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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009

Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Covergestaltung any.way, Walter Hellmann

Coverabbildung Abbildung: billy & hells

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-00001-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00001-8

Noch bevor Ebling zu Hause war, läutete sein Mobiltelefon. Jahrelang hatte er sich geweigert, eines zu kaufen, denn er war Techniker und vertraute der Sache nicht. Wieso fand niemand etwas dabei, sich eine Quelle aggressiver Strahlung an den Kopf zu halten? Aber Ebling hatte eine Frau, zwei Kinder und eine Handvoll Arbeitskollegen, und ständig hatte sich jemand über seine Unerreichbarkeit beschwert. So hatte er endlich nachgegeben, ein Gerät erworben und gleich vom Verkäufer aktivieren lassen. Wider Willen war er beeindruckt: Schlechthin perfekt war es, wohlgeformt, glatt und elegant. Und jetzt, unversehens, läutete es.

Zögernd hob er ab.

Eine Frau verlangte einen gewissen Raff, Ralf oder Rauff, er verstand den Namen nicht.

Am Abend dann der nächste Anruf. «Ralf!» rief ein heiserer Mann. «Was ist, wie läuft es, du blöde Sau?»

«Verwählt!» Ebling saß aufrecht im Bett. Es war schon zehn Uhr vorbei, und seine Frau betrachtete ihn vorwurfsvoll.

Der Mann entschuldigte sich, und Ebling schaltete das Gerät aus.

Am nächsten Morgen warteten drei Nachrichten. Er hörte sie in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Eine Frau bat kichernd um Rückruf. Ein Mann brüllte, daß er sofort herüberkommen solle, man werde nicht mehr lange auf ihn warten; im Hintergrund hörte man Gläserklirren und Musik. Und dann wieder die Frau: «Ralf, wo bist du denn?»

Ebling seufzte und rief den Kundendienst an.

Seltsam, sagte eine Frau mit gelangweilter Stimme. So etwas könne überhaupt nicht passieren. Niemand kriege eine Nummer, die schon ein anderer habe. Da gebe es jede Menge Sicherungen.

«Es ist aber passiert!»

Nein, sagte die Frau. Das sei gar nicht möglich.

«Und was tun Sie jetzt?»

Wisse sie auch nicht, sagte sie. So etwas sei nämlich gar nicht möglich.

Ebling öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er wußte, daß jemand anderer sich nun sehr erregt hätte –

Sekunden später läutete es wieder. «Ralf?» fragte ein Mann.

«Nein.»

«Was?»

«Diese Nummer ist … Sie wurde aus Versehen … Sie haben sich verwählt.»

«Das ist Ralfs Nummer!»

Ebling legte auf und steckte das Telefon in die Jackentasche. Die S-Bahn war wieder überfüllt, auch heute mußte er stehen. Von der einen Seite preßte sich eine fette Frau an ihn, von der anderen starrte ein schnurrbärtiger Mann ihn an wie einen verschworenen Feind. Es gab viel, das Ebling an seinem Leben nicht mochte. Es störte ihn, daß seine Frau so geistesabwesend war, daß sie so dumme Bücher las und daß sie so erbärmlich schlecht kochte. Es störte ihn, daß er keinen intelligenten Sohn hatte und daß seine Tochter ihm so fremd vorkam. Es störte ihn, daß er durch die zu dünnen Wände immer den Nachbarn schnarchen hörte. Besonders aber störten ihn die Bahnfahrten zur Stoßzeit. Immer so eng, immer voll, und gut gerochen hatte es noch nie.

Seine Arbeit aber mochte er. Er und Dutzende Kollegen saßen unter sehr hellen Lampen und untersuchten defekte Computer, die von Händlern aus dem ganzen Land eingeschickt wurden. Er wußte, wie fragil die kleinen denkenden Scheibchen waren, wie kompliziert und rätselhaft.

Als er aus der Bahn stieg, läutete das Telefon. Es war Elke, die ihm sagte, er solle noch Gurken kaufen, heute abend auf dem Heimweg. Im Supermarkt in ihrer Straße gebe es die jetzt besonders billig.

