Inhaltsverzeichnis

Dostojewski, Die Brüder Karamasow

 

***

ich muss ihre namen wissen

die der frauen, mit denen ich gegangen wäre

unbeschwert, so wie männer in grüppchen gehen

mit den armen schlenkernd, und die

der schwitzenden frauen, zu denen ich nach einem schweren spiel

gestoßen wäre, um einen schwatz zu halten

wie hätten wir einander genannt, lachend

in unser bier witzelnd? wo sind meine gangs,

meine teams, meine nicht aufzufindenden schwestern?

all die frauen, die mich hätten kennen können

wo in aller welt sind ihre namen?

Lucille Clifton, »Die verlorenen Frauen«

Auch wenn einige der Figuren dieses Romans an historische Persönlichkeiten angelehnt sind und viele der Schauplätze – wie die Piers in der Christopher Street, das Sally’s, The Saint, die Paradise Garage – in den betreffenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle gespielt haben, muss ich darauf hinweisen, dass es sich um eine fiktionale Erzählung handelt. Die Darstellung der Figuren dieser Geschichte sowie der Ereignisse und Schauplätze sollte nicht als historisches Dokument gelesen werden. In meinen Augen liegt die Aufgabe des Schriftstellers in der Suche nach poetischer und erzählerischer Wahrheit, und ich hoffe aufrichtig, dass der vorliegende Roman diese Bemühungen widerspiegelt.

Mutterschaft/
Schwesternschaft

(1976–1984)

 

 

 

 

»Vielleicht ist ›zu Hause‹ kein Ort, sondern ein unabänderlicher Zustand.«

James Baldwin, Giovannis Zimmer

(1976–1981)

Angel

1980

Girrl–

Noch vor Dorian und vor Hector war da 1980 – das Jahr, in dem sich alles zu ändern begann. Aus dem Radio pumpte Diana Ross, Angel war sechzehn Jahre jung und fühlte sich wie auf den Kopf gestellt und von innen nach außen gestülpt, Mannomann, alles drehte und drehte sich. Wenn die Siebziger das Jahrzehnt von Disco gewesen waren, was würden dann die Achtziger sein? Der Beginn einer neuen Ära? Das Jahrzehnt der Pailletten? Es wurde Zeit, dass aus dem Angel die Angel wurde – selbst wenn sie das nur in den tiefsten Schichten ihrer Seele fühlte, wusste sie, es war da, unter der Haut und den Knochen, dünn wie ein Stück Silberfolie.

Es war nicht so, dass sie sich in ihrem Jungskörper gefangen gefühlt hätte. Sie fühlte sich frei wie eine paloma, die an einem schwülen Sommerabend die Sozialbauten von Da Boogie Down umkreist. Wie gut es sich anfühlte, »sie« zu sagen! – Denn es ging ihr weniger darum, eine Frau zu sein, als darum, das Frausein auszustrahlen. Waren ihre Mutter und ihr Bruder Miguel unterwegs, um die wöchentlichen Besorgungen zu machen, zog Angel sich daher die Jeans aus und rasierte sich die Beine. Sie stand nackt vor Mamis Schminktisch. Sie bog ihr Ding weg – klebte es mit einem Stück Klebeband oben fest – und verschränkte die Beine zu einem X.

Sie zog das zerknickte Foto von Bette Davis hervor, das sie in ihrem Naturkundebuch versteckte. Sie liebte Bette Davis für ihre Aufsässigkeit. In Sommernächten schlich sie sich aus dem Haus, um die Mitternachtsvorführungen von Bettes Filmen in den Multiplexkinos im Village und in Chelsea anzusehen. Sie liebte das Drama. Sie hatte angefangen zu rauchen, weil es bei Bette so elegant aussah. Und irgendwann war sie süchtig nach den Scheißdingern geworden.

Miguel, der nur zwei Jahre jünger als Angel war, hatte einen Vorrat von Newports unter seinem Bett versteckt, und sie nahm sich eine und sah in der silbernen reflejo des Spiegels, wie sich der Rauch aus ihrem Mund kringelte. Sie ging zur Badewanne und rauchte zu Ende, während sie sich im Wasser räkelte.

Als die Zigarette aufgeraucht war, tunkte sie den Stummel ins Wasser, stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Sie hatte immer Angst, Mami und Miguel könnten früher als erwartet heimkommen. (Ay, Dios mío, der Supermarkt hatte zu, würde Mami sagen, und ich habe mein Portemonnaie auf der Arbeitsplatte liegen lassen, und wie zur Hölle siehst du überhaupt aus?) Was würde Angel dann sagen? Auf frischer Tat, mit frisch rasierten Beinen ertappt, im Kimono ihrer Mutter, der so lang war, dass sie darin wie ein Baum aus wallender Seide aussah.

In ihrer Vorstellung würde es ungefähr so weitergehen: Mami würde weinen, mit dem Besen nach ihr schlagen, das apostolische Glaubensbekenntnis schreien und ihr drohen, die Santera-Frau zu

***

Sie begegnete Jaime, als sie eines Tages durch die St. Mark’s segelte, auf der Suche nach einem Outfit, das knallte. Jaime stand hinter dem Tresen, wirkte dabei aber so was von gelangweilt – einer von den Typen, die offenbar aufgrund ihres guten Aussehens in die Modewelt hineingestolpert waren. Aber es war seine gelangweilte Miene, die ihn so wahnsinnig süß aussehen ließ, als wäre sie ein Accessoire, das er bewusst einsetzte. Er trug eine schmal geschnittene helle Jeansjacke und eine schwarze Hose, so eng, dass Angel einen Blick auf die Ausbeulung erhaschte.

