos geben. Allerdings klappt das natürlich nur, solange ich an der Oberfläche bleiben kann, denn ein tiefergehendes Wissen zu einzelnen Punkten (z.B. Zahnriemenwechsel, Getriebereparatur etc.) habe ich natürlich nicht. Wenn mein Gesprächspartner sich aber einige solcher Punkte herausgreifen und mich dazu befragen würde, käme ich schnell in Schwierigkeiten.

Seien Sie geduldig mit sich, es erfordert viel Übung, das meist nur kurze Erstarren von Mimik oder Gestik wahrzunehmen. Aber es lohnt sich! Beobachten Sie Ihren Gesprächspartner immer schon, während Sie die Frage formulieren, und nicht erst danach!

Übung

Nehmen Sie an einer Veranstaltung teil, bei der Sie keinen oder nur wenige der Anwesenden kennen. Wählen Sie dabei einen Anlass, dem Sie keine größere Bedeutung beimessen, beispielsweise eine Singleparty, wenn Sie in festen Händen sind, oder ein Networking-Treffen mit einem Personenkreis, der für Sie beruflich uninteressant ist.

Ihre Hauptaufgabe ist, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Kleiden Sie sich dezent, betreten Sie still und leise die Räumlichkeiten, nehmen Sie mit niemandem Blickkontakt auf, und wählen Sie einen möglichst unauffälligen Sitz- oder Standplatz aus. Bewegen Sie sich so wenig wie möglich, verursachen Sie keinerlei Geräusche, und halten Sie sich abseits, kurzum: Vermeiden Sie, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen!

Für gewöhnlich kommt man bei dieser Art der Zusammenkunft schnell ins Gespräch, wird angesprochen oder zumindest neugierig betrachtet. Achten Sie darauf, wie viel Zeit vergeht – im Vergleich zum normalerweise üblichen Prozedere –, bis Sie bewusst wahrgenommen werden. Wenn Sie sich geschickt verhalten, sollte es deutlich länger dauern als gewöhnlich, bis Sie auffallen – sofern dies überhaupt der Fall ist.

Ändern Sie nun Ihre Perspektive, und werden Sie zum Beobachter der anderen. Achten Sie bewusst darauf, welche Personen Ihnen sofort und welche Personen Ihnen erst nach längerer Beobachtung auffallen. Versuchen Sie im Nachhinein, ein Muster zwischen beiden Personengruppen zu erkennen: Woran liegt es, dass Ihnen bestimmte Personen schnell und andere erst viel später ins Auge gesprungen sind? Machen Sie sich gegebenenfalls Notizen. Mit dieser Vorgehensweise und einiger Übung werden Sie Ihre Wahrnehmungsfähigkeit deutlich schärfen. Versuchen Sie im Laufe der Zeit, die Schwierigkeit zu steigern. Folgen Sie einer Einladung zu einer Veranstaltung, bei der Sie den Großteil der anwesenden Personen kennen, und wiederholen Sie die Übung unter erschwerten Bedingungen.

Beruhigung – so bleiben wir handlungsfähig

Der Beruhigungseffekt zählt streng genommen nicht zu den Ur-Instinkten, aber er entstammt ihnen. Der Unterschied zu den primären Ur-Instinkten Flucht, Erstarren und Angriff besteht darin, dass diese direkte Reaktionen auf eine Bedrohung darstellen, während der Beruhigungseffekt der Wiederherstellung des Normalzustandes dient: Der ursprüngliche Sinn des Beruhigungseffekts war eine rasche Regeneration.

Versetzen wir uns zurück in die Zeit unserer Urahnen. Nehmen wir an, wir hätten uns soeben fürs Erste vor einem wilden Tier in Sicherheit gebracht, indem wir auf einen Baum geflüchtet sind, und das Tier ist abgezogen. Nun kommt es darauf an, unseren durch den Stress stark erhöhten Adrenalinspiegel und den hohen Puls zu senken, um wieder bereit zum Kampf oder zur weiteren Flucht zu sein. Schließlich könnte sich das wilde Tier noch in der Nähe aufhalten. Mit einem zu hohen Ausgangspuls wären wir nicht in der Lage, erfolgreich zu kämpfen oder zu fliehen, da kein Mensch mit einem extrem hohen Puls schnell laufen oder erfolgreich kämpfen kann.

Springen wir wieder zurück in die Gegenwart: Wenn die Kriminalpolizei einen Tatverdächtigen verhört, besteht für diesen permanent eine Bedrohungslage, sofern er der gesuchte Täter ist: Er muss ständig damit rechnen, dass die Beamten in seinen Aussagen Widersprüche finden oder ein falsches Alibi widerlegen könnten. Darüber hinaus droht stets die Gefahr, sich bei einer bestimmten Frage durch eine ungeschickte Aussage zu verraten.

Durch die konstante Bedrohung wird Adrenalin ausgeschüttet; Blutdruck und Puls des Täters steigen deutlich an. Dies wirkt sich auf mehreren Ebenen aus: Die Atmung des Betroffenen beschleunigt sich, und seine Stimmlage erhöht sich meist. Schlimmstenfalls verliert er die Kontrolle über sich, indem er nicht mehr klar denken und argumentieren kann, seine Stimme sich überschlägt, er ins Stottern oder gar in Atemnot gerät. Damit er die Kontrolle behält, tritt der Beruhigungseffekt ein. Er sorgt dafür, dass der Betroffene wieder langsamer atmet, sein Puls zurückgeht und sich Stimme und Atmung wieder stabilisieren. Dadurch erlangt er seine Selbstbeherrschung zurück und wird wieder voll handlungsfähig. Der Beruhigungseffekt tritt für den Betroffenen teils bewusst, teils unbewusst auf. Das hängt damit zusammen, dass es sehr schwierig ist, den gesamten Körper durchgehend zu kontrollieren und zu beobachten. So kann es beispielsweise sein, dass der Betroffene bewusst versucht, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen, er aber nicht merkt, wie er gleichzeitig an einem Kugelschreiber spielt oder seine Hände schützend auf den Genitalbereich legt.

