Die amerikanische, überarbeitete und erweiterte Originalausgabe von «Awakenings», die dieser E-Book-Ausgabe (neben der 1989 in der VCH Verlagsgesellschaft unter dem Titel «Bewußtseinsdämmerungen» erschienenen deutschen Erstausgabe) zugrunde liegt, wurde 1990 im Verlag Harper Perennial/Harper Collins, New York, veröffentlicht.
Aus dem Englischen übersetzt von
St. Schappo, W. Gutjahr, M. Lehmann, U. Hausmann, N. Rose, K.-H. Plottek sowie Martina Tichy und Klaus Henning
Beratung Regine Schmidt und Alexandre Métraux
Lektorat Heike Wilhelmi
In Memoriam
W. H. Auden und Aleksandr R. Lurija
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2018
«Awakenings» Copyright © 1973, 1976, 1982, 1983, 1987, 1990 by Oliver Sacks
All rights reserved
«Bewußtseinsdämmerungen» Copyright © 1989 by VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Umschlagabbildung Heidi Sorg, München
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen
ISBN Printausgabe 978-3-499-18878-7 (16. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-00088-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00088-9
Vgl. hierzu Michael Dummet: Frege: Philosophy of Language, London 1973, S. 2–7 und S. 84–89.
Vgl. Aleksandr R. Lurija: Osnovnye problemy nejrolingvistiki, Moskau 1975. Englischsprachige Übersetzung unter dem Titel Basic Problems of Neurolinguistics, Den Haag/Paris 1976.
Die kleinen Fallgeschichten sind inzwischen gesammelt unter dem Titel The Man Who Mistook His Wife For a Hat veröffentlicht worden (New York 1985). Deutschsprachige Übersetzung unter dem Titel Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek bei Hamburg 1987 (Taschenbuchausgabe 1990).
Vgl. Oliver Sacks: Migraine: The Evolution of a Common Disorder, London 1970. Deutschsprachige Übersetzung unter dem Titel Migräne. Evolution eines häufigen Leidens, Stuttgart 1985.
Vgl. Constantin von Economo: Die Encephalitis lethargica, ihre Nachkrankheiten und ihre Behandlung, Berlin/Wien 1929.
Vgl. von Economo, a.a.O., S. 147ff.
Vgl. von Economo, a.a.O., S. IV.
Persönliche Mitteilung von Oliver Sacks, 28. Mai 1987.
Die biographischen Angaben über Sacks sind dem Organ Current Biography, Band 46, Nummer 2, Februar 1985, S. 32–36, entnommen.
Es gibt einen kurzen statistischen Beitrag von Calne u.a. (1969), in dem ein sechswöchiger Versuch mit L-DOPA an einigen Patienten des Highlands-Hospitals beschrieben ist; es existieren jedoch keine biographischen Berichte über das ‹Erwachen› dieser oder anderer Patienten.
Fünf Jahre später leitete zufällig einer der Neurologen, die sich so vehement gegen meinen Brief an die JAMA ausgesprochen hatten – er hatte meine Beobachtungen als unglaubwürdig bezeichnet –, eine Sitzung, in deren Verlauf der Dokumentarfilm über das Buch gezeigt wurde. Eine bestimmte Stelle im Film zeigt in schwindelerregender Abfolge verschiedene bizarre, durch L-DOPA hervorgerufene ‹Nebenwirkungen› und Reaktionsschwankungen. Es war faszinierend, das Verhalten meines Kollegen zu beobachten. Zunächst starrte er ungläubig, mit offenem Mund, als sähe er so etwas zum ersten Mal; er verhielt sich wie ein unschuldiges, staunendes Kind. Dann wurde sein Gesicht puterrot – ob aus Beschämung oder Gekränktsein, vermochte ich nicht zu beurteilen. Was er als ‹unglaubwürdig› abgetan hatte, mußte er nun mit eigenen Augen wahrnehmen. Dann entwickelte er einen seltsamen Tic, eine zuckende Kopfbewegung weg von der Leinwand, deren Anblick er nicht länger zu ertragen vermochte. Schließlich sprang er unvermittelt und wütend vor sich hin murmelnd mitten im Film auf und stürzte aus dem Raum. Ich fand dieses Verhalten sehr aufschlußreich, da es zeigte, wie tiefgreifend und unwiderstehlich die Reaktionen auf das ‹Unglaubwürdige› und ‹Unerhörte› sein können.
Einen Monat später kam er auf das Thema zurück, als er schrieb, wie fasziniert er vom Fall Martha N. und der Tatsache sei, daß sie auf L-DOPA sechsmal verschieden reagiert hatte: «Warum jedesmal anders?» fragte er. «Warum konnte man dasselbe nicht wieder und wieder durchspielen?» – Fragen, die ich 1973 noch nicht zu beantworten wußte. Es schien mir typisch für Lurijas genialen Verstand, daß er sofort auf eins der zentralen Rätsel und Herausforderungen hinsteuerte – die vielfältigen, unwiederholbaren und unvorhersehbaren Reaktionen der Patienten – und daß er davon fasziniert war; wohingegen meine neurologischen Kollegen im ganzen eher verschreckt und verärgert reagierten und ihre Augen davor zu verschließen suchten.
In der Anthropologie – auch diese zuvor ausgedünnt und mechanistisch orientiert – gibt es seit 1970 eine Parallelbewegung, mit einer neuen oder erneuten Betonung dessen, was Clifford Geertz scherzhaft als ‹dichte Beschreibung› bezeichnet.
In gewisser Weise hatte Parkinson viele Vorgänger, die verschiedene Anzeichen des Parkinsonismus beobachtet und klassifiziert hatten, wie Gaubius, Sauvages, de la Noe und andere. Diese Männer und Parkinson unterschieden sich jedoch in ihrer Vorgehensweise grundlegend voneinander – vielleicht sogar mehr, als es Parkinson selbst zugegeben hätte. Vor Parkinson selbst gaben sich die Beobachter des Parkinsonismus damit zufrieden, verschiedene Merkmale festzustellen (etwa so, wie man Unterscheidungsmerkmale bei Zügen oder Flugzeugen angibt), um sie dann Klassifikations-Schemata zu unterwerfen. Was dabei herauskam, ähnelte dem, was ein Schmetterlingssammler oder ein Möchtegern-Entomologe erhält, wenn er seine Sammlungsobjekte nach Farbe und Gestalt ordnet. Parkinsons Vorgänger waren also gänzlich mit ‹Diagnose› und ‹Nosologie› beschäftigt, und zwar mit eher zufallsbedingter vor-wissenschaftlicher Diagnose und Nosologie, die vollständig auf äußerlichen Merkmalen und Zusammenhängen fußte. Zum Beispiel versuchten Sauvages und andere, das Unbekannte durch Tierkreis-Tafeln – eine Art Pseudo-Astronomie – handhabbar zu machen. Parkinsons anfängliche Beobachtungen waren auch ‹Beobachtungen von außen› – er betrachtete aus einer gewissen Entfernung auf Londons Straßen von der ‹Schüttellähmung› Befallene, insbesondere ihre Bewegungsmuster. Seine Beobachtungen waren aber genauer, fundierter und von Anfang an theoriebezogener als die seiner Vorgänger. Parkinson entspricht (um einen Vergleich zu ziehen) einem wirklichen Astronomen, der in London, seinem Beobachtungshimmel, Menschen beobachtet – und wir sehen (an diesem Punkt seiner Forschung) durch seine Augen Kranke als sich bewegende Körper vorbeiziehen wie Kometen oder Sterne.
