Iny Lorentz

Die Feuerbraut

Roman

Historische Romane

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman "Die Kastratin" die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit "Der Wanderhure" gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Die Romane von Iny Lorentz wurden in zahlreiche Länder verkauft.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autoren: www.iny-lorentz.de

Impressum

© 2008 Knaur eBook.

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden

© der Originalausgabe: 2008 Knaur Verlag

Covergestaltung: Zero Werbebagentur, München

Covermotiv: FinePic® München

ISBN 978-3-426-40325-9

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Erster Teil Kriegsgreuel

I.

Sie waren auf der Flucht.

Irmela hätte froh sein müssen, dass sie den anrückenden Feind hinter sich gelassen hatten, aber sie zitterte immer noch vor Angst. Obwohl sie das Ziel des Flüchtlingszuges kannte, war es ihr, als führen sie auf einen schwarzen Rachen zu, der sie alle verschlingen würde. Ihre böse Vorahnung mochte eine Folge des Streits sein, der den Aufbruch begleitet hatte, oder auch nur ein Ausdruck von Trauer und Verzweiflung. Nie hätte sie sich vorstellen können, ihre Heimat auf diese Weise verlassen zu müssen. Nach den langen Diskussionen, die ihr Vater mit den Nachbarn geführt hatte und denen eine heftige Auseinandersetzung gefolgt war, hatte sie zuletzt nicht einmal Abschied von den Menschen nehmen können, die nicht mitgenommen worden waren. Sie selbst hatte kaum Gepäck und würde, wenn die Schweden tatsächlich ihr Elternhaus besetzten, nicht mehr besitzen als das, was sie auf dem Leib trug und was in die kleine Reisekiste hineingepasst hatte, die auf dem Dach der Kutsche befestigt war. Aber das wenige würde sie auch noch verlieren, wenn die Mutter Gottes nicht ihren schützenden Mantel über sie und die anderen Flüchtlinge ausbreitete, damit die feindlichen Soldaten die Wagen nicht entdeckten.

Ziel der sieben Familien war, die Donaubrücke bei Neuburg zu erreichen, hinter der sie Sicherheit zu finden hofften. Doch nach allem, was Irmela über die Ungeheuer aus dem Norden gehört hatte, bezweifelte sie, dass das andere Ufer des Stromes ihnen tatsächlich Rettung bringen würde. Sie hatte ihren Vater sagen hören, es gäbe nur einen Weg, den ketzerischen Mordbrennern zu entrinnen, nämlich auf eines der Schiffe zu steigen, die die Donau abwärts ins Bayerische und bis nach Österreich fuhren.

Während Irmela sich an all das Schreckliche erinnerte, das über die Schweden und ihre protestantischen Verbündeten erzählt wurde, klammerte sie sich an das Lederband an der Kutschenwand, damit sie nicht wieder den Halt verlor und gegen eine ihrer Mitreisenden prallte. Da die Fahrspuren nur aus Löchern zu bestehen schienen, schaukelte der Wagen stark. Offensichtlich wurde der Weg schlechter instand gehalten als die große Handelsstraße, die von Nürnberg über Roth und Hilpoltstein nach Ingolstadt führte und sich dabei ein ganzes Stück die Schwarzach entlangschlängelte. Diese hatte der Anführer des Zuges, auf den ihr Vater und dessen Nachbarn sich nach einem scharfen Wortwechsel geeinigt hatten, jedoch nicht einschlagen wollen. Anton von Birkenfels war ein erfahrener Veteran, der in mehr als einem Dutzend Schlachten unter dem großen Tilly gefochten hatte, und er war der Ansicht gewesen, die Schweden würden auf den großen Straßen vorrücken und ihre Zeit nicht mit den Karrenwegen verschwenden, die sich wie ein Netz zwischen Dörfern und kleinen Marktorten erstreckten. Aus diesem Grund hatte er bestimmt, der letzte Teil ihrer Flucht nach Neuburg solle über Konstein, Wellheim und Bergen gehen. Aber so kurz nach der Schneeschmelze bestanden die Wege aus mit Schlamm gefüllten Löchern, in denen die hoch beladenen Wagen immer wieder festsaßen.

Gerade war der Zug wieder ins Stocken geraten. Reichsfreiin Meinarda von Teglenburg, die mit dem im Range niedrigeren, aber einflussreichen Neuburger Hofrat Siegbert von Czontass verheiratet war, streckte den Kopf zum Fenster hinaus und zog ihn seufzend wieder zurück. »Steglingers großer Ochsenwagen ist schon wieder stecken geblieben. Wieso hat man ausgerechnet dieses Gefährt an die Spitze des Zuges gesetzt? Das Ding hätte ganz hinten fahren müssen.«

Walburga Steglinger, eine korpulente Frau knapp unter vierzig, schien die Worte der Freiin auf sich zu beziehen, denn sie stieß einen Laut aus, der Irmela an das Knurren eines gereizten Hundes erinnerte. »Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre der Karren überhaupt nicht mitgenommen worden. Doch wie ich meinen Mann kenne, hat er auf niemand gehört und ist einfach losgefahren.«

Ehrentraud von Lexenthal, die ebenfalls wie ein Gepäckstück in die Kutsche gestopft worden war, schrie so laut auf, dass man es wohl bis zu dem Frachtwagen hören konnte. »Wenn wir nicht schneller werden, holen uns die elenden Ketzer ein! Sagt doch den Knechten, sie sollen den Karren von der Straße schieben!«

Irmela wies auf den Wald, der den Pfad zu beiden Seiten flankierte. »Die Bäume stehen zu dicht. Hier kann man den Ochsenkarren nicht beiseite schaffen.«

Damit hatte sie recht. Der Weg war schmal, und die Äste ragten oft so weit hinein, dass die Kutscher ihre Gespanne ganz vorsichtig unter ihnen hindurchlenken mussten. Zusammen mit Steglingers überladenem Frachtwagen ließ auch das den Flüchtlingszug kaum schneller vorankommen als eine Schnecke auf einem Salatblatt.

Ehrentrauds hysterischer Ausruf steckte die anderen Frauen in der überfüllten Kutsche an. Zu viel hatten sie in letzter Zeit von den Ungeheuern aus Mitternacht gehört, wie man die Schweden zumeist nannte. Während einige inbrünstig zu beten begannen und ihre Kinder anhielten, es ihnen gleichzutun, begann Irmelas Tante Johanna, mit unanständigen Worten über Walburgas Ehemann Rudolf Steglinger herzuziehen. Weiter hieß sie Anton von Birkenfels einen unfähigen Narren, der den Frachtwagen längst hätte wegschaffen müssen, und schmähte zuletzt sogar den lieben Gott. Ihrer Meinung nach hätte der Herr im Himmel es nicht zulassen dürfen, dass die schwedischen Ketzer und ihre protestantischen Verbündeten das kaiserliche Heer bei Breitenfeld geschlagen und die Städte Mainz und Würzburg samt ihren Festungen eingenommen hatten.

