Fritjof Capra | David Steindl-Rast
Wendezeit im Christentum
Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie
FISCHER E-Books
In Zusammenarbeit mit Thomas Matus
Aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher
Der Atomphysiker Fritjof Capra, Autor von ›Das Tao der Physik‹, ›Wendezeit‹ und ›Das Neue Denken‹, gilt international als Vordenker des Wertewandels in Wissenschaft und Gesellschaft. Er leitet heute in den USA ein Institut für interdisziplinäre, tiefenökologische Studien und ist weltweit als Dozent und Berater bei kirchlichen Organisationen, politischen Parteien und Industrie- und Wirtschaftsverbänden tätig.
Der Benediktinerpater David Steindl-Rast beschäftigte sich intensiv mit den kontemplativen und mystischen Traditionen innerhalb des Christentums und praktizierte mit Erlaubnis seines Ordens bei verschiedenen Meistern die zenbuddhistische Meditation. Im deutschen Sprachraum wurde er durch seine Bücher ›Fülle und Nichts‹ sowie ›Die Achtsamkeit des Herzens‹ bekannt.
Thomas Matus beschäftigt sich seit seinen jungen Jahren mit den Philosophien und Religionen des Ostens, aber auch mit dem Weltbild der modernen Naturwissenschaft. Erst als Student fand er zu seinen christlichen Wurzeln zurück und trat schließlich in den Kamaldulenserorden ein, einen kontemplativen Mönchsorden in der Tradition des hl. Benedikt. Er bringt seine Stimme als Kenner der Geschichte der Theologie in die vorliegende Diskussion ein.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560955-2
Abgeleitet von Hermes Trismegistos; die auf ihn bezogene spätere Literatur ist von einem populären Platonismus mit aristotelischen und mythischen Einflüssen bestimmt. (Anm.d.Übers.)
Im Engl. spirit im Gegensatz zu dem zuvor gebrauchten mind. (Anm.d.Übers.)
1012 vom hl. Romuald gegr. Kloster, Mittelpunkt des Ordens der Kamaldulenser in der Toscana. (Anm.d.Übers.)
«Wenn in den meisten anderen Regionen der nördlichen Welt der Winter Einzug hält, dann ist in Big Sur der Frühling bereits auf dem Vormarsch. Hier kommt der Frühling ganz plötzlich mit den ersten starken Regenfällen des Dezembers oder sogar des späten Novembers. ‹Winter› in Big Sur ist in Wahrheit die Ankunft eines wunderbaren grünen und blühenden Frühlings.» Diese Worte des Schriftstellers F. Schmoe gelten auch für das geistige Klima in Big Sur. Hier regt sich der kalifornische Frühling in den Wurzeln eines neuen Denkens, das anderen Orts vielleicht noch im gefrorenen Boden schlummert.
Das Neue Denken ist nicht zwangsläufig überlegen, weil es «neu» ist, doch es ist auch nicht zwangsläufig schlechter als das alte. Es braucht ein Forum, auf dem es präsentiert, diskutiert und bewertet werden kann. Big Sur verfügt über ein solches Forum – das Esalen Institut. Seit mehr als zwei Jahrzehnten haben Ideen und Methoden, die zunächst in Esalen erdacht wurden, anschließend Einfluß in anderen Teilen der Welt ausgeübt. Diese bahnbrechenden Methoden und Ideen, dieses intellektuelle Hebammenwerk in Esalen, ruft uns die Namen von Aldous Huxley, Abraham Maslow, Fritz Perls, Buckminster Fuller, Stanislav und Christina Grof, Alan Watts, Gregory Bateson, Charlotte Selver, Joseph Campbell, Michael und Dulcie Murphy in Erinnerung. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Das gilt auch für die kulturellen Anstöße, die von hier ausgingen und oft genug beträchtliches Aufsehen erregten.
Auch die in diesem Buch niedergeschriebenen Gespräche fanden in Esalen statt. Ende des Jahres 1985 veranstaltete das Elmwood Institute ein Symposium zum Thema «Kritische Fragen über das neue Denken». Dabei übergab Fritjof Capra den Teilnehmern eine Aufstellung typischer Eigenschaften des «neuen Denkens in der Naturwissenschaft». Eher scherzhaft gemeint, erstellten David Steindl-Rast und Thomas Matus damals eine ähnlich aufgebaute Parallel-Liste für das Gebiet der Theologie. Doch wurde bald deutlich, daß unsere nette kleine Liste weitreichende Implikationen hatte. Daraufhin trafen wir uns über Jahre hinweg immer wieder in Esalen, um die Implikationen der gefundenen Parallelen Punkt für Punkt zu diskutieren. Das vorliegende Buch wurde aus diesen Diskussionen gewissermaßen herausdestilliert. Seine einzelnen Seiten sind von Big Sur und dessen unvergleichlicher Schönheit geprägt.
Eigentlich sollte das Buch auch bebildert sein. Aber dann – welche Illustrationen könnten das sich stets wandelnde Licht in den Eukalyptusbäumen, die sich ständig verändernde Färbung von Himmel und Meer einfangen? Was könnte den Duft vermitteln, der von dem auf hohe Klippen gekauerten Garten herüberweht, oder das Donnern der Meereswogen, die sich tief unten brechen? Der warme und schwere Geruch von Kompost, das Rauschen des Windes in den Zypressen, das Gurgeln des Baches unter dem hölzernen Fußgängersteg verbanden sich so unmittelbar mit der Stimmung unseres Dialogs, daß der Leser sie vielleicht unbewußt schnuppern, fühlen und hören kann.