Schon wenig später bemerkte er – um im Bild zu bleiben –, daß, wie verschiedene Sterne Konstellationen bilden, auch viele scheinbar beziehungslose Phänomene eine bestimmte und konstante ‹Häufung von Symptomen› bilden können.
Mit dem Begriff ‹postenzephalitisch› werden Symptome bezeichnet, die nach einem Anfall von Encephalitis lethargica auftreten und die als deren direkte oder indirekte Folge zu betrachten sind. Derartige Symptome können sich mit einer jahrelangen Verzögerung nach dem ersten Anfall einstellen.
Viele Schauspieler, Chirurgen, Mechaniker, qualifizierte Facharbeiter usw. weisen im Zustand der Ruhe schweren Parkinsonschen Tremor auf, von dem jedoch keine Spur zu bemerken ist, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen oder sich einer anderen Tätigkeit zuwenden.
Charcot hatte bei Patienten beobachtet (und viele Parkinson-Patienten stellen es bei sich fest), daß Rigidität in erheblichem Maße beim passiven bzw. aktiven Schwimmen im Wasser behoben werden kann (s. die Falldarstellungen Hester Y., Rolando P., Cecil M. usw.). Bis zu einem gewissen Grade trifft gleiches auch auf andere Formen von Starre, Spasmen, Athetose, Tortikollis usw. zu.
So beschreibt Gaubius bereits im 18. Jahrhundert die Festination (Scelotyrbe festinans) wie folgt: «Es gibt Fälle, bei denen die Muskeln, durch Willensimpulse erregt, mit ungewollter Leichtigkeit und mit nicht zu unterdrückender Impulsivität dem unwilligen Geist davoneilen.»
Analoge Begriffe verwendet William James (1890, S. 537–549) in seinen Ausführungen über die Abarten des Willens. Die zwei grundlegenden, von James dargestellten Abarten sind der ‹obstruktive› und der ‹explosive› Wille. Beim obstruktiven ist die Ausführung normaler Handlungen erschwert oder unmöglich; dominiert der explosive, sind abnorme Handlungen nicht zu unterdrükken. Wenngleich James diese Begriffe in bezug auf neurotische Perversionen des Willens verwendet, sind sie dennoch anwendbar auf Erscheinungen, die wir als Parkinsonsche Perversionen des Willens bezeichnen müssen, und zeigen somit eine formale Analogie zur Neurose als einer konativen Störung.
An dieser Stelle müssen wir ein grundlegendes Thema einführen, das im Verlauf des Buches auch in unterschiedlicher Verkleidung immer wieder erscheinen wird. Unser Ansatz, unsere Beschreibungsweise war bis jetzt rein empirisch oder gar mechanistisch. Bisher haben wir Parkinson-Kranke immer nur als Körper betrachtet, noch nicht als Lebewesen … Wollen wir wirklich ein Verständnis dafür erlangen, was es heißt, ein Parkinson-Kranker zu sein, und was es heißt, im Zustand des Parkinsonismus zu leben (und nicht nur die Parameter der Parkinson-Bewegungen angeben können), dann müssen wir einen anderen Ansatz wählen und unsere sprachliche Beschreibungsweise ändern.
Wir müssen die Position eines ‹objektiven Beobachters› verlassen, unseren Patienten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und ihnen mit Anteilnahme und Verständnis begegnen. Denn nur eine solche Form des Miteinanders, die Zusammenarbeit und die Anteilnahme geben uns überhaupt erst die Möglichkeit, zu erfahren, wie sie sind. Nur so können sie uns erzählen und uns zeigen, was es heißt, von Parkinsonismus befallen zu sein – und nur sie könnendies tun. Wir müssen sogar noch weiter gehen: Wenn nämlich unsere Patienten Erlebnissen unterworfen sind, die so eigentümlich sind wie die Bewegungen ihrer Träger – und wir haben Grund, dies anzunehmen –, dann benötigen sie viel Hilfe, eine sorgfältige und geduldige Zusammenarbeit, um das beinahe Unsagbare sagen und das beinahe nicht Vermittelbare mitteilen zu können. Wir müssen Mitentdecker sein im unwirtlichen Reich des vom Parkinsonismus Befallen-Seins, in diesem Land jenseits der Grenzen der normalen Erfahrung. Und unsere Ausbeute in diesem seltsamen Land werden nicht Exemplare sein oder Daten oder Tatsachen, sondern Bilder, Ähnlichkeiten, Analogien, Metaphern – was immer helfen mag, das Seltsame üblich und das bisher Undenkbare vorstellbar werden zu lassen. Was uns erzählt wird, was wir entdecken, wird in die Weise des ‹Ähnlich-wie› oder des ‹Als-ob› gekleidet sein, denn wir bitten die Patienten um Vergleiche – sie sollen das Vom-Parkinsonismus-befallen-Sein mit der Seinsweise vergleichen, die wir als ‹normal› ansehen.
