Die Tatsache, daß ich unentbehrlich bin,
wird bewiesen durch die Tatsache,
daß ich bin.
Tagore
VORWORT
Vorsicht: Ich habe dieses Buch vor dreißig Jahren geschrieben. Heute sieht vieles in Indien anders aus. Heute könnte ich niemandem, außer meinen Feinden, guten Gewissens eine monatelange Fahrradreise auf der Bundesstraße von Goa nach Karnataka empfehlen, denn es gibt in Indien inzwischen zehnmal mehr Autos als damals, aber nicht zehnmal mehr Straßen. Die Hotels, die ich nenne, existieren entweder nicht mehr oder in einem noch fortgeschritteneren Stadium des Verfalls als seinerzeit. Die Preise sind gestiegen, die Städte gewachsen, und im Flugzeug rauchen darf heute auch niemand mehr. Indien hat sich verändert, und ich habe mich verändert.
Und damit bin ich beim zweiten Thema dieses Vorworts. Vorsicht: Ich schreibe heute anders als vor drei Jahrzehnten. Das ist unvermeidlich; jeder wird besser mit den Jahren. Trotzdem hörte ich immer wieder Leser nach dem »Palast der gläsernen Schwäne« fragen. Wo gibt es das Buch, wo kann man es kaufen? Ich konnte dann immer nur dasselbe antworten: »Ich weiß es nicht. Es ist Mitte der Achtzigerjahre erschienen, wurde Anfang der Neunziger verramscht und ist seitdem vom Markt verschwunden. Ich habe selbst keins mehr.«
Damit ist es jetzt vorbei. »Im Palast der gläsernen Schwäne« ist wieder zu haben, und ich freue mich darüber wie über die Rückkehr eines verlorenen Kindes.
Helge Timmerberg
St. Gallen, 28. Februar 2014
Irgendwo zwischen Mangalore und Calicut
12 Grad Nord – 75 Grad Ost
Mittags zwischen 13.30 Uhr und 14.30 Uhr (indische Ortszeit)
An diesem Tag hatten wir Glück. Wir rollten gerade von einem Berg in eine scharfgezogene Kurve hinein, da sahen wir etwas abseits von der Straße einen kleinen Tempel. Wir stiegen auf die Bremsen, versteckten die Fahrräder im Gebüsch und öffneten die Pforte.
Der Hof des Tempels war knapp zehn Meter breit und vielleicht fünfzehn Meter lang. Eine mannshohe Lehmmauer grenzte die Anlage ab, und der Schatten dieser Mauer war gerade groß genug für unsere Bastmatten.
Der Tempel selbst schien nicht mehr benutzt zu sein. Es war ein leeres Gebäude, von der Größe eines Kuhstalls, und auf dem Dach wuchs Gras. Es sah eigentlich mehr aus wie ein frühgeschichtliches Hügelgrab.
Mirta legte sich schlafen, ich wollte meditieren. Mein Kopf war voller Gedanken, voller Fragen. Ich schleppte diese Fragen bereits seit einigen Tagen mit mir herum wie einen Sack mit lange nicht mehr gewaschener Unterwäsche. Praktische Fragen, nutzlose Fragen. Fragen zu der Beziehung zwischen Mirta und mir. Fragen zum Sinn der Reise. Fragen zum Stand der Dinge. In der Regel nehme ich solche Fragen ernst und bemühe mich, sie zu beantworten. Dann bin ich wie der Jäger, der der Fährte eines Tieres folgt. Aber in diesen Mittagsstunden, im Schatten dieser Mauer, war es plötzlich ganz anders. Die Antworten kamen fast schneller als die Fragen. Ich brauchte das Problem nur kurz in Gedanken zu formulieren, da war es auch schon geklärt. Fünf- oder sechsmal ging das so, Frage – Antwort, Frage – Antwort, dann kam mir der Verdacht, daß nicht ich es war, der die Knoten entwirrte, sondern jemand anders. Jemand, der mehr wußte als ich.
In der Regel bin ich Journalist. Ein ausgeklinkter, das gebe ich zu, doch einer, der skeptisch und zynisch genug gewesen ist, um lange Jahre für den Stern arbeiten zu können. Außerdem habe ich in meiner Jugend zu viel LSD geschluckt und später zu viel Joga getrieben, um jetzt noch irgendeinen mystischen Wahn ernst nehmen zu können, und es gibt Leute, die meinen, ich hätte mir dabei zuviel abgeschminkt. Aber dieses Gespräch hier erschien mir zu wertvoll, und ich wollte es nicht durch zwanghafte Distanz abbrechen, egal, wer oder was es war, mit dem ich mich unterhielt. Ich machte weiter, und mein unsichtbarer Gesprächspartner wurde immer präsenter, die Antworten kamen noch selbstverständlicher.