Ebling versprach es und verabschiedete sich schnell. Das Telefon läutete wieder, und eine Frau fragte ihn, ob er sich das gut überlegt habe, auf so eine wie sie verzichte man nur, wenn man ein Idiot sei. Oder sehe er das anders?

Nein, sagte er, ohne nachzudenken, er sehe das genauso.

«Ralf!» Sie lachte.

Den ganzen Weg bis zur Firma war er verwirrt und nervös. Offensichtlich hatte der ursprüngliche Besitzer der Nummer eine ähnliche Stimme wie er. Wieder rief er beim Kundendienst an.

Nein, sagte eine Frau, man könne ihm nicht einfach eine andere Nummer geben, es sei denn, er bezahle dafür.

«Aber diese Nummer gehört jemand anderem!»

Unmöglich, antwortete sie. Da gebe es – 

«Sicherungen, ich weiß! Aber ich bekomme ständig Anrufe für … Wissen Sie, ich bin Techniker. Ich weiß, daß sich bei Ihnen dauernd Leute melden, die von nichts eine Ahnung haben. Aber ich bin vom Fach. Ich weiß, wie man –»

Sie könne gar nichts tun, sagte sie. Sie werde sein Anliegen weiterleiten.

«Und dann? Was passiert dann?»

Dann, sagte sie, werde man weitersehen. Aber dafür sei sie nicht zuständig.

An diesem Vormittag konnte er sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Seine Hände waren zittrig, und in der Mittagspause hatte er keinen Hunger, obwohl es Wiener Schnitzel gab. Die Kantine hatte nicht oft Wiener Schnitzel, und normalerweise freute er sich schon am Tag vorher darauf. Diesmal jedoch stellte er sein Tablett mit dem halbvollen Teller in die Stellage zurück, ging in eine stille Ecke des Eßsaals und schaltete sein Telefon ein.

«Sehen wir uns nächsten Monat?» rief ein Mann. «Du bist doch auf dem Locarno-Festival? Die werden das nicht ohne dich durchziehen, nicht unter diesen Umständen, Ralf, oder?»

«Bin wohl dort», sagte Ebling.

«Dieser Lohmann. War ja zu erwarten. Hast du mit den Leuten von Degetel gesprochen?»

«Noch nicht.»

«Wird aber Zeit! Locarno kann uns sehr helfen, wie Venedig vor drei Jahren.» Der Mann lachte. «Und sonst? Clara?»

«Jaja», sagte Ebling.

«Finde ich auch», sagte Ebling.

«Bist du erkältet? Du klingst komisch.»

«Ich muß jetzt … was anderes machen. Ich rufe zurück.»

«Schon gut. Änderst dich nie, was?»

Der Mann legte auf. Ebling lehnte sich an die Wand und rieb seine Stirn. Er brauchte einen Moment, bis er sich wieder zurechtfand: Dies war die Kantine, rings um ihn aßen die Kollegen Schnitzel. Gerade trug Rogler ein Tablett vorbei.

«Hallo, Ebling», sagte Rogler. «Alles klar?»

«Na sicher.» Ebling schaltete das Telefon aus.

Den ganzen Nachmittag war er nicht bei der Sache. Die Frage, welcher Teil eines Computers defekt war und wie es zu den Fehlern hatte kommen können, die die Händler in ihren kryptischen Schadensmeldungen beschrieben – Kunde sagt, Resettaster betätigt wg. Abschalten kurz v. Displäy, aber zeigt Zerro an –, interessierte ihn heute einfach nicht. So fühlte es sich also an, wenn man etwas hatte, auf das man sich freute.

Er zögerte es hinaus. Das Telefon blieb ausgeschaltet, während er mit der S-Bahn nach Hause fuhr, es blieb ausgeschaltet, als er im Supermarkt Gurken kaufte, und auch während des Essens mit Elke und den zwei einander unter dem Tisch tretenden Kindern ruhte es in seiner Tasche, aber er konnte nicht aufhören, daran zu denken.

«Ja?»

«Ralf.»

«Ja?»

«Was denn jetzt?» Sie lachte. «Spielst du mit mir?»

«Würde ich nie tun.»

«Schade!»

Seine Hand zitterte. «Du hast recht. Eigentlich würde ich … gerne mit dir …»

«Ja?»

