Vollmond über der Côte d’Azur

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Inhaltsverzeichnis

Die Handlung des vorliegenden Kriminalromans spielt in Cannes und in anderen Städten und Dörfern der Côte d’Azur. Cannes, Nizza, Mougins und viele der dort erwähnten Örtlichkeiten sind real. Die Handlung des Romans jedoch ist fiktiv und die darin vorkommenden Personen, ihre beruflichen und privaten Handlungen und Konflikte sind ebenso frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

erleben, wie die Sterne durch geklärten

Nachthimmel dringen, wie der Mond die Gärten

voll übersteigt.

RAINER MARIA RILKE: Die Welt, die monden ist

Die Zeiger der Uhr auf dem alten Reklameschild ruckelten auf 23 Uhr. Durch die offene Tür wehte leicht die kühle Nachtluft herein. En avril ne te découvre pas d’un fil hieß es. Das galt auch an der Küste, wenngleich die Touristen schon jackenlos und barfuß in Sandalen durch die Stadt und am Strand entlangliefen. Sie werden schon sehen, was sie davon haben. Missvergnügt beobachtete Noël Brun eine Gruppe ausgelassener junger Männer durch die Scheibe seines Bistros. Sie ließen eine Flasche Champagner kreisen und jeder nahm einen Schluck daraus, während sie laut blökend Richtung Croisette trabten. Keine Kultur, dachte Noël Brun bitter, die haben alle keine Kultur mehr heute. Seufzend erhob er sich und begann, die Stühle hochzustellen. Der letzte Gast, der sich lange an seinem Glas Rotwein festgehalten hatte, war seit einer Viertelstunde gegangen. Es würde niemand mehr kommen, an einem Mittwochabend in der Vorsaison. Er gab einen Schuss Flüssigseife in den Eimer und ließ Wasser hineinlaufen. Einen Moment sah er dem aufsteigenden Schaum zu, die Seifenblasen wurden größer und zerplatzten, dann stellte er das Wasser ab und holte aus dem angrenzenden Kämmerchen den Wischmop. Mit dem Eimer und dem Wischmop in der Hand stand er neben dem Tresen, als das Paar eintrat. Noël Brun erfasste die Situation sofort. Zu viel getrunken, dachte er, sie hat eindeutig zu viel

»Bonsoir«, grüßte der Mann und schob seine Freundin Richtung Bank im hinteren Teil des Bistros. »Schließen Sie?«, fragte er gleichzeitig.

»Geht schon klar«, entgegnete Brun und sah zu, wie der Mann ihr half, sich auf die schwarze Kunstlederbank zu setzen. Ihr Kopf sackte nach unten. »Léna-Chérie«, sagte er leise, strich ihr über die Wange und legte ihren Kopf vorsichtig auf die Lehne der Rückbank.

Brun sah ihnen mit kritischem Blick zu. Sie sah hübsch aus, nicht vulgär, aber dennoch, eine, die sich auf seiner Bank übergab, da konnte sie noch so hübsch sein, wollte er nicht mehr bedienen.

»Bitte«, sagte der Mann nun, »meiner Freundin geht’s nicht gut, ich weiß nicht, warum, können wir irgendetwas Starkes bekommen? Einen Cognac?«

»Hat sie nicht schon zu viel intus?«, gab der Wirt zu bedenken.

»Nein, sie hat fast nichts getrunken«, beteuerte der Mann, »aber plötzlich wurde ihr schlecht.«

»Hm«, machte Brun und goss Cognac in ein Glas. »Einen?«, fragte er.

Brun betrachtete die junge Frau. Blass und mit geschlossenen Augen hing sie auf der Bank. Sie atmete kurz und stoßweise. In ihrer Hand hielt sie verkrampft ein Taschentuch.

»Sie kann sich auch hinlegen«, schlug der Wirt nun etwas milder gestimmt vor. Er hatte die Stühle wieder vom Tisch genommen und stellte nun die zwei Cognac auf den kleinen runden Bistrotisch vor sie hin.