Ich fragte: »Ist das hier der Palast, den ich suche. Der Palast der gläsernen Schwäne?«
»Nein, das ist ein verlassener Tempel. Nur selten kommt jemand, der mit mir spricht.«
»Das tut mir leid. Brauchst du das? Brauchst du Menschen, die dir zuhören?«
»Ja, ich erzähle gerne.«
»Dann erzähl mir was.«
»Schließe die Augen.«
Ich schloß die Augen, und er legte los. Seine Sprache war das Licht, und seine Bilder waren Sternennebel, die mit irrsinniger Geschwindigkeit durch den Raum rasten. Ich konnte es nicht lange aushalten und öffnete schnell wieder meine Augen. Dann kam die letzte Frage, und ich hatte Hemmungen oder sogar etwas Angst, sie zu stellen.
»Wer bist du?«
»Ich bin ein Lichtwesen. Es gibt viele von uns hier. Man nennt uns Aditjas, die ›Erstseienden‹.«
Das reichte. Ich schlug Mirta vor weiterzufahren, und sie war einverstanden. Als wir mit den Rädern wieder auf der Straße standen, bemerkte ich, daß ich vergessen hatte, die Pforte zum Tempelhof zu schließen.
Ich ging zurück, schloß sie und verabschiedete mich mit Ehrfurcht und Dankbarkeit für das Geburtstagsgeschenk, denn auch das hatte ich vergessen. Es war der 13. Februar 1984, und ich wurde zweiunddreißig.
INTERCITY MÜNCHEN
Wir saßen im »rosaroten« Intercity nach München. Mirta las das »Hamburger Abendblatt«. Im Hotel Plaza hatte es gebrannt. Wir sahen Fotos von Herren, die im Pyjama vor dem Feuer flüchteten. Ich hörte gerade Vivaldi. Vor dem Fenster zog der Herbst vorbei. Grau war der, ganz grau. Aber ich genoß diese Stimmung, wie ich auch begann, die klassische Musik zu genießen.
In diesem Augenblick kam jemand ins Abteil. Eine jugoslawische Angestellte der DSG mit Kaffee und Brötchen. »Zwei Kaffee«, sagte ich und stand auf, um an das Kleingeld zu kommen. Das war sehr ungeschickt. Der Sony F2 fiel mir vom Schoß und knallte auf den Boden. Von da an schnarrte er in den hohen Frequenzbereichen, vor allem bei den Gitarrensoli von Carlos Santana, und auch Terje Rypdal wurde ungenießbar. Kaputt. Ich wurde ziemlich wütend. Mirta fand das nicht weiter schlimm, sie habe sowieso ein komisches Gefühl bei dem Gedanken gehabt, in Indien mit Kopfhörern herumzulaufen.
Irgendwie gerieten wir von diesem Thema zu der Frage, warum die Kulturen so unterschiedlich sind. Warum wir in Europa so reich und die in der Dritten Welt so bettelarm sind.
»Wir fahren hier in einem Zug«, sagte Mirta, »von dem können die Leute in Südamerika nur träumen. Wir haben ein tolles Abteil ganz für uns. Gepolsterte Sitze, Kopfstützen, Panoramascheiben, Heizung. Das ist doch ungerecht.«
»Ich weiß nicht, ob es ungerecht ist. Laß die Moral mal aus dem Spiel. Ich glaube eher, daß es Entwicklungen sind. Luxus ist in diesem Fall eine Folge der Technik, und Technik hat mit Intelligenz zu tun.«
Ich zündete mir eine Zigarette an.
»Irgendwo habe ich mal gelesen, daß die Intelligenz gewandert ist. Von Osten nach Westen. Ich finde, da ist was dran. Denk mal an das alte China. Die hatten schon das Schwarzpulver erfunden, in einer Zeit, als man in Europa noch am Feuerstein rubbelte.«
»Stimmt. Aber sie haben damit niemanden erschossen, sondern Feuerwerke gezaubert.«
»Vielleicht. Wichtig ist, daß die Hochkultur der Chinesen eine Kultur der Intelligenz gewesen ist, und das ist ewig her. Dann begann die Intelligenz zu wandern. Immer weiter nach Westen. Rußland! Denk an Dostojewski. Der Typ hat lange vor Freud die Essenz der Psychologie beschrieben. Die anderen Europäer, vornehmlich die Franzosen, warfen den Russen gerne vor, sie seien dekadent. Ich glaube, daß intelligente Menschen gezwungen sind, dekadent zu werden. Es ist so eine Art Übergang. Du kannst, wenn du ins Denken kommst, in das radikale Denken, meine ich, keine Denkverbote mehr akzeptieren. Moral, Sitte, ethische Werte, das sind Denkverbote. Du überschreitest die Grenzen, und plötzlich weißt du nicht mehr, wo du bist. Die Werte haben sich aufgelöst, die Dinge kehren sich um. Schuld und Sühne, was ist das? Gut ist lächerlich, böse wird interessant. Oder besser, böse sein heißt ehrlich sein … So ist das mit der Intelligenz. Sie macht dich frei, sie macht dich schutzlos, sie macht dich zum Säufer, und dann wandert sie weiter. In China verfielen sie dem Opium, in Rußland dem Alkohol, in Deutschland der Macht. Eine Zeitlang war Deutschland die Heimat der Intelligenz. Dichter und Denker, Aufklärer, Lessing, Schiller, Nietzsche, was weiß ich …