«… spielen.»

«Wann?»

Ebling blickte sich um. Diesen Keller kannte er wie nichts anderes auf der Welt. Jeden Gegenstand hier hatte er selbst hingestellt. «Morgen. Du sagst, wann und wo. Ich bin da.»

«Ist das dein Ernst?»

«Finde es raus.»

Er hörte sie tief einatmen. «Im Pantagruel. Um neun. Du reservierst.»

«Mache ich.»

«Du weißt, daß es nicht vernünftig ist?»

«Wen interessiert das?» fragte Ebling.

Diese Nacht faßte er zum ersten Mal seit langem wieder seine Frau an. Zunächst war sie nur verblüfft, dann fragte sie, was denn los sei mit ihm und ob er getrunken habe, dann gab sie nach. Lange dauerte es nicht, und während er sie noch unter sich spürte, war ihm, als täten sie etwas Ungehöriges. Ihre Hand klopfte an seine Schulter: Sie kriege keine Luft. Er entschuldigte sich, aber es dauerte noch ein paar Minuten, bevor er von ihr abließ und sich zur Seite rollte. Elke machte Licht, sah ihn vorwurfsvoll an und zog sich ins Badezimmer zurück.

Natürlich ging er nicht ins Pantagruel. Den ganzen Tag ließ er das Telefon ausgeschaltet, und um neun Uhr abends saß er mit seinem Sohn vor dem Fernseher und sah einem Fußballspiel der zweiten Liga zu. Er spürte ein elektrisches Prickeln, ihm war, als ob ein Doppelgänger von ihm, ein Vertreter seiner selbst in einem anderen Universum, gerade ein teures Restaurant aufsuchte und eine große, schöne Frau traf, die aufmerksam seinen Worten folgte, die lachte, wenn er etwas Geistreiches sagte, und deren Hand hin und wieder, wie aus Versehen, die seine berührte.

In der Halbzeit stieg er hinunter in den Keller und schaltete das Telefon ein. Keine Nachricht. Er wartete. Niemand rief an. Nach einer halben Stunde erst schaltete er es wieder aus und ging zu Bett; er konnte nicht mehr so tun, als ob das Fußballspiel ihn interessierte.

Er fand keinen Schlaf, und kurz nach Mitternacht stand er auf und tappte, barfuß und im Unterhemd, zurück in

«Ralf», sagte ein Mann. «Entschuldige, daß ich so spät … Ist aber wichtig! Malzacher besteht darauf, daß ihr euch übermorgen seht. Das ganze Projekt wackelt! Morgenheim wird auch dabei sein. Du weißt, was auf dem Spiel steht!»

«Mir egal», sagte Ebling.

«Bist du irre?»

«Wird sich herausstellen.»

«Du bist wirklich verrückt!»

«Morgenheim blufft», sagte Ebling.

«Mut hast du jedenfalls.»

«Ja», sagte Ebling, «den habe ich.»

Als er die Nachrichten anhören wollte, läutete es schon wieder.

«Das hättest du nicht tun sollen!» Ihre Stimme war heiser und gepreßt.

«Wenn du wüßtest», sagte Ebling. «Ich hatte einen schrecklichen Tag.»

«Lüg nicht.»

«Warum sollte ich lügen?»

«Das ist doch wegen ihr! Das geht doch … jetzt wieder … mit euch?»

Ebling schwieg.

«Gib es wenigstens zu!»

«Sei nicht albern!» Er fragte sich, welche der Frauen, deren Stimmen er kannte, sie wohl meinte. Er hätte gerne

«Entschuldige», sagte sie leise. «Es ist oft … schwer mit dir.»

«Das weiß ich.»

«Aber einer wie du … ist eben nicht wie die anderen.»

«Ich wäre gern wie alle», sagte Ebling. «Aber ich wußte nie, wie man das macht.»

«Also morgen?»

«Morgen», sagte Ebling.

«Wenn du wieder nicht kommst, ist es vorbei.»