Dieser besondere Rahmen, den die Natur uns lieferte, ist zwar nicht ausdrücklich in unserem Text erwähnt, war jedoch ein wesentliches Element unseres Gesprächs. Das Gefühl der Zugehörigkeit, das zum Kern des spirituellen Gewahrseins gehört, wurde zum zentralen Thema dieser intellektuellen Begegnungen. Da diese in einem so großartigen Naturrahmen stattfanden – eingebettet in die natürlichen Zyklen von Licht und Dunkelheit, von brennender Sonne und wohltuenden Nebelschleiern, von gelassener Ruhe und aufschreckenden Gewittern –, erlebten wir dieses Gefühl der Zugehörigkeit intensiver, als unsere lebhaftesten Diskussionen es uns vermitteln konnten. Unsere gemeinschaftliche andauernde Erfahrung eines Dialogs nicht nur untereinander, sondern auch mit Mutter Erde, half uns immer wieder zu intuitivem Verständnis und schweigender Übereinstimmung zu gelangen, in der Worte nicht mehr nötig waren. Wir meinen, daß Mutter Erde auf jeder Seite dieses Buches präsent ist. Unsere lebendige Erde ist die schweigende Quelle all dessen, was wir in diesen Gesprächen aussagen. Sie vermittelt uns den Kontext für das neue Denken über Gott und die Natur.
Fritjof Capra
David Steindl-Rast
Neues Denken in der Naturwissenschaft von Fritjof Capra | Neues Denken in der Theologie eine Paraphrase von Thomas Matus |
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Das alte naturwissenschaftliche Paradigma kann man als kartesianisch, newtonsch oder baconsch bezeichnen, da seine Haupteigenschaften von Descartes, Newton und Bacon formuliert wurden.
| Das alte theologische Paradigma kann man als rationalistisch, manualistisch (lehrbuchhaft) oder positivscholastisch bezeichnen, da seine Haupteigenschaften in theologischen Handbüchern auf der Grundlage scholastischer, schriftlich überlieferter Beweistexte formuliert wurden. |
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Das neue Paradigma kann man ganzheitlich, ökologisch oder systemisch nennen, wobei keines dieser Adjektive es vollständig charakterisiert. | Das neue Paradigma kann man ganzheitlich, ökumenisch oder transzendental-thomistisch nennen, wobei keines dieser Adjektive es vollständig charakterisiert. |
Das neue Denken in der Naturwissenschaft umfaßt die nachstehenden fünf Kriterien, deren erste beiden sich auf eine Sicht der Natur, die anderen drei auf unsere Epistemologie beziehen. | Das neue Denken in der Theologie umfaßt die nachstehenden fünf Kriterien, deren erste beiden sich auf unsere Anschauung von der göttlichen Offenbarung, die drei anderen auf unsere theologische Methodologie beziehen. |
1. Wechsel vom Teil zum Ganzen
| 1. Wechsel von Gott als Offenbarer der Wahrheit zur Wirklichkeit als Gottes Selbstoffenbarung |
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Im Rahmen des alten Paradigmas glaubte man, in jedem komplexen System könne man die Dynamik des Ganzen aus den Eigenschaften der Teile ableiten. | Im Rahmen des alten Paradigmas glaubte man, die Gesamtsumme der Dogmen (die grundsätzlich alle von gleicher Bedeutung seien) ergebe die offenbarte Wahrheit. |
Im neuen Paradigma wird das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen umgekehrt. Die Eigenschaften der Teile können nur in Anbetracht der Dynamik des Ganzen begriffen werden. Im Grunde gibt es überhaupt keine Teile. Was wir als Teil bezeichnen, ist nur ein Muster in einem untrennbaren Gewebe von Zusammenhängen.
| Im neuen Paradigma wird das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen umgekehrt. Den Sinn einzelner Dogmen kann man nur aus der Dynamik der Offenbarung als Ganzer begreifen, die ein einziger, ganzheitlicher Vorgang ist. Einzelne Dogmen konzentrieren sich auf bestimmte Augenblicke der Selbstmanifestation Gottes in der menschlichen Erfahrung von Natur und Geist. |
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2. Wechsel von der Struktur zum Prozeß
| 2. Wechsel von der Offenbarung als zeitlose Wahrheit zur Offenbarung als historische Manifestation |
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Nach dem alten Paradigma glaubte man, es gebe fundamentale Strukturen, und dann Kräfte und Mechanismen, durch die diese interagieren, wodurch ein Prozeß in Gang komme. Im neuen Paradigma gilt jede Struktur als Manifestation eines ihr zugrundeliegenden Prozesses. Das ganze Gewebe ist seinem Wesen nach organisch.