Wohin wanderte dann die Intelligenz? Nach Amerika. Die Amerikaner sind ausgewanderte Europäer, die einen großen Vorteil nutzten. Sie kümmerten sich nicht mehr um Landesgrenzen, Sprachen und nationale Dünkel. Italiener, Deutsche, Engländer, Spanier, Franzosen, Schweden taten sich zusammen, warfen ihre Fähigkeiten, ihr Wissen und ihre Kraft in einen Topf, und heraus kamen die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Supermacht. Die Amis hinderten die Intelligenz nicht, sich zu entfalten. Sie erfanden den Profi. Egal, woher er kam, egal, was er dachte, egal, wie er sich kleidete. Hauptsache, er versteht sein Geschäft …«
»Also, das geht zu weit. Was ist mit den Schwarzen, und was ist mit den Indianern? Gehört das etwa auch mit zu der Aufhebung von Denkverboten, daß man die Minderheiten abschlachten darf?«
»Natürlich nicht. Das gehört zu der Überheblichkeit von weißen Arschlöchern. Darum blieb die Intelligenz auch nicht lange bei den Nordamerikanern. Sie wanderte weiter. Immer westwärts. Kalifornien, meine Liebe, das Land, in dem die Computer geboren wurden, die Weltraumtechnik, das LSD.«
»Das LSD ist in der Schweiz gefunden worden, und der Vater der Raumfahrt war ein Deutscher, und der Erfinder der Atombombe hieß Einstein.«
»Die Ideen kamen weiterhin aus Europa, aber sie zu verwirklichen war Sache des Westens. In Kalifornien haben sie Denkfabriken, wußtest du das? Firmen, in denen Leute sitzen, die nur denken. Problemlösungen. Wo gibt es das in Deutschland? Ja, und jetzt stehen die fortschrittlichsten Kalifornier am Strand und schauen über den Ozean wieder nach Westen. Westen ist, von Kalifornien aus gesehen, Japan. In Japan geht heute die Post ab. Unser Walkman ist ein phantastisches Beispiel dafür. Ich habe gehört, daß Collani nach Japan gegangen ist.«
»Wer ist Collani?«
»Ein deutscher Designer. Der hatte ’ne Wasserburg in Westfalen und schuf die ausgeklinktesten Badewannen und Toilettendeckel. Er hat auch Autokarosserien entworfen, aber niemand wollte sie in Deutschland bauen. In Japan, hat er gesagt, in Japan hätten sie Interesse an ihm. Die kleinen Japaner sind einfach cleverer. Eine Menge Kalifornier blicken heute rüber nach Japan, und damit ist der Kreis geschlossen. Die Intelligenz hat einmal die Erde umrundet und ist wieder im Osten angekommen.«
Ich liebe diese Art von Geschwätz.
Natürlich wanderte die Intelligenz nicht ganz so forsch von Osten nach Westen, ruck, zuck, wie ein Heer preußischer Gerichtsvollzieher. Sie machte Schlenker, die Intelligenz, mediterrane Umwege sozusagen, bevor sie nach Rußland einzog. Man darf da auf keinen Fall die persische Hochkultur vergessen, der wir eine unnachahmliche Architektur und eine ausgefeilte Mathematik verdanken, und auch nicht die griechischen Philosophen um Plato und Sokrates. Und was, beispielsweise, ist mit den Ägyptern?
Als ich in Kairo war, und das ist gerade mal ein Jahr her, fuhr ich nachts mit einem arabischen Freund zu den Pyramiden raus. Sein Wagen war eine Rostlaube und klapperte beängstigend. Irgendwo auf dem Weg zu den Pyramiden ging die Straße steil bergab. Sechs oder gar neun Prozent Gefälle. »Jetzt paß mal auf«, sagte Ramadan zu mir, »jetzt zeige ich dir was, das Wunder von Kairo.« Er bremste den Schlitten ab, brachte ihn zum Stillstand, stellte den Motor aus und nahm den Fuß von der Bremse. Ob man es glauben will oder nicht: Der Wagen rollte ohne Motorkraft rückwärts wieder den Berg hinauf. Ein kurzes Stück nur, aber immerhin. Ramadan meinte damals, das habe was mit magnetischen Strömungen zu tun, und das wiederum hänge mit den Pyramiden zusammen. Wohin also mit Ägyptern in meiner Theorie? Und was ist mit Atlantis, und was ist mit dem Reich, das ein Zeitalter vor Atlantis untergegangen ist? Mein Astrologe hat mir davon berichtet. Die letzten Nachkommen dieser voratlantischen Zeit sollen noch heute in Südindien leben. Südindien sei die Heimat der Magier. »Wenn du Don Juan treffen willst«, hatte mein Astrologe gesagt, »dann fahr da hin.«
Wir erreichten München gegen Mitternacht.
Mit der S-Bahn fuhren wir weiter zu Dr. O., einem befreundeten Journalisten, mit dem ich drei lange Monate eines der schlechtesten Magazine im deutschsprachigen Raum gemacht habe. Unser Verleger war ein gewisser Möllemann, FDP-Mitglied und ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt. Er schuldet mir heute noch 5000 DM.
