Iny Lorentz

Flammen des Himmels

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman »Die Kastratin« die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit »Der Wanderhure« gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Die Romane von Iny Lorentz wurden in zahlreiche Länder verkauft.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autoren: www.inys-und-elmars-romane.de

Impressum

eBook-Ausgabe 2014

Knaur eBook

© 2013 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Trevillion Images / Yolande de Kort; Trevillion Images / Ilina Simeonova – ullstein bild / histopics – FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42062-1

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Lianne, Ingeborg, Isabel und Tatjana
sowie unsere Cheflektorin Christine
und unsere Lektorin Regine

Erster Teil

Der Bluthund des Papstes

1.

Eben war es noch angenehm warm gewesen, aber mit einem Mal streifte Frauke ein eisiger Windstoß, der ihr wie ein Bote nahenden Unheils erschien. Sie fröstelte mehr aus Angst denn vor Kälte. Sofort schalt sie sich. Sei doch keine Närrin! Alles ist gut, in dieser Stadt sind wir in Sicherheit. Noch während sie sich selbst Mut zusprach, bemerkte sie, wie die Menschen um sie herum sich dem Stadttor zuwandten und zu tuscheln begannen.

Als sie sich ebenfalls umdrehte, sah sie sechs bewaffnete Vorreiter durch den Torbogen kommen, die auf einen Herrn von Stand hindeuteten. Ihnen folgten zwei Mönche auf Mauleseln, deren Fell so braun war wie die Kutten ihrer Reiter. Es vergingen einige Augenblicke, bis der nächste Reiter erschien. Dieser war mit einem Mittelding zwischen Kutte und Talar bekleidet und trug eine Art Barett auf dem Kopf. Seine Kleidung einschließlich der Stiefel war so dunkel wie eine Neumondnacht unter einem bedeckten Himmel, und sein schwarzes Maultier wies nicht einen hellen Fleck auf.

Im ersten Augenblick wirkte der Mann auf Frauke wie einer der apokalyptischen Reiter, und sie hätte sich nicht gewundert, wenn auch sein Gesicht von der Farbe der Nacht gewesen wäre. Stattdessen war es so bleich, als meide der Mann die Strahlen der Sonne.

Frauke erstarrte bis ins Mark, obwohl sie nicht wusste, wer dieser Fremde sein mochte, der die Menschen am Straßenrand musterte, als wolle er sie mit seinen Blicken durchbohren. Seine Augen richteten sich für den Zeitraum einiger Herzschläge auf sie, anders als die übrigen Frauen und Mädchen blieb sie jedoch kerzengerade stehen und knickste nicht. Erst als seine kalte Miene deutlichen Unmut zeigte, beugte auch sie das Knie.

»Weißt du, wer das ist?«, fragte eine junge Frau den Jüngling neben ihr.

Frauke verzog das Gesicht, als sie die Stimme von Gerlind Sterken vernahm, der Tochter des zweiten Bürgermeisters. Diese hielt sich für das schönste Mädchen von Stillenbeck und musste doch immer wieder hören, dass Silke Hinrichs noch schöner sei als sie. Dabei war Schönheit das Letzte, was Silke sich wünschte. Ebenso wie Frauke hätte sich auch ihre Schwester liebend gerne mit einem schlichteren Aussehen begnügt, wenn sie dafür nicht mehr von Gerlind Sterkens Neid und Hass verfolgt worden wäre.

Trotz ihrer Abneigung trat Frauke einen Schritt auf die Bürgermeisterstochter zu, damit ihr die Antwort ihres Begleiters nicht entging. Dieser war, wie sie wusste, ein Bewerber um Gerlinds Hand, der auf die reiche Mitgift hoffte, welche Thaddäus Sterken seiner Tochter in die Ehe mitgeben konnte.

Der junge Mann lachte. »Das ist der höchst ehrwürdige Inquisitor Jacobus von Gerwardsborn, dessen Aufgabe es ist, die Ketzer im Reich aufzuspüren und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen.«

Das klang nicht danach, als würde er den schwarzgekleideten Kirchenmann ernst nehmen. Gerlind Sterken achtete jedoch nicht auf die ablehnende Miene ihres Begleiters, sondern streifte Frauke mit einem verächtlichen Blick und rief laut: »Dann soll er doch gleich mit der hier und ihrer Schwester anfangen. Die halten es doch mit diesem Wiedertäufergesindel!«

Zu Fraukes Entsetzen zügelte Gerwardsborn sein Maultier, drehte sich um und sah, wie Gerlind auf sie zeigte. Fast schien es ihr, als wolle er sie ansprechen, doch dann besann er sich anders und ritt weiter in die Richtung des Dominikanerklosters, in dem er wohl Quartier zu nehmen gedachte.

Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, mahnte Frauke sich, in Zukunft besser achtzugeben. Bisher war es ihrer Familie gelungen, den Anschein aufrechtzuerhalten, der alten Kirche anzugehören, und sie hatten sich nur heimlich mit ihren Brüdern und Schwestern im Glauben versammelt. Dennoch schien etwas durchgesickert zu sein. Oder war Gerlinds Äußerung nur die gehässige Bemerkung eines neidischen Mädchens, mit der sie, ohne es zu wissen, der Wahrheit nahegekommen war?

Schatten fielen auf Frauke und machten sie darauf aufmerksam, dass dem Inquisitor weitere Reiter folgten. Es schienen Junker und reiche Bürgersöhne zu sein, die dem Kirchenmann das Geleit gaben. Die meisten sahen hochmütig über die versammelte Menge hinweg, nur ein junger Bursche mit fast weißblonden Haaren, der kaum älter sein konnte als sie selbst, musterte die Menschen am Wegesrand, als wolle er sie kennenlernen. Wegen seines hübschen, bartlosen Gesichts hatte Frauke ihn im ersten Augenblick für ein als Mann verkleidetes Mädchen gehalten, diesen Gedanken aber gleich wieder beiseitegeschoben. So etwas würde der Inquisitor niemals dulden. Mit einem Mal sah der junge Mann sie direkt an und lächelte freundlich. Den Ausdruck seiner Augen vermochte sie jedoch nicht zu deuten.

Nachdem die Reiter die Straße passiert hatten, durchfuhren drei hochbeladene Fuhrwerke mit Gepäck das Tor, und die Menge begann, sich zu verlaufen. Auch Frauke wandte sich um, um nach Hause zu gehen.

Doch Gerlind Sterken vertrat ihr den Weg. »Da Seine Exzellenz, der Inquisitor, hier erschienen ist, wird es bald ein Ende mit dir und deiner Schwester haben! Der hat schon ganz andere als euch auf den Scheiterhaufen gebracht.«

»Gerlind, bitte!«, flehte ihr Begleiter.