| Nach dem alten Paradigma glaubte man, es gebe ein statisches Bündel übernatürlicher Wahrheiten, die Gott uns zu offenbaren trachtete. Doch galt der historische Prozeß, durch den Gott sie offenbarte, als unwesentlich und daher unwichtig. Im neuen Paradigma ist der dynamische Prozeß der Heilsgeschichte als solcher die große Wahrheit der Selbstmanifestation Gottes. Die Offenbarung selbst ist im ureigentlichen Sinne dynamisch. |
3. Wechsel von der objektiven zur «epistemischen» Naturwissenschaft | 3. Wechsel von der Theologie als objektiver Wissenschaft zur Theologie als Prozeß des Erkennens |
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Im alten Paradigma glaubte die Naturwissenschaft, objektiv zu sein, d.h. unabhängig vom menschlichen Beobachter und dem Prozeß des Erkennens. Im neuen Paradigma glaubt man, die Epistemologie – also das Verstehen des Erkenntnisprozesses – müsse ausdrücklich in die Beschreibung der Naturphänomene werden. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch keinen Konsens darüber, was die richtige Epistemologie ist. Doch entsteht langsam Konsens darüber, daß Epistemologie ein integraler Bestandteil der Naturwissenschaft sein muß. | Im alten Paradigma hielt man die theologischen Feststellungen für objektiv, d.h. für unabhängig von der gläubigen Person und dem Prozeß des Erkennens. Das neue Paradigma meint, das Nachdenken über nichtbegriffliche Wege des Erkennens – intuitive, gefühlsmäßige, mystische – müsse ausdrücklich in theologische Überlegungen einbezogen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinen Konses darüber, in welchem Verhältnis begriffliche und nichtbegriffliche Wege des Erkennens in theologischen Überlegungen zueinander stehen. Jedenfalls setzt sich ein Konsens durch, daß nichtbegriffliche Wege des Erkennens integrale Bestandteile der Theologie sind. |
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4. Wechsel vom Gedankengebäude zum Netzwerk als Metapher des Erkennens | 4. Wechsel vom Gedankengebäude zum Netzwerk als Metapher des Erkennens |
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Die Metapher von der Erkenntnis als einem Gedankengebäude – fundamentaler Gesetze, fundamentaler Prinzipien. Grundbausteine, usw. – ist in der abendländischen Naturwissenschaft und Philosophie seit Tausenden von Jahren gebräuchlich.
Während eines Paradigmenwechsels hat man den Eindruck, daß die Grundlagen der Erkenntnis zusammenbrechen. | Die Metapher von der Erkenntnis als einem Gedankengebäude – fundamentaler Gesetze, fundamentaler Prinzipien, Grundbausteine, usw. – ist in der Theologie seit vielen Jahrhunderten gebräuchlich.
Während eines Paradigmenwechsels hat man den Eindruck, daß die Grundlagen der Lehre zusammenbrechen. |
Im neuen Paradigma wird diese Metapher durch die des Netzwerks ersetzt. Da wir nun die Wirklichkeit als ein Netzwerk von Zusammenhängen wahrnehmen, bilden auch unsere Beschreibungen ein Netzwerk mit vielfachen Querverbindungen, das die beobachteten Phänomene repräsentiert; in einem solchen Netzwerk gibt es weder Hierarchien noch Fundamente. Die Vorstellung, die Physik biete das maßgebende Modell für alle anderen Wissenschaften und liefere die Vorstellungsbilder für wissenschaftliche Beschreibung, wird aufgegeben. | Im neuen Paradigma wird diese Metapher durch die des Netzwerks ersetzt. Da wir nun die Wirklichkeit als ein Netz von Zusammenhängen wahrnehmen, bilden auch unsere theologischen Feststellungen ein Netzwerk verschiedener Perspektiven der transzendenten Wirklichkeit. In einem solchen Netzwerk kann jede Perspektive einzigartige und gültige Einsichten in die Wahrheit vermitteln. Die Vorstellung, daß ein einziges, einheitliches theologisches System für alle Gläubigen bindende Gültigkeit haben könnte, wird aufgegeben. |
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5. Wechsel von der Wahrheit zu annähernden Beschreibungen | 5. Verlagerung des Schwerpunkts von theologischen Feststellungen zu göttlichen Mysterien |
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Das kartesianische Paradigma beruhte auf dem Glauben an die Gewißheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Im neuen Paradigma wird anerkannt, daß alle wissenschaftlichen Begriffe und Theorien begrenzt und nur Annäherungen sind. Die Naturwissenschaft kann niemals ein vollständiges und definitives Verständnis der Wirklichkeit vermitteln. Naturwissenschaftler befassen sich nicht mit der Wahrheit (im Sinne einer präzisen Entsprechung zwischen der Beschreibung und dem beschriebenen Phänomen); sie befassen sich mit begrenzten und annähernden Beschreibungen der Wirklichkeit. | Das lehrbuchhafte Paradigma der Theologie behauptete schon durch seine bloße Form als «Summa» oder Kompendium, unser theologisches Wissen sei erschöpfend. Mit der stärkeren Betonung des Mysteriums durch das neue Paradigma gesteht dieses den begrenzten und annähernden Charakter jeder theologischen Äußerung ein. Die Theologie kann niemals ein vollständiges und definitives Verständnis göttlicher Mysterien vermitteln. Wie jeder Gläubige findet der Theologe die letzte Wahrheit nicht in der theologischen Aussage, sondern in der grenzenlosen Wirklichkeit, der diese Aussage aufhellenden, jedoch begrenzten Ausdruck verleiht. |
Fritjof Capra (FC): Wir wollen uns zuerst einmal selbst vorstellen und sagen, was uns zu diesem Dialog motiviert hat. Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Anfang machen. Ich bin als Katholik aufgewachsen und habe mich aus verschiedenen Gründen vom Katholizismus abgewandt. Ich begann mich sehr für fernöstliche Religionen zu interessieren und fand auffallende Parallelen zwischen den Theorien der modernen Naturwissenschaft, vor allem denen meines Fachgebiets Physik, und den Grundgedanken des Hinduismus, Buddhismus und Taoismus. Diese Entdeckung ging Hand in Hand mit einer tiefgreifenden persönlichen Transformation. Ich war stets ein Mensch, der sich mit Spiritualität befaßte, und als ich mich östlicher Spiritualität zuwandte, erarbeitete ich mir im Laufe der Jahre einen persönlichen spirituellen Weg, der praktisch von allen drei großen östlichen Traditionen beeinflußt ist – vom Taoismus, Buddhismus und Hinduismus – und darüber hinaus auch sehr von der Ökologie, von dem, was wir heute «tiefe Ökologie» nennen.