Pero Jaime guckte sie mit dem Arsch nicht an. Er verkaufte ihr bloß mit demselben leeren, gelangweilten Gesichtsausdruck den Glitter-Nagellack, den sie wollte. Als sie zur Tür ging, spürte sie, wie er ihr folgte. Sie überlegte, was sie machen sollte: im Vorbeigehen nach dem Preis einer schwarzen Lederhose fragen (sie war zu dünn, um hineinzupassen) oder den Nagellack auf den Boden fallen lassen (und riskieren, dass die verdammte Flasche zerbrach) oder sich einfach umdrehen und sagen: Was für ein Wetter heute, hm? Aber Girl, sie hatte einen Knoten in den Eingeweiden, und außerdem war das Wetter völlig normal, also machte und sagte sie nada. Und das war auch gut so, denn der Homeboy wollte einfach nur eine rauchen, nicht mehr, nicht weniger.

Er stahl sich immer wieder in Angels Tagträume. In diesen Fan

Nichts veränderte sich in diesen Fantasien, alles blieb beim Alten, Tag für Tag, Nacht für Nacht, bis auf ihre Kleidung. Mal waren es ein enger silberner Lamé-Einteiler oder Leder-Chaps (als sie aus diesem Traum erwachte, brach ihr der kalte Schweiß aus!), ein anderes Mal schlicht ein knappes schwarzes Kleid oder ein Paar Jeans. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn süß fand, dass ihr Körper nach seinem verlangte, aber sie brachte kein Wort heraus, und dann zwang sie sich zum Aufwachen.

Einen Monat später entschied sie, dass sie wieder in den Laden gehen musste, um auf den Tisch zu hauen. Und mit auf den Tisch hauen meinte sie nichts Gewalttätiges oder Abgedrehtes. Mit auf den Tisch hauen meinte sie, ihn nach seiner Nummer zu fragen. Aber als sie ankam, stand er nicht an der Kasse. Stattdessen war da eine chica, blass wie Kunstperlen. Sie trug schwarzen Lippenstift, eine schwarze Hose, schwarzen Eyeliner. Angel sah zu, wie sie sich an den Tresen lehnte und Angels Blick erwiderte, wohl um abzuschätzen, ob Angel es wert war, bedient zu werden. Das Mädchen musterte Angel von oben bis unten und wandte sich dann wieder ihren Fingernägeln zu.

Das Mädchen hörte nicht auf, seine Fingernägel wüst zu bearbeiten. Angel fragte noch einmal.

»Ich hab dich gehört«, sagte das Mädchen. »Ich hab dich schon beim ersten Mal gehört.«

Angel gefiel weder ihr Ton noch ihre Attitüde. »Und?«, sagt Angel. »Kann ich?«

Das Mädchen warf ihr einen langen Blick zu. »Schätze schon«, sagte das Mädchen und legte die Nagelfeile auf den Tresen wie unter Schmerzen.

Angel erklärte, sie sei vor einem Monat schon einmal da gewesen und habe, na ja, es sei ja egal, was sie gekauft habe, jedenfalls habe sie dieser Typ bedient. Sie erzählte nichts von dem gelangweilten Gesichtsausdruck oder den Zigaretten oder den Träumen, in denen sie ununterbrochenen Blickkontakt mit ihm hatte, bis es unangenehm wurde, und dabei nichts als silbernen Lamé trug. Stattdessen beschrieb sie sein leicht angehobenes Kinn, seine gezupften Augenbrauen und seine Haare, die ein kleines Stück über die Ohren reichten wie bei einem Model, das Angel einmal auf dem Cover des Christopher-Street-Magazins gesehen hatte, mit der Bildunterschrift: INTERVIEW MIT DEM BUTCHEST MAN ALIVE.

»Ach, du meinst Jamie?«, sagte das Mädchen. Es verdrehte die Augen, und Angel wollte diese Lider mit ihren Fingernägeln aufstemmen. »Klar suchst du nach Jaime. Hätte ich auch selbst drauf kommen können. Jede kleine Queen südlich der Fourteenth Street sucht nach Jaime.«

»Tja, ich habe Neuigkeiten für dich«, sagte Angel in einem Tonfall, der frecher klang als beabsichtigt. »Sehe ich vielleicht aus wie einer von diesen Hippies aus der Fourteenth Street? Ich bin aus der Boogie Down Bronx. Zieh dir doch mal meinen Style rein.«

Es stimmte, Angel hätte eigentlich keinen anderen Flair verströmen dürfen als den der Bronx, und hätte das Mädchen nicht jedes Mal die Augen bis zum Hinterkopf verdreht, wenn Angel den Mund aufmachte, dann hätte sie Angels niedliches weißes T-Shirt und die Yankees-Kappe gesehen. Angels Style an diesem

Das Mädchen machte eine riesige Kaugummiblase. Eine pinke Kugel vor schwarzer Schminke. Angel sah zu, wie die Blase immer größer wurde und an die Nase des Mädchens stieß. Dann platzte sie. Als das Mädchen das platte Gummi zurück in seinen Mund beförderte, sah Angel den darauf verschmierten schwarzen Lippenstift.