Die Bürgermeisterstochter ließ sich jedoch nicht bremsen und überschüttete Frauke mit Schmähungen, bis diese aufgewühlt davonlief.

Unterwegs sagte Frauke sich, dass es wohl das Beste wäre, wenn ihre Familie und die anderen Mitglieder ihrer kleinen Gemeinschaft Stillenbeck umgehend verließen und an einem anderen Ort Zuflucht suchten. Jacobus von Gerwardsborn war gewiss kein Mann, der einen anderen Glauben als den von Rom verkündeten dulden würde.

Als sie nach Hause kam, war die Mutter gerade dabei, das Abendessen aufzutischen.

»Du kommst spät«, tadelte diese ihre Jüngste.

»Es tut mir leid, Mama. Aber ich bin unterwegs aufgehalten worden. Ein Inquisitor ist in die Stadt gekommen. Er nennt sich Jacobus von Gerwardsborn und macht mir Angst.«

Inken Hinrichs winkte verächtlich ab. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir sind angesehene Bürger von Stillenbeck, und solange wir so tun, als folgten wir den Lehren der katholischen Kirche, kann uns nichts passieren.«

»Und doch müssen die Leute etwas gemerkt haben! Gerlind Sterken hat uns nämlich Wiedertäufergesindel genannt, und zwar so laut, dass der Inquisitor es gehört hat«, erklärte Frauke besorgt.

»Gerlind Sterken ist eine unangenehme Person und ärgert sich darüber, dass unsere Silke sie in den Schatten stellt. Dabei tut deine Schwester gar nichts dazu, während Gerlind sich von ihrem Vater alle möglichen Schönheitsmittel besorgen lässt. Doch aus einem Ackergaul kann man nun mal keine edle Stute machen. Das wird auch der Inquisitor rasch merken und nichts auf ihre Worte geben.«

Für Inken Hinrichs war die Sache damit erledigt, und sie befahl Frauke, den Eintopf zu rühren.

Die Angst saß dem Mädchen jedoch so in den Knochen, dass sie bei jedem Geräusch hochschreckte, das von draußen hereindrang. Selbst als der Vater, ihre beiden Brüder und ihre Schwester Silke hereinkamen, hatte sie sich noch nicht beruhigt.

»Herr Vater! Habt Ihr es gesehen? Ein Inquisitor ist in die Stadt gekommen«, sprach Frauke Hinner Hinrichs an.

»Und wennschon! Er wird nachzählen, ob wir auch brav zur Messe gehen, und damit hat es sich.«

»Aber als er an uns vorbeigeritten ist, hat Gerlind Sterken ganz laut gerufen, Silke und ich seien Wiedertäufer«, setzte Frauke hinzu.

Einen Augenblick wirkte Hinner Hinrichs unsicher, dann schüttelte er den Kopf. »Thaddäus Sterken wird seiner Tochter schon den Kopf zurechtsetzen und dem Inquisitor erklären, dass das nichts als dummes Gerede ist. Gerlind würde jedem Mädchen, das hübscher ist als sie selbst, alles Schlechte nachreden – und viel hübscher als sie ist unsere Silke allemal!«

Hinner Hinrichs betrachtete seine älteste Tochter mit einem Stolz, der so gar nicht zu der Demut passte, die sein Glaube ihm vorschrieb. Allerdings war Silke eine Schönheit, wie sie nur selten zu finden war. Obwohl sie schlicht gekleidet ging und selbst im Haus eine Haube trug, wirkte sie mit ihrem harmonischen Gesicht und den großen, himmelblauen Augen so lieblich wie ein Maientag.

»Nein«, fuhr Hinner Hinrichs fort, »gegen unsere Silke kommt Gerlind Sterken trotz allen Reichtums ihres Vaters nicht an.«

»Ich fürchte nicht den Reichtum ihres Vaters, sondern Gerlinds Lästerzunge«, wandte Frauke ein. »Wenn sie uns als Wiedertäufer bezichtigt, wird der Inquisitor uns befragen – und davor habe ich Angst.«

Frauke hatte nicht vergessen, dass sie ihr letztes Heim vor gut drei Jahren fluchtartig hatten verlassen müssen, um nicht als Ketzer verhaftet zu werden. Wieso konnten sich da ihr Vater und ihre Mutter so sicher sein, dass sie in dieser Stadt endlich von allen Verfolgungen verschont blieben?

Ihr ältester Bruder lachte über ihre Bedenken. »Vater hat recht, Frauke! Thaddäus Sterken wird seiner Tochter schon den Mund verbieten. Immerhin arbeiten Vater und ich für ihn. Bessere Gürtelschneider als uns findet er nicht.«

Frauke fand Haugs Worte allzu angeberisch. Zwar fertigten ihr Vater und er tatsächlich Gürtel für Sterken an. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Kaufherr ihre Familie gegen seine Tochter oder gar den Inquisitor in Schutz nehmen würde. Da ihre Worte jedoch kein Gehör fanden, presste sie die Lippen zusammen und betete im Stillen, dass Gott und der Herr Jesus Christus im Himmel auch weiterhin ihre schützenden Hände über ihre Eltern, ihre Geschwister und sie selbst halten würden.

2.

Im Dominikanerkloster suchte Jacobus von Gerwardsborn als Erstes die Zimmerflucht auf, die der Prior ihm überlassen hatte. Neben einer Schlafkammer verfügte er über ein privates Speisezimmer sowie einen Raum mit Schreibpult, Tisch und sechs Stühlen, in dem er seinem Sekretär Briefe und Berichte diktieren und Gäste empfangen konnte.

Nun aber wollte er allein sein und hatte seine Begleiter hinausgeschickt. Er ließ sich auf einen bequemen Stuhl sinken und rieb sich die Schläfen. Nach dem langen Ritt litt er unter Kopfschmerzen, sagte sich aber, dass er dieser Schwäche nicht nachgeben durfte. Immerhin war er das Schwert Gottes auf Erden, die es von Ketzern zu reinigen galt.

Gelegentlich erschien ihm seine Aufgabe wie eine Herkulesarbeit. So viele Ketzer er auch entdeckte und auf den Scheiterhaufen schickte, es wuchsen ständig mehr nach, und zwar schneller als die Köpfe der Hydra.

»Ich wollte, die Ketzer hätten alle einen einzigen Leib, auf dass man diesen verbrennen und damit der Häresie ein für alle Mal ein Ende setzen könnte«, murmelte er vor sich hin.