Alle Erfahrung ist hypothetisch oder erschlossen; ihre Form und ihre Intensität aber können in einem weiten Bereich variieren. So werden Patienten, die es schaffen, eine gewisse Distanz zu ihren Erfahrungen aufzubauen, oder die nur teilweise oder zeitweise betroffen sind, ihre Erfahrungen bevorzugt durch Metaphern vermitteln, während Patienten, die ständig und vollständig von ihren Parkinsonismus-Erfahrungen verschlungen sind, vor allem halluzinatorische Bilder vermitteln … Bildliche Ausdrücke wie ‹schwer wie auf dem Saturn› werden demzufolge sehr häufig von Patienten verwendet. Helen K., eine der befragten Patientinnen, antwortete auf die Frage, wie man sich als Parkinson-Befallene fühlt: «Man fühlt sich wie auf einem riesigen Planeten festgehalten. Ich scheine Tonnen zu wiegen, ich werde plattgedrückt, ich kann mich nicht bewegen.» Ein wenig später fragte man sie, wie sie sich dann nach der Anwendung von L-DOPA gefühlt hatte (sie war sehr fahrig in ihren Bewegungen geworden, geradezu flüchtig und quecksilbrig): «Ich fühle mich wie auf einem niedlichen kleinen Planeten», sagte sie. «Etwa wie auf dem Merkur – nein, der ist noch zu groß, wie auf einem Asteroiden! Ich konnte nicht ruhig bleiben, ich wog nichts, ich konnte überall zugleich sein. In gewisser Weise ist das alles eine Frage der Schwere – zu Anfang war sie zu groß, später dann zu klein. Parkinsonismus ist Schwerkraft, L-DOPA ist Leichtigkeit, und man findet nur schwer einen mittleren Zustand.» Umgekehrt wurden solche Vergleiche auch von Patienten mit Tourette-Syndrom gezogen (vgl. Sacks 1981).
Starre (Akinesie) oder starke Verlangsamung (Bradykinesie) findet man auch in anderen Bereichen – sie können jede Art von Lebensaktivität beeinträchtigen, auch die geistigen. Demzufolge ist Parkinsonismus nicht ausschließlich ein Bewegungsphänomen – man findet zum Beispiel bei vielen Patienten, die unter Akinesie leiden, eine entsprechende Unbeweglichkeit der geistigen Vorgänge (Bradyphrenie), so daß der Strom der Gedanken so langsam und undeutlich abläuft wie der Strom der Bewegungen. Unter L-DOPA beschleunigt sich bei diesen Patienten der Gedankenstrom – also die Folge der Bewußtseinsvorgänge – wieder, häufig sogar zu stark, bis zu einer echten Tachyphrenie, so daß man dann den Gedanken und Assoziationen kaum noch folgen kann. Weiterhin trifft beim Parkinsonismus nicht nur eine motorische Trägheit auf, sondern ebenso auch eine starke Wahrnehmungsverlangsamung. Nimmt man als Beispiel die perspektivische Zeichnung eines Würfels oder einer Treppe, die ein Mensch mit normalem Wahrnehmungsvermögen in beiden möglichen perspektivischen Formen hintereinander wahrnimmt und bei der er zwischen beiden wechseln kann, so findet man, daß bei Parkinson-Patienten nur eine der beiden Alternativen wahrgenommen wird und diese sozusagen eingefroren ist. Diese Starre wird aufgebrochen, wenn der Patient ‹erwacht›; unter dauernder Stimulation durch L-DOPA kann dann der umgekehrte Fall eintreten – die Wahrnehmung des Patienten wechselt fast wie im Delirium mehrere Male pro Sekunde zwischen beiden Wahrnehmungsalternativen.
Eine spezielle, in der klassischen Literatur nicht beschriebene Form negativer Störungen wird in der Fallgeschichte von Hester Y. dargestellt.
So kann man solche Patienten rigide, bewegungslos, scheinbar leblos wie Statuen antreffen; doch angesichts einer plötzlich auftretenden Notsituation, die ihre Aufmerksamkeit weckt, kehren sie abrupt zu normalem Leben und Handeln zurück. (Erinnert sei an einen berühmten Fall: Ein Parkinson-Patient, der an einen Rollstuhl gefesselt war, sprang ins Wasser, um einen Ertrinkenden zu retten.) Unter solchen Umständen vollzieht sich die Rückkehr des Parkinsonschen Zustands oft ebenso unmittelbar und dramatisch wie sein Verschwinden: Der plötzlich ‹normale› und ‹erwachte› Patient kann leblos wie eine Puppe in die Arme seiner Pfleger sinken, sobald der Anreiz zum Handeln wegfällt.
Dr. Gerald Stern erzählte mir von einem solchen Patienten im Highlands-Hospital, dem man nach dem berühmten Fußballer der fünfziger Jahre den Spitznamen ‹Pushkas› gab. Oft saß Pushkas erstarrt und bewegungslos da, es sei denn, man warf ihm einen Ball zu. Das belebte ihn augenblicklich; er sprang auf, hechtete seitwärts, rannte, den Ball vor sich hertreibend, mit wahrhaft Pushkasschem, akrobatischem Genius. Warf man ihm eine Streichholzschachtel zu, so konnte er sie mit der Fußspitze auffangen, hochschleudern, abermals hochschießen und, die Streichholzschachtel mit einem Fuß jonglierend, die ganze Station entlanghüpfen.
Es gibt noch eine andere Geschichte über postenzephalitische Patienten im Highlands-Hospital. Zwanzig Jahre lang teilten zwei Männer ein Zimmer, ohne jedoch Kontakt miteinander zu haben und anscheinend ohne Gefühle füreinander. Beide verhielten sich völlig reglos und stumm. Eines Abends, als Dr. Stern seine Runde machte, drang aus diesem Zimmer der ewigen Ruhe fürchterlicher Krach. Zusammen mit zwei Schwestern eilte Dr. Stern in das Zimmer und fand die beiden Patienten in heftigem Streit. Sie stießen sich gegenseitig durch den Raum und schrien sich Obszönitäten zu. Nach Dr. Sterns Worten lag diese Szene «hart an der Grenze des Glaubhaften – denn keiner von uns hätte sich je auch nur im Traume vorstellen können, daß diese Männer imstande wären, sich überhaupt zu bewegen». Mit einiger Mühe wurden sie voneinander getrennt. In dem Augenblick, da man sie trennte, verfielen sie erneut in den Zustand der Sprach- und Reglosigkeit, in dem sie weitere fünfzehn Jahre verharren sollten. In den fünfunddreißig Jahren, in denen sie das Zimmer bewohnten, war dies das einzige Mal, daß sie zum Leben ‹erwachten›.
Diese Mischung von Akinesie und einer gewissen motorischen Genialität ist für postenzephalitische Patienten kennzeichnend. Ich habe eine Patientin vor Augen (nicht aus Mount Carmel), die bewegungslos dasitzt, bis man ihr drei (oder mehr) Orangen zuwirft, woraufhin sie sofort mit diesen zu jonglieren beginnt – sie kann dies auf unglaubliche Weise eine halbe Stunde lang, ohne Unterbrechung, mit bis zu sieben Orangen tun. Läßt sie jedoch eine Frucht fallen oder wird sie nur für einen Augenblick unterbrochen, fällt sie unvermittelt wieder in ihren Zustand der Bewegungslosigkeit zurück. Bei einem anderen Patienten (Maurice), der 1971 nach Mount Carmel kam, ahnte ich nicht im geringsten, daß er überhaupt in der Lage war, sich zu bewegen. Ich hatte ihn lange als ‹hoffnungslos akinetisch› betrachtet, bis er eines Tages, als ich einige Notizen zu schreiben im Begriffe war, plötzlich mein kompliziert gebautes Ophthalmoskop ergriff, es auseinanderschraubte, untersuchte, wieder zusammensetzte und mich auf verblüffende Weise bei einer Augenuntersuchung nachahmte. Die gesamte ‹Darbietung›, makellos und brillant, nahm nicht mehr als ein paar Sekunden in Anspruch.