Meinarda von Teglenburg wies sie scharf zurecht, denn es gehörte sich für eine Achtzehnjährige nicht, solche Reden zu führen, und den Willen des Schöpfers durfte erst recht niemand anzweifeln. Zwar stimmten die anderen Frauen ihr zu, brachen dann aber in verzweifeltes Wehklagen aus oder flehten ihre bevorzugten Heiligen an, sie vor den protestantischen Teufeln zu schützen.

Ihre schrillen Stimmen peinigten Irmelas Nerven, und sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um nichts mehr hören zu müssen. Da man ihr diese Geste jedoch übel genommen hätte, krallte sie beide Hände in das Lederband, um nicht vom Sitz geschleudert zu werden, wenn die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte. Hart fallen würde sie zwar nicht, denn der Wagenkasten, in dem vier Leute bequem und sechs noch halbwegs angenehm reisen konnten, war mit zwölf Frauen und Kindern überfüllt. Aber wenn sie gegen jemand stieß, würde sie gescholten werden, und Johanna und Ehrentraud, die ihr im Alter am nächsten standen, würden sie so gemein zwicken, wie sie es schon mehrfach getan hatten.

Während Irmela versuchte, sich von der Angst nicht überwältigen zu lassen, beneidete sie Freiin Meinarda und Walburga Steglinger und die beiden anderen Nachbarinnen, die in Fahrtrichtung sitzen durften und daher den Bewegungen der Kutsche nicht so stark ausgeliefert waren. Immerhin gehörte der Reisewagen ihrem Vater, doch der hatte ihr beim Aufbruch erklärt, es sei unhöflich, einer erwachsenen Frau den besseren Platz wegzunehmen.

Irmela blickte nach draußen, um zu sehen, ob es nicht endlich weiterging. Dort sammelten Birkenfels und ihr Vater mit ernsten Mienen gerade die anderen Herren um sich. Die Zuversicht, die die Männer noch beim Aufbruch gezeigt hatten, war einer tiefen Niedergeschlagenheit gewichen, das spürte sie, noch ehe die ersten harschen Worte fielen.

»Verdammt noch mal, Steglinger, Euch sollte man den Schweden zum Fraß vorwerfen! Meine Anordnung war eindeutig. Zuerst kommen die Kutschen mit den Frauen und Kindern und dann erst die Bagagewagen!« Der Sprecher war Anton von Birkenfels, ein mittelgroßer, gedrungener Offizier in einem dunklen Lederrock, weiten Hosen und Stulpenstiefeln, wie er sie wohl auch während der Feldzüge unter Tilly getragen hatte. Nun glühte er vor Zorn und sah so aus, als wolle er den plumpen, aufgeblasen wirkenden Gutsherrn niederschlagen.

Irmelas Vater Ottheinrich von Hochberg, der neben Birkenfels stand, nickte. »Euer Wagen hindert uns weiterzukommen. Bei der nächsten Gelegenheit muss er zur Seite geschafft werden, damit die Kutschen an ihm vorbeikönnen. Sollte es hart auf hart kommen, lassen wir das Gepäck zurück und versuchen, wenigstens das Leben unserer Lieben und das unsere zu retten.«

»Der Meinung bin ich auch!«, stimmte ihm Siegbert von Czontass zu. »Wenn wir den Feind hinter uns hören, müssen die Pferde vor den Kutschen zu schnellster Gangart gepeitscht werden. Solange sie zwischen den schweren Lastkarren eingezwängt sind, ist ein Entkommen unmöglich.«

Steglingers Gesicht färbte sich tiefrot. »Mir hat hier keiner etwas zu befehlen, Birkenfels! Und Ihr am allerwenigsten. Ich war mit meinem Wagen eher unterwegs als Ihr, und jetzt bleibt er an der Spitze.«

»Aber nur so lange, bis sich die Gelegenheit ergibt, die Kutschen überholen zu lassen. Ich fühle mich erst besser, wenn wir unsere Frauen und Kinder hinter den Mauern von Neuburg in Sicherheit gebracht haben.«

»Die Schweden haben Würzburg und Mainz eingenommen. Da werden die Neuburger Mauern wohl kaum ein Hindernis für sie darstellen!« Steglinger dachte über diesen Teil der Flucht hinaus und hatte sich bereits auf ein langes Exil in der Fremde eingerichtet, das er sich mit seinen Möbeln und Kunstwerken verschönern wollte.

Auch die anderen Flüchtlinge hatten ihre Schätze und ein wenig Hausrat mitgenommen, waren aber vernünftig genug gewesen, ihre Wagen nicht zu überladen. Bei Steglingers großem Gefährt knirschten jedoch die Achsen unter dem Gewicht, und Irmela hielt es für ein Wunder, dass die Zugtiere den Wagen überhaupt noch vorwärts brachten.

Steglinger drehte den anderen Edelleuten brüsk den Rücken zu, rannte nach vorne und brüllte den Knecht auf dem Bock an. »Peitsch die Ochsen, damit sie den Wagen endlich aus diesem Loch herausziehen!«

Der Fuhrmann schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das habe ich doch schon getan, Herr! Die Tiere sind völlig erschöpft.«

Wüst fluchend riss Steglinger dem Knecht die Peitsche aus der Hand und schlug wie von Sinnen auf die Zugochsen ein. Birkenfels nahm dem zornigen Mann die Peitsche ab und warf sie zu Boden. »Damit bewirkt Ihr gar nichts! Die Viecher können nicht mehr. Wir werden einen Teil Eurer Sachen abladen müssen, sonst sitzen wir noch heute Abend hier fest.«

»Niemand legt Hand an meinen Besitz!« Steglinger wollte Birkenfels packen, doch der schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt und winkte seinen Sohn Fabian heran, einen lang aufgeschossenen Jüngling von achtzehn Jahren, der während der kriegsbedingten Abwesenheit des Vaters zusammen mit seiner Mutter das Gut der Familie bewirtschaftet hatte.

»Lade den Wagen ab, bis die Ochsen ihn wieder ziehen können. Notfalls musst du bei einem anderen Karren hinten die Ochsen ausspannen lassen, damit sie mithelfen können, diesen hier aus dem Loch zu holen.«

»Das können wir doch gleich machen! Dann brauchen wir nichts wegzuwerfen«, wandte Steglinger ein. Er schien vor Wut fast zu platzen, wusste aber, dass er sich gegen die Phalanx der anderen Edelleute nicht durchsetzen konnte.

»Dann hängt der verdammte Karren gleich wieder im nächsten Loch fest! Nein, Steglinger, jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht. Euretwegen haben wir schon viel zu viel Zeit verloren.« Birkenfels kehrte dem Mann den Rücken zu und holte einige Knechte herbei.