O. pennte bereits, als wir vor seiner Wohnung standen. Aber der Schlüssel lag unter der Matte. Er hatte uns im Wohnzimmer ein Bett gerichtet und neben das Kopfkissen einen kleinen Joint gelegt. Zum Abschied. Ich verzichtete auf den Turn und schlief ein.
SYRIAN ARAB AIRLINES
Die Syrian Arab Airlines sind eine Fluggesellschaft mit höchst zweifelhaftem Ruf. Sie sind unter Travellern dafür bekannt, jede nur erdenkliche Chance für eine Verspätung zu nutzen. Trotzdem beharren die Araber entschieden darauf, daß zwei Stunden vor Abflug (dem theoretischen) eingecheckt wird, und das bedeutet, daß man mindestens fünf Stunden im Warteraum des Flughafens verbringt und sich immer neue Gerüchte über die Ankunft des verspäteten Jumbos mit anhören muß. Eine gute Gelegenheit, erste Kontakte unter Reisenden zu knüpfen.
Ich kam mit einem Inder ins Gespräch, einem jungen Psychologen, der sechs Monate eine Gastprofessur in Wien innehatte und nun zurück in die Heimat wollte. Man erwartete ihn in Bangalore, in einer großen modernen psychiatrischen Anstalt. Ich habe später einmal diese Anstalt besucht, und ich schwöre, daß deren Patienten sich in nichts von den normalen Indern unterschieden, die ich sonst da auf den Straßen getroffen habe. Indien, das sollte mir schon sehr bald klarwerden, ist ein subkontinentales Irrenhaus, und ich verstehe bis heute nicht, warum man ein paar hundert Inder in eine Anstalt sperrt und die restlichen 700 Millionen für geschäftsfähig erklärt. Haben Sie schon einmal mit Indern Geschäfte gemacht? Das ist fast so schlimm wie mit den Syrian Arab Airlines zu fliegen, die im übrigen nach zwei Stunden Wartezeit wissen ließ, man sei soeben aus London abgeflogen.
Der Doktor beschrieb dann seine Aufgaben, die ihn in Bangalore erwarteten, wie folgt. Er habe es mit Patienten zu tun, jungen Männern in der Regel, die des Nachts ihre Samen ergössen. Nicht etwa freiwillig und nicht in die von Gott dafür geschaffene Damenwelt, nein, im Schlaf komme es ihnen, und zwar direkt ins Bettlaken, sofern Bettlaken vorhanden seien.
Nun behauptet aber der indische Volksmund, daß ein Mann bei einem dergestalteten Samenerguß exakt soviel Kraft verliert wie durch den Verlust von einem Liter Blut. Diese Männer fühlen sich dann den gesamten darauffolgenden Tag zu keiner ordentlichen Tätigkeit mehr fähig, und wenn ihnen dieses Mißgeschick Nacht für Nacht geschieht, dann verlieren sie mit dem Saft alle Kraft, siechen blutleer dahin und schämen sich bis ans Ende ihrer Tage. Ich sagte dem Doktor, daß mich diese Geschichte an die Onanietheorie der katholischen Kirche erinnere, und ich fragte ihn, wie er denn nun diese Patienten zu heilen gedenke. »Wir sagen ihnen«, antwortete der Doktor, »daß das alles nicht stimmt.«
Dann wollte er wissen, was ich in Indien suchte.
Die Wahrheit!? Ich konnte ihn beruhigen. Ich sei lediglich unterwegs zum Palast der gläsernen Schwäne, wenn er verstehe, was ich meinte. Nein, er verstand nicht. Auch gut. Der Palast der gläsernen Schwäne, so klärte ich den Doktor auf, sei ein Tarotbild, das mir mein Astrologe vor der Reise geworfen habe.
»Kennen Sie Tarot?«
Der Doktor verneinte.
»Tarot ist ein Kartenorakel. Die Zigeuner haben es von Indien nach Europa gebracht. Wissen Sie, viel kann ich darüber nicht sagen, aber es macht Spaß, die Karten zu legen, vor allem, wenn einem dabei ein über alle Zweifel erhabener Experte, wie mein Hausastrologe und Leibmagier Gandhi es ist, assistiert.«
Bei dem Namen Gandhi horchte der Inder auf. Nein. Ich redete nicht von seinem Gandhi, sondern von meinem. Meiner heißt bürgerlich Ulrich Hennings, und Gandhi ist nur sein Spitzname.
»Ich habe mir nie viel aus Horoskopen gemacht«, sagte ich zu dem Doktor. »Aber Gandhis Horoskope sind erstaunlich. Ein Freund hat mir eines zum Geburtstag erstellen lassen. Es hat mich ganz schön umgehauen. Meine Geburt wurde darin beschrieben. Sie müssen wissen, daß meine Mutter dabei fast gestorben wäre, und Gandhi hat das konkret beschrieben. Dann hat er Aussagen über mein Aussehen gemacht. Sie stimmten bis ins Detail. Gandhi kannte mich damals noch nicht, er hatte mich nie gesehen. Ja, und weil das stimmte, vertraute ich auch den Aussagen, die er über meine Zukunft machte. Die Entwicklung meiner Persönlichkeit und all diese Dinge. Finden Sie das albern?«
Der Doktor fand das ganz und gar nicht albern. Es schien ihn im Gegenteil brennend zu interessieren.