»Danke.« Der Mann nahm eines der Gläser, hielt den Kopf der Frau vorsichtig aufrecht und flößte ihr etwas von dem Cognac ein. »Trink«, sagte er leise. »Das wird dir guttun.«

Sie schluckte den Cognac und verzog das Gesicht.

»Willst du dich hinlegen?« Sie antwortete nicht. Leicht tupfte er ihr Schweißperlen von der Stirn.

»Leg dich hin, Chérie, leg dich hin.«

Augenblicklich glitt sie auf die Bank und ein Arm fiel schlaff nach unten. Ihr kurzer Rock war nach oben gerutscht und gab den Blick auf ihre Beine und die Unterwäsche frei. Der Mann zupfte an ihrer Kleidung herum und warf dabei einen Blick auf Noël Brun.

Brun gab vor, nicht hinzusehen, nahm den Eimer und begann zunächst den Boden in der Toilette und sodann hinter dem Tresen zu wischen.

»Kann ich vielleicht drin rauchen?«

»Meinetwegen.«

Der Mann zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.

Noël Brun stellte einen dreieckigen Plastikaschenbecher auf den Tisch und klatschte dann den Wischmop auf die grün gemusterten Zementkacheln. In lässigen Drehungen wischte er über den Boden und beobachtete das Paar indirekt im großen Wandspiegel an der Seite.

Noël Brun hatte bereits die 15 gewählt. »Einen Notarzt in das Bistrot l’Horloge Rue Bivouac Napoléon«, rief er. »Eine junge Frau ist zusammengebrochen.«

»Notarzt ist unterwegs«, erwiderte der Mann am Telefon. »Ist sie ansprechbar?«

»Ist sie ansprechbar?«, fragte Noël Brun den Mann im gleichen Ton.

»NEIN«, schrie der Mann verzweifelt. »LÉNA

»Nein, anscheinend nicht«, gab Noël Brun in bemüht sachlichem Ton weiter. Innerlich begann er zu zittern.

»Machen Sie eine Herzmassage!«, sagte der Mann am Telefon, »können Sie das?«

»Herzmassage«, wiederholte Noël Brun in Richtung des Mannes. »Nein«, antwortete er hingegen dem Mann am Telefon.

»Der nächste AED befindet sich ganz in der Nähe. Am Palais des Festivals.«

»Der nächste was?«

»Das ist ein automatischer externer Defibrillator, der sagt Ihnen genau, was Sie tun müssen.«

»Es gibt einen automatischen Defibrillator am Palais des Festivals«, wiederholte Brun mechanisch.

Noël Brun lief los, das Mobiltelefon in der Hand. »Wo ist das verdammte Ding?«, keuchte er und ließ sich von dem Mann am Telefon leiten.

 

Außer Atem kam er mit dem kleinen Plastikkasten in der Hand zurück, er zitterte vor Aufregung: Ein schriller Alarm war losgegangen, als er den Defibrillator von der Wand genommen hatte. Er kam sich vor wie ein Dieb und schnaufte und zitterte noch immer. Aber der Notarztwagen war schon da und in seinem Bistro beugten sich nun gleich zwei Männer und eine Frau über die junge Frau auf dem Fußboden. »Noch einmal«, sagte die Ärztin gerade und gab einen Stromstoß ab. Der Oberkörper der jungen Frau zuckte und fiel wieder zurück. Es folgten noch zwei weitere Versuche, die junge Frau wiederzubeleben.

Schwer atmend stand Noël Brun in seinem Bistro und hielt verkrampft den Plastikkasten mit dem Defibrillator in der Hand.

»Ich glaube«, sagte die Ärztin resigniert, »da ist nichts mehr zu machen.« Noël Brun schluchzte auf. Die Ärztin blickte auf. »Haben Sie uns gerufen?« Noël Brun nickte. »Kennen Sie die Dame?«

»Nein.« Mit den Augen suchte er den Mann, der die junge Frau begleitet hatte, aber er sah ihn nicht. Er wird draußen sein und rauchen, dachte er. Oder vielleicht übergab er sich gerade in der Toilette. Er öffnete mit einem Ruck die Tür zur Toilette. Sie war leer. Noël Brun rannte nach draußen und blickte nach rechts und links.