Unwillkürlich wandten sich seine Gedanken dem jungen Mädchen zu, das von einer Bürgerstochter eine Wiedertäuferin genannt worden war. Hatte dieses unverschämte Ding ihm nicht den ihm zustehenden Knicks verweigert? Das war ein deutliches Zeichen, denn immerhin vertrat er an diesem Ort Seine Heiligkeit Papst Clemens VII. und dieser den heiligen Petrus, der von Jesus Christus selbst zu seinem Stellvertreter ernannt worden war. Wenn er in eine Stadt kam, war es daher fast so, als erschiene Christus selbst, und die Menschen hatten ihre Ehrfurcht vor ihm und Gott zu bezeugen.

Mit einem Mal sehnte sich Jacobus von Gerwardsborn nach Gesellschaft. Er griff nach einer kleinen silbernen Glocke und läutete heftig. Kurz darauf trat sein Sekretär, Magister Rübsam, ein. Ihm folgte Bruder Cosmas, einer der beiden Mönche, die ihn begleiteten. Zusammen mit seinem Foltermeister Dionys bildeten diese drei seine engere Gefolgschaft. Dazu kamen ein dienender Mönch und mehrere Knechte. Im Grunde hätte es gereicht, mit diesen Männern zu reisen. Da er aber als Vertreter des Oberhaupts der Christenheit auftreten musste, hatte er Magnus Gardner, den Abgesandten des neuen Fürstbischofs von Münster, sowie mehrere Herren mitgenommen, die ihm je nach Bedürfnis als Kuriere, Spione oder einfach nur als Gesprächspartner dienten.

Da der Inquisitor Lust auf ein Schachspiel hatte, befahl er Bruder Cosmas, die Figuren aufzustellen.

»Rufe den jungen Gardner! Er ist der Einzige, der richtig Schach spielen kann«, sagte er dann. »Ach ja! Wenn ein Vertreter der Stadt erschienen ist, kann er ebenfalls eintreten. Am Tor haben sich die Herren Bürgermeister und Stadträte sehr rar gemacht. Es sind wohl alles Anhänger dieses verfluchten Luther!«

Der Tonfall des Inquisitors verhieß nichts Gutes für die saumseligen Räte und die beiden Bürgermeister von Stillenbeck, obwohl diese Männer lediglich zu spät von seiner Ankunft erfahren hatten.

Der Mönch verließ den Raum, und kurze Zeit später traten zwei Männer ein, ein großer, stattlich wirkender Edelmann um die fünfzig und jener Jüngling, der Frauke am Tor aufgefallen war. Der Ältere verbeugte sich vor dem Inquisitor, warf einen Blick auf das Schachbrett und legte die Hand auf die Schulter des Jungen.

»Wage ja nicht zu gewinnen, sonst wird die Laune Seiner Exzellenz noch übler, als sie bereits ist«, wisperte er dem Jungen ins Ohr.

»Ja, Herr Vater!« Lothar Gardner verbeugte sich nun ebenfalls vor dem Inquisitor und nahm auf dessen Anweisung auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz.

»Wählst du Schwarz oder Weiß?«, fragte Jacobus von Gerwardsborn.

»Wenn es erlaubt ist, nehme ich die Weißen, Eure Exzellenz.«

Die Frage war rhetorisch, denn der Inquisitor spielte immer mit den schwarzen Figuren. Gerwardsborns Vorliebe für diese Farbe war extrem. So trug er auch hier im Zimmer dünne schwarze Handschuhe und statt des Baretts eine runde, schwarze Kappe. Selbst der Stein auf seinem Ring, in den ein kunstfertiger Steinschneider sein Siegel geschnitten hatte, war ein schwarzer Hämatit.

Lothar vermutete, dass Jacobus von Gerwardsborn wie ein Bote des Todes auftreten wollte – oder gar wie der Tod selbst. Zu diesem Erscheinungsbild passte sogar sein bleiches Gesicht. In gewissen Kreisen aber wurde er mit einem Beinamen belegt, der besser zu ihm passte. »Bluthund des Papstes« nannte man ihn. Rasch verscheuchte der junge Mann diese Gedanken und machte seinen ersten Zug.

Für einige Zeit wurde das Spiel zu einem Zweikampf zweier Geister, die beide erbittert um den Sieg rangen. Magnus Gardner, der den Spielern zusah, verfluchte seinen Sohn insgeheim. Auch wenn es unangenehm war, zu verlieren, musste Lothar doch wissen, wie weit er gehen durfte. Als er bereits glaubte, eingreifen zu müssen, machte der Junge den entscheidenden Fehler und war kurz darauf schachmatt.

»Du warst mir ein würdiger Gegner, Lothar. Beinahe dachte ich, du könntest mich besiegen«, lobte der Inquisitor seinen jungen Gegner.

Dieser verbeugte sich mit einer gezierten Geste. »Eure Exzellenz waren einfach zu gut für mich!«

In dem Augenblick klatschte Magnus Gardner seinem Sohn in Gedanken Beifall. Der Junge war nicht nur geschickt, sondern auch klug. Immerhin galt es, Jacobus von Gerwardsborn bei Laune zu halten, und das war eine Aufgabe, die er selbst seinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte. Zwar konnte es dem Inquisitor gleichgültig sein, wie viele Ketzer er auf den Scheiterhaufen brachte oder bei geringeren Verfehlungen aus dem Land weisen ließ. Doch sein Herr, Fürstbischof Franz von Waldeck, verlor durch Gerwardsborns unheilvolles Wirken arbeitsame Untertanen und vor allem gute Steuerzahler. Den Inquisitor aufzuhalten wagte der Bischof jedoch nicht. Immerhin hatte Clemens VII. Jacobus von Gerwardsborn persönlich in dieses Land geschickt, um der lutherischen Ketzerei und der noch schlimmeren wiedertäuferischen Häresie ein Ende zu bereiten.

»Sind die beiden Bürgermeister bereits erschienen?«, fragte der Inquisitor ansatzlos.

»Wenn Eure Exzellenz erlauben, werde ich nachsehen!« Magnus Gardner verließ den Raum, als wäre er ein schlichter Lakai und nicht ein Mann, den Franz von Waldeck bevorzugt um Rat fragte. Draußen fand er lediglich einen Ratsherrn in einem pelzbesetzten Rock vor, der sich unwohl zu fühlen schien. Gardner kannte ihn von verschiedenen Aufenthalten des Mannes in Telgte und glaubte, ihm vertrauen zu können.