Für einige Augenblicke herrschte Stille, die nur durch das erschöpfte Stöhnen der Zugtiere unterbrochen wurde. Irmela versuchte, ihre zitternden Nerven zu beruhigen, und ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich von der Angst innerlich auffressen ließ. Sie beneidete die Frauen um sich herum, die beteten und darauf vertrauten, dass ihre Männer alles richtig machen würden. Ihr aber tat der Magen weh, als hätte sie glühende Kohlen verschluckt.

Mit einem Mal versetzte Johanna ihr einen Stoß mit dem Ellbogen. »Bleib endlich ruhig sitzen! Wir anderen brauchen auch noch Platz.«

Zwei Frauen, die sich ebenso wie Johanna durch Irmelas Zappeln gestört fühlten, nickten zustimmend, und Meinarda von Teglenburg setzte dem Mädchen kurzerhand ihren zweijährigen Sohn Siegmar auf den Schoß. »Nimm ihn eine Weile. Mir wird der Junge langsam zu schwer.«

Eng aneinandergepresst in der Kutsche sitzen und dabei auch noch ein Kind festhalten zu müssen war höchst unbequem, doch Frau von Teglenburg wollte Irmela etwas zu tun geben, damit sie ihre Angst ein wenig vergaß.

Eine Weile beschäftigte Irmela sich mit dem kleinen Jungen, der in seiner blauen Kleidung, dem weißen Spitzenkragen und seinen bis auf die Schultern fallenden blonden Haaren wie ein Engel aussah, obwohl er nach Meinung seiner Kindsmagd eher ein kleiner Teufel war. Die Frau hatte ebenso zurückbleiben müssen wie Frau von Teglenburgs Zofe, denn es hatte wie allerorten zu wenig Zugtiere für die Kutschen und Karren gegeben. Zwar saßen einige Mägde auf den Frachtwagen, doch die gehörten meist zu Steglingers Haushalt und waren nur mitgenommen worden, damit ihr Herr sich unterwegs keine neue Dienerschaft suchen musste.

Ottheinrich von Hochberg hatte den Zurückgebliebenen etwas Geld in die Hände gedrückt und ihnen den Rat gegeben, sich beim Herannahen der Schweden in den Wäldern zu verstecken. Just in jenem Augenblick war Irmela von der Erkenntnis überfallen worden, sie würde von den Leuten, die zum größten Teil schon vor ihrer Geburt in den Diensten ihrer Familie gestanden hatten, niemand mehr wiedersehen. Bei der Erinnerung daran begann sie lautlos für diese Menschen zu beten. Mit einem Mal stellten sich ihr die Haare auf den Armen auf, und sie krümmte sich unter dem Eindruck nahenden Unheils. Trotz des Lärms, den die Menschen und Tiere des Flüchtlingszuges verursachten, nahm sie Geräusche wahr, die nichts Gutes verhießen. Schnell steckte sie den Kopf zum Schlag hinaus, um zu lauschen.

Tatsächlich drangen Rufe und der Hufschlag schneller Pferde an ihr Ohr, und ihr schoss das Blut aus dem Kopf. »Da sind Reiter vor uns! Sie werden uns bald erreichen«, rief sie erschrocken aus.

»Verraten dir das die Hexenkräfte, die du von deiner Mutter geerbt hast? Ich höre gar nichts!« Johanna maß ihre ein Jahr jüngere Nichte mit einem verächtlichen Blick.

Obwohl die beiden Mädchen zusammen aufgewachsen waren, hatte sich keine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Irmela war nach dem frühen Tod ihrer Mutter ein in sich zurückgezogenes Kind gewesen, das nur wenige Menschen an sich heranließ; Johanna aber galt als arme Verwandte, die aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen worden war. Da Johanna Irmelas Vater die Verachtung nicht heimzahlen konnte, mit der Ottheinrich seine um viele Jahre jüngere Halbschwester behandelte, quälte sie Irmela, wo sie nur konnte. Dabei nutzte sie deren Liebe zu ihrer verstorbenen Mutter aus und hielt ihr bei jeder Gelegenheit vor, dass Irmhilde von Hochberg als Hexe angezeigt worden war und nur durch ihren frühen Tod einem Prozess und dem Scheiterhaufen entronnen sei.

Zu Hause war Irmela weinend davongelaufen, wenn Johanna sie mit Bosheiten überhäuft hatte, nun aber herrschte sie sie an, still zu sein. Ihre Ohren waren besser als die jedes anderen Menschen, den sie kannte, und sie hörte nun deutlich rauhe Stimmen, die sich einer fremden Sprache bedienten.

»Es können nur die Schweden sein! Kommt raus aus dem Wagen! Wir verstecken uns im Wald.« Noch während sie es sagte, riss Irmela den Kutschenschlag auf und sprang mit Siegmar auf dem Arm zu Boden. Meinarda von Teglenburg streckte noch die Hand aus, um sie aufzuhalten, war aber nicht schnell genug.

Den Jungen an sich gepresst, rannte Irmela zu ihrem Vater und zupfte ihn am Ärmel. »Ich höre schwedische Reiter! Sie kommen von vorne!«

Ihr Vater blickte kopfschüttelnd in die angegebene Richtung, und Anton von Birkenfels machte eine abfällige Handbewegung. »Aus der Richtung, in die wir fliehen? Das ist doch lächerlich!«

Dann wandte er sich an seinen Sohn. »Fabian, hilf Fräulein Irmela wieder in die Kutsche und sorge dafür, dass sie auch drinnen bleibt!«

Der Jüngling hatte gerade ein paar weitere Knechte auf Steglingers Wagen gescheucht, damit diese noch einige Stühle, Tische und Kästen in den Wald schaffen sollten. Nun schwang er sich aus dem Sattel und trat nicht weniger verärgert als sein Vater auf Irmela zu.

Das Mädchen sah ihren Vater flehend an. »Papa, ich höre sie wirklich! Wir müssen in die Wälder fliehen. Möge die Himmeljungfrau uns beistehen!«

Ottheinrich von Hochberg starrte Irmela verunsichert an. Seine Tochter verfügte über ähnlich feine Sinne wie seine verstorbene Frau, dabei hätte er ihr ein etwas weniger sensibles Gemüt gewünscht. So erinnerte sie ihn täglich mehr an ihre Mutter, die nur durch ihre hohe Abkunft und das Dazwischentreten des Pfalzgrafen und Neuburger Herzogs Wolfgang Wilhelm dem Zugriff jenes fanatischen Dominikanerpaters entkommen war, der sie als Hexe angeklagt hatte. Dabei hatte seine Gemahlin die Gunst des Fürsten und der Fürstin nicht zuletzt ihrer scharfen Sinne wegen erworben. Nun schwankte Hochberg, ob er Irmela Glauben schenken oder ihre Worte als Gerede eines verängstigten Kindes abtun sollte.