»Wo wollen Sie hin?«, rief ihm die Ärztin hinterher.

»Monsieur!«, wandte sich die Ärztin mit strenger Stimme an ihn. »Würden Sie bitte …«

»Da war dieser Mann«, stotterte er, »also, sie kam mit einem Mann, meine ich. Er ist weg!«

»Ein Mann. Aha.« Sie sah Noël Brun merkwürdig an. »Dann werden wir mal die Polizei rufen«, sagte sie und nickte einem der Sanitäter zu.

*

Er schwamm weit draußen im Meer. Die Sonne schien, und er fühlte sich schwerelos. Er glitt in die Wellen, und als er zum Luftholen auftauchte, sah er sie. Er schwamm inmitten eines Delfinschwarms, und von ihrer Wendigkeit mitgezogen, bewegte er sich im Wasser wie sie. Sie schienen ihn als einen der Ihren zu akzeptieren, er staunte, dass er ihnen ohne Mühe folgen und mit ihrer Geschwindigkeit mithalten konnte, es war, als zögen sie ihn einfach mit, wie in einem Sog, er musste nichts machen, synchron tauchte er mit ihnen in die Wellen ein und wieder auf. Ein unsägliches Glücksgefühl durchströmte ihn, aber dann wurde der Rhythmus jäh durchbrochen, er verstand es nicht gleich, ein Sekundenbruchteil hatte genügt, und ließ ihn den Anschluss verlieren, er versuchte noch einmal, in ihren

»Ja?«, brummelte er endlich und spürte, wie das wohlige Gefühl des Traums ihn endgültig verließ.

»Duval, alles o.k.?«, hörte er den Einsatzleiter nun sehr deutlich rufen.

»Ja, ja, alles o.k., ich war wohl gerade eingeschlafen«, schnaufte er.

»Ja, das ist jetzt vorbei, mein Guter, du hast Bereitschaft und wir haben eine Leiche. Im Bistrot l’Horloge, nicht weit vom Casino im Palais des Festivals liegt eine tote junge Frau. Mach dich auf die Socken. Ich habe Villiers auch schon hinbeordert.«

»O.k., ich komme.« Er sprang aus dem Bett und spritzte sich im Badezimmer etwas Wasser ins Gesicht. Was war noch mal sein Traum gewesen? Das Bild eines Delfins blitzte auf und war schon wieder verschwunden. Nur noch vage erinnerte er sich an ein wohliges Glücksgefühl. Er zog sich in Windeseile an. In der Mikrowelle erhitzte er dreißig Sekunden lang eine Tasse abgestandenen Kaffee, warf ein Stück Zucker hinein, rührte um und schüttete das Gebräu in zwei großen Schlucken hinunter. Hauptsache, es machte ihn wach. Er warf sich den warmen Lederblouson über, die Aprilnächte waren wieder kalt geworden. Nach einem sehr warmen Februar und März machte der April seinem launischen Ruf alle Ehre. Eilig lief er die Avenue de Grasse hinab und versuchte, in den schlecht beleuchteten Ecken die

*

»Ja, das heißt nein, ich habe nicht so genau hingesehen, wissen Sie. Sie sahen aus wie ein Liebespaar, aber ihr ging es nicht gut. Ich habe ihnen gesagt, sie könne sich hinlegen. Das hat sie gemacht. Ihr Rock war dabei hochgerutscht und …«, er stockte. Jetzt, wo sie tot war, war es ihm peinlich, dass er die Beine der Frau und den Ansatz ihrer Unterwäsche angestarrt hatte. Aber genau dort war sein Blick hängen geblieben. Den Mann hatte er nur schemenhaft in Erinnerung, »groß und bärtig«. »Aber er hat sich um sie gekümmert und sprach leise mit ihr.«

»Was hat er gesagt, haben Sie das gehört?«

»Nein, aber er hat Cognac bestellt.« Er wies auf die beiden Gläser, die auf dem Tisch standen und jetzt von einem Beamten jedes in eine Plastiktüte gesteckt wurden. Er notierte etwas auf zwei Etiketten und klebte sie auf die Tüten. Die verbliebene Flüssigkeit in beiden Gläsern hatte der Beamte zuvor in zwei Plastikröhrchen aufgefangen, hatte diese verschraubt und war mit ihnen ebenso verfahren wie jetzt mit den Gläsern.