»Gott zum Gruß, Herr Sterken. Ich freue mich, Euch zu sehen, bedaure aber, dass die Bürgermeister und die anderen Ratsherren nicht erschienen sind, um dem Inquisitor ihre Reverenz zu erweisen.«

Sein Gegenüber blickte ihn mit unglücklicher Miene an. »Ihr wisst es vielleicht noch nicht, aber ich bin für dieses Jahr zum zweiten Bürgermeister der Stadt gewählt worden. Jetzt bin ich besorgt, ausgerechnet Seine Exzellenz Jacobus von Gerwardsborn hier begrüßen zu müssen. Dieser Besuch kommt, um es offen zu sagen, etwas ungelegen. Wäre er uns rechtzeitig angekündigt worden, hätten wir Vorbereitungen treffen können.«

Sterken gelang es, vorwurfsvoll zu klingen. Dabei war ihm anzumerken, dass ihn die Angst in ihren Klauen hielt. Erst vor ein paar Tagen hatte der Rat der Stadt beschlossen, einen lutherischen Prediger an die Pfarrkirche zu berufen und den Katholiken nur noch die Kapelle des Dominikanerklosters zu überlassen. Nun befürchtete er, dass dieser Beschluss, so geheim er auch gefasst worden war, auf ihm unbekannte Weise seinen Weg bis zum Bischof und sogar bis zu diesem Inquisitor gefunden hatte.

Gardner war klar, dass Thaddäus Sterken sich Sorgen machte. Schließlich gab es in dieser Gegend genug Bürger, die den Papst in Rom einen guten Mann sein ließen und sich der Lehre Martin Luthers zugewandt hatten. Als Fürstbischof von Münster wäre es die Aufgabe seines Herrn gewesen, dies zu verhindern. Schon deshalb musste er dafür Sorge tragen, dass Anhänger der Reformation Gerwardsborn nicht unnötig herausforderten und diesem dadurch die Möglichkeit gaben, sie verhaften, verurteilen und verbrennen zu lassen.

»Mein guter Sterken«, antwortete er, »ich rate Euch dringend, Stillenbeck Seiner Exzellenz gegenüber als Hort der reinen Lehre auszugeben und jede lutherische Abweichung zu verneinen. So seid Ihr ihn am schnellsten wieder los. Vor allem aber sorgt dafür, dass der andere Bürgermeister und die Räte sich umgehend vollzählig hier einfinden und dem Inquisitor ihre Achtung und Ehrfurcht bekunden. Dies ist absolut notwendig, denn wenn er glaubt, man würde ihm diese verweigern, kann er sehr zornig werden. Ein päpstlicher Erlass und eine kaiserliche Bulle geben ihm das Recht, die Häresie in diesem Landstrich zu bekämpfen, und daher kann Seine Exzellenz Franz von Waldeck sich nicht offen gegen ihn stellen.«

Diese Warnung musste genügen, sagte Gardner sich. Entweder waren die hiesigen Ratsmitglieder klug genug, oder sie würden sich auf eine scharfe Untersuchung gefasst machen müssen – und die konnte schlimm ausgehen.

Dies sah Sterken ebenso und schickte den Knecht los, der ihn begleitet hatte, um die anderen Mitglieder des Rates herbeizurufen. Da sich mehr als drei Viertel bereits der lutherischen Lehre angeschlossen hatten, würde ihr Auftritt nicht ohne Heuchelei stattfinden können. Doch wenn sie nicht wollten, dass in dieser Stadt Scheiterhaufen entzündet wurden, mussten sie dem unerwünschten Gast ein glaubhaftes Schauspiel liefern. Sterken atmete noch einmal tief durch und folgte Gardner in das Zimmer des Inquisitors.

Als sie eintraten, hielt Jacobus von Gerwardsborn die schwarze Dame in der Hand und starrte sie unverwandt an. Die Figuren waren nach seinen eigenen Vorstellungen angefertigt worden, und so stellten Mönche die Bauern, Priester die Springer, Bischöfe die Türme sowie der Papst den König dar. Die Dame jedoch war eine verkleinerte Kopie der Madonna von Santa Maria Maggiore in Rom, jener Kirche, in der er einst zum Priester geweiht worden war.

Nun stellte er die kleine Madonna wieder auf das Spielbrett und wandte sich den beiden Herren zu. »Wer ist dieser Mann?«, fragte er unwirsch. »Eigentlich habe ich die Bürgermeister, den gesamten Rat und die Oberhäupter der Gilden erwartet.«

»Ich … ich bin Thaddäus Sterken, zweiter Bürgermeister von Stillenbeck und Kaufherr dahier«, presste Sterken heraus.

»Wo ist der erste Bürgermeister, wo der Rat und die anderen Honoratioren? Oder haben diese sich, vom Gift der lutherischen Irrlehre befallen, bereits von dannen gemacht?« Gerwardsborns Stimme klang wie der Schlag einer Peitsche.

Thaddäus Sterken überlegte verzweifelt, wie er diesen zornigen Streiter des Papstes besänftigen konnte. »Nein, Eure Exzellenz, so ist es nicht. Nur waren wir nicht auf Euren Besuch vorbereitet und gingen unseren Geschäften nach. Es wird gewiss nicht lange dauern, bis die anderen Herren erscheinen.«

»Das will ich hoffen. Doch sagt, wie steht es mit der reinen Lehre in dieser Stadt? Ist sie von der lutherschen Ketzerei befallen?«

»Aber nein, Euer Exzellenz, wo denkt Ihr hin! Ich bin ein treuer Sohn der heiligen Kirche!« Und zwar der Lutherschen, setzte Sterken insgeheim hinzu.

»Und die anderen Herren?«, fragte Gerwardsborn anklagend.

»Auch sie sind, wie ich bezeugen möchte, treue Söhne der Kirche.« Sterken klang nicht sehr überzeugend, denn in ihm nagte die Angst, eines der wenigen Ratsmitglieder, die noch katholisch geblieben waren, könnte den Inquisitor gerufen haben, um den Abfall der Stadt vom römischen Glauben zu verhindern.

Jacobus von Gerwardsborn wusste tatsächlich sehr wohl, was in den Städten des Hochstifts Münster vorging. Umso dringlicher erschien es ihm, durch sein Erscheinen und die Drohung mit dem Scheiterhaufen die Einwohner daran zu hindern, die reine Lehre zu missachten und Seelenvergiftern wie diesem Luther nachzulaufen. Gelegentlich ließ er sich auch auf einen Disput mit einem lutherischen Prediger ein, doch dies war eine einseitige Angelegenheit. Gewann er, musste der andere seinem angemaßten Priesteramt entsagen und als demütiger Diener in die katholische Kirche zurückkehren. Verlor er, so erklärte er den anderen zu einem Erzketzer und ließ ihn auf dem Scheiterhaufen enden. Von Nachsicht hielt Gerwardsborn wenig, und er war entschlossen, die Räte der Stadt und die aufmüpfigen Gilden in ihre Schranken zu weisen.