Fabian von Birkenfels griff nach Irmela, um den Befehl seines Vaters auszuführen, doch diese stieß ihn unerwartet heftig zurück.

»Rennt um euer Leben!«, schrie sie und tauchte mit dem kleinen Siegmar auf dem Arm so schnell im Zwielicht des Waldes unter, dass Fabian ins Leere griff.

Frau Meinarda sah das Mädchen mit ihrem Sohn in den Wald rennen und stieß einen schrillen Ruf aus. »Irmela! Nein! Was machst du denn da?«

Bevor jemand sie hindern konnte, verließ sie die Kutsche und folgte dem Mädchen. Drei andere Frauen verloren die Nerven, zwängten sich kreischend ins Freie und rannten ebenfalls in den Wald. Ihr Beispiel wirkte ansteckend. Mütter schleppten ihre Kinder mit, ältere Geschwister die jüngeren, und ganz zuletzt schloss sich auch Johanna den Fliehenden an. Obwohl sie ständig über Irmelas Empfindlichkeit gespottet hatte, wusste sie, wie gut diese hören konnte, und war daher bereit, ihr zu glauben.

Die Männer wurden von der Flucht der Frauen und Kinder völlig überrascht. Birkenfels versuchte, sie mit Gebrüll zurückzuhalten, doch es war vergebens. Die Einzigen, die blieben, waren ein paar verschüchterte Mägde, die dicke Walburga Steglinger, die ohne Hilfe nicht aus dem Wagenkasten kam, und Ehrentraud von Lexenthal, die für Irmela nur Verachtung übrig hatte und dem nicht gerade einladend wirkenden Wald nun misstrauische Blicke zuwarf.

Auf halbem Weg in dichteres Gebüsch packte Walter von Haßloch seine vor Angst um sich schlagende Ehefrau und versetzte ihr ein paar schallende Ohrfeigen. »Du bleibst hier, verdammt noch mal!«, herrschte er sie an.

Fabians Mutter Carola blieb unter den ersten Bäumen stehen, drehte sich nun mit einem verkrampften Lächeln zu ihrem Ehemann um und kehrte ebenfalls zu ihrer Kutsche zurück. Birkenfels beachtete sie jedoch nicht, sondern fluchte zum Gotterbarmen. »Verdammt, Hochberg! Dafür bringe ich Eure Tochter um. Wir sind ohnehin schon viel zu langsam, und da rennt dieses kleine Miststück auch noch davon und lockt die anderen Weiber hinter sich her. Fabian, du folgst diesen gackernden Hühnern und scheuchst sie zurück auf die Straße. Wir brechen auf, sobald Steglingers Karren wieder fahrbereit ist. Wer dann noch nicht da ist, kann meinetwegen im Wald vermodern!«

Nach diesen heftigen Worten brüllte Birkenfels die Knechte an, sich mit dem Entladen zu beeilen. Da es sich zumeist um Steglingers Leute handelte, gingen diese jedoch so zögernd zu Werk, als fürchteten sie, für jedes fehlende Teil Hiebe zu erhalten.

Irmelas Vater trat neben Siegbert von Czontass und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir hätten meinem ersten Vorschlag folgen, etwas Gold mitnehmen und samt unseren Frauen und Kindern zu Pferd fliehen sollen. Nun werden wir es nicht mehr bis zur Donau schaffen.«

»Nicht, nachdem Eure Tochter uns völlig überflüssige Probleme bescheren musste!«, antwortete Czontass mit eisiger Miene.

»Ob Irmelas Handlung wirklich überflüssig war, werden wir gleich sehen!« Ottheinrich von Hochberg glaubte nun auch, Hufgetrappel und Schreie zu vernehmen, und griff nach seinem Rapier.

»Betet, dass es die Unseren sind! Wenn es sich um die Schweden handelt, empfehlt eure Seelen allen Mächten des Himmels!«

Froh darüber, nicht mehr im Zentrum des allgemeinen Unmuts zu stehen, tippte Steglinger sich an die Stirn. »Eure Tochter ist nicht richtig im Kopf und Ihr seid es anscheinend auch nicht!«

Birkenfels hielt ihm den Mund zu. »Seid still! Jetzt höre ich es auch. Bei der Heiligen Jungfrau und Sankt Kilian! Es sind die Schweden. Irmela muss gespürt haben, dass sie uns überholt haben. O Gott im Himmel, wir sind verloren!«

Mit diesen Worten riss er seinen Pallasch aus der Scheide. In dem Augenblick preschten keine hundert Schritt weiter vorne die ersten schwedischen Reiter in ihren gelben Kollern und hellen Hüten um eine Wegbiegung. Beim Anblick des Wagenzugs schwangen sie jubelnd ihre Waffen.

Birkenfels versetzte seiner Frau einen Stoß. »Rasch, lauf zu den anderen in den Wald!«

Sie warf einen Blick auf die Angreifer, die bereits den ersten Wagen erreicht hatten und die Knechte dort niedermachten, und hob abwehrend die Hände. »Ich hätte vorhin nicht umkehren sollen. Jetzt ist es zu spät, mein Lieber. Die Schweden würden mir folgen. Aber ich will nicht so enden wie jene Frauen, die diesen Ungeheuern in die Hände gefallen sind.« Sie fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um die Tränen wegzuwischen, griff in den Wagen und zog den rechteckigen Kasten zu sich her, der ihr unterwegs als Fußstütze gedient hatte. Als sie ihn öffnete, kamen zwei Pistolen samt Pulverhorn und Kugelbehälter zum Vorschein.

»Wenn es dir nichts ausmacht, mein Lieber, werde ich die Pistolen an mich nehmen. Wenn die Schweden sie haben wollen, sollen sie sich überzeugen können, dass sie gut schießen.« Carola stieß ein Lachen aus, das ihrem Mann durch Mark und Bein ging.

Birkenfels wurde in diesem Moment bewusst, dass er sieben Familien aus pfälzisch-neuburgischem Adel ins Verderben geführt hatte, und trat den anstürmenden Schweden so schwerfällig entgegen wie ein alter Mann. Hochberg, Czontass und einige andere scharten sich um ihn, während Steglinger und weitere Feiglinge sich auf ihre Pferde schwangen und diesen die Sporen gaben. Ein paar Schweden verfolgten sie ein Stück, töteten einige und drehten dann aber um, weil sie die Beute und die Frauen nicht ihren Kameraden überlassen wollten.

Beim Auftauchen der feindlichen Reiter hatten Ehrentraud von Lexenthal und die Mägde, die den Wagenzug begleiteten, ebenfalls in den Wald zu flüchten versucht, doch die feindlichen Krieger holten sie nach wenigen Schritten ein. Carola von Birkenfels, die sich gegen die Wand ihrer Kutsche presste, musste zusehen, wie die Schweden die Frauen zu Boden warfen und ihnen die Kleider vom Leib rissen. Als der erste Soldat Ehrentraud von Lexenthal zur Erde drückte und mit einem heftigen Ruck in sie eindrang, kreischte das Mädchen schrill auf.