Auch die teilweise Aufhebung des Parkinsonismus kommt vor. Sie ist weniger plötzlich und weniger vollständig, hat aber eine größere therapeutische Bedeutung. Sie kann für lange Zeiträume anhalten und stellt durchaus eine Antwort dar auf interessante und aktivierende Situationen, die zu einem Mitmachen im Nicht-Parkinson-Zustand einladen. Verschiedene Formen solcher therapeutischen Aktivierung werden in den Fallgeschichten dargestellt und im Anhang diskutiert.
In den USA wird der Begriff ‹Schlafkrankheit› sowohl für die Bezeichnung der afrikanischen, durch einen Parasiten verursachten, endemischen Krankheit (Trypanosomiasis) als auch für die epidemische, von einem Virus verursachte Encephalitis lethargica verwendet; in England wird jedoch zumeist nur letztere als ‹Schlafkrankheit› bezeichnet.
Deswegen entstand auch eine im klinischen und epidemiologischen Bereich äußerst hemmende Verwirrung. In den ersten Wochen des Jahres 1918 erkannte man in England, daß neue und seltsame Krankheitssyndrome überall auftraten – man kann die Aufregung über diese ersten Berichte nachvollziehen, wenn man die Ausgabe des Lancet vom 20. April 1918 liest oder den außerordentlichen Bericht des Stationierungs-Büros vom Oktober 1918 zu Rate zieht (siehe His Majesty’s Stationary Office–HMSO–1918). Es hatte schon vorher Berichte gegeben, ab dem Winter 1915/16, und zwar aus Frankreich, Österreich, Polen und Rumänien; aber diese Berichte scheinen in England nicht bekannt gewesen zu sein – im Kriege ist es schwieriger, Informationen zu verbreiten. Der Bericht des HMSO zeigt, wie stark die Verwirrung war und wie die Berichte über die neue und noch nicht identifizierte Krankheit diese mit verschiedenen Namen belegten: Botulismus, toxische Ophthalmoplegie, epidemischer Stupor, epidemische lethargische Enzephalitis, akute Polioenzephalitis, Heine-Medinsche Krankheit, Paralyse des Bulbus, hysterische Epilepsie, akute Schwachsinnigkeit – manchmal einfach nur «eine unklare Krankheit mit Symptomen im Hirnbereich». Dieses Durcheinander hielt bis zu dem großen klärenden und vereinheitlichenden Werk von Constantin von Economo an, der auch der Krankheit den heute noch verwendeten sinnvollen Namen gab.
In Frankreich beschrieb Cruchet zehn Tage vor von Economo vierzig Fälle einer ‹subakuten Enzephalomyelitis›, keiner der beiden kannte des anderen Arbeit, Paris und Wien waren schließlich im Kriege Feinde – man hat dazu später oft bemerkt, die Nachrichten über die Krankheit hätten sich langsamer ausgebreitet als die Krankheit selbst. Fragen der Priorität wurden hochgespielt, nicht nur von den Entdeckern selbst, sondern auch unter den Aspekten von nationalem Stolz und von Feindschaft zwischen Nationen. Einige Jahre lang sprach man in französischen Veröffentlichungen von ‹Cruchets Krankheit›, während die deutsche Literatur die Krankheit ‹von Economo-Krankheit› nannte. Der Rest der Welt sprach neutral von Encephalitis lethargica oder von epidemischer oder chronischer Enzephalitis. Tatsächlich pflegte fast jeder Neurologe die Krankheit selbst und anders zu benennen: Kinnier Wilson sprach von ‹Mesenzephalitis›, Bernard Sachs von ‹basilarer Enzephalitis›. In der Öffentlichkeit hieß die Krankheit einfach ‹Schlafkrankheit›.
Es bestand sowohl eine gewisse Gleichzeitigkeit als auch eine gewisse zeitliche Überschneidung der großen enzephalitischen Pandemie und der weltweiten ‹Grippe›-Pandemie – so wie 30 Jahre zuvor im Falle der italienischen Nona eine ansteckende, wenngleich örtlich begrenzte Influenza-Epidemie voranging. Es ist wahrscheinlich, jedoch nicht gewiß, daß die Influenza und die Enzephalitis die Auswirkungen zweier unterschiedlicher Viren widerspiegelten; es erscheint sogar möglich, daß die Influenza-Epidemie der Enzephalitis-Epidemie in gewisser Weise den Weg bahnte und daß der Grippe-Virus die Auswirkungen des Enzephalitis-Virus potenzierte (also die Abwehrkräfte gegen diesen auf verheerende Weise reduzierte). So trat die Enzephalitis in ihrer ansteckendsten Form zwischen Oktober 1918 und Januar 1919 auf, als die Hälfte der Weltbevölkerung von der Grippe und ihren Folgeerscheinungen betroffen war und über 21 Millionen Menschen starben. Wie die Schlafkrankheit, so wurde auch die große Grippe-Epidemie auf unerklärliche Weise ‹vergessen› (es war die verheerendste Epidemie seit der Schwarzen Pest des Mittelalters). H.L. Mencken schreibt hierzu: «Die Epidemie wird selten erwähnt, und die meisten Amerikaner haben sie offensichtlich vergessen. Das ist nicht überraschend. Der menschliche Geist versucht stets, das Unerträgliche aus dem Gedächtnis zu verdrängen, wie er es, wenn es vorhanden ist, zu verstecken sucht.»
Totale Schlafunfähigkeit (Agrypnie) bei diesen Patienten erwies sich auch ohne andere Symptome als tödlich innerhalb von zehn bis vierzehn Tagen. Die tödliche Gefahr für solche Patienten, bei denen die schlafsteuernden Mechanismen im Gehirn zerstört waren, zeigte zum ersten Mal, daß Schlaf eine physiologische Notwendigkeit ist. Manchmal war dieser schlaflose Zustand verbunden mit einem starken Bewegungsdrang, geradezu einer Wildheit des Körpers (und auch des Geistes), einem Zustand von pausenloser Bewegung und Erregung, der schließlich nach einer Woche oder zehn Tagen zum Tod durch Erschöpfung führte. Es wurden zwar manchmal Bezeichnungen wie ‹Manie› oder ‹katatonische Erregung› für diesen Zustand verwendet, aber er ähnelte doch mehr der Tollwut (mit der er dann auch teilweise verwechselt wurde).