»Ich will Euch glauben, dass Ihr die alteingesessenen Familien kennt und Euch für sie verbürgen könnt. Doch wie steht es mit jenen, die in den letzten Jahren zugezogen sind? Ihr werdet mir eine Aufstellung all dieser Leute machen, auf dass ich sie prüfen kann.«

Sterken begriff, dass der Inquisitor ihn und die Bewohner von Stillenbeck mit dem Angebot lockte, sich zum alten Glauben zu bekennen und so ohne Strafe davonzukommen. Fremde jedoch, die sich in den letzten Jahren in der Stadt angesiedelt hatten, waren auf jeden Fall verdächtig. Dies war doppelt fatal, weil sein erkorener Schwiegersohn aus einer Stadt stammte, die sich zur Gänze von der römischen Kirche gelöst und zum Luthertum bekannt hatte.

»Verzeiht, Eure Exzellenz, doch ich kann mich auch für die meisten Neuankömmlinge verbürgen. Mein zukünftiger Eidam zum Beispiel musste sogar aus seiner Heimatstadt fliehen, weil er nicht der Häresie dieses abgefallenen sächsischen Mönches verfallen wollte.«

Das war ebenfalls unwahr, denn der junge Mann dachte gar nicht daran, römisch-katholisch zu werden. Etwas Besseres war Sterken auf die Schnelle jedoch nicht eingefallen.

»Und doch muss es in dieser Stadt Ketzer geben!« Der Inquisitor ließ nicht locker.

»Ich wüsste niemanden, Euer Exzellenz«, presste Sterken hervor.

Gerwardsborn sah ihn mit einem überlegenen Lächeln an. »Es ist immer gut, mit einem Ohr auf die Stimme des Volkes zu hören. Als ich in die Stadt einritt, bezeichnete eine junge Frau ein anderes Mädchen als Ketzerin, und zwar als eine der schlimmsten von allen. Ich meine damit die, die sich allen Sakramenten der heiligen Kirche verweigern und den Kindlein, die im Namen unseres Herrn Jesus Christus in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden sind, absprechen, dazuzugehören. Diese Elenden fordern, dass nur Erwachsene das Recht hätten, der Herde Gottes beizutreten!«

»Ihr meint die Wiedertäufer, Eure Exzellenz? Bis jetzt habe ich nichts davon gehört, dass sich solch widerwärtiges Gesindel unter uns befinden soll«, rief Sterken aus.

»Und doch muss es so sein! Oder glaubt Ihr, die junge Frau hätte sich diese Worte aus den Fingern gesogen?« Der Inquisitor spielte mit Sterken wie eine Katze mit der Maus. Da er zur Abschreckung der Mehrheit ein paar Ketzer benötigte, die er zum Feuertod verurteilen konnte, musste er die Spitzen der Stadt dazu zwingen, ihm die passenden Opfer auszuliefern.

Sterken hatte von seiner Tochter und deren Bräutigam von der Ankunft des Inquisitors erfahren, und ihm war auch zu Ohren gekommen, dass Gerlind gegen Frauke gehetzt hatte. Für einen Augenblick ärgerte er sich darüber, denn Hinner Hinrichs war ein guter Handwerker, der für ihn die besten Gürtel anfertigte. Allerdings fragte er sich, ob nicht doch etwas an dem Gerücht dran war, Hinrichs’ Sippe könne zu den Wiedertäufern gehören. Immerhin war der Mann aus Straßburg zugezogen, und das war bis vor wenigen Jahren ein übler Hort der Ketzerei gewesen.

»Eure Exzellenz, es mag vielleicht den einen oder anderen Ketzer in der Stadt geben. Auch vermag ich nicht in die Herzen der Menschen zu blicken, und wenn sie ihre widerwärtigen Rituale im Geheimen durchführen, bleibt dies unseren Augen verborgen. Aber ich bezweifle, dass Hinner Hinrichs ein Ketzer ist. Immerhin besucht er jeden Sonntag zusammen mit seinem Weib, seinen Söhnen und seinen Töchtern die heilige Messe.«

»Dies kann auch aus Hohn und Heuchelei geschehen! Also Hinrichs heißt der Mann. Ich werde ihn mir ansehen.«

Erst die Antwort des Inquisitors brachte Sterken zu Bewusstsein, dass er eben die ersten Bewohner seiner Stadt denunziert hatte. Da er jedoch nicht wusste, wie er Hinrichs nun noch helfen konnte, war er froh, als der andere Bürgermeister und fast alle Ratsmitglieder erschienen, um Gerwardsborn ihre Aufwartung zu machen. Die meisten von ihnen mussten Ehrfurcht heucheln, gaben sich dabei aber alle Mühe, um nicht selbst in den Verdacht der Ketzerei zu geraten. Dabei führte der Inquisitor nur ein paar bewaffnete Knechte mit sich sowie zwanzig Leute im Gefolge, von denen nicht jeder eine Waffe führen konnte. Es wäre den Stadtknechten und dem Bürgerfähnlein ein Leichtes gewesen, den Inquisitor zum Stadttor hinauszutreiben. Doch offener Aufruhr hätte den Bann des Kaisers nach sich gezogen und die Feindschaft der katholischen Stände im Reich. Das konnte sich ihre kleine Stadt nicht leisten.

3.

Obwohl sich in den nächsten drei Tagen nichts Besonderes ereignete, zitterten die Einwohner von Stillenbeck vor Angst. Das lag nicht zuletzt an den wenigen Mönchen, die noch im Dominikanerkloster lebten, denn diese traten seit der Ankunft des Inquisitors wesentlich selbstbewusster auf. Seit die Menschen in der Stadt zum größten Teil der Lehre Luthers anhingen, hatten die Gassenjungen den Mönchen oft Dreckbatzen und Steine hinterhergeworfen. Das wagte nun keiner mehr. Auch gingen nun alle Bürger bis auf die eingefleischtesten Protestanten in die heilige Messe, die nun wieder in der Pfarrkirche gelesen wurde. Die Heuchelei, die damit verbunden war, stieß Frauke ab.

Als sie sich an diesem Tag der Lorenzikirche näherten, zwickte der Vater Frauke am Arm. »Diesmal schluckst du die Hostie hinunter, verstanden? Es ist doch nur etwas Mehl und Wasser und sonst nichts.«

Bei den letzten Gottesdiensten hatte Frauke die Hostie im Mund behalten und heimlich wieder herausgenommen. Sie begriff jedoch selbst, wie gefährlich dies war. Auch wenn die Blicke des Inquisitors nicht überall sein konnten, so gab es doch genug Zuträger, die in seinem Auftrag die Gläubigen in der Kirche überwachten.