Von Angst und Abscheu geschüttelt erneuerte Carola ihren Schwur, dieses Schicksal nicht zu teilen. Ihr war bewusst, dass sie keine Hilfe zu erwarten hatte. Ihr Gatte wehrte sich noch mit dem Mut der Verzweiflung gegen ein halbes Dutzend der Angreifer, und nicht weit von ihm sank Ottheinrich von Hochberg aus vielen Wunden blutend nieder. Ein feindlicher Offizier trat dem Liegenden mit dem Stiefel ins Gesicht, dann holte er aus und stieß Anton von Birkenfels die Klinge in den Rücken.

Carolas Gatte drehte sich noch mit zum Schlag erhobener Waffe um, brach aber mitten in der Bewegung in die Knie und stürzte zu Boden. Der Schwede, der ihn getötet hatte, spuckte verächtlich aus, hob den Kopf und deutete grinsend auf Carola.

»So eine Beute macht man nicht alle Tage!«, rief er seinen Kameraden zu. »Das Weib wird mir schmecken und euch hinterher auch.«

Er sprach einen sächsischen Dialekt, den Carola mühelos verstand. Wie viele im Heer des Schwedenkönigs stammte er nicht aus dem Land der Mitternachtssonne, sondern war ein Söldner aus dem Reich in schwedischen Diensten. Diese Kerle hausten meist schlimmer als die Nordleute, und als Frau von Stand hatte Carola ein qualvolles Ende zu erwarten. Sie richtete ein Stoßgebet an die Heilige Jungfrau, ihren Sohn vor den Augen der Marodeure zu verbergen und ihn zu beschützen.

»Heilige Maria, Mutter Gottes, lass nicht zu, dass auch er den Ketzern zum Opfer fällt!«, wiederholte sie, als sich die Hände des Söldneroffiziers in ihren Busen gruben und den Seidenstoff zerrissen, der ihr Dekolleté verzierte.

Im selben Augenblick richtete Carola eine der beiden Pistolen, die sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte, auf den Söldner, und für die Dauer einiger Herzschläge genoss sie den erschrockenen Blick des Mannes. Dann krachte der Schuss und der Offizier fiel rücklings zu Boden. Bevor seine Kameraden sie erreichten, hatte Carola von Birkenfels sich die Mündung der zweiten Pistole an die Schläfe gesetzt und drückte ab.

II.

Zunächst war Irmela mit dem kleinen Siegmar auf dem Arm einfach nur so weit wie möglich in den Wald gelaufen, um von der Straße wegzukommen. Dann machte dichtes Unterholz es ihr schwer voranzukommen. Es verbarg sie jedoch schon nach wenigen Schritten vor den Augen derer, die ihr folgten.

Erst als sie den Wagenzug gut hundert Schritte hinter sich wusste, blieb sie keuchend stehen und drehte sich um. Die Stimmen, die sie so erschreckt hatten, waren nun deutlich zu vernehmen, ebenso das Getrappel vieler Pferde. Sie verstand nichts vom Krieg, aber sie konnte sich denken, dass die frischen Spuren der schwer beladenen Karren und die Abdrücke der Zugtiere den Schweden aufgefallen waren. Wahrscheinlich hatten die feindlichen Soldaten den Flüchtlingszug auf einem anderen Weg überholt und sich die günstigste Stelle ausgesucht, um ihn abzufangen.

Als hinter ihr Schritte aufklangen, schnellte sie angsterfüllt herum, erkannte dann aber Fabian und atmete auf. Ihre Erleichterung schwand jedoch, als der junge Mann vor ihr stehen blieb und ihr eine Ohrfeige gab, die sie beinahe von den Beinen riss.

»Bist du wahnsinnig geworden, du dummes Stück? Du warst ja schon immer eine Nervensäge, aber jetzt hast du dich selbst übertroffen! Wir haben sowieso schon so viel Zeit verloren, und du rennst einfach in den Wald und machst die anderen Weiber mit deinem Geplärre verrückt.«

Irmela hielt sich die schmerzende Wange und lächelte unter Tränen. »Also sind mir alle gefolgt!«

»Zum Glück nur die, die ebenso närrisch sind wie du. Jetzt mach, dass du zurückkehrst! Für deine Gespensterseherei wird dein Vater dir die Leviten lesen! Ich suche inzwischen die anderen Frauen.« Fabian versetzte Irmela einen heftigen Stoß, der sie in Richtung des Wagenzugs treiben sollte.

Sie blieb jedoch stehen, als wären ihre Füße mit dem Waldboden verwachsen. »Hörst du es denn nicht? Die Schweden haben den Wagenzug erreicht!«

»Unsinn!« Fabian holte aus, um sie erneut zu ohrfeigen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Nun vernahm auch er das Klirren von Waffen und Schreie, die ihm schier das Blut in den Adern stocken ließen.

»Das ist wirklich der Feind! Ich muss zurück und Vater helfen!«, schrie er auf und rannte los.

Irmela setzte den kleinen Siegmar ab, sprang Fabian nach und verkrallte sich mit aller Kraft im Stoff seines Rockes. »Da darfst du nicht hin. Sie würden dich umbringen!«

Fabian dachte an seine Eltern, die in Gefahr waren, und wollte sich losreißen, doch Irmela hing wie eine Klette an ihm. Nun schlug er zum zweiten Mal zu, diesmal so heftig, dass die Lippen des Mädchens aufplatzten und Blut über ihr Kinn tropfte.

In dem Augenblick tauchte Meinarda von Teglenburg neben ihnen auf. Die Freiin riss ihren Sohn an sich, der sich mit tapsigen Schritten entfernt hatte, und trat am ganzen Körper zitternd auf Fabian und Irmela zu.

»Bei der Heiligen Mutter im Himmel, es sind wirklich die Schweden! Kind, wie hast du das wissen können?«

»Das haben ihr ihre Hexenkräfte gesagt«, erwiderte Johanna, die hinter Meinarda auftauchte. Ihr folgten einige der anderen Frauen, die weinende Kinder mit sich zerrten.