Wie diese Beispiele zeigen, ist der Beruhigungseffekt recht gut erkennbar, wenn man weiß, worauf man achten muss. Auffällig sind alle Gesten, die mit dem Spielen mit Körperteilen (Haare, Finger) oder Gegenständen (z.B. Kugelschreiber) in Zusammenhang stehen. Oft kann man auch beobachten, dass der Betroffene versucht, bewusst seinen Atem zu kontrollieren, tief auszuatmen o.Ä.

Entscheidend dabei ist natürlich nicht allein, solche Beruhigungshandlungen zu erkennen, sondern sie im Kontext mit einer bestimmten Frage oder einem bestimmten Thema richtig zu interpretieren. Dazu muss man den Kontext zwischen Stressauslöser und Beruhigungsgeste, den sogenannten Kausalzusammenhang (Ursache und Wirkung), als Indikator heranziehen. Ich stelle meinem Gesprächspartner zum Beispiel zehn Fragen, und bei neun Fragen reagiert er ganz normal, bei einer Frage gerät er aber deutlich unter Stress und greift zu Beruhigungsgesten. Dann stelle ich mir sofort die Frage, warum genau diese eine Frage oder dieses eine Thema eine solche Stressreaktion bei meinem Gesprächspartner ausgelöst hat. In vielen Fällen ergibt sich dann die Lösung dazu aus der Gesprächssituation selbst. Ist das jedoch nicht der Fall, sollte man an diesem Thema dranbleiben und vertiefende und ergänzende Fragen stellen.

Die folgenden Beruhigungsgesten sind meiner Erfahrung nach in Stresssituationen am häufigsten gebräuchlich.

Schwitzen

Das Abwischen der Hände oder der Stirn ist eine typische Beruhigungsgeste, die bei starker Nervosität auftritt, weil Stress zu erhöhter Schweißabsonderung führt. Obwohl nicht alle Menschen an allen Stellen gleich stark schwitzen, sind die Hände, der Rücken und der Achselraum meist besonders betroffen.

Aber Schwitzen ist nicht gleich Schwitzen! Man unterscheidet das thermoregulatorische Schwitzen, das bei Hitze oder nach körperlicher Anstrengung der Wahrung der Körpertemperatur dient, vom stressbedingten Schwitzen. Das stressbedingte Schwitzen tritt schlagartig auf. Der Volksmund spricht in diesem Zusammenhang auch vom kalten Schweiß, der einem über den Rücken läuft.

Der physiologische Hintergrund: In Stresssituationen setzt der Körper Adrenalin frei. Dieses sorgt dafür, dass sich die Blutgefäße verengen und mehr Blut in den Muskeln verbleibt (ein wertvoller Prozess für bevorstehende Kämpfe unserer Vorfahren!). Dadurch wird wiederum die Durchblutung stark gemindert, und die Körpertemperatur sinkt – dies ist dann das, was wir als «kalten Schweiß» wahrnehmen.

Bei thermoregulatorischem Schwitzen erfolgt im Körper dagegen die gegenteilige Reaktion: Die Blutgefäße weiten sich, um möglichst viel Wärme an die Körperoberfläche abzugeben. Wenn der Gesprächspartner also kontinuierlich schwitzt und eine hohe Umgebungstemperatur herrscht, spricht dies für ein thermoregulatorisches Schwitzen. Wenn es jedoch nicht besonders warm ist und der Gesprächspartner bei einer bestimmten Frage oder einem bestimmten Thema trotzdem plötzlich zu schwitzen anfängt, dann kann man im Regelfall vom Stressschwitzen ausgehen.

Wir alle kennen die Redensart, man könne bei jemandem die Angst förmlich riechen. Das hat einen realen Hintergrund: In der Urzeit waren nicht nur Raubtiere, sondern auch Menschen darauf sensibilisiert, Angstschweiß wahrzunehmen. Ein stark schwitzendes Opfer, das sich versteckte, wurde von einem Raubtier oder einem feindlichen Krieger auch dann wahrgenommen, wenn es sich völlig ruhig verhielt.

Atmung

Merken Sie sich Folgendes: Es ist kaum möglich, unter Stress von Haus aus ruhig zu atmen. Den Beruhigungseffekt des Atmens und dessen Bedeutung sollte man also kennen, um ein weiteres Puzzleteil zur Entschlüsselung der Gemütslage des Gegenübers parat zu haben. Wenn Sie selbst von dieser Problematik betroffen sind, hilft es übrigens, von der Brust- auf die Bauchatmung umzustellen, denn die Bauchatmung bewirkt auch ein Senken des Blutdrucks. Diese Atemtechnik ist auch Bestandteil vieler asiatischer Kampfkünste. Sie können sie sich selbst beibringen, indem Sie Ihre Hand auf den Bauch legen und dann versuchen, beim Einatmen in die Hand hineinzuatmen.