»Puh«, sagte das Mädchen, als handelte es sich um eine Feststellung. »Die Bronx.«

»Ja«, sagte Angel. »Was ist damit?«

»Was für ein Dreckloch.«

***

Wie sich herausstellte, machte Jaime gerade Mittagspause. Das hätte Angel sich denken können, und obwohl das Mädchen sie sich eindeutig vom Hals schaffen wollte, blieb Angel und tat, als würde sie die Stapel mit den Klamotten durchgucken, die sowieso viel zu Punkrock waren, als dass sie sie jemals hätte tragen können. Als Jaime mit einem McDonald’s-Becher in der Hand zurückkam, schaute das Mädchen auf, ließ eine Kaugummiblase knallen und sagte: »Jaime, Baby, du hast mal wieder Besuch.«

Das Mädchen stempelte aus und ging, ohne sich zu verabschieden. Sie waren allein im Laden, und Angel suchte nach Worten. Schließlich fragte sie nur, was er sich bei McD’s geholt hatte.

»Das ist deine Frage an mich?«, sagte Jaime. Er stand am hinteren Ende des Ladens, bei der Umkleidekabine, die eigentlich nichts weiter als eine Wandnische mit einem roten Vorhang als Tür war, und grinste sie von dort aus an. »Ich kenne dich«, sagte er.

Angel war zu nerviosa, um irgendetwas anderes zu fragen oder ihm etwas Schlagfertiges vor den Latz zu knallen, wie sie es

Dann standen sie sich genau wie in ihren Träumen gegenüber, jeder allein auf seiner Seite des Ladens, und sahen sich lange schweigend in die Augen. In der Geborgenheit ihres Traumlands konnte sie sich wenigstens zum Aufwachen zwingen, aber weil dieser Moment im wahren Leben stattfand, wusste sie, dass das jetzt nicht ging. Er musterte sie von oben bis unten, und sie fühlte sich nackt unter der Hitze seiner Aufmerksamkeit. »Komm mal her«, sagte er. »Du kannst was für mich tun.«

Ihr Herz raste, während sie zur Umkleidekabine hinüberging. Als sie beide drinnen waren, zog Jamie den Vorhang zu. Angel wollte ihn fragen, was wäre, wenn ein Kunde hereinkäme, aber sie wusste, dass es besser war, den Mund zu halten. Sie waren beide dem Spiegel zugewandt, einem zweieinhalb Meter hohen Ungetüm, das in seiner ganzen fingerabdruckverschmierten Pracht an der Wand lehnte. Es gefiel ihr, dass Jaime und das Mädchen sich an dem Tag nicht einmal die Mühe gemacht hatten, das Glas zu putzen, so als wäre es sinnlos, eine Oberfläche zu putzen, die ohnehin wieder betatscht werden würde.

Jaime setzte sich auf den Hocker und sagte ihr, sie solle sich ausziehen. Als sie nackt war, die Brustwarzen steif vor Aufregung, sagte Jaime, er sei gleich wieder da, und rauschte durch den Vorhang. Er kam mit einem engen silbernen Kleid in Größe Wie-klein-ist-das-denn zurück, aber es lag auf Angels Figur wie Plastikfolie auf einem Teller Koteletts: fest, aber elastisch. Als sie hineingeschlüpft war und erst ihr Spiegelbild anstarrte und dann Jaime, der sie im Spiegel anstarrte, hob sie die Arme, wie um loszufliegen. Den Kopf zurückgelehnt, den Mund geöffnet, schloss sie die Augen und lachte. Frei, dachte sie, vollkommen frei.

Es war die Art von Freiheit, die man verspürte, wenn einen jemand anschaute und endlich sah, was andere nicht hatten sehen können, weil es so lange angestaut gewesen war. Angel war in Jungsklamotten in den Laden gekommen, und da war Jaime gewesen, hatte sie gesehen und Bescheid gewusst. Woher Jaime ge

Als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie, wie sein Blick sie verschlang. Sie spürte es – als hinge ein unsichtbarer Haken an ihrem Körper, mit dem sie ihn dichter an sich heranziehen würde, dichter und immer dichter.

»Dreh dich um«, sagte er zu ihr und umfasste ihre Schultern, um ihren Körper wieder zurückzudrehen. »Ich habe was mit dir vor, du Schlampe.«

Sie schaute in den Spiegel, als er ihren Oberkörper gerade genug herunterdrückte, um den Saum des Kleids über ihre Hüfte zu schieben. Er biss ihr in die rechte Arschbacke und schlug ihr auf den Hintern. Es überraschte sie, wie eine Glasscheibe, die auf einer Betonplatte aufschlug. Am Morgen darauf betrachtete sie die Bissspuren im Spiegel und fand, dass sie aussahen, als hätte sich eine klitzekleine Bärenfalle über ihr geschlossen, aber als plötzlich die Glocke der Ladentür klingelte, hörte Jaime auf, ihr auf den Hintern zu klatschen. Er sagte ihr, sie solle sich ruhig verhalten, und dann ließ er sie allein zurück.

***

Am Wochenende darauf sagte Jaime, sie solle das silberne Kleid anziehen und zum The Saint kommen, wo er als Türsteher arbeitete. Ein Nebenjob, sagte er, um sich hin und wieder was zu saufen und ein bisschen Angel Dust leisten zu können. Sie tat, was Jaime verlangte. Als sie das Haus verließ, war sie zum ersten Mal außerhalb ihres Schlafzimmers wie eine Frau gekleidet.

Sie nahm ein Glas Vaseline, rieb ihr ganzes Gesicht damit ein und tupfte den Rest auf die Hautpartien, die noch unbedeckt waren, als sie das Kleid anhatte. Dann überschüttete sie sich mit Glitter, als wollte sie heller strahlen als ein Quinceañera-Kleid. Ihr Ziel war, das Element Silber vollständig zu verkörpern, von Kopf bis Fuß, egal ob es auf ihrem Körper strahlte oder auf dem Kleid – sie war Silber.