»Also das …« Noël Brun hob die Schultern. »Keine Ahnung. Es ist mir nicht aufgefallen.«

»Es ist Ihnen nicht aufgefallen, dass sie keine Handtasche hatte?«

»Äh, nein«, Noël Brun war nun nervös. »Ich habe nicht darauf geachtet, wissen Sie, ich hatte gerade die Stühle hochgestellt und begonnen, den Boden zu wischen, ich wollte schließen, als sie kamen. Ich habe nicht bemerkt, ob sie eine Tasche hatte oder nicht, ich habe nur bemerkt, dass sie schwankte. Der Mann hielt sie fest, und ich dachte, sie hätte zu viel getrunken. Dachte, sie kämen aus dem Casino.«

»Aus dem Casino?«

»Ja, manchmal kommen Leute nach dem Casino hier vorbei.«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum kommen Leute nach dem Casino hier vorbei?«

»Was weiß ich. Das müssen Sie die Leute fragen. Vielleicht suchen sie wieder die Normalität nach all dem schrillen Geblinke und Gefunkel. Ein bisschen Ruhe. Also, das denke ich.«

Duval ließ den Blick durch das altmodische Bistro schweifen. Möglich war das. Warum nicht.

»Und, kamen sie aus dem Casino?«, fragte Duval. Und zu Villiers gewandt sagte er: »Vielleicht kann man da mal nachfragen?!« Villiers nickte und war schon verschwunden.

»Was weiß ich. Ich habe nicht gefragt und sie haben nicht mit mir gesprochen, außer, dass der Mann Cognac bestellt hatte.«

»Erinnern Sie sich sonst noch an etwas?«

»Léna!«, rief er, beinahe selbst überrascht. »Léna hat er sie genannt.«

»Léna?«

»Ja, ich bin sicher.«

»Léna«, notierte Duval. »Noch etwas?«

Noël Brun zuckte mit den Schultern.

»Können Sie den Mann beschreiben?«

»Na ja, groß, das habe ich schon gesagt, einen Bart hatte er, aber ich habe ihn nicht wirklich angesehen«, wich Noël Brun aus.

»Einen Bart? Was für einen Bart?«

»Na einen Bart eben. Einen normalen Bart.«

Was war denn normal in Zeiten, wo jeder junge Schnösel sich einen langen Bart stehen ließ? »So einen Hipsterbart?«, fragte er.

»Einen was? Was ist denn ein Hipsterbart?«

Duval winkte ab. »Was für ein Bart?«, wiederholte er die Frage. »Lang? Kurz? Schnurrbart?«, schlug er vor.

»Ein klassischer Dreitagebart würde ich sagen. Vielleicht etwas länger.«

»Vier Tage«, versuchte Duval zu scherzen, aber der Wirt sah ihn nur befremdet an.

»Wie alt?«

»Der Bart?« Noël Brun war nun wirklich verwirrt.

»Nein, der Mann.«

»Ach so. Jünger als ich, vielleicht vierzig. Er hatte aber schon eine hohe Stirn, wie man so schön sagt.«

»Meinen Sie, Sie würden ihn wiedererkennen?«

»Möglich, doch ja, ich glaube.«

»Na, das ist doch schon was. Am besten kommen Sie

»Wie Sie meinen«, Noël Brun nickte.

*

»Nein«, Monsieur Brun schüttelte den Kopf.

Léa Leroc klickte geduldig weiter und wartete.

»Nein.«

Sie klickte erneut.