Als Frauke in Richtung der Lorenzikirche blickte, gaukelte die Phantasie ihr vor, dass der Inquisitor dort wie eine große schwarze Spinne im Zentrum eines Netzes saß, das immer dichter gewebt wurde, damit sich die, die er als Ketzer bezeichnete, darin verfangen sollten.

»Wir hätten die Stadt verlassen sollen«, flüsterte Frauke.

Ihr Vater lachte hart auf. »Sonst noch was? Hier in Stillenbeck habe ich ein Haus und ein gutes Auskommen. Wenn wir ohne alle Vorbereitungen von hier verschwinden müssten, wäre ich ein armer Mann und könnte mich nur noch als Hilfsarbeiter verdingen. Damit aber würde ich nicht genug Geld verdienen, um euch alle satt zu bekommen.«

Auch Haug, Fraukes ältester Bruder, verspottete seine Schwester. Immerhin hatte die Gilde der Lederer bereits signalisiert, dass er bald damit rechnen könne, als Geselle aufgenommen zu werden. Dann konnte er irgendwann auch Meister werden, und das erschien ihm derzeit wichtiger als das mögliche Weltenende, das ihre Propheten an die Wand schrieben. Dennoch lauschte Haug andächtig den Predigern ihrer Gemeinschaft und hatte ebenso wie Silke bereits seine Erwachsenentaufe erhalten. Auch sein jüngerer Bruder Helm stand kurz davor, getauft zu werden. Nur bei Frauke zögerten die Ältesten noch, denn sie fragte einfach zu viel. So hatte sie tatsächlich wissen wollen, weshalb unser Herr Jesus Christus ausgerechnet in den nächsten Jahren das Jüngste Gericht abhalten wolle.

Inzwischen hatte Fraukes Familie die Lorenzikirche erreicht und suchte Plätze ganz hinten im Gestühl auf, die keiner der einheimischen Sippen gehörten. Als Frauke sich setzte, sah sie Gerlind Sterken an sich vorbeirauschen. Die Bürgermeisterstochter blickte starr geradeaus, damit die anderen nicht den Triumph auf ihrem Gesicht erahnen konnten. Von ihrem Vater hatte sie erfahren, dass dem Inquisitor die Worte, die sie am Tor gesagt hatte, tatsächlich zu Ohren gekommen waren. Nun hoffte sie, dass Jacobus von Gerwardsborn diese Leute verhaften ließ. In stillen Stunden malte sie sich aus, wie Silke Hinrichs sich auf dem brennenden Scheiterhaufen winden würde. Dann, so sagte sie sich, würde sie wieder als das schönste Mädchen der Stadt gelten.

Obwohl Frauke Gerlinds Gedanken nicht zu lesen vermochte, so brannte sich deren höhnische Miene in ihr Gedächtnis ein. So sah kein Mensch aus, der voller Andacht das Haus Gottes betrat. Nun erinnerte sie sich, gehört zu haben, Thaddäus Sterken würde der lutherischen Lehre anhängen. Damit war er in den Augen des Inquisitors ein Ketzer und nicht weniger gefährdet als ihre eigene Familie. Vielleicht sogar noch mehr, denn Sterken besaß große Reichtümer, und die Kirche und die Obrigkeit waren rasch bereit, einem reichen Ketzer sein Vermögen abzunehmen oder ihn gar auf den Scheiterhaufen zu bringen.

Mit dem Gefühl, dass auch andere sich vor Jacobus von Gerwardsborn hüten mussten, schwand Fraukes größte Angst. Ihr Vater war nur ein kleiner Handwerker, und weder er noch ein anderes Mitglied ihrer Familie hatte je den Verdacht erregt, zu den Wiedertäufern zu gehören. Und doch musste irgendetwas durchgesickert sein, denn für so boshaft, sich eine solche Anschuldigung aus den Fingern zu saugen, hielt Frauke selbst Gerlind Sterken nicht.

Aber wer sollte sie verraten haben? Die kleine Täufergemeinde in Stillenbeck bestand aus drei Familien, deren Mitgliedern sie vertrauen zu können glaubte. Sie waren auch nicht gemeinsam in die Stadt gezogen, sondern zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Richtungen. Vielleicht hatte ein Fremder sie beobachtet und es unter der Hand weitergetragen? Doch auch das vermochte Frauke sich nur schwer vorzustellen. Ihre Gruppe hielt die erforderlichen Zeremonien nie in Gegenwart anderer und stets in einem versteckten Raum ab.

Während Frauke sich den Kopf zermarterte, betete sie wie die anderen, kniete mit diesen zusammen nieder oder stand auf und ging zuletzt hinter ihrer Mutter und Schwester zum heiligen Abendmahl. Die Oblate, die ihr der Priester in den Mund steckte, schmeckte wie Sägespäne, und sie musste an sich halten, sie nicht auszuspucken.

Da sah sie den hübschen Jüngling neben sich, der ihr beim Einzug des Inquisitors aufgefallen war. Auch er verzog das Gesicht und hatte sichtlich Mühe, die Scheibe hinunterzuschlucken. Für einen Augenblick trafen sich beider Blicke, und er lächelte sie an.

Die Geste hatte etwas Verschwörerisches, zumal Frauke begriff, dass ihm die Oblate ebenfalls nicht geschmeckt hatte. Diesen Gedanken spann sie weiter. Hatte der Inquisitor befohlen, das Symbol des letzten Abendmahls durch einen Zusatz zu verderben, um jene, die es nicht hinunterbrachten, der Ketzerei bezichtigen zu können? Als sie kurz zu dem Gestühl sah, in dem Jacobus von Gerwardsborn saß, schien ihr das durchaus möglich. Der Mann stellte eine Gefahr für alle dar, die sich nicht offen zur römischen Lehre bekannten, so falsch diese auch sein mochte.

Auf dem Nachhauseweg betete Frauke, dass der Inquisitor Stillenbeck bald verlassen möge, damit wieder Ruhe einkehren konnte. Dann aber wanderten ihre Gedanken zu dem jungen Mann mit dem freundlichen Lächeln. Auch wenn dieser zum Gefolge des schrecklichen Mannes gehörte, so hielt sie ihn doch nicht für einen Feind.

Helm, der ein Jahr jünger war als sie und trotzdem bald zur Taufe zugelassen werden würde, zwickte seine wie entrückt wirkende Schwester in den Arm. »Dem Pfaffen haben wir es aber wieder einmal gezeigt. Der hält uns gewiss für aufrechte Katholiken.«

»Sei still! Wenn dich jemand hört, geraten wir alle in Gefahr«, wies ihn der Vater zurecht.