»Erzählen Sie mehr davon«, sagte der Irrenarzt. »Ich höre Ihnen gerne zu.«
»Also, das kann ich Ihnen jetzt nicht einfach so darlegen. Wirklich, das kriege ich nicht auf die Reihe. Ich kann nur sagen, daß die Art und Weise, wie Gandhi die Informationen der Sterne deutet und in Zusammenhänge setzt, mich fasziniert.Nein, Faszination ist nicht das richtige Wort. Es ist eine Bestätigung, oder besser, eine Verstärkung meiner eigenen Gedanken. Gandhis Horoskop hatte dieselbe Atmosphäre wie das I Ging.«
»I was?«
»Haben Sie noch nie vom I Ging gehört? I Ging: die Essenz der chinesischen Philosophie. Wenn ich Ihnen das auch noch erklären soll! Aber wir sind vom Thema abgekommen. Die Tarotkarten, das war es doch. Im vergangenen Jahr versuchte ich nämlich schon einmal nach Indien zu kommen. Allerdings über Land. Kreta (das ist eine griechische Insel), Kairo, Sudan, Kenia und dann mit dem Schiff nach Bombay. Also, ich bin in Kairo hängengeblieben, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Jedenfalls hat Gandhi mir vorher die Karten gelegt, und das Tarot sprach davon, daß ich den fünfeckigen Kristall finden werde. Ein Glückszeichen. Und ich habe ihn gefunden, den Kristall.«
Ich verschwieg allerdings dem Doktor, daß es sich bei dem erwähnten Kleinod um ein sechzehnjähriges Mädchen gehandelt hatte, und erzählte ihm dann von dem neuen, für diese Reise gelegten Tarot. Erzählte ihm, daß das Orakel nun von einem Palast der gläsernen Schwäne sprach und daß dieses Bild mich stark berührte. »Hier, sehen Sie«, sagte ich und zeigte dem Doktor mein Halsband mit dem silbernen Schwan. »Er hat mir Glück gebracht, seitdem ich ihn trage. Hamsa, das ist doch das Sanskrit-Wort für Schwan. Sie wissen doch, was hamsa bedeutet.«
»Hamsa«, murmelte der Doktor. »Hamsa … Das alles interessiert mich sehr. Es gibt da in der Nähe von Bangalore einen Guru, der kann aus seinen Händen Asche materialisieren. Soviel er will.«
»Was denn? Nur Asche!«
»Nein, nein. Auch andere Dinge. Er geht auf seine Schüler zu, hebt die Hand, und jeder sieht, daß sie leer ist. Und plötzlich ist ein goldener Ring in der Hand, und er sagt: ›For you my darling …‹ Ich wollte diesen Mann schon lange besuchen. Vielleicht können wir zusammen hingehen.«
Nein, dachte ich, ganz bestimmt nicht.
»Wissen Sie, was ich jetzt mache«, sagte ich, »ich schmeiße meine Stiefel weg.« Wirklich, ich zog meine Stiefel aus und warf sie in den nächsten Abfalleimer. Es waren Frye-Stiefel, bestes amerikanisches Büffelleder. Weich, anschmiegsam und nicht kaputtzukriegen. Ich hatte sie vor vier Jahren erstanden, als ich nach Hamburg zog. Tag für Tag hatte ich sie getragen. Ich war der »Camel-ohne-Cowboy« auf dem Kiez, der Freund der Kabarett-Portiers und südamerikanischen Striptease-Tänzerinnen. Jetzt war es genug. Ich warf sie weg. Das war ein symbolischer Akt. Ich verließ den Westen und holte die Sandalen aus der Reisetasche. Sandalen, an denen unsichtbar der Staub von Kairo klebte, die Träume Arabiens.
Der Doktor staunte nicht schlecht.
Um es kurz zu machen: Der Wüsten-Jumbo kam dann doch noch. Wir hoben ab. Die übliche Reihenfolge von Bildern. Der Vogel zog schräg nach oben, der Flughafen wurde kleiner, auf den Straßen fuhren Spielzeugautos, alles war noch grau und öde, dann kamen Wolken, und plötzlich war der Winter vergessen.
»Ladies and Gentlemen. Captain Mohammed Bagdadhi and his crew welcomes you on flight LD 750 to Bombay, via Damascus and Abu Dhabi. We will reach Damascus in four hours. We wish you a comfortable flight.«
Neben uns saßen ein paar arabische Jungs. Dicke Armbanduhren, feine Anzüge, unheimlich nett. Ich sagte: »Salame«, und sofort bot man mir eine Marlboro an. Na, siehst du, dachte ich, du bist wieder der, der du in Kairo gewesen bist. Kairo. Ich brauche dieses Wort nur zu denken, und aus den Buchstaben ziehen Nebel aufs Papier. Farben, Stimmen, Gerüche. Reiter im Gegenlicht, enge Gassen voller Schlamm, glühende Holzkohle in den Köpfen der Wasserpfeifen. In Kairo hatte ich zu träumen begonnen. Ich meine, nicht hin und wieder mal ’nen Tagtraum, den man weglutscht wie ein Bonbon, nein. Ich träumte hemmungslos, stundenlang, ganze Tage. Die Träume vermischten sich mit der Realität, und ich ließ es zu.