»Nein.«

Die junge Frau, deren Name möglicherweise Léna lautete, hatte weder Schmuck noch einen Ehering getragen, der auf ihre Herkunft schließen lassen könnte. Keine Handtasche, kein Mobiltelefon. Auch im Casino war nichts gefunden worden. Sehr wahrscheinlich waren sie nicht von dort gekommen, zumindest konnte sich niemand an sie erinnern. Rock und Bluse, die auf den ersten Blick edel schienen, stammten laut Etiketten aus einem der Modekaufhäuser, die jede Woche neue billige Kleidung auf den Markt warfen. Gleiches galt für die Schuhe und die Unterwäsche.

Der Staatsanwalt hatte der von Richterin Marnier angeordneten Obduktion zur Feststellung der Todesursache und zur Rekonstruktion des Sterbevorgangs zugestimmt, und die Habseligkeiten der Toten wurden ebenso wie die Cognacgläser bereits von der PTS, der Police technique et scientifique unter die Lupe genommen. Außerdem hatten sie entschieden, ein Foto der jungen Frau in der regionalen Presse zu veröffentlichen.

Duval hielt einen Abzug davon in der Hand und gab einen weiteren an Villiers. »Fragen Sie in den Bars und

»Hübsch«, Villiers betrachtete das blasse, friedlich schlafend wirkende Gesicht der jungen Frau.

»Ja«, stimmte Duval zu. »Sehr hübsch. Sehr jung auch. Vielleicht erinnert sich ja jemand an sie.« Villiers nickte und verschwand.

In der Zwischenzeit mühten sich Léa Leroc und Noël Brun weiterhin, ein Phantombild ihres Begleiters zu erstellen.

»Das Gesicht war länger und der Mund war eher klein«, befand Noël Brun gerade und Léa zog das Gesicht in die Länge, klickte Lippenvarianten ein und wartete.

»Glaube ich«, fügte Noël Brun hinzu und seufzte leise. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig ist.«

»Lassen Sie sich nicht entmutigen«, sagte Léa. »Vielleicht machen wir erst mit etwas anderem weiter, den Augenbrauen, was meinen Sie?« Und sie klickte Augenbrauen in das bislang nur vage definierte Gesicht.

*

Duval steckte das Foto der jungen Frau in seine Brieftasche und klickte erneut sein Mobiltelefon an. Er hatte noch immer keine Nachricht von Annie. Sie war aktiv wie eh und je, quetschte sich mit ihrem rund gewordenen Bauch hinter das Lenkrad und fuhr von Termin zu Termin. Zwischendurch könnte sie sich aber schon mal melden, dachte er unzufrieden. Es war ihm anfangs schwergefallen, sich mit Annies Schwangerschaft anzufreunden. Sie hatte ihm übel genommen, dass er sich nicht genau wie sie darüber freute.

Sie hatte ihr Bergdorf verlassen und war wieder nach Cannes gezogen, in ihre Wohnung, die sie zwischenzeitlich an einen jungen Lehrer des nahen Lycée Carnot untervermietet hatte. Sie würde das Kind bekommen, aber sie wollte selbstständig bleiben. Duval war enttäuscht und erleichtert gleichzeitig. »Es ist auch mein Kind, Annie, ich bin für dich, für euch da«, beteuerte er, und er meinte es ehrlich. Natürlich nahm er an der Schwangerschaft teil, aber nur das erste Mal war er bei der Ultraschalluntersuchung dabei, der Gynäkologe nickte ihm freundlich zu. Duval sah das grisselige Ultraschallbild, wo man das Herz des kleinen Wesens,

»Möchten Sie das Geschlecht Ihres Kindes wissen?«, fragte der Gynäkologe.

»Ja«, sagte Duval. »Nein«, antwortete Annie gleichzeitig.

Der Gynäkologe zog die Augenbrauen hoch. »Dann also nicht.«

Duval war danach sicher, dass es ein Junge werden würde. Der Gynäkologe hatte »etwas« gesehen, sonst hätte er nicht gefragt. Er hatte da einen gewissen Erfahrungsvorsprung. Vornamen purzelten durch sein Hirn. Louis, dachte er, oder Jules. Oder Émile. Man könnte auf Louise, Julie oder Emma umschwenken, wenn es doch ein Mädchen werden würde. Oder Emilie.