Am stärksten aber ähnelte dieser Zustand der intensiven zerebralen Erregung mit seinem mächtigen Aktivitätsdruck auf Gedanken und Bewegungen dem Zustand, den man von einer akuten Vergiftung durch Mutterkorn oder ähnliche Pilzgifte kennt. John G. Fuller hat in seinem Buch The Day of St. Anthony’s Fixe eine eindrucksvolle Beschreibung geliefert: Hier vergiften sich die Einwohner eines ganzen französischen Dorfes unabsichtlich mit dem Pilzgift (ihr Brot ist nämlich kontaminiert). Die Erkrankten können nicht mehr schlafen, reden Tag und Nacht, schneiden Gesichter, machen Lärm, bewegen sich ständig kontrolliert und auch unkontrolliert, stehen unter einem ausweglosen Zwang, bis sie schließlich nach einer Woche durch Erschöpfung dem Tode verfallen. Diese Beschreibung erinnerte mich sofort an die an Encephalitis lethargica in ihrer hyperkinetisch-schlaflosen Form Erkrankten.
Der weite Bereich postenzephalitischer Symptome – besonders die einzigartigen Störungen von Schlaf, Sexualität, Affekt und Appetit – faszinierte Physiologen und Ärzte gleichermaßen. (Diese Faszination führte schließlich auch dazu, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren die Verhaltensneurologie als eigenständige Wissenschaft entstand.) Aber zunächst lag noch wenig Ordnung in den sich immer vermehrenden Beobachtungen vor (McKenzie nannte die allgemeine Verwirrung gar ein ‹Chaos›). Von Economo schien es anfänglich so, daß es drei Hauptbereiche des Befallenseins oder drei Haupttypen der Krankheit gäbe. Er nannte sie die somnolent-ophthalmoplegische, die hyperkinetische und die myostatisch-akinetische. Diese drei Typen entsprachen den Hauptbereichen der Nervenregionen, die befallen sein konnten. Die erste entspricht dem Befall des Stammhirns (in einem Bereich, der später als ‹Aufweck-System› bezeichnet wurde), die dritte, die den ‹normalen› Parkinsonismus darstellt, dem Befall der schwarzen Gehirnsubstanz; die zweite schließlich, die sich durch die umfangreichsten Störungen auszeichnet, die Krankheit mit impulsiver und emotionaler Hyperkinesie und Tourette-Symptomen, entspricht dem Befall von Diencephalon und Hypothalamus.
Hess wurde, wie er später im Vorwort zu seinem Buch Diencephalon (1954) beschreibt, zu seinen berühmten Studien der subkortikalen Funktionen hauptsächlich durch sein Erstaunen über die neuartigen Symptome der Encephalitis lethargica angeregt. (Diese Studien trugen ihm später den Nobelpreis ein.)
Wenn postenzephalitische Patienten sprechen können – bei den schwersten Fällen erst 50 Jahre nach Ausbruch der Krankheit dank L-DOPA –, sind sie in der Lage, uns detaillierte, einzigartige Beschreibungen ihrer katatonen Zustände, des ‹Dämmerschlafs›, der ‹Faszination›, der ‹Blockierung›, des ‹Negativismus› zu geben (schizophrene Patienten sind dazu in der Regel nicht fähig bzw. können nur mit Hilfe verzerrter Begriffe ihre Lebenswelt beschreiben).
Thom Gunns Gedicht Das Gefühl der Bewegung enthält die Schlüsselzeile: «Man ist stets näher, indem man nicht still verharrt.» Dieses Gedicht beschäftigt sich mit dem fundamentalen Bedürfnis, sich zu bewegen – mit Bewegung, die auf rätselhafte Weise stets auf etwas gerichtet ist. Das trifft nicht auf den Parkinson-Patienten zu: Dadurch, daß er nicht still verharrt, ist er in keiner Weise näher. Kraft seiner Bewegung gerät er nicht näher an etwas, und in diesem Sinne ist seine Bewegung keine echte Bewegung, und sein Mangel an Bewegung ist keine echte Ruhe. Die Straße des Parkinsonismus ist eine Straße, die nirgendwohin führt; das Land des Parkinsonismus ist paradox und einer Sackgasse vergleichbar.
Dr. G.A. Auden (der Vater des Dichters W.H. Auden) war einer der vielen hervorragenden Ärzte, die sich mit großer Anteilnahme den möglicherweise durch die Schlafkrankheit entstandenen Persönlichkeitsveränderungen zuwandten. Dr. Auden betonte, daß solche Veränderungen nicht immer als wesentlich schädliche oder zerstörerische anzusehen sind. Dr. Auden, der sich anders als viele seiner Kollegen in der Zuschreibung des Pathologischen der Zurückhaltung befleißigte, bemerkte, daß einige der Betroffenen (speziell Kinder) zu einer echten (wenngleich krankhaften) Brillanz und zum Durchleben unerwarteter, beispielloser Höhen und Tiefen ‹erweckt› werden könnten. Die Vorstellung von einer Krankheit mit einer ‹dionysischen› Kraft wurde in der Familie Auden häufig diskutiert; W.H. Auden war gedanklich ständig mit diesem Thema beschäftigt. Viele andere Künstler jener Zeit, und in besonderem Maße wohl Thomas Mann, waren angesichts eines weltweiten Krankheitsdramas betroffen, das, obgleich in vieldeutiger Weise, die Großhirntätigkeit auf hellwache und schöpferische Höhen zu heben vermochte.
Thomas Mann läßt in seinem Doktor Faustus den Leverkühn einem Dionysischen Fieber verfallen, das hier neurosyphilitisch bedingt ist; aber eine ähnliche bildhafte Darstellung außerordentlicher Erregung, der dann im Gegenzug Niedergeschlagenheit und Erschöpfung folgen, könnte ebenso bei einer postenzephalitischen Infektion gewählt werden.