Bis vor kurzem hat mein persönlicher Weg das Christentum überhaupt nicht einbezogen, zumindest nicht bewußt. Das änderte sich jedoch, als meine Tochter geboren wurde – eigentlich schon, bevor sie geboren wurde. Ich diskutierte damals mit Ihnen, Bruder David, und wie ich mich erinnere, erzählten Sie, Sie hätten vor einiger Zeit eine Taufe gefeiert, die halb katholisch, halb buddhistisch war.
David Steindl-Rast (DSR): Sie war im Grunde ganz katholisch und ganz buddhistisch.
FC: Die Sache hat mich sehr interessiert, und ich dachte, es wäre wunderbar, wenn wir das auch mit unserem Baby tun könnten, das wir damals erwarteten. Und so geschah es dann auch. David war so freundlich, es zu arrangieren, und wir erlebten eine sehr schöne Zeremonie. Damals bekannte ich mich dazu, meiner Tochter eine spirituelle Erziehung angedeihen zu lassen oder zumindest ein spirituelles Umfeld zu schaffen, das auch die christliche Überlieferung einbezieht. Auf diese Weise wurde natürlich mein persönliches Interesse am Christentum wieder geweckt, weil ich spürte, daß ich es ernst nehmen mußte. Inzwischen ist Juliette zwei Jahre alt und kommt bald in das Alter, in dem sie für Geschichten empfänglich wird. Ich will ihr Episoden aus dem Mahābhārata und andere indische Geschichten erzählen, aber auch buddhistische und einige chinesische. Und selbstverständlich möchte ich ihr auch Geschichten aus der christlichen, jüdischen und abendländischen spirituellen Überlieferung erzählen. Müßte ich ihr heute die Weihnachtsgeschichte erzählen, dann könnte ich das mit sehr einfachen Worten tun. Doch nehmen wir einmal an, sie wäre fünf Jahre älter. Dann, meine ich, könnte ich in Schwierigkeiten geraten. Ich wüßte nicht so recht, wie ich sie gut formulieren sollte.
Übrigens gibt es da noch einen anderen Aspekt. Ich halte viele Vorträge in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Dort ist der Stellenwert der Kirche ein ganz anderer als hier in Kalifornien. Ich glaube, es hat nicht ein einziges Seminar und keine einzige Vortragsveranstaltung gegeben, bei der nicht jemand die Frage gestellt hat: «Und wo bleibt Gott in Ihrem Weltsystem?» Diese Frage kommt immer wieder auf. Dort ist die gesamte Weltanschauung viel theistischer als hier in Kalifornien.
Neuerdings zeigen die Kirchen in Deutschland – die katholische wie die protestantische – sehr viel Interesse an der New-Age-Bewegung. Sie haben Angst vor der neuen Spiritualität, die jetzt auch in Europa an Boden gewinnt. Sie spüren, daß sie sich damit befassen müssen, und ich werde immer wieder zu diesen Diskussionen eingeladen. Dadurch habe ich auch beruflich ein stärkeres Interesse an dieser Thematik gewonnen.
Wegen dieser verschiedenen Interessen bin ich hier und freue mich sehr auf den bevorstehenden Dialog.
DSR: Sie erwähnten vorhin jene buddhistisch-christliche Taufe oder Initiation, Fritjof. Es lohnt sich, darüber zu Beginn etwas mehr zu sagen. Die Zeremonie fand in Green Gulch statt, auf der Farm des San Francisco Zen Center. Beide Eltern waren ordinierte buddhistische Priester und zugleich praktizierende Christen. Solche Fälle erlebt man immer häufiger in verschiedenen Zen-Zentren – daß nämlich Menschen, die einst ihren christlichen Glauben ablegten und sich dem Zen zuwandten, nach vielleicht zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren aufgrund der Beschäftigung mit Zen ihr Christentum auf einer viel tieferen Ebene wiederentdecken. Jetzt wollen sie sogar, daß ihre Kinder in diese Tradition eingeführt werden. Die Taufe eines Kindes ist ein Initiationssakrament und gliedert das Kind einer christlichen Gemeinschaft ein. Da beide Traditionen, richtig verstanden, miteinander vollkommen vereinbar sind, war es möglich, dieses Kind in beide gleichzeitig aufzunehmen. Der ganze Sangha (buddhistische Gemeinde) und ein großer Kreis von Menschen haben daran mit tiefem Verständnis teilgenommen.
FC: Ich glaube, es gibt da noch einen anderen Gesichtspunkt. Man will ein Kind ja nicht nur wegen einer eigenen persönlichen Beziehung zu diesem Glauben ins Christentum einführen, sondern auch, weil das Christentum ein Teil seiner Umwelt ist. So ist es ja auch notwendig, wenn auch schwierig, das Kind mit dem Tod vertraut zu machen, wenn ein Tier oder sein Großvater stirbt, sowie mit Gewalt oder Niedertracht; wir müssen es mit diesen Dingen vertraut machen, weil sie zu unserer Welt gehören. Auf der positiven Seite sind die Religionen ein Teil der Welt, und meine Tochter wird in einem christlichen Umfeld aufwachsen. Selbst wenn ich keine Neigung zum Christentum hätte, müßte ich mich also ernsthaft bemühen, das Kind damit bekanntzumachen.