Es ist alles in Ordnung, hörte er den Gynäkologen sagen. Natürlich, dachte Duval. Warum sollte es ein Problem geben?! Er hatte an keiner weiteren Ultraschalluntersuchung mehr teilgenommen. Plötzlich wurde ihm heiß. Hatten Sie nicht einen Termin gehabt? Mit einer Hebamme? Irgend so etwas. Er blätterte durch seine Agenda. Annie hatte ihm die Termine mitgeteilt, das wusste er. 3. April stand da. Merde, dachte er. Merde, Merde. Der 3. April war gestern gewesen. Er rief sie an und stieß wie so oft auf den Anrufbeantworter. »Annie, alles in Ordnung? Wie ist es gestern gelaufen? Entschuldige, ich konnte nicht dabei sein. Melde dich mal, ja?«

*

»Madame Pommier«, stellte Villiers sie ihm vor. »Madame Pommier ist …«

»Ich bin die Direktorin der Clinique La Grange in Mougins«, fiel sie Villiers ins Wort. »Eine psychiatrische Klinik, ich weiß nicht, ob sie davon gehört haben, wir haben einen sehr guten Ruf …«

»Guten Tag, Madame«, unterbrach Duval und reichte ihr die Hand.

»Das ist Commissaire Duval«, stellte Villiers ihn seinerseits vor.

»Guten Tag, verzeihen Sie, Monsieur Commissaire, dass ich so überdreht bin«, sie sprach schnell und aufgeregt, »aber es ist ja auch eine außergewöhnliche Situation.« Sie trippelte auf ihren Pumps hin und her und schüttelte kurz ihre blond gefärbten Locken. Gleichzeitig drückte sie den Rücken durch und zog die Schultern nach hinten, vermutlich wollte sie größer wirken, präsentierte damit jedoch, gewollt oder ungewollt, ihr Dekolleté und ihre nicht unbeträchtliche Oberweite. Villiers amüsierte sich und warf Duval einen frechen Blick zu.

»Madame Pommier kommt gerade aus dem

»Richtig«, bestätigte Madame Pommier nun mit tiefernstem Blick. »Wir haben, gleich als wir ihr Verschwinden bemerkt haben, die Gendarmerie in Mougins verständigt. Die Gendarmerie hat das Gelände gestern Morgen durchsucht, wissen Sie, unsere Klinik liegt in einem Waldgrundstück zwischen Mougins und Le Cannet. Es ist ein sehr großes Grundstück, zwölf Hektar Fläche haben wir, und zum Teil ist das Gelände undurchdringlich, ein Wald voller Dornenranken und Schlingpflanzen, ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können«, unterbrach sie ihren Redestrom, wartete eine Antwort aber gar nicht erst ab, »sie hätte dort irgendwo verletzt liegen können, doch sie haben sie nicht gefunden.«

»Aha«, machte Duval, wurde aber durch einen neuen Redeschwall von Madame Pommier überrollt. »Und als uns die Gendarmerie informiert hat, dass in Cannes eine unbekannte junge Frau gefunden worden ist, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht, ich ahnte Schlimmstes, das können Sie sich ja denken, und so ist es auch!« Sie endete mit dramatisch aufgerissenen Augen.

Duval lehnte sich an den Schreibtisch. »Gut, fangen wir mal von vorne an, Madame Pommier, Setzen Sie sich doch«, unterbrach er sich und zeigte auf einen Stuhl. »Sie geben an, dass die junge Frau Ihre Klinik vor zwei Tagen verlassen hat.«

»Unrechtmäßig verlassen«, korrigierte Madame Pommier und ruckelte sich auf dem Stuhl zurecht.

»Und woran litt die junge Frau?«

»Retrograde Amnesie. Ein Fall, für den Dr. Robert sich sehr interessierte. Er ist ein sehr engagierter Psychiater mit

»Wann war das?«, unterbrach Duval.