Smith Ely Jelliffe, als hervorragender Neurologe und Psychoanalytiker gleichermaßen bekannt, war vielleicht derjenige, der die Schlafkrankheit und ihre Folgeerscheinungen aus der unmittelbarsten Nähe beobachtet hat. Im Rückblick auf die Epidemie zog er folgendes Fazit: «Im Rahmen des gewaltigen Gesamtfortschritts in der Neuropsychiatrie während der vergangenen zehn Jahre wurde auf keinem anderen einzelnen Fachgebiet ein Fortschritt erzielt, dessen Bedeutung mit dem durch das Studium der epidemischen Enzephalitis erreichten vergleichbar ist. Keine andere Gruppe von pathologischen Reaktionen bewirkte … eine derart weitreichende Modifikation der allgemeinen Grundlagen der Neuropsychiatrie … Eine völlige Neuorientierung wurde unumgänglich» (Jelliffe 1927).
Wie variabel solche Krisenzustände sein können und wie beeinflußbar sie sind, ist aus der Krankengeschichte der Patientin Lillien W. zu ersehen, die allerdings nicht in dieses Buch aufgenommen wurde. Lillien W. zeigte mindestens hundert klar unterscheidbare Krisenzustände: Schluckauf; Hyperventilationsanfälle; unkontrollierbare Tics; Augenkreisen; Nieskrämpfe; Schweißausbrüche; Anfälle, während derer ihre linke Schulter warm und blutrot wurde; Zähneklappern; sich wiederholende Anfälle, in denen sie mit ihrem Fuß oder Kopf immer wieder das gleiche Bewegungsmuster durchführte, Wände und Fußböden an drei oder vier immer gleichen Stellen heftig zu berühren; Zählanfälle; Anfälle, bei denen sie gewisse sinnentleerte Sätze etliche Male wiederholte; Angstausbrüche; Lachkrämpfe usw. Jedweder Hinweis – sei es sprachlich oder auch nonverbal – auf einen dieser Krisenzustände führte bei dieser Patientin unweigerlich dazu, daß dieser Krisenzustand danach sofort eintrat.
Lillien W. hatte auch bizarre ‹Misch›-Anfälle, bei denen eine große Vielzahl unterschiedlicher Krisenphänomene (wie Niesen, Hyperventilation, Augenkreisen, Zählen usw.) zusammen und in einer scheinbar sinnlosen Kombination auftrat; tatsächlich erzeugte sie fortwährend neue und seltsame Krisenkombinationen. Und obwohl ich bei Dutzenden solcher Vielfach-Krisen Zeuge war, gelang es mir doch fast nie, in ihnen irgendein physiologisches oder symbolisches Übergreifendes wahrzunehmen, und nach einer gewissen Zeit verzichtete ich auch darauf, nach einer solchen Einheit zu suchen, und sah diese Krisen als Überlagerung physiologischer Merkwürdigkeiten oder manchmal auch als Flickwerk an. Lillien W. selbst, eine durchaus humorvolle und begabte Frau, empfand ihre Vielfach-Anfälle übrigens ähnlich: «Sie sind einfach ein Durcheinander», pflegte sie zu sagen, «wie ein Trödelladen, oder wie ein Wühltisch beim Ausverkauf, oder auch wie Gerümpel, das man gerade wegwirft.» Manchmal jedoch konnte man klare, aber dennoch unverständliche Muster erkennen, oder auch Muster, die quälend auf eine zugrunde liegende Einheit oder auf etwas Wesentliches hinzudeuten schienen. Über solche Anfälle sagte Lillien W. : «Dieser Anfall war ein ganz besonderer. Er fühlte sich surrealistisch an. Ich hatte das Gefühl, er hatte etwas zu bedeuten, aber ich weiß nicht, was, ich kann ihn nicht entziffern.» Manche meiner Studenten, die bei solchen Anfällen dabei waren, hatten ebenfalls einen Eindruck von Surrealismus; einer von ihnen sagte einmal: «Das ist absolut irre, das ist genauso wie Salvadore Dalí!» Ein anderer Student war von dem Gesehenen sehr beeindruckt und verglich ihre Anfälle mit verschrobenen, unirdischen Gebäuden oder ebensolcher Musik (‹Kirchen vom Mars oder Klänge vom Arktur›). Wir konnten uns zwar nie auf eine Deutung eines solchen Anfalls von Mrs. W. einigen, aber wir alle waren von ihnen auf eine merkwürdige Weise fasziniert – so wie von Träumen oder besonderen Kunstformen. Und wie ich manchmal dachte, man könne den Parkinsonismus als verhältnismäßig einfachen und einheitlichen Traum des Mittelhirns auffassen, so stellte ich mir Lillien W.s Anfälle als surrealistischen Wahn vor, der vom Vorderhirn hergestellt wird.
Nicht selten trat in einem außergewöhnlichen Lebensmoment eine Krise ein, durch die dieser Augenblick quasi ‹konserviert› wurde. So verwies Jelliffe (1932) auf einen Mann, dessen erste okulogyrische Krise während eines Krikket-Spiels auftrat, gerade in dem Moment, als er mit seiner Hand einen Ball fangen sollte (noch im Trancezustand wurde er vom Feld getragen; er hielt den rechten Arm weiterhin ausgestreckt, den Ball fest umklammernd). In der Folgezeit kündigte sich bei diesem Patienten jede okulogyrische Krise durch eine vollständige Wiederholung dieses ursprünglichen, grotesken und komischen Augenblicks an. Er hatte dann plötzlich das Gefühl, es sei wieder 1919, der Ball nähere sich ihm, und er müsse ihn fangen – in genau diesem Augenblick!
John Donne, Devotions upon Emergent Occasions, in: Complete Poetry and Selected Prose, London/New York 1930, S. 513.
Diese anormale Plötzlichkeit und Schnelligkeit der Bewegung, oft verbunden mit einer merkwürdigen, unerwarteten und manchmal auch geradezu spielerischen Qualität, kann in verschiedenen Sportarten durchaus von Vorteil sein. Einer meiner Patienten, Wilbur F., war in seiner postenzephalitischen Jugend ein erfolgreicher Amateurboxer. Er zeigte mir beeindruckende Zeitungsausschnitte aus jener Zeit. In ihnen wurde gesagt, sein Erfolg beruhe weniger auf seiner Kraft oder seiner Boxtechnik als vielmehr auf seiner außerordentlichen Schnelligkeit und der unüblichen Bewegungsweise – er zeige Schläge, die zwar erlaubt, aber so ungewöhnlich seien, daß man sie kaum beantworten könne. Auch das Tourette-Syndrom ist manchmal charakterisiert durch eine ähnliche Tendenz zu plötzlichen, auffälligen, sehr schnellen und erfindungsreichen Bewegungen, also durch eine geradezu bizarre Bewegungsbegabung (vgl. Sacks 1981).