Ich wollte die Träume, war dankbar, daß sie kamen, und so begannen die Märchen. In Kairo, da habe ich das Reisen überhaupt erst begriffen, habe den Wanderer in mir gefunden. Eine neue Identität war es, fast ein anderes Leben. Ich habe in den Innenhöfen der Moscheen gesessen, im Schatten einer Säule, und habe den Staub auf meinen Füßen gesehen. Ich wurde stolz darauf, ein Wanderer zu sein, und träumte davon weiterzugehen. Immer weiter.
Aber dann kam Rainer Zufall und hat mir die Streptokokken angehängt. Viren, die dafür sorgen, daß aus einem Mückenstich ein offenes Bein wird. Ich bekam Löcher am Körper, die waren so groß wie Tennisbälle, und sie eiterten und stanken und wurden immer größer.
Als ich dann nach Deutschland zurückflog, da habe ich mir geschworen, »du haust wieder ab, noch in diesem Jahr, noch in diesem Herbst bist du wieder weg. Die Reise wird fortgesetzt, du bist noch nicht am Ziel.«
Das hämmerte ich mir ein, und ich hatte es nicht vergessen, und nun flog ich wieder, 10 000 Fuß über der Erde, und Deutschland verschwand. Die Kälte, die Häuser, die blöden Sprüche der blöden Szene, die langweiligen Diskotheken, das Grauen in der U-Bahn, die Künstlersozial-Versicherung. Der ganze unerträgliche Scheiß eben. »Macht’s gut, Leute. Habe die Ehre. Ich zieh mich aus der Affäre.«
Was Mirta dachte, wußte ich nicht so genau. Das rauszukriegen ist sowieso oft sehr schwierig. Immerhin war ihr Tarotbild zur Reise Die gläserne Kugel, und das deutete auf einsames, asketisches Forschen, wie Gandhi es ausdrückte. Was immer das heißen mag, sie ist ernster als ich. Natürlich ist sie auch jünger. Sieben Jahre insgesamt, was nach dem Koran ein idealer Altersunterschied zwischen Mann und Frau ist. Aber ich schweife ab. Mirta in die Karten zu schauen ist schwer. Sie ist zur Hälfte eine Indianerin. Manchmal sitzt sie da, du schaust ihr in die großen, dunklen Augen und wirst verrückt, weil du weißt, daß da eine Welt vor dir sitzt, die ein Geheimnis hat, und du kriegst dieses Geheimnis nicht raus. Sie ist mit dir zusammen, sie redet mit dir, sie lächelt, ist lieb und sanft, aber trotzdem bin ich ausgeschlossen. Sie geht einen einsamen Weg.
Für Mirta bedeutete dieser Flug etwas anderes als für mich. Sie ist das letzte Mal vor zehn Jahren über den Wolken gewesen. Da verließ sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder und 30 Kilo Handgepäck Argentinien.
Solange ich Mirta kenne, sucht sie ihre Identität. Vierzehn Jahre lebte sie in Argentinien, zehn Jahre in Deutschland. Sie hat zwei Muttersprachen, zwei Heimatländer. In Südamerika liegt ihre Kindheit, in Deutschland wurde sie erwachsen, und nun verließ sie zum ersten Mal wieder Europa. Sie hatte, wie sie mir gestand, ein wenig Angst davor. Für sie war diese Reise nach Indien kein Jet-Set-Spaß, sondern ein Wagnis.
Außerdem ist Mirta eine Romantikerin. Sie saß da oben in dem Araber-Jumbo und malte sich die Landung in Indien aus. Auf einer Wiese glaubte sie zu landen, die voller Blumen ist, und Schmetterlinge flattern umher, und die Menschen tragen Krummsäbel, Turbane und lange Bärte.
Wir gingen zunächst in Damaskus runter. Es waren jene Tage, in denen die Amerikaner auf Kriegsfuß mit den Syrern standen. Einer ihrer Flugzeugträger hatte bereits einen oder zwei syrische Düsenjäger vom Himmel geholt, und in unserem Flieger ging halb im Scherz und halb im Ernst die Frage um, warum es nicht auch mal ein syrischer Jumbo sein könne.