Hinter ihr stand ein Grüppchen von fünf Muskelgöttern in Jeanskluft mit verschränkten Armen da, bis sie ihre Mitgliedsausweise vorzeigten und Jaime sie hereinwinkte.

»Was denn?«, fragte Angel. »Gefällt’s dir nicht?«

»Ach, Honey, ich habe wirklich nichts gegen Glitter«, sagte Jaime. »Aber du hast die Grenze weit überschritten.«

»Was für eine Grenze!« Sie schnippte einmal mit den Fingern und näherte sich dann seinem Gesicht, um flüstern zu können. »Du weißt, dass ich nichts auf irgendwelche Grenzen gebe.«

»Ay, mi Angel«, sagte er. »Was meinst du, was das hier ist – Babys erste Ballettaufführung? Hast du schon mal den Ausdruck ›zu viel des Guten‘ gehört?«

»Nein«, sagte sie und musste aufpassen, nicht vor ihm in Tränen auszubrechen. Sie wusste, Jaime hatte recht. Sie sah aus, als wäre eine Glitterfabrik um sie herum explodiert. »Aber wenn etwas gut ist«, wollte sie wissen, »wie kann es dann zu viel davon geben?«

»Honey«, sagte Jaime. »Hör mal, ist schon gut. Denk einfach nächstes Mal an meine Worte: Glitter soll deinen Look unterstreichen, nicht davon ablenken.« Er legte die Hand auf Angels culo und schob sie durch die Tür. »Komm nachher zu mir«, sagte er und zwinkerte ihr zu.

The Saint war der reine Wahnsinn. Oberkörperfreie Typen in Lederhosen, Indianerkopfschmuck, kristallverzierte Brustwarzentroddeln, ein wie ein ägyptischer Pharao kostümierter Mann, der sich von nicht einem, sondern gleich zwei Jungs in Kleopatra-Aufmachung einen blasen ließ. (Es waren auch Normalos in Jeans und engen T-Shirts da, aber Angel sprangen die locas ins Auge.) Ein Mann in einem neongelben Tanga kam zu Angel herüber, fasste ihr an den Arsch, lächelte sie an und gab ihr einen Plastikbecher voll sprudelndem Weißwein, auf dem eine Erdbeerscheibe schwamm.

Das Motto, erkannte Angel anhand der Poster, die an die goldenen Theatertüren geklebt waren, lautete HISTORY, Betonung auf his. Schade, dass Jaime ihr nichts von dem Motto erzählt hatte (man bedenke die Möglichkeiten!), wobei sie wohl behaupten könnte, dass Glitter zeitlos war und damit der Essenz des Mottos entsprach.

Die Zeit verging nicht in Minuten, sondern in Form von Drinks und den Männern, die sie ihr ausgaben. Dem Long Island von dem Discoboy im grünen Elasthan-Bodysuit, dem Manhattan von dem Daddy im Blazer, der Bloody Mary (ernsthaft? – es war ein Uhr morgens) von dem muskulösen italienischen Typen mit dem Kruzifix an der Goldkette, mit dem er sich, wie er ihr mitteilte, das Koks direkt aus dem Beutel reinpfiff.

Als sie so betrunken war, dass sich alles zu drehen begann, legte sie den Kopf zurück. Die Kuppeldecke war wie ein verdammtes Planetarium gestaltet. Es gab eine Art Lüster mit bunten Lampen, der in einem wilden Durcheinander Sterne an die Kuppel warf. Angel fühlte den Alkohol in ihrem Gehirn kribbeln und mit jedem Herzschlag in ihren Fußspitzen sirren. Sie war sich sicher, dass ihr Kinn taub war.

Sie drehte sich um und hielt nach Jaime Ausschau, aber abgesehen von ihren Outfits sahen die Männer alle so gut wie gleich aus. Sie sah sich weiter um, durchsuchte das Meer aus muskulösen, schweißglitzernden Körpern, und da war er, wirbelte in seinem weißen Unterhemd und den schwarzen Jeans herum. Aber wer zur Hölle war da bei ihm? Jaime tanzte mit einem Boy in einer weißen Toga. Das Gewand wurde an der Schulter von einer Goldbrosche in Form eines Olivenzweigs zusammengehalten. Angel zog den Selleriestrunk heraus, der als Garnitur in dem Plastikbecher gesteckt hatte, und biss herzhaft zu. Sie steckte sich eine Zigarette an und warf die Bloody Mary auf den Dancefloor. Die Flüssigkeit spritzte auf ihre Knöchel.

Mit einer Hand rauchend und mit la otra den Sellerie mamp

»Wer zum Teufel bist du?«, kreischte die Togaschlampe über die Musik hinweg.

»Was?«, schrie Angel zurück. »Wer zum Teufel bist du? Du tanzt mit meinem Mann, Girlfriend.«

»Und was willst du dagegen machen?«

Angel überlegte, als Erstes einmal den Olivenzweig abzureißen, sodass die Toga auf den Boden fallen und er nackt dastehen würde. Was fiel ihm ein, ihr mit so einem Ton zu kommen, wo sie doch bloß eine Frage gestellt hatte?

Die Toga legte Angel eine Hand auf die Schulter, um sie beiseitezuschieben, aber sie waren beide zu betrunken für eine körperliche Auseinandersetzung.

»Nimm die Finger weg«, sagte Angel. »Sonst verbrenne ich dich.«

»Ach, du willst mich verbrennen?«, sagte die Toga ungläubig.