Wir konnten feststellen, daß der Parkinsonismus und die Neurosen wesentlich zwanghafter sind, d.h., daß dem einen wie den anderen eine ähnliche zwanghafte Struktur eigen ist. Geschlossene Anstalten sind ebenfalls voller Zwänge, sind in Wirklichkeit externe Neurosen. Die Zwänge der Anstalten führen die Zwanghaftigkeit ihrer Insassen herbei und steigern sie. So ließ sich beobachten, wie die Zwänge in Mount Carmel mit exemplarischer Deutlichkeit bei postenzephalitischen Patienten die neurotischen und Parkinsonschen Tendenzen verstärkt haben, und mit gleicher Klarheit war zu erkennen, wie die ‹guten› Seiten von Mount Carmel – Mitgefühl und Menschlichkeit – neurotische und Parkinsonsche Symptome linderten.
Es ist aufschlußreich, den Zustand dieser Patienten in Mount Carmel mit dem jener Patienten zu vergleichen, die in der einzigen postenzephalitischen Gemeinschaft in England (im Highlands-Hospital) leben. Die Bedingungen in Highlands – umgeben von freiem Gelände, mit freiem Zugang zu einem Nachbarort, mit besseren Behandlungsmöglichkeiten und einer viel freieren und lokkereren Atmosphäre – gleichen jenen, die anfangs in Mount Carmel vorherrschten. Die Patienten in Highlands (manche sind schon seit den zwanziger Jahren dort) vermitteln trotz ihrer schweren postenzephalitischen Syndrome ein völlig anderes Bild als die Patienten in Mount Carmel. Im großen und ganzen neigen sie dazu, beweglich, munter, ungestüm und überaktiv zu sein und lebhafte, gefühlsbetonte Reaktionen zu entwickeln. Das steht im Gegensatz zu dem parkinsontypischen, entrückten, ernsten oder in sich gekehrten Erscheinungsbild vieler Patienten in Mount Carmel. Es besteht kein Zweifel, daß beide Patientengruppen an der gleichen Krankheit leiden, und es ist dennoch klar, daß Erscheinungsform und Verlauf der Krankheit in beiden Gruppen sehr unterschiedlich sind.
Ich habe nie klären können, ob die verschiedenen Krankheitsformen auf unterschiedlichen pathologischen ‹Schicksalen› beruhen oder Auswirkungen unterschiedlicher Umgebungen und Atmosphären sind : der ziemlich offenen und fröhlichen Atmosphäre in Highlands bzw. der ziemlich düsteren, verhaltenen in Mount Carmel. In früheren Ausgaben dieses Buches habe ich die zweite Deutung bevorzugt, allerdings ohne sie durch eindeutige Beweise zu untermauern. Ich muß festhalten, daß wir auch in Mount Carmel eine Reihe aufgeweckter, schelmischer, voller Späße und Tics steckender, stark an ihre Leidensgefährten in Highlands erinnernde Patienten haben. Also ist vielleicht das ‹Schicksal› und nicht die Umgebung ausschlaggebend. Höchstwahrscheinlich sind es die Auswirkungen einer Wechselwirkung von ‹Schicksal› und Umgebung. Die merkwürdig bizarren Wesenszüge sind charakteristisch für solche Postenzephalitiker, machen sie oftmals liebenswert und brachten ihnen in England den Spitznamen ‹enkies› ein. Die Merkmale der ‹enkiness› (Hirnigkeit) waren in Mount Carmel zuerst nicht so sichtbar, denn viele der Patienten standen, als ich sie sah, im Bann eines schweren Parkinsonismus. Mit dem Schwinden des Parkinsonismus wurden diese Merkmale viel auffälliger – infolge der kontinuierlichen Stimulierung durch L-DOPA und (in einigen Fällen) dank der ‹Rückkehr› der überschäumenden Persönlichkeit der jungen Jahre, bevor diese durch die Krankheit verschüttet wurde. Diese ‹enkiness› ist auch beim Tourette-Syndrom sichtbar, bei dem es zu einem fast ein Leben lang anhaltenden ticartigen Übersprudeln als Folge eines ‹natürlichen› Überschusses an zerebralem Dopamin kommen kann.
Nachdem Edith T. in einem früheren Gespräch bemerkt hatte, sie sei durch den Parkinsonismus ‹ungraziös› geworden, fragten wir Helen K., ob sie das gleiche Gefühl habe. «Natürlich!» sagte sie. «Das gehört zusammen. Es gibt einen berühmten Essay ‹Schwere und Grazie›. Man könnte solch einen Essay aus unserem, in dieser Hinsicht überlegenen Gesichtspunkt schreiben. Man kann nicht graziös sein, wenn man zu schwer und unbeweglich ist. Man kann nicht graziös sein, wenn man zu leicht und flatterig ist. Man braucht das richtige Maß an Schwere, um Grazie zu haben.»
Schon 1869 hatte Charcot als Medikament zur Behandlung des Parkinsonismus mit dem Hyoscyamin das erste Anticholinerikum eingeführt. (Er benutzte für das Hyoscyamin den Extrakt des schwarzen Hennenwurzes – Hyoscyamus niger.) Allerdings sind diese Medikamente nur dazu geeignet, die Starre und den Tremor zu behandeln, nicht aber die ausgeprägte Akinesie, die bei postenzephalitischen Patienten bevorzugt auftritt. Das Gleiche gilt auch für chirurgische Behandlungsmethoden: Die Chemo-Pallidektomie und später dann die Thalamotomie, in den dreißiger Jahren eingeführt, erwiesen sich zwar als unschätzbare Hilfe gegen die Starrheit und den Tremor – aber gegen die Akinesie boten sie kein Mittel. Nach 1950 fand man, daß Apomorphin die Akinesie lindern konnte; aber Apomorphin muß injiziert werden, und noch dazu ist seine Wirkung zu kurzzeitig und zu stark mit Brechreiz verbunden, als daß es viel helfen könnte. Ebenso zeigten Amphetamine, außer einer gewissen Reduktion der Akinesie, bei den nötigen hohen Dosierungen zu starke Nebenwirkungen. Demzufolge blieb die Akinesie – das wesentliche und bedeutendste Kennzeichen des postenzephalitischen Parkinsonismus – bis zum Aufkommen des L-DOPA unbehandelbar.