»Vor«, sie zögerte kurz und schien nachzurechnen, »anderthalb Jahren, im September.«

»Und sie war immer noch Ihre Patientin? Nach anderthalb Jahren?«

»Ja.«

»Aha«, machte Duval und notierte sich etwas. »Sonst war sie gesund?«

»Körperlich war sie gesund, abgesehen von ihrer Kopfverletzung. Selbstverständlich haben wir alle relevanten Untersuchungen vorgenommen. Das ist eine Grundvoraussetzung.«

»Ich vermute, Sie haben die Angehörigen schon verständigt?«, fragte Duval. »Wie heißt sie eigentlich, unsere junge Tote?« Er sah von Villiers zu Madame Pommier.

Villiers lachte kurz auf. »Sie hat keinen Namen.«

»Was?«

»Ich sage Ihnen doch, Commissaire, retrograde Amnesie!«, übernahm Madame Pommier wieder das Wort. »Sie hat alles von früher vergessen. Natürlich haben wir damals mit der Gendarmerie und der Polizei zusammengearbeitet. Haben die Liste der vermissten Mädchen ihres Alters überprüft. Wir haben sogar eine Anzeige in der Zeitung geschaltet mit einem Foto von ihr. Es hat sich nie jemand gemeldet. Niemand schien sie zu vermissen. Sie selbst wusste nichts mehr. Dr. Robert hat sich viel um sie gekümmert. Mit ihm

»Und niemand vermisste sie?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Und unter ihren persönlichen Habseligkeiten war nichts, woraus man Schlüsse hätte ziehen können? Ein Mobiltelefon? Schmuck? Irgendetwas?«

»Wissen Sie, man hatte sie aus dem Meer gefischt. Jemand hatte sie auf den Klippen vor der Île Ste. Marguerite gefunden. Sie hatte eine Kopfverletzung und war bewusstlos. Und«, sie zögerte kurz, »vollkommen nackt.«

»Nackt?«

»Ja.«

»Hm.«

»Sie kam ins Krankenhaus und nach zwei, drei Wochen hat man sie zu uns überwiesen. Wir haben nie herausfinden können, wer sie wirklich war. Wir haben sie Eva genannt.«

»Eva? Warum Eva?«

»Warum nicht Eva?«, fragte die Direktorin barsch zurück. »Hätten wir ihr vielleicht eine Nummer geben sollen?« Madame Pommier wirkte gekränkt. »Ich habe eine Liste mit Vornamen durchgesehen. Eva gefiel mir. Schlicht, unprätentiös. Der Name der Frau schlechthin. Wir haben sie gefragt. Sie hatte nichts dagegen, diesen Namen vorübergehend anzunehmen. Wir dachten ja immer, eines Tages käme ihr Gedächtnis zurück oder jemand würde sie

»Und dann verließ sie heimlich die Klinik, wurde gestern in Begleitung eines Mannes gesehen, der sie Léna nannte, und jetzt ist sie tot«, schloss Duval.

Madame Pommier zuckte mit den Schultern.

»Ist eine psychiatrische Klinik nicht gesichert? Gibt es keinen Empfang oder dergleichen?«, wunderte sich Duval.

»Sicher«, bestätigte Madame Pommier eifrig. »Die Anmeldung ist von 8 bis 20 Uhr besetzt und wir haben Kameras und Türcodes am Eingangstor des Geländes. Es ist ein weitläufiges Gelände, wissen Sie?«

»Ja, das sagten Sie schon. Der Eingang ist also geschlossen? Die Klinik ist eine geschlossene Klinik, ist es das?«

»Keinesfalls«, fuhr sie auf, »wir sind eine offene Klinik, offen bedeutet, wir nehmen Menschen auf, die aus freien Stücken zu uns kommen, nicht über Dritte eingeliefert werden. Aber wir haben trotzdem geschlossene Bereiche und der Eingang des Geländes ist mit einem Tor verschlossen, das ist richtig. Die Patienten kennen aber den Türcode. Wir haben Regeln, ja, aber wir sind kein Gefängnis.« Die Verärgerung, dass ihre Klinik in schlechtes Licht gerückt werden könnte, war ihr anzumerken.

»Haben Sie die Bilder der Kameras am Eingangstor überprüft?«, fragte Duval.