Während er sich lautlos auf den Weg nach oben machte, dachte er darüber nach, ob es diesen Ralf wirklich gab. Plötzlich kam ihm unglaubhaft vor, daß Ralf da draußen existierte, seinen Angelegenheiten nachging und nichts von ihm wußte. Womöglich war Ralfs Dasein ja immer schon für ihn bestimmt gewesen, vielleicht hatte nur ein Zufall ihrer beider Schicksale vertauscht.

Es läutete erneut. Er hob ab, hörte ein paar Sätze und rief: «Absagen!»

«Bitte?» fragte eine erschrockene Frauenstimme. «Er ist extra angereist, wir haben so lang auf dieses Treffen hingearbeitet, damit –»

«Ich bin nicht auf ihn angewiesen.» Von wem mochte die Rede sein? Er hätte viel dafür gegeben, es zu wissen.

«Wird sich zeigen.» Eine Euphorie, wie er sie nie gekannt hatte, erfüllte ihn.

«Wenn du meinst.»

«Allerdings meine ich!»

Ebling mußte der Versuchung widerstehen, sich zu erkundigen, worum es überhaupt ging. Er hatte herausgefunden, daß er alles sagen konnte, solange er keine Fragen stellte, die Leute aber sofort Verdacht schöpften, wenn er etwas wissen wollte. Gestern hatte ihm eine Frau, deren rauhe Stimme ihm besonders gefiel, auf den Kopf zugesagt, daß er nicht Ralf sei – und zwar nur, weil er sich erkundigt hatte, wo in Andalusien sie denn eigentlich gewesen seien in jenem Sommer vor drei Jahren. So würde er wohl nie mehr über jenen Mann erfahren. Einmal war er vor dem Plakat des neuen Films mit Ralf Tanner stehengeblieben und hatte sich für ein paar schwindelerregende Sekunden vorgestellt, daß er womöglich die Telefonnummer des berühmten Schauspielers hatte, daß es dessen Freunde, Mitarbeiter und Geliebten waren, mit denen er seit einer Woche sprach. Möglich war es ja: Tanners Stimme und die seine waren sich ähnlich. Aber dann hatte er den Kopf geschüttelt und war schief lächelnd weitergegangen. Lange konnte es ohnehin nicht mehr dauern. Er machte sich keine Illusionen, früher oder später würde der Fehler korrigiert werden und das Telefon verstummen.

«Ach du schon wieder. Ich konnte nicht ins Pantagruel kommen. Sie ist wieder da.»

Ebling nickte und schrieb den Namen auf ein Blatt Papier. Er vermutete, daß die Frau, mit der er sprach, Carla hieß, aber er hatte noch nicht genug Indizien, um es wagen zu können, sie so anzureden. Leider nannte niemand mehr am Telefon den eigenen Namen: Die Nummern wurden angezeigt, und jeder ging davon aus, daß der andere vor dem Abheben schon wußte, wer anrief.

«Das verzeihe ich dir nicht.»

«Es tut mir leid.»

«Blödsinn. Es tut dir nicht leid!»

«Nun ja.» Ebling lehnte sich lächelnd an die Seitenwand des IKEA-Schranks. «Vielleicht nicht. Katja ist erstaunlich.»

Sie schrie eine Weile. Sie fluchte und drohte, und dann weinte sie auch noch. Aber da es ja schließlich Ralf war, der dieses Chaos angerichtet hatte, mußte Ebling kein schlechtes Gewissen haben. Mit klopfendem Herzen hörte er ihr zu. Er war der Seele einer aufregenden Frau noch nie so nahe gekommen.

«Nimm dich zusammen!» sagte er scharf. «Es konnte nicht funktionieren, das weißt du genau!»

Nachdem sie aufgelegt hatte, stand er eine Weile mit sanftem Schwindelgefühl da und horchte in die Stille, als wäre irgendwo noch Carlas Schluchzen zu hören.

Als er in der Küche Elke begegnete, blieb er verwundert stehen. Für einen Moment war es ihm vorgekommen, als stamme sie aus einem anderen Dasein oder einem Traum,

Am nächsten Tag, er war allein zu Hause, rief er zum ersten Mal eine der Nummern zurück. «Ich bin es. Wollte nur fragen, ob alles in Ordnung ist.»

«Wer ist denn dran?» fragte eine Männerstimme.