DSR: Es geht dabei eher um eine Verheißung als um eine Verwirklichung, einfach um das Offensein für etwas, das erst noch kommen wird. In dem Handzettel, den wir für die Zeremonie verteilten, hieß es einfach: «Einige Christen wie auch einige Buddhisten, die heute an der Zeremonie teilnehmen, mögen sich damit noch nicht ganz anfreunden können. Wir sollten jedoch diese Zeremonie als eine Verheißung ansehen, der wir nähergekommen sein werden, wenn dieses Kind einmal erwachsen sein wird. Die Generation dieses Kindes wird verstehen, wie gut beide Überlieferungen zusammenpassen.»
Damit komme ich zu dem zweiten Punkt, den Sie erwähnt haben. Jetzt macht es Ihnen noch Spaß, Ihrer kleinen Tochter Geschichten zu erzählen. Sobald sie jedoch älter wird, mag das schwieriger werden. Das geht vielen Leuten so, weil uns diese Geschichten meistens in einer für Kinder geeigneten Form präsentiert wurden. Man hat uns jedoch nicht dazu angehalten, sie in einem späteren Lebensalter in einer Form neu zu erzählen, die Erwachsenen angemessen ist. Wir müssen sie überdenken. Es gibt Erwachsene, die in jeder anderen Hinsicht erwachsen, in ihrer religiösen Bildung jedoch immer noch Kind sind. Sie können über Religion nicht in Begriffen der Erwachsenen sprechen. Sie, Fritjof, haben nun eine wunderbare Gelegenheit, zusammen mit Ihrem Kind zu wachsen. Erzählen Sie ihm zum Beispiel Märchen, dann haben die für ein Kind andere Bedeutung als für Erwachsene. Als Heranwachsende betrachten wir sie abfällig als baren Unsinn. In reiferem Alter kehren wir jedoch zu ihnen zurück und schätzen ihren tiefen Sinn.
Für mich persönlich ist an dieser Diskussion folgendes wichtig. Ich halte ebenfalls häufig Vorträge im deutschsprachigen Raum und werde oft gefragt: «Wie passen New Age und christlicher Glaube zusammen?» Auch bei Konferenzen von Wissenschaftlern und Repräsentanten von Religionen, zu denen ich geladen werde, muß ich dieselben Fragen beantworten. Daher mein großes Interesse, mehr über Naturwissenschaft zu erfahren.
Ich habe als Künstler begonnen. Die Kunst war die erste Liebe und das erste große Interesse meines Lebens. Dann begann ich mich für primitive und kindliche Kunst zu interessieren, sattelte deshalb immer mehr um auf Psychologie und Anthropologie und promovierte schließlich in Psychologie. Das geschah zu der Zeit, in der wir in Wien versuchten, die Psychologie zu einer exakten Naturwissenschaft zu machen, so naturwissenschaftlich wie nur möglich. Wir gehörten nicht zu den Psychologen, deren Handwerkszeug die Couch war, sondern absolut zu denen, die mit Ratten arbeiteten. Bei uns mußte alles und jedes gemessen werden. Und dem galt auch mein eigenes Interesse. Ich habe also ein Gespür für Naturwissenschaft und ein großes Interesse an einem Dialog dieser Art. Mönch wurde ich erst, nachdem ich Kunst und Psychologie studiert hatte. Je länger ich mich «professionell mit Religion befasse», wenn man es so bezeichnen will, desto mehr entdecke ich die große Bedeutung der Kunst und der Naturwissenschaft für die Fülle menschlichen Lebens. Daher ist für mich persönlich dieser Dialog von so großer Bedeutung. Auch da gibt es eine Parallele zwischen uns. Wir sind am Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Theologie nicht nur interessiert, weil wir öffentlich darüber diskutieren müssen, sondern es ist für uns beide eine sehr persönliche Angelegenheit – im Grunde für uns drei, meine ich.
Thomas Matus (TM): Die komplexen Zusammenhänge zwischen Kunst, Naturwissenschaft und Religion sind für mich von entscheidender Bedeutung, Bruder David. Doch habe ich einen ganz anderen Hintergrund als Sie und Fritjof, weil ich nicht als Katholik aufgewachsen bin. Genaugenommen wurde ich nicht im Sinne einer bestimmten institutionellen Religion erzogen. Beide Elternteile – mein Vater Abkömmling einer polnischen Einwandererfamilie, meine Mutter Tochter eines Baptistenpredigers – waren zunächst sehr religiös erzogen worden. Als ich geboren wurde, hatten sie sich aus den institutionellen Formen der Religion zurückgezogen. Aus diesem Grunde förderten sie mein Interesse an Spiritualität, ohne mich zu einer bestimmten religiösen Praxis zu zwingen.
In meiner Teenagerzeit beschäftigte sich meine Mutter mit New-Age-Literatur und sogar ein wenig mit fernöstlicher Philosophie. Als ich den Hinduismus und Buddhismus entdeckte, klang mir beides sofort wahr, obwohl ich auch eine Beziehung zum Christentum hatte, da ich die Bibel gelesen und von Zeit zu Zeit die Sonntagsschule der Baptisten besucht hatte.