Irmela achtete nicht auf die boshaften Worte ihrer Verwandten, sondern wandte sich an die Freiin. »Helft mir bitte! Fabian will unbedingt zurück zu den Wagen, aber dort werden die Ungeheuer ihn erschlagen.«

Im gleichen Augenblick erscholl der Todesschrei eines Mannes. Die Frauen zuckten zusammen und starrten mit auf die Lippen gepressten Handrücken in jene Richtung, aus der die Geräusche des Überfalls nun alles andere übertönten. Meinarda schüttelte ihre Erstarrung schnell wieder ab und sah Fabian vorwurfsvoll an. »Bleib hier! Wenn du wegläufst, haben wir niemand mehr, der uns beschützt. Gebe Gott, dass auch noch andere fliehen konnten! Die Männer haben doch ihre Pferde.«

»Vater und die anderen werden wohl kaum fliehen, solange noch Frauen und Kinder bei den Wagen sind.« Fabians Stimme klang wie zerbrechendes Glas. Er riss sich los und lief ein paar Schritte in die Richtung, aus der nun schier unmenschliche Laute zu hören waren. »Ich muss nach meinen Eltern sehen und ihnen beistehen!«

»Wenn du das tust, bringst du die Schweden auf unsere Spur! Sollen deinetwegen alle sterben?«, schrie Meinarda ihn an. Dabei krümmte sie sich wie unter starken Schmerzen und schlug die Hände vors Gesicht. Es war die Angst um ihren Gemahl, die sie so leiden ließ. Czontass war kein Soldat, und nur eine rasche Flucht hätte ihn retten können. Zwar wünschte sie sich, er wäre davongeritten, aber sie wusste, dass sein Stolz es ihm verbot, seine Freunde im Stich zu lassen. Auch sie wäre am liebsten zum Wagenzug zurückgelaufen, doch die Verantwortung für ihren Sohn hielt sie zurück.

Das Kreischen und Flehen der beim Wagenzug zurückgebliebenen Frauen verriet, was ihnen allen bevorstand, wenn die Schweden sie entdeckten, und die Geflohenen sammelten sich um Fabian, als suchten sie seinen Schutz. Dem jungen Mann wurde klar, dass das Schicksal ihm die Verantwortung für eine Gruppe völlig verängstigter Frauen aufgezwungen hatte und er nicht kopflos handeln durfte. Gerade erschienen weitere Frauen, die Kinder auf den Armen trugen und den Stimmen auf der Lichtung gefolgt waren. Von jenen aber, die Irmelas Warnung nicht sofort ernst genommen hatten, tauchte niemand auf.

Irmela stand regungslos horchend da und schien gar nicht zu bemerken, dass ihr das Blut von der aufgeplatzten Lippe über Kinn und Hals lief und den weißen Kragen ihres Kleides rot färbte. Wie in einem Alptraum wandelnd wies sie auf ein dichtes Unterholz, das noch weiter von der Straße entfernt war.

»Wir sollen uns dort drüben verbergen. Wenn wir hier stehen bleiben, könnten schwedische Späher uns doch noch finden. Und seid still! Ich höre Holz knacken.«

Meinarda nickte heftig und forderte die anderen mit energischen Gesten auf, sich zu verstecken. Die Frauen rafften ihre Kinder an sich und verschwanden so rasch in dem Gebüsch, als wären die Schweden bereits hinter ihnen her. Fabian jedoch blieb regungslos stehen und lauschte weiterhin den Kampfgeräuschen. Kurz entschlossen kehrte Irmela noch einmal um und packte ihn am Ärmel. Er blickte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, und kam widerstandslos mit ihr. Seine Miene verriet, dass er mit seinem Stolz kämpfte, der ihn der Feigheit zieh, weil er davonschlich, statt den Schweden mit blanker Klinge zu begegnen.

Mit einem missglückten Lächeln sah er auf Irmela hinab. »Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe!«

Sie zuckte mit den Achseln. »Du hast mir früher noch schlimmere Stöße versetzt.«

Er wollte protestieren, denn er hatte ihr nie ein blaues Auge oder eine blutende Lippe beigebracht. Zwar hatte er sie oft als lästiges Anhängsel empfunden, wenn sie ihm wie ein stummer Schatten durch Feld und Wald gefolgt war, aber sie hatte sich stets als geduldige Zuhörerin erwiesen, und er war nur handgreiflich geworden, wenn sie beim Angeln mit den Füßen im Wasser geplanscht und die Fische vertrieben hatte.

Nun wand er sich innerlich vor Scham. Während sein Vater und die anderen Männer einen verzweifelten Kampf gegen die Schweden ausfochten, hatte er seinen Heldenmut dadurch bewiesen, indem er ein Mädchen schlug, das mehr als ein Kopf kleiner war und trotz seiner siebzehn Jahre noch wie eine Zwölfjährige aussah.

Er folgte Irmela zwischen Büsche, die so dicht wuchsen, dass er neben Johanna stehen blieb, ohne diese zu bemerken. Erst als Irmelas Tante einen leisen Ruf ausstieß, entdeckte er sie.

»Was mag mit unseren Freunden geschehen sein?«, fragte sie, da die Geräusche allmählich verebbten.

Fabian breitete hilflos die Hände aus. »Wir dürfen erst zurückkehren, wenn wir sicher sein können, dass die Schweden abgerückt sind. Dann werden wir feststellen, wer von unseren Verwandten und Freunden hat fliehen können.«

»Was ist mit meinem Mann und meinem Jungen?« Anna Reitmayr, die gleich zwei Kinder auf den Armen trug, sah Fabian verzweifelt an.

In dem Moment wünschte der junge Mann sich an jeden anderen Ort der Welt, selbst in die wüsteste Schlacht, denn die verstörten Blicke der Frau und ihrer beiden Töchter taten ihm körperlich weh. Um sich von seinem eigenen Elend abzulenken, überlegte er, wen er auf der Lichtung gesehen hatte und um sich sammeln musste. Von den Damen von Stand fehlten Walburga Steglinger, Ehrentraud von Lexenthal, Frau von Haßloch und seine Mutter, und von den Mägden waren nur zwei von denen geflohen, die nicht zu Steglinger gehört und daher keine Bestrafung für ihr Weglaufen gefürchtet hatten. Kein einziger Mann war ihnen gefolgt, und der älteste Bub mochte vielleicht zehn Jahre zählen. Insgesamt waren es achtzehn Personen, jede so wehrlos wie ein neugeborenes Kitz und voller Panik.

Irmela, die direkt zu seinen Füßen kauerte, hatte den Kopf zur Seite gedreht, als lausche sie. Ihr spitzes, von dunklen Locken umrahmtes Gesicht mit den haselnussbraunen Augen erinnerte ihn an eine Maus, und selbst die Polster in ihrem hellblauen Kleid konnten nicht verbergen, dass sie für ihr Alter viel zu dünn war. Im Vergleich zu ihrer Tante Johanna und der wunderschönen Ehrentraud von Lexenthal wirkte sie völlig unscheinbar, aber dennoch würde es ihr nicht an Freiern mangeln. Sein eigener Vater hatte bereits Andeutungen gemacht, er würde Irmela von Hochberg als Schwiegertochter begrüßen. Im Gegensatz zu Fabians Familie, die nur dieses eine Gut besaß, verfügten die Hochbergs über mehrere Landsitze und große Liegenschaften. Dazu hatte Irmela von ihrer Mutter auch noch die Burg und die Herrschaft Karlstein geerbt und durfte sich mit Fug und Recht Komtesse Hochberg und Herrin zu Karlstein nennen.