Natürlich hatte Angel es nicht in einem übertragenen Sinn gemeint. Sie wollte ihn nicht mit Worten verbrennen oder ihm einen so üblen Shade verpassen, dass ihm die Tränen aus den Augen schmolzen. O nein. Angel würde ein buchstäbliches Brandmal hinterlassen. Ja, sie war betrunken, aber sie war auch gerade dabei, Bösartigkeit zu lernen.

»Ich sage es nicht noch mal«, schleuderte Angel so laut hervor, dass die Musik ihre Worte nicht übertönen konnte. Sie sah Jaime an, der bloß dastand und den beiden zusah. Und damit nahm Angel das glühende Ende ihrer Zigarette und drückte es der Toga in den Arm, an der Innenseite des Ellbogens, wo sich ein Junkie den Schuss setzen würde. Es war die empfindlichste Stelle des Arms.

»Du verdammtes Miststück«, sagte die Toga voller unterdrückter Wut. »Scheiße, du hast mich verbrannt.«

»Das scheint dich zu überraschen«, sagte Angel.

»Wow«, sagte Jaime. »Hätte nicht gedacht, dass du so drauf bist.«

»Von wegen«, sagte sie. »Und zieh bloß nicht noch mal so eine Scheiße mit mir ab. Ich will nicht sehen, wie du hier mit anderen rummachst.«

Er zog sie an sich heran und rieb seinen harten Schwanz an ihrem Bein. »Dein Temperament macht mich an.«

Ach, Jaime.

Jaime, dessen Augen die Pyramiden zum Schmelzen gebracht hätten. Jamie, dessen schlanker, muskulöser Körper so perfekt in eine Lederjacke passte, als wäre er der puerto-ricanische James Dean. Jaime, das Model auf dem Plakat von The Saint – sein Kopf zurückgeworfen wie beim Orgasmus, während gemalte Regenbogenstrahlen an ihm heraufschossen. Sie legte ihm die andere Hand um den Rücken und auf das Schulterblatt und zog ihn zu sich heran, und auch wenn sie wusste, dass er ein malcriado war, ein sinvergüenza, ein puto, der nichts Gutes im Schilde führte, war es ihr egal, denn während das Koks und die Drinks und die Lichter in ihr strudelten, presste sie ihren Körper an seinen und versuchte, wortlos alles zum Ausdruck zu bringen, was sie begehrte.

***

Wenn Sex eine Sprache war, dann kannte Jaime all ihre Buchstaben, all ihre Wörter. Die nächsten drei Monate verbrachte sie abwechselnd in Jaimes Bett und der Klauenfußwanne mitten in seiner Küche. Er machte ihr huevos estrellados, während sie im Schaumbad eine Zigarette nach der anderen rauchte und sagte: »Ich würde Sie ja küssen, aber ich habe mir gerade die Haare gewaschen.«

Sie saugte seine Sexualität in sich auf. Es bedurfte nur einer Hand auf der Innenseite ihres Oberschenkels oder eines Schlafzimmerblicks über die Bar hinweg im richtigen Moment, und sie gehörte ihm. Und es war gut so. Er zeigte ihr, wie man ein Poppersfläsch

Eines Tages Ende Mai zwitscherten die Vögel, die in Jaimes Klimaanlage lebten. Es klang, als wären sie gefangen und schrien nach Hilfe. Angel beschlich das Gefühl, dass Jaime kein sehr guter Fang war. Er war eingebildet, rücksichtslos und unordentlich. Aber so einfach war es natürlich nicht, denn sie merkte, dass Jaime sich in sie verliebte – der Sex hatte sich von So-heftig-dass-sie-einen-Tag-lang-nicht-sitzen-konnte zu Blümchensex abgemildert. Es war nicht so, dass sie das gestört hätte, aber sie begegnete jeder Spur von Sanftheit mit Argwohn. Denn was außer Sex, dachte sie, sollte er schon von ihr wollen? Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand mehr von ihr wollen könnte.

Sie lag neben ihm und fragte sich, wann er aufwachen würde, damit sie endlich ficken könnten und sie nach Hause gehen könnte. Sie fragte sich, wie viele Nebenjungs er hatte. Falls er welche hatte.

Es war drei Jahre her, dass Angel sich zum ersten Mal verliebt hatte. Sein Name war Kevin gewesen, und er hatte im selben Haus wie Angel gewohnt, bis er ein Fußballstipendium an der University of California erhalten hatte – als einer der wenigen Jungen im Haus, der das Glück hatte, eine Uni in einem anderen Bundesstaat besuchen beziehungsweise überhaupt zur Uni gehen zu können. Angel war damals dreizehn gewesen. Kevin war knapp achtzehn, seine Beinmuskeln waren härter als unreife Avocados, und er war so hetero, dass es wehtat. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, Angel jedes zweite Wochenende, wenn seine Eltern nicht in der Stadt waren, in seine Wohnung einzuladen. Er schüttete den Rum aus der Zwei-Liter-Plastikflasche und mixte ihn mit allem, was in Reichweite war – jugo de naranja, Sprite, dieser Kokoslimo, die so süß war, dass sie Angel am Gaumen brannte.

Er fickte sie langsam, weil er nicht zu schnell kommen wollte. Er behandelte sie sanft, aber er ließ die Augen geschlossen. Als er

»Pst«, machte er.