Meine erste Einführung in fernöstliche Religionen erfolgte durch die Autobiographie eines Yogi von Paramahansa Yogananda. In diesem Buch zitiert Yogananda im Zusammenhang mit dem neuen naturwissenschaftlichen Paradigma, das bereits in den 1930er Jahren erkennbar wurde, die beiden britischen Naturwissenschaftler Arthur Eddington und James Jeans. Das stachelte mein Interesse für Yoga und gleichzeitig für theoretische Physik an. Ich las einige populärwissenschaftliche Bücher über Relativität und Quantenmechanik. Und obwohl ich sehr wenig von der Sache verstand, wurde mir zumindest klar, daß die Neue Physik etwas darstellte, was mit Spiritualität in Zusammenhang gebracht werden sollte.
In einer Hinsicht unterschied meine Erfahrung sich von der des Bruders David. Obwohl ich nicht im Rahmen einer Konfession aufgewachsen war, war ich bereits im Alter von etwa sechzehn Jahren überzeugt, schicksalhaft zum Mönch berufen zu sein. Ob ich nun ein Hindumönch oder christlicher Mönch werden sollte, war eine Frage, die ich später entscheiden würde.
Schließlich schloß ich mich den Kamaldulenser Mönchen hier in Big Sur an, was natürlich bedeutete, daß ich mich für den Weg des überlieferten Christentums entschied. Während meiner Jahre im College wurde ich von der Wahrheit des katholischen Glaubens überzeugt und war bereit, die Kirche als meinen Guru anzuerkennen. Doch blieben weiterhin einige meiner Fragen unbeantwortet. Zu meinem Glück riet mir ein chinesischer Benediktinermönch in einem Kloster nahe Los Angeles, nicht abzulehnen, was ich von anderen Überlieferungen gelernt hatte. Das war damals im Jahre 1960, vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil und im Rahmen der neuen Offenheit der Katholischen Kirche. Es war ein großes Glück, daß ich diesen Rat erhielt. Er sagte mir: «Du würdest nicht da sein, wo du jetzt bist, wenn du nicht alles das durchlebt hättest, was dir widerfahren ist. Daher kannst du das alles nicht einfach abstreifen.»
Hier im Kloster in Big Sur erlebte ich jedoch ziemlichen Widerstand gegen diesen ökumenischen Geist. Als Novize durfte ich mich weder mit Yoga noch mit orientalischen Religionen beschäftigen. Doch klammerte ich mich an die Hoffnung, daß ich schließlich doch die Gelegenheit dazu erhalten würde. Und als das dann der Fall war, ergriff ich sie auch.
Man kann also sagen, daß wir drei trotz unterschiedlicher Hintergründe viele gemeinsame Interessen haben.
Lassen Sie mich nun noch etwas dazu sagen, wie ich dazu gekommen bin, an Ihrem Dialog teilzunehmen. Als Sie beide über Fritjofs Kriterien des neuen Denkens in der Naturwissenschaft korrespondierten, fragte Bruder David mich, ob ich ihm helfen würde, ein paralleles Schema von Kriterien für die Theologie zusammenzustellen. Also werde ich Ihnen nunmehr zuhören und gelegentlich Beobachtungen aus der Geschichte der Theologie und der Geschichte der Religionen beisteuern.
FC: Ich denke, wir sollten zu Beginn ganz allgemein über das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Theologie sprechen. Der Begriff des Paradigmawechsels kommt aus der Naturwissenschaft, und wenn wir ihn auf die Theologie anwenden, wird sich erst herausstellen, ob das gerechtfertigt ist. Daher möchte ich zunächst einige sehr allgemeine Fragen stellen. Was ist eigentlich der Zweck der Naturwissenschaft einerseits und der Theologie andererseits? Welches sind ihre Methoden? Danach möchte ich einiges zum Fortschritt der Naturwissenschaft sagen, was Anlaß zur Diskussion des Begriffes Paradigma geben wird.
FC: Meines Erachtens ist es Sinn und Zweck der Naturwissenschaft, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu erlangen, über unsere Welt. Neben vielen anderen Wegen ist die Naturwissenschaft ein besonderer Weg zum Erlangen von Wissen. Und ein Aspekt des neuen Denkens in der Naturwissenschaft ist, daß die Wissenschaft weder der einzige noch der beste, sondern nur einer von vielen Wegen ist.
Der Ausdruck «Naturwissenschaft» ist, wie Sie wissen, jüngeren Datums. Früher nannte man das «Naturphilosophie». Naturwissenschaft und Philosophie waren also nicht getrennt. Und in der Tat nennt man Newtons erste mathematische Formulierung der Wissenschaft im modernen Sinne immer noch Die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie.
Heute ist der Zweck der Naturwissenschaft fast gleichbedeutend mit der Herrschaft und Kontrolle über die Natur und eng mit der Technologie verknüpft. Viele Naturwissenschaftler sind beruflich überhaupt nicht an Anwendungsmöglichkeiten interessiert, sondern nur an der reinen Wissenschaft, um mehr Kenntnisse über die Welt zu erlangen. Doch ist die Idee der Beherrschung der Natur selbst in der reinen Wissenschaft sehr eng mit der naturwissenschaftlichen Methode assoziiert, fast synonym mit ihr, was ich für sehr bedauerlich halte.