Eine der großen Überraschungen, die die Natur bietet (oder sollte man von Voraussicht sprechen?), ist die Tatsache, daß in der Pflanzenwelt so viele Stoffe vorkommen, die auf Tiere starke Auswirkungen haben – und dennoch für die Pflanzen selbst keinen Vorteil zu bieten scheinen. Der Fingerhut (Digitalis) zum Beispiel enthält Digitalis-Glykoside, die zur Behandlung von Herzschwäche unschätzbar wichtig sind; der Herbstkrokus (Colchinum) enthält das Colchizin, unverzichtbar bei der Behandlung von nierenbedingter Blutvergiftung usw. Es ist weiterhin charakteristisch, daß viele solcher Naturheilmittel schon in einer sehr frühen Epoche der menschlichen Geschichte entdeckt wurden und in die Natur- und Volksmedizin eingingen, lange bevor ihre Wirksamkeit von der konventionellen und etablierten medizinischen Wissenschaft akzeptiert wurde.
Kürzlich wurde durch chemische Analysen festgestellt, daß verschiedene Bohnensorten große Mengen an L-DOPA enthalten (in einer Größenordnung von 25 g L-DOPA pro Pfund). Auch gibt es den Hinweis (der einer sorgfältigen Überprüfung bedarf), daß derartige mit L-DOPA angereicherte Bohnen viele Jahrhunderte lang ein ‹Volksheilmittel› dargestellt haben. So ist es möglich, daß L-DOPA, dessen Aufkommen wir auf das Jahr 1967 datieren, bereits 1967v.u.Z. aufgekommen war.
Das Konzept der mystischen Stoffe entsteht aus einer reductio ad absurdum zweier grundsätzlicher Weltsichten, die, richtig entfaltet, jeweils eine große Eleganz und Macht verkörpern: Die eine ist die Sicht vom Einzelding aus, gekoppelt mit empiristischer und positivistischer Philosophie, die andere ist eine ganzheitliche oder holistische Sicht. Man kann diese beiden auf die Philosophie des Aristoteles beziehungsweise auf die von Platon beziehen. Diese beiden Philosophiemodelle, mit Bedacht und im Bewußtsein ihrer jeweiligen Kraft und Begrenzung verwandt, ermöglichten die Grundlegung der fundamentalen Entdeckungen in Physiologie und Psychologie in den letzten zweihundert Jahren.
Mystizismus entsteht, wenn man Analogie für Identität hält, wenn man Ähnlichkeiten und Metaphern (die sich im Wort ‹so wie› ausdrücken) als Existenzausdruck auffaßt (was sich im Wort ‹es ist› ausdrückt); damit nimmt man eine nützliche Beschreibungsweise als absolute Wahrheit. Eine mystische Philosophie, die auf dem Einzelding aufbaut, sieht die Welt als eine Mannigfaltigkeit von Punkten, Orten, Partikeln, kurz von Teilen, die keine innere Beziehung aufweisen. Sie sind verbunden durch einen äußeren, unabhängig bestehenden Kausalnexus – dies ist die einzige und erzielbare Wahrheit, die ganze Wahrheit, eine andere kann es nicht geben. Wenn man sich dieser Sichtweise anschließt, kann man sich die Möglichkeit denken, einen Teil des Ganzen zu affizieren ohne die kleinste Wirkung auf die benachbarten Teile: Man könnte beispielsweise einen Punkt mit absoluter Genauigkeit treffen und an ihm wirken. Die therapeutische Konsequenz eines solchen Mystizismus ist das Konzept des perfekten Medikaments, das genau das bewirkt, für das es vorgesehen ist, und keine weiteren Effekte zeigt.
Das von Ehrlich zur Behandlung von Syphilis entwickelte Medikament Arsephenamin ist ein bekanntes Beispiel dafür. Ehrlichs eigene und realistische Ansprüche wurden sofort durch maßlose Wünsche und Hoffnungen verzerrt, so daß Arsephenamin bald den Namen ‹Magische Kugel› erhielt. Diese Art mystischer Medizin widmet sich denn auch der Suche nach mehr solcher ‹magischen Kugeln›. Auf der anderen Seite nimmt ein mystizistischer Holismus an, die Welt sei im Grunde eine undifferenzierte, einheitliche Substanz, ein ‹Welt-Stoff›, eine ‹Erste Materie› (nicht zu verwechseln mit der hyle oder materia prima des Aristoteles – Anm. d. Übers.), ein ‹Plasma›. Ein berühmtes Beispiel einer solchen mystizistisch-holistischen Physiologie kann man in einer Aussage finden, die Flourens zugeschrieben wird: «Das Gehirn ist gleichförmig wie die Leber; das Gehirn sondert Gedanken in der gleichen Weise ab wie die Leber Galle.» Die Anwendungs eines solchen einheitssuchenden Mystizismus ist das Konzept des Allzweckmedikaments, im Altertum ‹Panacea› oder ‹Katholikon› genannt, ein Wesensextrakt des Welt-Stoffs (oder auch des Gehirn-Stoffs), sozusagen absolut reine Gottheit (oder Gutheit) in Flaschen – de Quinceys ‹mitnehmbare Ekstase in einer rosa Flasche›.
Vgl. Anhang ‹Wunderdrogen›: Sigmund Freud, William James und Havelock Ellis.
William James meint, daß einer der Hauptgründe, warum Menschen sich dem Alkohol zuwenden, der Wunsch sei, ein mystisches Einheitlichkeitsgefühl zu erleben, eine Rückkehr zu einer ursprünglichen und elementaren Erleuchtung; und in diesem teilweise metaphysischen und teilweise regressiven Gebrauch des Alkohols drücke sich ein tiefer Bedarf für bewußtseinsändernde Drogen aus. Er zitiert in diesem Zusammenhang (übrigens mit Zustimmung) die Volksweisheit: «Die beste Medizin gegen Trunksucht ist die Religionssucht.»
Aus der Geschichte der Menschheit wissen wir, daß das Verlangen nach bewußtseinsändernden Drogen allgemein und seit allen Zeiten besteht, und daß alle Kulturen über eine große Kenntnis solcher Drogen verfügt haben. Im letzten Jahrhundert war die Anwendung solcher Drogen im Bereich der Literaten eine Entspannung – manchmal auch eine Notwendigkeit –, und ein Teil der Entwicklung der Bilderwelt der Romantik geht sicher auf diese Gewohnheit zurück. In unserem Jahrhundert, und insbesondere in den letzten dreißig Jahren, hat sich wiederum der Gebrauch solcher Drogen – auch der ausdrückliche Gebrauch – ausgebreitet. Huxley verwendete Mescalin, um «die Tore der Wahrnehmung zu reinigen», und Timothy Leary empfahl LSD als ‹heilige› Droge. An solchen Beispielen – wie auch beim L-DOPA – kann man sehen, wie sich ein ursprünglicher Bedarf mit einer mystischen Stimmung verbindet: Man begeht den Irrtum, eine endliche, einnehmbare Substanz als unendliches, mystisches Symbol mißzuverstehen.