Als er kam, sagte er zu Angel, sie solle ihm so fest in die Brustwarze beißen, dass er es spürte, aber nicht so fest, dass es blutete. Er drückte ihren Hinterkopf gegen seine Brust und sagte: »Ich liebe dich, Ana. Du darfst mich nie verlassen.«

Und wer zur Hölle war Ana? Angel hatte keine Ahnung, aber sie spielte mit, weil das einfacher war, als das Thema anzusprechen. Angels größte Angst war, Ana könnte irgendein Mädchen von der Highschool sein, das ihn verlassen hatte. Diese loca – wer könnte jemals einen Jungen wie ihn verlassen? Also dachte Angel, sie könnte Ana sein, wenn Kevin es so wollte. Wenn Kevin Angel mit dem Gesicht nach unten ficken wollte, sodass ihr Ding nicht zu sehen war, wenn Kevin beim Orgasmus die Augen schließen und von einem blonden Mädchen mit langem, wallendem Haar träumen wollte und Fingernägeln, die ihm den Rücken zerkratzen konnten, dann wollte Kevin es eben so.

Als Kevin fortging, versprach er, ihr zu schreiben, versprach er, sie anzurufen, aber dann nada. Es blieb stiller als eine Fliege im Scheißweltraum. Sie schwor, sich nie wieder zu öffnen. Sie rauchte eine Zigarette, starrte im Spiegel auf ihren Körper und fragte sich, warum sie Kevin nicht genügte. Sie legte den Kopf schief wie Bette und sagte zu ihrem Spiegelbild: »Bisher bin ich noch nicht für ein paar Cocktails zu haben. Vielleicht ’ne Saison später.«

Jaime schlief noch, und sein Arm lag auf ihr und hielt sie an seinen Körper gedrückt. Sie wand sich darunter hervor und ging in die Küche. Sie nahm zwei Eier aus dem Kühlschrank und setzte einen Topf Wasser auf. Sie hatte vor zu warten, bis sie ganz hart gekocht waren. Sie würde frühstücken, und dann würde sie zur Tür hinausgehen und nie mehr wiederkommen.

Er schnarchte so laut, dass es bis zu ihr drang, so als würde ihn jemand im Schlaf erdrosseln und er müsste nach Luft ringen. Wenn sie mit ihm im Bett lag, störte es sie nie (wenn sie schlief, dann schlief sie), aber es so zu hören, das war etwas anderes.

Sie schlüpfte in ihre High Heels und ging aus der Tür, um zum ersten Mal der Sonne in Frauenkleidern zu begegnen. Jetzt war sie eine Frau, dachte sie, während sie aus der Tür trat und auf der Suche nach dem nächsten Bus in Richtung Uptown die Avenue A hinaufging. Jetzt war sie eine Frau, denn jetzt hatte sie den Mut gefunden, zum ersten Mal in ihrem Leben durch diese Tür zu gehen.

***

Vor ihrem Haus angekommen, rief sie von einem Münztelefon aus in der Wohnung an, und Miguel hob ab. Sie sagte, er solle hinaus auf den Flur kommen, direkt zum Aufzug, und als sie sich schließlich gegenüberstanden, sah er sie mit einem Blick an, der Ach du Scheiße sagte.

Angel trug immer noch das silberne Kleid von letzter Nacht. Ihre Haare waren zerwühlt vom Sex, und wahrscheinlich roch sie noch nach Jaime – nach der Mischung aus Whiskey, Camels und Lavendelweihrauch, die seine Wohnung vernebelte.

»Scheiße«, sagte Miguel, »bist du so hergelaufen?«

»Was glaubst du denn?«, sagte Angel. »Na klar.«

»Du hast Schwein gehabt, dass du nicht auf die Schnauze bekommen hast.«

»Was meinst du, was Mami sagen wird?«

»Scheiße, pues no sé«, sagte Miguel. »Verdammt, Angel. Die bringen dich noch mal um. Was denkst du dir eigentlich dabei?«

»Noch bin ich am Leben«, sagte Angel, »also weiß ich nicht so recht, was ich dir dazu sagen soll.«

»Noch? Was glaubst du – sie hat getrunken, wie immer«, sagte Miguel und hob die Hand, als würde er eine Flasche leeren, den Kopf in den Nacken gelegt.

Als sie die Wohnung betraten, gab Angel sich Mühe, den Kopf erhoben zu halten, als wäre sie eine Miss-Universe-Kandidatin, zu

»Ma«, sagte Miguel, »flipp jetzt nicht aus, okay?«

Und dann standen sie einfach da, wo der kleine Flur auf die noch kleinere Küche traf, in der ihre Mutter die tostones und das kleine Tellerchen mit Olivenöl und zerdrückten Knoblauchzehen anrichtete. Angel beobachtete sie dabei, wie sie das silberne Kleid, die High Heels, das verworrene Haarnest auf ihrem Kopf ansah. Mami verzog das Gesicht. »Ay, m’ijo«, sagte sie. »Da warst du also? Zieh dir sofort deine richtigen Sachen an. Ich kaufe dir für teures Geld Jeans und Hemden, und du läufst rum wie eine puta?«

Mami stellte das Glas so sanft auf der Arbeitsplatte ab, dass Angel sah, wie die Eiswürfel darin hin und her schaukelten, aber nicht hören konnte, wie sie gegeneinanderschlugen.

Angel bereute jede einzelne Entscheidung, die sie innerhalb der letzten Stunde getroffen hatte. Sie wünschte, sie hätte die Zeit zurückdrehen, wieder ins Bett kriechen und bei Jaime bleiben können. Sie hatte keine Ahnung, was ihr durch den Kopf gegangen war, wie sie auf den blödsinnigen Gedanken gekommen war, so nach draußen gehen zu können, angezogen wie eine Hure. Und natürlich war Mami betrunken. Angel hätte sich dafür ohrfeigen können, so selbstsüchtig gedacht zu haben – geglaubt zu haben, nur weil sie beschlossen hatte, als Frau durch die Straßen zu gehen, wäre Mami bereit, ihre Entscheidung auf der Stelle zu akzeptieren.