»Es ist so still geworden!« Freiin Meinardas Ausspruch holte Fabian in die Wirklichkeit zurück, und er machte sich Vorwürfe, weil er sich mit solchem Unsinn beschäftigt hatte, während wenige hundert Schritt entfernt der Tod seine schwarze Sense geschwungen hatte.

Johanna schob sich näher an ihn heran. »Meinst du, die Schweden wären fort?«

Irmela schüttelte den Kopf. »Die Kerle suchen immer noch den Waldrand ab! Hoffentlich dringen sie nicht bis zu uns vor.«

»Das möge die Heilige Jungfrau verhüten!« Meinarda von Teglenburg kniete trotz des beengten Raumes zwischen den Büschen nieder und stimmte ein Gebet an. Sie dämpfte ihre Stimme, doch einige andere Frauen fielen weitaus lauter in ihre Worte ein.

Fabian flehte sie leise, aber eindringlich an, ihre Stimmen zu senken. »Ihr ruft sonst die Feinde zu uns!«

Sofort verstummten alle, und er konnte nur noch an den Bewegungen ihrer Lippen erkennen, dass sie weiterbeteten. Er hätte selbst gerne die Mächte des Himmels angefleht, sich seines Vaters und seiner Mutter gnädig zu erweisen und natürlich auch allen, die beim Wagenzug geblieben waren. Doch das, was er über die Schweden gehört hatte, ließ ihn an der himmlischen Gerechtigkeit zweifeln. Männer, die nicht im Kampf fielen, wurden auf entsetzliche Weise zu Tode gemartert, und was die Frauen erwartete, hatten ihm die Schreie der Zurückgebliebenen verraten. Fabian sah seine Mutter als hilfloses Opfer dieser von Gott verfluchten Ketzer und knirschte mit den Zähnen.

Nach einer Weile blickte er fragend auf Irmela hinab. »Hörst du noch etwas?«

Das Mädchen schloss die Augen und lauschte mit angespannten Sinnen. »Nein! Ich höre nichts mehr, weder ihre Stimmen noch ihre Pferde.«

»Glaubst du, die Schweden sind fort?« Fabian drängte es, nachzusehen, was mit seiner Familie geschehen war.

»Dort vorne ist niemand mehr. Es ist so still geworden wie in einem Grab!« Irmelas letzte Worte erschreckten die Frauen, und einige schluchzten bei dem Gedanken an ihre Lieben auf, die beim Wagenzug zurückgeblieben waren.

Fabian atmete tief durch und befahl den Frauen mit einem Handzeichen, in Deckung zu bleiben. Er wollte nachschauen gehen, ganz gleich, was ihn da vorne erwartete. Als Irmela aufsprang, um sich ihm anzuschließen, winkte er heftig ab. »Du bleibst hier und hältst deine Ohren offen! Ich werde einen Bogen schlagen und mich von der anderen Seite nähern, um den Feind, falls er sich hier noch herumtreiben sollte, nicht auf eure Spur zu locken.«

»O Fabian, du bist ja so tapfer!« Johanna schenkte ihm ein schmelzendes Lächeln. Sie war ein hübsches Mädchen, groß, blond, mit herrlichen blauen Augen und einem Charme, dem der junge Mann sich selbst in dieser Situation nicht verschließen konnte.

Während er sie noch anstarrte, trat Meinarda zu ihm. »Ich werde dich begleiten! Johanna kann Siegmar so lange halten.«

Sie wollte ihren Sohn dem Mädchen in die Arme drücken, doch Fabian schüttelte energisch den Kopf. »Ich sagte, ich gehe allein! Mir können die Schweden nicht das antun, was sie mit Euch machen würden.«

»Sie könnten dich foltern und so erfahren, wo wir uns befinden!«, rief eine der anderen Frauen, die mehr Angst um sich selbst und ihre Ehre hatte als um ihren Ehemann.

»Ich werde mich gewiss nicht kampflos ergeben.« Fabian klopfte mit der Linken gegen den Griff des Rapiers, mit dem ihn sein Vater vor dem Aufbruch ausgestattet hatte, und setzte eine grimmige Miene auf.

Mit Meinardas Segen und dem der übrigen Frauen versehen, zwängte er sich so lautlos wie möglich durch die Büsche, und als er sich nach ein paar Schritten umwandte, war nichts mehr von der Gruppe zu sehen. Plötzlich vernahm er dicht neben sich ein Geräusch, schnellte herum und zog noch in der Bewegung sein Rapier. Doch statt eines schwedischen Soldaten, der sich auf ihn stürzen wollte, sah er nur einen Hasen, der von seinem Auftauchen erschreckt davonhoppelte.

III.

Wie er es versprochen hatte, schlug Fabian einen Bogen, um nicht von einem zurückgebliebenen Feind bemerkt zu werden, und erreichte den Karrenweg ein Stück hinter der Stelle, an der sich der Überfall ereignet hatte. Da der Wind in seine Richtung blies, quoll ihm beißender Rauch entgegen.

Die Fuhrwerke und die meisten Kutschen brannten, und von den Zugtieren war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten die Schweden sie ausgespannt und mitgenommen. Fabian entdeckte schließlich noch einen toten Ochsen, aus dem man die besten Fleischstücke herausgeschnitten hatte, und wünschte den Plünderern, an dem Braten zu ersticken.

Dann stieß er auf die Kutsche der Haßlochs, die sich noch ganz zuletzt den Flüchtlingen angeschlossen hatten. Die Schweden hatten das Gefährt geplündert, auf die Seite gekippt und ebenfalls angezündet, doch das Feuer war nach kurzer Zeit von selbst erloschen.

Um den Wagen herum lagen einige Gegenstände, die die Schweden wohl als unbrauchbar weggeworfen hatten. Unter ihnen entdeckte Fabian ein Bild der heiligen Maria, das mit einem derben Fußtritt in den Boden gestampft worden war. Nicht weit davon entfernt stak ein zerbrochenes Reliquiar im Dreck, von dem die Plünderer die Edelsteine entfernt hatten.

Im nächsten Augenblick vergaß Fabian die Reliquienschändung und starrte entsetzt auf die beiden Toten, die am Waldrand lagen. Es handelte sich um Herrn von Haßloch und dessen Frau, die von ihrem Mann mit Gewalt daran gehindert worden war, Irmela und den anderen in den Wald zu folgen. Offensichtlich hatte er sein Weib mit dem Degen niedergestochen, um ihr das Schrecklichste zu ersparen. Es war jedoch umsonst gewesen, denn die Schweden und ihre deutschen Söldner hatten sich an der Sterbenden vergangen und ihn selbst bei lebendigem Leib aufgeschlitzt.