Damaskus, das hat fast so einen schönen Klang wie Bagdad, aber die tausendundeine Nacht sind längst vorbei. Heute sind die Araber die neureichen Ärsche der Welt. Ich spreche nicht von den Ägyptern und den Sudanesen. Die haben kein Öl. Ich spreche von den Saudis, den Kuwaitis, den Syrern und Libyern. Stinkreich gewordene Kameltreiber, gotterbärmlich eingebildet und geradezu maßlos in ihrer Verachtung für alle westlichen Reisenden, die auf ihren protzigen Flughäfen Transitpausen einlegen müssen. Die Jungs vom Zoll, die deine Taschen filzen, die Damen von den Syrian Arab Airlines, die dein Ticket umstempeln, das Flughafenpersonal, das sich um die Organisation des Weiterflugs kümmert, sie alle sehen dich an, als wärst du der letzte Dreck, und du mußt zu ihrem Hochmut auch noch gute Miene machen, sonst hauen sie dich vollends in den Sack. Dabei beweist jeder Zwischenstopp auf arabischen Flughäfen immer wieder nur das eine: absolute Inkompetenz. Die kriegen einfach keinen Transit ohne Verspätungen und Chaos hin, obwohl der Flugverkehr auf den Wüstenpisten nun wirklich keine große Sache ist. Ich möchte diese Leute einmal einen internationalen Flughafen managen sehen. Den von Frankfurt meinetwegen. Nur einen Tag lang. Das Gemetzel ginge in die Liste der historischen Katastrophen ein.
Jedenfalls bekam es der indische Doktor in Damaskus ganz schön mit der Angst zu tun. Sie hatten sein Ticket falsch abgestempelt. Es war ein Return Ticket, und die Araber hatten ihm das Return einfach mit abgerissen und wollten es nachträglich nicht wieder herausrücken. Das bedeutete, daß der Doktor, der in einem halben Jahr nach Europa zurückzukehren gedachte, sich in Indien ein neues Ticket hätte kaufen müssen. Eine Stunde lang versuchte er es friedlich. Mit Erklärungen und gutem Zureden. Aber ich wußte es vorher. Hier hilft nur brüllen. Und wirklich, als er zu schreien anhub, gab man ihm den Return-Zettel wieder, und der Doktor konnte erschöpft in einem Stuhl zusammensinken. Nun brauchte er einen Kaffee. Er hatte kein syrisches Geld dabei. Der Kaffeebar interner Wechselkurs aber war dergestalt, daß der Doktor für seinen Kaffee fünf Dollar investieren mußte. Allah möge sie strafen.
Den nächsten Stop genossen wir in Abu Dhabi, irgendwo in den Vereinigten Emiraten. Die Abu Dhabis hatten sich vor Jahren einen wunderbaren, großen, voll funktionstüchtigen Flughafen gebaut. Als aber die werten Nachbarn einen größeren Airport in die Wüste klotzten, mußten die Abus nachziehen. Sie machten ihren nagelneuen Flughafen wieder dicht und stellten einen noch herrlicheren ein paar Kilometer weiter daneben. Geld spielt bekanntlich keine Rolle, wenn es aus den Ohren herausfließt. Das hat zur Folge, daß die Abu Dhabis heute die prachtvollste Transithalle aller internationalen Flughäfen besitzen. Traumhafte islamische Architektur. Rundbögen, Springbrunnen, goldene Koranwindungen auf weißem Marmor. Der Kaffee ist ähnlich preiswert wie in Damaskus. Ich machte mir übrigens die ganze Zeit Gedanken über den kleinen Joint, den ich in der Tasche hatte. Das Abschiedsgeschenk von Dr. O. Was geschieht, wenn die Jungs vom Zoll ihn finden? Fünfzig Peitschenhiebe, Hand ab oder Steinigen? Sie fanden ihn nicht. Ich hatte ihn in eine Packung Camel gesteckt. Ein frisiertes Kamel unter lauter Laumännern fällt nicht auf.
Noch vier Stunden bis Indien.
Gleich nach dem Start, als der Flughafen von Abu Dhabi in der Wüste verschwand wie ein Sandkorn im Auge Allahs, war es wieder soweit. Bei Mirta lockerte sich ’ne Schraube. Das ist ein Produktionsfehler, da kann man gar nichts machen. Von Zeit zu Zeit schnappt sie aus geringstem Anlaß über, und meistens ist es mir nicht einmal vergönnt, die Gründe dafür zu erfahren. Erahnen, das geht wohl noch, oder auf gut Glück erraten. Darüber reden ist nicht drin. In der Regel währen diese Anfälle an die dreißig Minuten, machmal vergeht auch eine Stunde und mehr, bis sie wieder anzusprechen ist.
Dieses Mal war der Grund für ihren Ausflipp allerdings klar ersichtlich. Wir hatten neue Plätze zugewiesen bekommen. Ganz vorn, direkt vor einer Wand, die die erste von der zweiten Klasse trennte. Den Sitz links neben mir nahm nun ein junges Geschöpf aus München ein, das vom Papa drei Wochen Goa zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Andrea, siebzehn Jahre jung, gute Figur, intelligentes Gesicht, modern geschnittene Haare. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren, seit meinem dreißigsten Geburtstag also, schon häufiger beobachten können, daß die Altersgruppe zwischen sechzehn und achtzehn auf Männer mit Vergangenheit steht. Ein paar Falten im Gesicht, ein paar Geschichten aus dem Schatz des weiten, wilden Lebens und dazu der Hinweis, daß man Journalist sei und nun auch noch Reisebücher zu schreiben gedenke, das allein reicht in vielen Fällen aus, um Brücken zwischen den Generationen zu schlagen. Wir unterhielten uns deshalb ein wenig, und Mirta kam zusehends schlechter drauf.