«Ralf!»

«Welcher Ralf?»

Ebling drückte schnell die Auflegetaste, dann versuchte er es mit einer anderen Nummer.

«Ralf, mein Gott! Ich habe gestern probiert, dich … Ich habe … Ich …»

«Langsam!» sagte Ebling, enttäuscht, daß es keine Frau war. «Was ist?»

«Ich kann so nicht weitermachen.»

«Dann hör auf.»

«Es gibt keinen Ausweg.»

«Es gibt immer einen.» Ebling mußte gähnen.

«Ralf, willst du mir etwa sagen, daß ich … endlich die Konsequenzen ziehen soll? Daß ich bis ans Ende gehen muß?»

Ebling schaltete durch die Fernsehkanäle. Aber er hatte kein Glück, überall schien es nur Volksmusik zu geben und Tischler, die Holzplatten bearbeiteten, und Wiederholungen von Serien aus den achtziger Jahren: die Trübseligkeit des Nachmittagsprogramms. Wieso konnte er das

«Ich schlucke die ganze Schachtel!»

«Ja, nur zu.» Ebling griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag. Der Weg des Selbst zu seinem Selbst von Miguel Auristos Blancos. Auf dem Umschlag eine Sonnenscheibe. Es gehörte Elke. Mit spitzen Fingern legte er es weg.

«Dir fällt immer alles zu, Ralf. Du bekommst alles. Du hast keine Ahnung, was es heißt, immer der Zweite zu sein. Immer einer von vielen, immer dritte Wahl. Du kennst das nicht!»

«Das stimmt.»

«Ich tue es wirklich!»

Ebling schaltete das Telefon aus, für den Fall, daß der armselige Mensch ihn zurückrufen würde.

In dieser Nacht träumte er von Hasen. Sie waren groß, sie waren nicht putzig anzusehen, sie kamen aus dichtem Waldgestrüpp, sahen mehr wie dreckige Lumpenwesen aus als wie die netten Kerlchen aus dem Zeichentrickfilm und blickten ihn mit glimmenden Augen an. Hinter ihm im Dickicht krachte etwas, er fuhr herum, aber seine Bewegung störte alles auf, die Wirklichkeit zerrann, und er hörte Elke sagen, es sei ja nicht auszuhalten, wie könne einer so laut atmen, sie wolle endlich ihr eigenes Schlafzimmer.

Vom nächsten Morgen an war das Telefon stumm. Er wartete und horchte, aber es wollte nicht läuten. Als es

Am nächsten Tag sabotierte er drei Computer und stellte eine Festplatte so ein, daß sich genau einen Monat später alle Daten darauf löschen würden. Das Telefon schwieg.

Ein paarmal war er nahe daran, eine der Nummern anzurufen. Sein Daumen lag auf der Wähltaste, und er stellte sich vor, daß nur ein Moment ihn davon trennte, wieder eine jener Stimmen zu hören. Wäre er mutiger gewesen, er hätte den Knopf gedrückt. Oder irgendwo Feuer gelegt. Oder nach Carla gesucht.

Wenigstens gab es zu Mittag Wiener Schnitzel. Zweimal in acht Tagen – ein seltener Glücksfall. Ihm gegenüber saß Rogler und kaute entschlossen. «Der neue E14», sagte er mit vollem Mund. «Da wird man ja wahnsinnig. Bei dem funktioniert noch gar nichts. Wer den kauft, ist selbst schuld.»

Ebling nickte.

«Aber was soll man machen?» rief Rogler. «Er ist neu. Ich will ihn auch haben! Es gibt doch sonst nichts.»

«He», sagte Rogler. «Hör auf, dein Telefon anzustarren.»

Ebling zuckte zusammen und steckte es in die Tasche.

«Vor kurzem wolltest du noch gar keins, und jetzt machst du keinen Schritt mehr ohne. Aber entspann dich, so dringend ist sicher nichts.» Rogler zögerte einen Moment. Er schluckte, dann schob er sich ein Stück Schnitzel in den Mund. «Versteh das jetzt bitte nicht falsch. Aber wer sollte dich schon anrufen?»

In Gefahr

«Ein Roman ohne Hauptfigur! Verstehst du? Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held.»