»Du siehst aus wie eine billige Straßennutte«, sagte Mami. In einem so ruhigen Tonfall, als würde sie aus der Fernsehzeitung vorlesen.

Angel ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Er zog T-Shirt und Jogginghose an und betrachtete den Jungen im Spiegel. Das Wort Nutte durchfuhr ihn. Vielleicht hatte Mami recht. Vielleicht sah er wirklich wie eine Nutte aus.

Sein Blick fiel auf das silberne Kleid, das wie eine Pfütze aus Stoff auf dem Boden lag, und er begann zu weinen. Er sah sich wieder im Spiegel an – sein Gesicht, das zu hässlich war, um ohne Glitter und Make-up jemals schön aussehen zu können, die Beine, die zu dünn

»Komm, wisch die Tränen weg.« Angel hatte nicht gehört, wie die Tür aufgegangen und Miguel hereingekommen war. Er wusste nicht, wie lange er allein gewesen war. »Nimm’s mir nicht übel«, sagte Miguel, »aber du wirst nie hübsch aussehen, wenn du andauernd heulst.«

Angel hob den Kopf und schaute in das alberne Grinsen auf seinem Gesicht. Sie schlug ihm leicht mit der flachen Hand auf den Arm. »Verarschst du mich?«, sagte sie. »Hör auf, mich so zu verarschen.«

»Komm schon, Angel«, sagte er. »Sie trinkt. Sie hatte einen schlechten Tag.«

»Das heißt, dass es heute Abend nur noch schlimmer wird.«

»Kann schon sein, aber das heißt nicht, dass du deswegen rumheulen musst. Ich bin ja auch noch da.«

Angel hatte ihren jüngeren Bruder nie mehr geliebt als in diesem Moment. Jahre später, nach allem, was passiert war, würde sie sich daran erinnern und staunen, wie wissend ihr Bruder gewesen war. Wie verständnisvoll. Wie wohl er sich in seinem Körper gefühlt haben musste, um seinen älteren Bruder anzusehen, der ein silbernes Kleid trug wie eine Nutte, und zu verstehen.

»Sei ehrlich«, sagte Angel. »Bist du stoned?«

»Nee«, sagte Miguel. »Ich hab nichts mehr. Wieso? Brauchst du was?«

»Nein, ich brauche nichts«, sagte sie. »Ich will, dass du mit dem Scheiß aufhörst.«

Miguel lachte. »Hör zu, ich bin immer für dich da. Wenn du dich wie ein Mädchen anziehen willst oder was auch immer, habe ich kein Problem damit. Aber ich liebe mein Gras, und du musst mich lieben lassen, was ich liebe, okay?«

***

»Mira«, schrie Mami, »du stehst zu nah dran.« Sie fasste ihn am Arm, um ihn vom Herd wegzuziehen.

Mami leerte jetzt ein Glas Wasser, um auszunüchtern, weil Miguel den Rest der Rumflasche ins Waschbecken geschüttet hatte, als Mami auf der Toilette gewesen war. Angel schaute in das Glas und sah, dass die Eiswürfel zu kleinen Splittern zerschmolzen. Mamis Atem stank wie ein Päckchen Zigaretten, das in einer Flasche Rum schwamm.

»Nichts passiert, Mami«, sagte Angel.

»Ja«, meldete sich Miguel vom Küchentisch zu Wort, als wäre er die Verstärkungseinheit. Er machte seine Algebra-Aufgaben. »Halb so wild. Ich verbrenne mich andauernd, wenn ich tostones mache.«

»Oye, Ruhe auf den billigen Plätzen«, schrie Mami.

Angel bewunderte Miguel dafür, dass er so gut in Algebra war. Es lag etwas Schönes darin. Als Miguel eines Abends über einer Gleichung saß, hatte er Angel von etwas erzählt, was er Ausgeglichenheit nannte. Er sagte, um eine Aufgabe zu lösen, müsse man darauf achten, dass der Kram auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens ausgeglichen war.

Er drückte die Banane ein wenig zurecht und hob sie aus dem siedenden Öl heraus.

»Ási verkaufst du da unten bei den maricones deinen culo«, sagte Mami, »als wäre er eine Muschi, willst du mir das etwa sagen?«

»Ma!«, sagte Miguel. »Hör jetzt auf damit!«

»¿Y qué?«, sagte Mami, schwenkte ihr Glas und nippte noch ein

Angel legte noch ein tostón in die Pfanne, und es zischte, als es das Öl berührte. »Ich habe gar nichts verkauft, Ma«, sagte Angel.

»Pues, ich habe dich nicht zu einem beschissenen Trottel erzogen, tampoco«, sagte Mami. »Wenn du das schon machen musst, dann mach es wenigstens richtig und lass dich dafür bezahlen, Scheiße noch mal.«

»Ma, ich habe gesagt, es reicht«, sagte Miguel.

»Cállate, Miguel«, sagte Mami. »Um dich geht’s jetzt nicht. Du bist wenigstens hübsch genug, um ein nettes Mädchen abzukriegen. Pero dieser hier?«

Angel drehte sich um und sagte in einem Tonfall, der so weich war wie der Baumwollbezug ihres Kissens: »Mami, por favor. Das ist nicht sehr nett von dir.«

»Und das ist dein Fehler, Angel«, sagte Mami. »Ich habe dich nicht dazu erzogen, nett zu sein. Die Welt ist kein netter Ort. Meinst du, es ging nett zu, als sie deinen Vater von diesem Haus gestoßen haben?«

Mami hatte in dem Sommer heftiger zu trinken begonnen, in dem Papi vom Dach ihres Hauses gestürzt war. Als die Cops gekommen waren, hatte Mami geschrien: »Ich will es nicht wissen, ich will es nicht wissen«, woraus in den Monaten und Jahren darauf »Ihr werdet es nie verstehen; er war so ein guter Mann« geworden war.