Das äußerte sich so: Andrea hatte ein Buch dabei, von einem dieser modernen amerikanischen Schriftsteller, die ihr erstes Kapitel damit verschwenden, die Vorzüge ihrer neuen Schreibmaschine zu schildern. Mirta blickte kurz hinein und entschloß sich, es nicht zu lesen. Da nahm ich es in die Hand, aus purer Langeweile, denn bei den Syrian Arab Airlines gibt es natürlich kein Bordkino. »Ach so«, sagte Mirta. »Jetzt willst du es lesen. Ob ich es vielleicht auch lesen will, ist ja uninteressant.«
Ich zeigte mich überrascht. Wahrheitsgemäß erklärte ich, daß sie noch vor wenigen Minuten das Buch gelangweilt zugeklappt habe. Aber ich wußte schon, daß das kein Argument sein konnte. Die Schraube, wie gesagt, ist mit Argumenten nie und nimmer festzudrehen.
»Wer hat gesagt, daß ich nicht lesen will«, fauchte Mirta. »Das hast du dir selber gesagt, mein Lieber.«
»Also willst du nun lesen oder nicht?« fragte ich, bereit, ihr sofort das Buch zurückzugeben.
»Nein, jetzt nicht mehr!«
»Komm, Mirta, lies doch. Mir ist es wirklich egal.«
»Dir ist ja immer alles egal. Nein, amüsier dich ruhig. Ich bin ja auch viel zu dumm für solche Bücher.«
»Wer, um Gottes willen, hat denn das behauptet?«
Sie antwortete nicht mehr. Sie schaute beleidigt aus dem Fenster. Womit habe ich das verdient, dachte ich. Warum mußte ich diese Person eigentlich mitnehmen? Allein reisen, tun und lassen, was man will, das hat mir doch recht gut gefallen bisher. Eine alte Freundin, Ellen mit Namen, hat mal etwas Treffendes über mich gesagt: »Entweder ist der Vogel auf Reisen oder auf Frauen.« Jetzt bin ich auf beidem zusammen, und das habe ich davon. Aber wie der alte C. G. Jung schon schrieb: »Mit sich selbst klarzukommen ist das Gesellenstück, aber mit einer Frau fertigzuwerden, das ist das Meisterstück.«
Mit Andrea ging unter diesen Umständen natürlich auch nichts mehr. Aber darüber war ich eher glücklich, denn Andreas Augen erinnerten mich an meinen fünfeckigen Kristall, den ich auf Kreta fand. Ich hatte ihr mein Leben zu Füßen geworfen, meine Reisepläne und mein Reisegeld, und dann war die Kohle weg und auch ein erhebliches Stück Kraft. Nein, vor den Siebzehnjährigen werde ich mich hüten, da kann mir Andrea in die Augen sehen, bis mir die Socken anbrennen. Was rede ich, Socken habe ich gar nicht mehr. Die haben wir mitsamt den Winterjacken und warmen Unterhosen vor dem Münchener Flughafen der Taxifahrerin gegeben, auf daß diese daraus ein Päckchen schnürt und es zu uns nach Hause schickt.
Noch zwei Stunden bis Indien.
Irgendwo, 2000, 3000, vielleicht 4000 Meter über dem Meer, über dem Sand oder über den Wolken war der Jumbo in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen. Die Passagiere pennten, so gut es ging, auf ihren Sitzen, ein paar Zigaretten qualmten, der Autopilot zog den Vogel an seiner elektronischen Lichterschnur durch den unendlich weiten Himmel, dem Frühstück und Bombay entgegen.
Ich hatte einen Traum.
Ich ging mit Freunden in ein großes Haus. Es war aber kein Haus, sondern ein Wald. Das Licht fiel schräg hinein, und in den Sonnenstrahlen spiegelten sich die Bäume wider. Es war so schön, daß ich auf die Knie fiel. Ich konnte es nicht fassen. Dann wurde aus dem Wald eine große Halle, und Kinder kamen. Ich glaube, es waren meine Kinder dabei, und als ich aufwachte und den Traum niederschreiben wollte, gab mir Mirta ihren Kugelschreiber nicht.
Noch eine Stunde bis Indien.
BOMBAY
Wir landeten in Bombay am 21. Dezember 1983 gegen 14 Uhr, das heißt mit nur sensationellen sechs Stunden Verspätung. Wir nahmen uns sofort ein Taxi zum Gateway of India, um ein Ticket für das Boot nach Goa zu kaufen. Das Boot legt jeden Morgen um zehn Uhr ab, und ein Engländer hatte uns schon im Flugzeug geraten, die Fahrkarten einen Tag vorher zu erstehen. Der Engländer reiste zum drittenmal nach Indien. Auf solche Leute soll man hören.