«Interessant», sagte Elisabeth müde.

Er sah auf die Uhr. «Wieso haben wir schon wieder Verspätung? Gestern war es genauso, was machen die nur, wieso passiert das immer wieder?»

«Das passiert eben.»

«Hast du gesehen, der Mann da drüben sieht aus wie ein Hund auf zwei Beinen! Aber woher kommen diese Verspätungen, warum kann man nicht einmal, als Versuch nur, einfach so, warum kann man nicht einmal pünktlich abfliegen?»

Sie seufzte. In der Wartehalle waren über zweihundert Menschen. Viele schliefen, ein paar lasen in schlecht gedruckten Zeitungen. Von der Wand grinste das Porträt

«Glaubst du, diese Maschinen sind sicher? Ich meine, das sind doch alte Flugzeuge, die ihnen die Europäer verkaufen. Die dürfen bei uns gar nicht mehr aufsteigen, das ist kein Geheimnis, oder?»

«Nein.»

«Bitte?»

«Das ist kein Geheimnis.»

Leo rieb sich die Stirn. Er räusperte sich, öffnete und schloß den Mund, schneuzte sich umständlich. Dann sah er sie mit wäßrigen Augen an. «War das ein Scherz?»

Sie antwortete nicht.

«Das hätten die mir vorher sagen müssen, die hätten mich doch nicht einladen dürfen, ich meine, gibt es da keine Regeln? Die können mich nicht einladen, wenn das nicht sicher ist! Hast du die Frau da drüben gesehen, die schreibt gerade etwas auf. Warum? Was schreibt die? Aber sag, du hast doch einen Scherz gemacht, diese Maschinen sind nicht wirklich gefährlich, oder?»

«Nein, nein», sagte sie. «Keine Angst.»

«Das sagst du jetzt nur, um mich zu beruhigen!»

Sie schloß die Augen.

«Das wußte ich. Das sehe ich doch. Schau mal da drüben! Wenn das hier eine Geschichte wäre, würden wir zu dieser Gruppe gehören, und vor dem Abflug würde man uns vergessen. Wer weiß, was draus werden könnte!»

«Wenn es eine gibt!»

Elisabeth schwieg. Sie hätte gerne geschlafen, es war noch früh, aber sie wußte, das würde er erst nach der Landung zulassen. Den ganzen Flug über würde sie ihm erklären müssen, daß Fliegen ganz ungefährlich und kein Absturz zu befürchten sei. Danach müßte sie sich ums Gepäck kümmern, und im Hotel wäre es an ihr, mit dem Rezeptionisten zu sprechen und dafür zu sorgen, daß der Zimmerservice etwas brachte, das auch Leo mit seinen kindischen Eßgewohnheiten für genießbar hielt. Und am späten Nachmittag hätte sie sicherzustellen, daß Leo bereit war, wenn man ihn zu seinem Vortrag abholte.

«Ich glaube, es geht los!» rief er.

Vorne am Ausgang der Halle hatte eine junge Frau Posten an einem der Stehpulte bezogen. Einige Leute standen auf, rafften ihr Gepäck zusammen und schlurften hinüber.

«Das dauert noch», sagte Elisabeth.

«Wir versäumen den Flug!»

«Sie fangen gerade erst an. Das dauert noch eine halbe Stunde.»

«Die fliegen ohne uns!»

«Warum bitte sollten sie –»

Aber er war schon aufgesprungen und stellte sich an. Sie verschränkte die Arme und sah zu, wie seine schmale Gestalt langsam vorrückte. Schließlich war er an der

«Das kannst du nicht mit mir machen! Ich dachte, du kommst nicht mehr. Ich habe schon überlegt, wie ich den Start abbrechen kann, aber hier versteht mich ja keiner, ich kann niemandem etwas erklären.»

Sie entschuldigte sich.

«Nein wirklich, das ist alles anstrengend genug, da kann ich nicht auch noch … Hast du die zwei Kinder da vorne gesehen, die sind unheimlich. Besonders das kleine Mädchen. Grüne Augen! Die fliegen ganz allein, ohne Eltern.»

«Beeindruckend», sagte sie.