Viele von uns Anhängern des neuen Paradigmas meinen, dieser Gedanke, daß der Mensch die Natur beherrschen solle – eine patriarchalische Einstellung –, sollte aus der Wissenschaft verschwinden. Wir würden gern eine Naturwissenschaft entstehen sehen, in der die Wissenschaftler mit der Natur kooperieren und nach mehr Wissen streben, damit wir die natürlichen Phänomene kennenlernen und in der Lage sind, uns ihnen anzupassen. So verstehe ich die traditionelle mittelalterliche Vorstellung, Wissenschaft «zum Ruhme Gottes» zu betreiben.
Damit komme ich zu den Fragen, «Was ist der Zweck der Theologie?» und «In welcher Beziehung steht Theologie einerseits zur Religion und andererseits zur Spiritualität?».
TM: Ich kann diese Fragen in die Form eines Axioms bringen. Man kann Spiritualität ohne Religion besitzen, aber keine Religion, keine authentische Religion, ohne Spiritualität. Es gibt Religion ohne Theologie, jedoch keine authentische Theologie ohne Religion und Spiritualität. Daher hat meines Erachtens Spiritualität als Erfahrung, Praxis und Einsicht die Priorität.
FC: Was ist demnach Religion? Eine Institutionalisierung dieser Spiritualität?
TM: Institutionalisierung ist eine der Konsequenzen, wenn eine ursprüngliche spirituelle Erfahrung in eine Religion umgewandelt wird. Am wichtigsten ist jedoch, daß Religion den kategorischen oder intellektuellen Aspekt sowie den sozialen Aspekt der Erfahrung zum Ausdruck bringt.
DSR: Ich halte es für wichtig, stets zwischen «RELIGION», groß geschrieben, und «einer Religion» zu unterscheiden. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Raimundo Panikkar vergleicht RELIGION und SPRACHE. Menschen verfügen über SPRACHE, doch kann niemand SPRACHE sprechen; man muß eine Sprache sprechen. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Man kann nicht RELIGION ohne eine Religion haben; reine RELIGION kann man ebensowenig praktizieren wie man SPRACHE an sich sprechen kann.
RELIGION, wie ich sie verstehe, steht der Spiritualität sehr nahe. Sie ist die Begegnung mit dem Mysterium, mit dem Sinn. Wir brauchen uns nur unserer Gipfelerfahrungen zu erinnern. In diesen Augenblicken haben die Dinge Sinn. Hier haben wir etwas, das einer kleinen Erleuchtungserfahrung entspricht. Es ist eine Einsicht in den Sinn des Lebens, noch bevor das zu einem klaren Bild wird. Es ist ein Erleben des Sinnes – wobei Sinn das ist, worin wir Ruhe finden. Wir können in ihm ruhen: «Das ist es, das macht Sinn.» Haben wir eines dieser «Das ist es»-Erlebnisse, dann ist dies der Kern von RELIGION.
FC: Können Sie etwas mehr über diese Erfahrung sagen? Ist das Spiritualität?
DSR: Nun, ich verwende den Begriff «Spiritualität» anders. In diesem speziellen Sinne wäre «Spiritualität» das Handeln aus dieser Erfahrung heraus, von RELIGION in jedem Aspekt des täglichen Lebens. Spiritualität läßt Sinn ins Alltagsleben einfließen. Wer ein solches Gipfelerlebnis hat, es abschüttelt und danach weiterlebt, als hätte er nie eines gehabt, der besitzt keine Spiritualität.
FC: Spiritualität ist also eine Lebensweise, die der religiösen Erfahrung entspringt.
DSR: Ja. Spiritualität läßt RELIGION in Ihre Weise zu essen, zu schreiben, ja selbst in das Beschneiden Ihrer Fingernägel fließen.
FC: Dann lassen Sie mich etwas über RELIGION, über diese Einsicht fragen. Im Alltag kann ich ebenfalls eine Erfahrung haben, «in der ich Ruhe finde», wenn ich nämlich Verständnis erlange für irgendeine Technologie oder ähnliches, für alltägliche Dinge, die nichts mit Religion zu tun haben. Was ist wirklich charakteristisch für diesen besonderen «Sinn, in dem wir Ruhe finden»?
DSR: Jeder von uns trägt eine große Frage in sich. In uns ist etwas, das ständig Fragen stellt. Meistens, oder vielleicht immer, ist es eine unausgesprochene Frage. Hin und wieder jedoch, ohne besonderen Anlaß, kennen wir plötzlich die Antwort, haben wir einen flüchtigen Eindruck von ihr. Doch ist diese Antwort noch nicht ausgesprochen. Wir sagen uns nur: «Das ist es!» Das geschieht vielleicht durch das Lächeln eines Babys in der Wiege. Vater oder Mutter schauen auf das Baby, und plötzlich «Das ist es!» Es ist diese Art, in der Ruhelosigkeit, mit der normalerweise unser Leben abläuft, «zur Ruhe kommen» zu können. Sagt Ihnen diese Antwort etwas?
FC: Ja. Ich möchte jedoch auf etwas anderes in der Spiritualität oder RELIGION hinaus, etwas, das für mich sehr wichtig ist. Es ist dieses Gefühl, mit dem Kosmos als Ganzem verbunden zu sein. Das finde ich auch im Lächeln des Babys. Das Lächeln dieses Babys ist mein Lächeln, weil ich der Vater bin. Doch ist das Lächeln eines jeden Babys ebenfalls mein Lächeln. Und das Lächeln eines Delphins – wenn man das Lächeln nennen kann – ist ebenfalls mein Lächeln. Das meinte Gregory Bateson, als er sagte – «das Muster, das die Orchidee mit der Schlüsselblume, den Delphin mit dem Wal und alle vier mit mir verbindet». Dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem gesamten Kosmos ist meiner Ansicht nach entscheidend für die religiöse Erfahrung.