»Ja, zusammen mit der Gendarmerie, aber sie taucht nicht auf.«

»Das heißt, sie hat das Gelände entweder auf einem anderen Weg verlassen …«

»Es gibt keinen anderen Weg«, unterbrach ihn die Direktorin autoritär.

Madame Pommier sah ehrlich überrascht aus. »Meinen Sie?«

»Sie sagten selbst, es gäbe keinen anderen Weg. Also ist es eine Möglichkeit. Sehen Sie eine andere?«

»Ich weiß nicht. Sie meinen, sie war im Kofferraum versteckt?«

»Es muss nicht so dramatisch sein. Vielleicht war sie nur etwas verkleidet. Sonnenbrille, ein Tuch, ein Hut, eine Perücke? Vielleicht fuhr sie hinten in einem Lieferwagen mit?«

»In einem Lieferwagen?«

»Ja, was weiß ich, Sie werden doch mit irgendwas beliefert hin und wieder? Essen oder Wäsche. Oder sie versteckte sich in einem kleinen Kombi, wie ihn Handwerker fahren«, schlug Duval vor.

Die Direktorin blickte ihn verwirrt an. »Welche Handwerker denn?«

»Der Gärtner, der Elektriker, der Installateur«, zählte Duval auf. »Es gibt doch immer was zu tun in so einer Klinik, oder?«

»Wir haben einen Hausmeister, der die meisten dieser kleinen Arbeiten übernimmt, und einen Gärtner, das stimmt.« Sie schien über die Idee nachzudenken.

»Sehen Sie«, sagte Duval. »Wir sollten uns als Erstes die Akte von damals mal ansehen«, wandte er sich an Villiers. Villiers nickte und hielt ihm eine nur mäßig dicke braune Mappe entgegen. Duval zog die Augenbrauen anerkennend hoch.

»Sie wurde damals von einem Italiener gefunden, der vorübergehend auf der Insel lebt. Ein komischer Typ, er gab

»Aha!«, machte Duval. Annie hatte ebenfalls mit Yoga angefangen. »Yoga in der Schwangerschaft« hieß ihr Kurs. Seitdem begrüßte sie morgens auf ihrer kleinen Dachterrasse die Sonne und warf sich dazu mehrfach auf eine orangefarbene Matte. »Ich vermute, er machte Mondyoga?«, fragte er und dachte, damit einen Scherz zu machen.

»Exakt.« Stimmte Villiers überrascht zu. »Kennen Sie sich aus?!«

»Na ja«, machte Duval ausweichend. »Lassen Sie mich raten, es war Vollmond.«

»Exakt«, Villiers sah seinen Vorgesetzten nun beinahe ehrfürchtig an. »Sie kennen sich wirklich aus! Ja, er ist Veganer und was weiß ich, hochempfindlicher Künstler, der sich vom Vollmondlicht erleuchten lässt. Seine Aussage ist in der Mappe.«

Duval blätterte die wenigen Dokumente durch, besah kurz das Foto, das die Kopfverletzungen der jungen Frau zeigte, und las dann die Aussage von Luciano Doria. Duval überflog alles, was dieser über den Buddhismus, das Universum, Karma und Reinkarnation wiedergegeben hatte, all das, um seine Yogaübungen bei Vollmond zu erklären, bei denen er in der Nacht vom 14. auf den 15. September 2018, eine halbe Stunde nach Mitternacht, den unbekleideten Körper der jungen Frau entdeckt hatte, die offensichtlich verletzt und bewusstlos auf den Klippen gelegen hatte und die er zunächst in das von ihm bewohnte Häuschen im oberen Teil des Dorfs gebracht hatte. Von dort hatte er einen Notarzt verständigt und man hatte die verletzte junge Frau noch in derselben Nacht aufs Festland und ins Krankenhaus verbracht. Luciano Doria hatte seine Aussage schwungvoll unterzeichnet.

Aber Madame Pommier hatte sich wieder gefangen. »Yoga ist durchaus Teil der Auswahl an Entspannungsübungen, die wir unseren Patienten anbieten. Allerdings nicht nachts und nicht draußen«, gab sie spitz zurück.