Obwohl Hinner Hinrichs ebenfalls der Meinung war, den Inquisitor und die Priester getäuscht zu haben, plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Ein wahrer Christ musste offen zu seinem Glauben stehen. Er aber tat so, als wäre er so katholisch wie Jacobus von Gerwardsborn selbst. Dann dachte er an die Bibelstelle, die er gestern im Kreis der Familie gelesen hatte. In Lukas 22, Vers 5462 war von der Verleugnung Christi durch Petrus die Rede. Im Gegensatz zu diesem verleugnete er nicht den Erlöser, sondern hielt nur seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Täufer geheim. Dies war gewiss eine lässlichere Sünde als die, die Simon Petrus am Ölberg in Jerusalem begangen hatte.

4.

Obwohl es bislang keine Anklagen wegen Ketzerei gab und auch niemand verhaftet worden war, sank die Stimmung in der Stadt von Tag zu Tag. Den Lutheranern, meist Angehörige der selbstbewussten Gilden, widerstrebte es, sich verstellen zu müssen, und die Katholiken fragten sich, ob ihre neue Herrschaft von Dauer sein würde.

Jacobus von Gerwardsborn wusste, dass die Zeit seine mächtigste Waffe war. Früher oder später würde einer der Ketzer aufbegehren und sich verraten, so dass er für die anderen als warnendes Beispiel dienen konnte. Der Rest würde sich entweder wieder dem wahren Glauben zuwenden oder wenigstens so tun, als wäre er ein braver Katholik.

Wenn er auf seinem Ehrenplatz in der Kirche saß, beobachtete er die Menschen und versuchte, aus ihren Mienen herauszulesen, wer nun aus gläubiger Inbrunst gekommen war und wer nur gezwungenermaßen. Dabei fiel sein Blick immer wieder auf jenes junge Mädchen, das Gerlind Sterken als Wiedertäuferin bezichtigt hatte. Mittlerweile hatte er die Tochter des zweiten Bürgermeisters genauer befragt und war sicher, dass sie und ihr Vater von der lutherischen Ketzerei befallen waren. Dennoch glaubte er, beider Willen in seinem Sinne beugen zu können. Dafür aber mussten Sterken und seine Tochter vor einem Scheiterhaufen stehen und das brennende Fleisch riechen, während in ihren Ohren die Schreie der Gemarterten gellten.

Im Gegensatz zu dem, was man ihm nachsagte, wusste der Inquisitor sehr wohl, dass er nicht jeden auf den Scheiterhaufen bringen durfte, der in seinem Leben eine lutherische Predigt gehört hatte. Vor allem jene galt es zu schonen, die Geld und Gut besaßen und entsprechend hohe Steuern bezahlten. Auch hatte der Adel ein Anrecht darauf, mit Nachsicht behandelt zu werden. Nur wenn einer es zu arg trieb oder halsstarrig blieb, musste er damit rechnen, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Meist reichte es, mit dieser Strafe zu drohen, um die irrenden Schäflein wieder in den Pferch der einzig wahren Kirche zu treiben.

Das erklärte er an diesem Nachmittag Magnus Gardner, der wie ein Schatten hinter seinem Sohn stand, dem auch diesmal wieder befohlen worden war, gegen den Inquisitor zu verlieren.

Während die beiden Spieler ihre Schachfiguren zogen, drückte Gardners Miene Zweifel aus. »Verzeiht, Eure Exzellenz, doch unser Herr Jesus Christus hat die Menschen in Gut und Böse geschieden, und nicht in Herren und Knechte. Wenn Ihr nur die Armen opfert und die Reichen verschont, handelt Ihr nicht nach Gottes Gesetz.«

Der Inquisitor blickte verärgert auf. »Das, Herr Gardner, ist beinahe schon lutherisches Gedankengut. Und selbst dieser Herr beugt den Rücken vor den ketzerischen Fürsten und tritt gegen das einfache Volk. Oder habt Ihr seinen Aufruf wider die rebellischen Bauernhorden vergessen?«

Gardner verstand die Warnung, sich nicht in die Belange des Inquisitors einzumischen. Ob es allerdings im Sinne des Fürstbischofs war, aus dem Volk heraus Sündenböcke zu bestimmen, die zur Warnung für die anderen brennen sollten, bezweifelte er. Damit flößte man den Menschen nur Angst vor der Macht der Kirche ein, aber nicht die Liebe zu Gott. Da Gardner es jedoch gefährlich schien, dieses Thema weiter zu verfolgen, schalt er seinen Sohn wegen eines angeblich falschen Zuges, der aber Jacobus von Gerwardsborn an den Rand der Niederlage gebracht hatte.

Lothar lächelte nur freundlich, wartete den nächsten Zug des Inquisitors ab und machte dann den Fehler, der es diesem ermöglichte, seine Dame zu schlagen. Damit war sein König ohne Schutz, und er musste sich einen Zug später geschlagen geben.

»Euer Exzellenz spielen einfach zu gut«, sagte er mit einem scheinbar bedauernden Seufzer.

»Es ist deine Jugend, die dich zu überstürztem Handeln und damit zu Fehlern verleitet. Du vermagst dich noch nicht so auf das Spiel zu konzentrieren, wie ich es beherrsche«, antwortete Jacobus von Gerwardsborn selbstbewusst. »In zehn Jahren mag dies anders sein. Dann könntest du mich vielleicht in zwei oder drei von zehn Fällen besiegen.«

Er warf dem jungen Mann einen Blick zu und befand nicht zum ersten Mal, dass Lothar einfach zu weich aussah. So manches Mädchen würde ihn um sein glattes, ebenmäßiges Gesicht beneiden. Noch hatte der Inquisitor nicht herausgefunden, ob Lothar auch in seinen Gedanken und Gefühlen mehr auf die weibliche Seite schlug und sich vielleicht sogar zu Männern hingezogen fühlte. Eine solche Sünde würde er niemals dulden. Doch da Lothar der Sohn eines Herrn von Adel war, wollte der Inquisitor nicht voreilig über ihn richten.

»Du hast gute Anlagen, mein Sohn. Daher rate ich dir, der Jurisprudenz den Rücken zu kehren und Theologie zu studieren. Du könntest Pfarrherr einer großen Pfarrei und sogar Bischof werden – oder aber einer der Schäferhunde des Herrn, wie ich einer bin, also jemand, der die Wölfe der Ketzerei von seiner Herde fernhalten muss.«

Lothar schoss durch den Kopf, dass Jacobus von Gerwardsborn insgeheim von vielen nicht als Schäferhund, sondern als Bluthund des Papstes bezeichnet wurde. Auch wäre das Ziel, Inquisitor zu werden, das Allerletzte, das er sich vorstellen konnte. Zum Kleriker fühlte er sich ebenfalls nicht berufen. Doch dies Gerwardsborn ins Gesicht zu sagen, würde nur dessen Zorn erregen. Daher rettete er sich erneut in ein freundliches Lächeln.