Angel war sich sicher, dass ihre Mutter an allem schuld war. Dass sie ihn mit ihrer Trübsal auf dieses Dach getrieben hatte. Miguel hatte gesagt, Papi sei wohl zu traurig gewesen, um sich noch irgendeine Art von Leben vorstellen zu können. Doch Mami beharrte darauf, er sei gestoßen worden, und es gab Tage, da dachte Angel, vielleicht, nur vielleicht könnte sie recht haben.

»Er wurde von niemandem gestoßen«, sagte Angel. »Er ist verdammt noch mal gesprungen, um deinen erbärmlichen Arsch loszuwerden.«

Miguel schaute vom Tisch herüber. Angel warf ihm einen Blick zu, der sagte: Ich habe das im Griff. »Weißt du, Mami«, sagte Angel. »Du hast völlig recht. Papi war ein guter Mann.«

Mami hob den Kopf ein Stück und schloss die Augen. Ihr Kopf bewegte sich wie der der Wackelkopffigur, die Angel und Miguel an Angels neuntem Geburtstag im Yankee-Stadion bekommen hatten – das war Papis Idee gewesen. Das beste Geburtstagsgeschenk, das Angel je bekommen hatte. Angel weigerte sich zu glauben, was Miguel glaubte: dass ihr Vater zu depressiv gewesen war, um weiterzuleben, denn das hieße, dass Angel selbst Teil des Problems – oder zumindest nicht Teil der Lösung – gewesen wäre.

»Er war ein guter Mann«, sagte Angel. Sie ließ nicht locker, suchte nach den passenden Worten, um es Mami so richtig zu geben. »Und es ist unfassbar, dass er eine Frau wie dich geheiratet hat.«

Mami schleuderte das Glas auf den Boden und streckte die Hände nach ihr aus. Bevor Angel wusste, wie ihr geschah, lagen Mamis Finger um ihren Hals und drückten zu. Angel hatte nur ein paar Sekunden, um ihre Möglichkeiten abzuwägen – die Pfanne mit dem Öl nehmen und sie Mami über den Kopf ziehen? Nein, sie könnte niemals ihre eigene Mutter verbrennen. Mit dem Knie zustoßen? Auch nicht.

Miguel warf sich dazwischen und trug Mami auf den Flur hinaus. Sie gab Schreie von sich, die keine Worte waren, so als würde der Schmerz keine Begriffe kennen, die für das menschliche Ohr verständlich gewesen wären. Er schob sie in ihr Schlafzimmer, schlug die Tür zu und schloss von außen ab.

»Geh schlafen«, schrie Miguel der Tür entgegen, während Mami auf der anderen Seite dagegenhämmerte. »Du bist betrunken, Ma.«

Angel stellte den Herd ab und schüttete das heiße Öl in den Ausguss. Als Miguel wieder in die Küche kam, gab sie ihm zwei tostones, die auf einem Bett aus Papiertüchern lagen.

Angel sagte nichts.

Miguel umfasste ihren Arm und zog sie ins Wohnzimmer. »Okay, hör zu«, sagte er. »Schlag mich.« Er schob die Brust heraus und wippte auf beiden Beinen vor und zurück.

»Was?«, sagte Angel. »Hast du sie noch alle?«

»Schlag einfach zu.«

»¿Por que?«

»Mira, Angel«, sagte Miguel. »Du musst lernen, dich zu schützen. Wenn du eine chica sein willst, von mir aus. Ich liebe dich trotzdem. Aber ich werde nicht immer da sein, um dich rauszuhauen. Du musst lernen, wie man zuschlägt. Also schlag mich.«

Sie schlug ihn, und ihre Knöchel prallten gegen seine Brustmuskeln, die härter waren als erwartet. Wie kann es sein, dachte sie, dass zwei Brüder so unterschiedlich sind? In dieser Nacht zeigte er ihr, wie man jemandem mit einer Dose Kochspray direkt in die Augen sprühen konnte. Er sagte ihr, sie solle mit dem Knie auf die Eier zielen und so fest wie möglich zustoßen. Denn wenn man auf die Weichteile ging, sagte er, dann ließen einen die Typen in Ruhe. Sie versetzte ihm einen zweiten Schlag und dann einen dritten. »Meinst du, Papi würde mich lieben?«, fragte sie.

»Scheiße, Angel«, sagte er. »Das ist verdammt schwer zu beantworten.«

»Ja«, sagte sie. »Ich habe mich das bloß gefragt.«

Sie sah Miguel beim Nachdenken zu, eine Sekunde, zwei, drei. »Klar«, sagte Miguel, aber Angel hörte es an seiner Stimme – er war sich überhaupt nicht sicher. Miguel hatte zu lange überlegt. Aber sie lächelte trotzdem, weil sie wusste, dass Miguel sie nur anlog, damit sie sich nicht mehr den Kopf über etwas zerbrach, was sie beide nicht wissen konnten und niemals erfahren würden. Sie ballte die Hand zur Faust und schlug noch einmal zu, aber diesmal landete der Schlag wie ein zarter Klaps über dem Herzen ihres Bruders.