TM: Könnten wir dafür den Ausdruck «Zugehörigkeit» verwenden?
DSR: Ja, das ist genau der Ausdruck, den ich gewöhnlich verwende – Zugehörigkeit.
TM: «Zugehörigkeit» hat eine doppelte Bedeutung. Das heißt: «Dies gehört mir» und «Ich gehöre diesem», im Sinne von besitzen oder jemand zu sein, der im Besitz von jemandem ist. «Hierhin gehöre ich» bedeutet aber auch: «Hier finde ich meinen Platz.» Es heißt «Das ist es!» und gleichzeitig «Hier bin ich».
DSR: «Ich bin zu Hause.» Vielleicht kann man jetzt einen anderen bildlichen Ausdruck verwenden. Ich sagte vorhin, wir trügen dieses Suchen, diese Fragestellung stets mit uns herum. Vielleicht kann man sagen, wir fühlten uns oft verwaist, verloren, herumirrend und nach etwas Ausschau haltend. Und dann kommt auf unerklärliche Weise auf einmal der Augenblick: «Jetzt bin ich zu Hause, das ist mein Zuhause! Und ich gehöre dazu. Ich bin nicht verwaist. Ich gehöre zu etwas.» Das geschieht oft explizit, manchmal jedoch einfach implizit. «Ich gehöre zu allen anderen Menschen.» Selbst wenn gerade niemand in der Nähe ist, habe ich dieses klare Gefühl. Ich gehöre zu all den Tieren, zu allen Pflanzen. Und dieses Dazugehören bedeutet, daß ich bei ihnen zu Hause bin, für sie Verantwortung trage und ihnen verantwortlich bin. Ich gehöre zu ihnen, wie sie zu mir gehören. In dieser großartigen kosmischen Einheit gehören wir alle zusammen.
Dann stellt sich die große Frage, wie wir von diesem Standort aus den Weg zu den Religionen finden, die wir um uns erleben? Oder sogar zu unserer ganz persönlichen Religion?
Dafür sind zumindest drei Schritte erforderlich: Theologie, Ethik und Rituale. Zuerst tritt der Verstand vor; damit kommt die Theologie ins Spiel. Hier besteht auch unsere engste Parallele zur Naturwissenschaft. Haben wir ein Erlebnis, vor allem eines, das uns zutiefst bewegt und existentiell fordert, dann müssen wir darüber nachdenken, um es besser zu verstehen. Und hier sehe ich den Platz der Theologie. Sie bemüht sich zu begreifen, was RELIGION impliziert, ist unser intellektuelles Spiel mit der religiösen Erfahrung des Dazugehörens und deren Verarbeitung.
FC: Etymologisch betrachtet ist Verbundenheit die Wurzel der Religion. Und die Wurzel der Theologie liegt im «theos», in Gott. Doch so, wie Sie es darstellen, ist die Vorstellung von Gott gar nicht erforderlich.
DSR: Nicht erforderlich ist der Name «Gott». Ich achte immer sehr darauf, nicht «Gott» zu sagen, wenn ich nicht weiß, ob meine Gesprächspartner mit diesem Begriff zurechtkommen oder ihn zumindest nicht zu sehr mißverstehen. Der Ausdruck «Gott» kann so leicht mißverstanden werden, daß man ihn mit großer Vorsicht gebrauchen sollte.
TM: Der Ausdruck «Theologie» stand ursprünglich nicht für das systematische Studium religiöser Dogmen, sondern vor allem für die mystische Erfahrung. Der um das Jahr 400 lebende christliche Mönch und Autor Evagrius Ponticus hat ein berühmt gewordenes Wort geprägt: «Wenn du im rechten Sinne betest, bist du ein Theologe, und wenn du ein rechter Theologe bist, wirst du wissen, wie man betet.» Als Axiom oder Motto definiert das Theologie als Eindringen in das unnennbare Mysterium.
DSR: Darf ich nochmals auf die Bedeutung des Zugehörens und sich zu Hause fühlens zurückkommen? Beim richtigen Gebrauch des Ausdrucks «Gott» – richtig in dem Sinne, in dem die tiefsten Denker und heiligsten Menschen ihn in den verschiedenen religiösen Überlieferungen übereinstimmend gebrauchen – meinen wir mit «Gott» den Bezugspunkt unseres Zugehörens. Die eine Wirklichkeit, der wir letztlich angehören und die daher auf innerlichste Weise uns gehört, kann «Gott» genannt werden.
FC: Danach wäre also der Begriff «Theologie» spezifisch auf christliche Theologie anzuwenden?
DSR: Meines Erachtens könnte man ihn in jeder theistischen Religion gebrauchen, die die letzte Wirklichkeit als «Gott» bezeichnet.
FC: Ich nehme jedoch an, hier in unserem Gespräch gebrauchen wir ihn im christlichen Sinne.
DSR: Ja, das tun wir. Doch möchte ich ihn nicht einengen. Man könnte auch Erkenntnisse anderer Überlieferungen hinzunehmen, die als echte theologische Erkenntnisse gelten können.
FC: Dann sollten wir das auch in unserem Gespräch tun. Zurück zum Wesen der Religion. Sie, Pater David, haben von drei Stufen gesprochen: Theologie, Ethik und Rituale. Bis jetzt haben wir nur über Theologie gesprochen.