Fabian spürte, wie sein Mageninhalt hochkam, und drehte der schrecklichen Szene den Rücken zu. Ohne nach rechts und links zu sehen, schritt er weiter. Das nächste Fuhrwerk brannte immer noch lichterloh. Es war der Karren, auf den Meinarda von Teglenburg die wertvollsten Möbel hatte laden lassen. Auch Steglingers Karren standen in Flammen, und Fabian wünschte, der Mann würde samt seinem Besitz verbrennen. Hätte der Gutsherr mit seiner Gier und seiner Unvernunft die Flucht nicht verzögert, wären sie nun schon in Neuburg und damit zumindest fürs Erste in Sicherheit.

Aus Angst vor dem, was ihn dort erwarten mochte, umging er das Fahrzeug seiner eigenen Familie und näherte sich der geräumigen Kutsche der Hochbergs, die mit Frauen und Kindern vollgestopft gewesen war. Die meisten von ihnen waren entkommen, doch Walburga Steglinger, die von ihrem Mann in diesen Wagen gesetzt worden war, weil seine eigenen Fuhrwerke keinen Platz für sie geboten hatten, war zurückgeblieben. Fabian fand die schwergewichtige Frau nackt und mit blutverschmierten Schenkeln am Waldrand liegend. Obwohl sie schon älter und nicht besonders ansehnlich war, hatten die feindlichen Soldaten sie wohl etliche Male vergewaltigt.

Zuerst nahm Fabian an, Waltraud Steglinger sei tot, und wandte den Kopf zur Seite, um sie nicht weiter anzustarren. In dem Augenblick hörte er sie stöhnen. Sofort kniete er neben ihr nieder und hob ihren Kopf.

»Ihr lebt noch!« Diese drei Worte drückten seine ganze Hoffnung aus, dass auch seine Mutter die Grausamkeiten der Schweden überstanden haben könnte.

»Fabian, bist du es? Komm, hilf mir auf die Beine. Hier können wir nicht bleiben.« Walburga Steglingers sonst so kräftige Stimme war kaum zu verstehen, und sie wimmerte, als Fabian sie hochzerrte. Es bedurfte einiger Anstrengung, die Frau auf die Beine zu stellen, doch als es geschafft war, hielt sie sich besser, als er erwartet hatte.

»Sieh bitte nach, ob du irgendwo ein Kleid oder sonst etwas findest, in das ich mich einhüllen kann!«, bat Walburga.

Sie nahm ein Stück Stoff herunter, das an einem Ast hängen geblieben war, und rieb damit so heftig über ihren Unterleib, als wolle sie damit das Geschehene tilgen. Doch sie erreichte nur, dass sie noch stärker blutete. Mit einer angewiderten Bewegung warf sie den Lappen weg und ballte die Fäuste. »Der Teufel soll die Schweden holen und meinen Mann gleich mit dazu!«

Fabian ahnte, dass Steglinger die Flucht ergriffen hatte, ohne sich um seine Frau zu kümmern. Als er den im Schlamm verstreuten Inhalt einiger aufgebrochener Truhen durchsuchte, die Kleidung für einen nicht gerade schlanken Mann enthalten hatten, begriff er, dass er auf Steglingers reichhaltige, wenn auch nicht gerade modische Garderobe gestoßen war. Unter den Sachen fand er einen halbwegs sauberen Morgenmantel, der die Körperfülle seiner Frau bedecken konnte.

»Etwas Besseres gab es leider nicht«, sagte er bedauernd, als er Walburga das braune Kleidungsstück reichte und sich dabei bemühte, in eine andere Richtung zu schauen.

»Du bist ein guter Junge!« Walburga fühlte sich innerlich wie erstarrt, doch sie wusste auch, dass ihr Klagen und Jammern nicht helfen würden. Seufzend schlüpfte sie in das Gewand. »Ich werde es raffen müssen, damit ich nicht darauf trete. Reichst du mir den Strick dort drüben? Etwas anderes wird wohl nicht um mich herum reichen. Jetzt sollten wir schauen, ob wir noch weitere Überlebende finden!«

Danach sah es zunächst nicht aus. Als Erstes entdeckten sie die Leichen von Graf Hochberg und einigen anderen Edelleuten, die von den Schweden bis auf die Haut ausgezogen worden waren, und auch die der Knechte, die auf der Flucht erschlagen worden waren. Bei der nächsten Kutsche stöhnte Walburga entsetzt auf. »Das ist Reitmayrs Ältester! Mein Gott, der Junge war noch keine vierzehn Jahre alt.«

»Wenigstens haben Anna Reitmayr und ihre beiden Töchter überlebt«, antwortete Fabian schaudernd.

»Aber sie hat ihren Sohn und ihren Gatten verloren!« Walburga Steglinger wies auf den toten Nachbarn, der im Gegensatz zu ihrem Mann nicht feige davongeritten war, schlug das Kreuz und sprach ein kurzes Gebet für die beiden Toten.

Unterdessen hatte Fabian seinen Vater gefunden. Anton von Birkenfels lag so am Boden, dass man die todbringende Wunde in seinem Rücken erkennen konnte. Jemand hatte ihm die rechte Hand abgeschlagen, wohl um den Griff seiner Waffe aus den erstarrten Fingern winden zu können. Nur wenige Schritte entfernt entdeckte er seine Mutter. Das schwarz umrandete Loch in ihrer Schläfe und Schmauchspuren auf Haut und Haaren verrieten, dass eine Waffe aus allernächster Nähe auf sie abgefeuert worden war.

Während Fabian weinend in die Knie brach, legte Walburga ihm die rechte Hand auf die Schulter. »Sie hat zuerst den Schweden erschossen, der deinen Vater umgebracht hat, und dann sich selbst. Zum Glück haben die ketzerischen Hunde sich nicht an ihrer Leiche vergangen.«

Das war ein geringer Trost für einen jungen Mann, der seine Mutter verehrt und umsorgt hatte, während der Vater mit Tilly von Schlacht zu Schlacht geritten war. Um zu verhindern, dass Fabian sich in seiner Trauer vergrub und nichts mehr um sich herum wahrnahm, deutete sie auf die Leichen einiger Männer, die etwas weiter hinten auf einem Haufen lagen. Dem Anschein nach waren auch sie aus nächster Nähe erschossen oder erstochen worden.

»Die armen Kerle haben ihre Waffen weggeworfen und wollten sich ergeben. Doch die Schweden haben sie angebrüllt, sie würden ebenso viel Pardon erhalten, wie unser Tilly den Bürgern Magdeburgs habe zukommen lassen, und dann haben sie sie alle umgebracht.«

Fabian löste mühsam seinen Blick von dem Leichnam seiner Mutter, kämpfte sich wieder auf die Beine und hob die Fäuste anklagend zum Himmel.

IV.

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