»Die Tradition unserer Familie erfordert, dass die Söhne zuerst das Studium der Rechte abschließen, bevor sie sich anderen Aufgaben widmen. Mein Onkel Erich zum Beispiel hat danach in Mainz Theologie studiert und es bis zum Domkanoniker in Minden gebracht.«

»Also solltest du seinen Spuren folgen. Es ist von Vorteil, wenn ein Theologe zugleich Jurist ist, denn so kann er den Menschen ihre Fehler noch leichter vor Augen führen«, antwortete Gerwardsborn dem jungen Mann in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Dann wandte sich der Inquisitor an Lothars Vater. »Ich will unseren Aufenthalt in dieser Stadt nicht zu lange ausdehnen. Daher werdet Ihr mit Sterken und den Herren vom Rat sprechen. Teilt ihnen mit, dass ich mit ihren Bemühungen unzufrieden bin, Ketzer ausfindig zu machen. Beinahe habe ich das Gefühl, dass der Rat diese sogar schützen will. Doch wer einem Ketzer hilft, ist der heiligen Inquisition ebenso verfallen, als wäre er selbst ein Ketzer.«

»Sehr wohl, Exzellenz. Erlaubt mir, mich zu verabschieden, damit ich Sterken aufsuchen kann.«

»Tut dies! Erklärt ihm auch, dass ich ab morgen beginnen werde, die Häuser der Patrizier nach ketzerischen Schriften durchsuchen zu lassen.«

Zufrieden, den nächsten Zug in einem größeren Spiel getan zu haben, stellte Jacobus von Gerwardsborn die Schachfiguren wieder auf und sah Lothar an. »Nimmst du Weiß oder Schwarz, mein Sohn?«

»Weiß, wenn es beliebt, Euer Exzellenz«, antwortete Lothar und fragte sich insgeheim, was der Inquisitor wohl sagen würde, wenn er ausnahmsweise einmal auf Schwarz bestünde.

5.

Während sein Sohn mit Gerwardsborn spielte und pflichtgemäß nach hartem Kampf verlor, verließ Magnus Gardner das Dominikanerkloster und lenkte seine Schritte zu dem stattlichen Wohnhaus des zweiten Bürgermeisters. Unterwegs haderte er mit dem Auftrag, Jacobus von Gerwardsborn bei dessen Visitationsreise durch das Hochstift Münster begleiten zu müssen. Fürstbischof Franz von Waldeck vertraute darauf, dass es ihm gelang, den Inquisitor von den größeren Städten des Hochstifts fernzuhalten. Dabei hatte sich die lutherische Lehre gerade dort am stärksten ausgebreitet. Franz von Waldeck benötigte jedoch die Steuern, die ihm von dort zuflossen, um die Schulden zu begleichen, die er mit seiner Bewerbung um das Amt des Fürstbischofs von Münster angehäuft hatte.

Am Haus des zweiten Bürgermeisters wurde Gardner sogleich von einem Diener eingelassen. Gerlind Sterken hatte das Klopfen ebenfalls gehört und sah von der Treppe aus zu, wie Gardner zu ihrem Vater geführt wurde. Sie fragte sich, ob dessen Besuch ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Ihr persönlich war die Religion gleichgültig. Wäre ihr Verlobter Katholik, hätte sie ihr lutherisches Bekenntnis gegen das römisch-katholische eingetauscht, ohne Bedauern zu empfinden. Im Augenblick interessierte sie sich nur dafür, ob ihre Anklagen gegen Silke Hinrichs auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Daher huschte sie die Treppe hinab und weiter zu der Tür, die sich eben hinter Gardner geschlossen hatte, legte ein Ohr gegen das Holz und lauschte. Da sich die Herren keine Zügel anlegten, entging ihr kein Wort.

Kaum war Gardner eingetreten, sah er, dass auch ein Großteil der Ratsmitglieder und mehrere Gildemeister anwesend waren. Jeder hielt einen Zinnbecher in der Hand, den Sterken persönlich aus einem großen Krug nachfüllte. Während er Gardner einen Becher reichte, blickte er ihn misstrauisch an. Obwohl die Zusammenkunft der Stadtspitzen in aller Heimlichkeit hatte stattfinden sollen, musste es jemand dem Inquisitor verraten haben. Anders konnte er sich das Auftauchen des fürstbischöflichen Beraters zu dieser Stunde nicht erklären.

»Ich hoffe, der Wein mundet Euch«, begann er etwas hilflos.

Gardner hatte noch nicht getrunken, holte dies nach und nickte. »Der Wein ist ausgezeichnet. Mehr noch aber freue ich mich, all diese Herren hier bei Euch zu treffen. Ihr erspart mir damit etliche Wege.«

Einer der Gildemeister, der bereits mehrere Becher Wein getrunken hatte, verzog zornig das Gesicht. »Wann verschwindet der römische Büttel wieder?«

»Haltet Euch zurück, Weickmann! Oder wollt Ihr, dass Gardner Eure Worte dem Inquisitor überbringt?«, warnte ihn einer der Anwesenden.

Der Gildemeister ließ sich jedoch nicht bremsen, sondern funkelte Gardner herausfordernd an. »Wir haben es satt, die Messe auf Lateinisch zu hören. Wenn wir in die Kirche gehen, wollen wir auch verstehen können, was der Pfarrer spricht. Sagt das dieser aufgeblasenen schwarzen Krähe!«

»Das werde ich gewiss nicht tun«, antwortete Gardner mit einem nachsichtigen Lächeln. »Jacobus von Gerwardsborns Besuch mag Euch und vielen anderen ungelegen kommen, aber Ihr müsst ihn ertragen. Er ist nicht nur vom Papst gesandt worden, sondern handelt auch im Auftrag Seiner Majestät, des Kaisers.«

»Was schert uns der Spanier!«, bellte Weickmann, der mittlerweile alle Hemmungen verloren hatte.

»Ich würde sagen: sehr viel! Insbesondere, wenn er mit einem Heer aus den Niederlanden in das Fürstbistum einmarschiert und Eure Stadt belagert. Er kann auch den Fürstbischof von Köln mit der Reichsexekution beauftragen. Beides wäre für Euch gleich von Übel.« Gardners Stimme klang beschwörend.