ISBN 978-3-492-95551-5
© Piper Verlag GmbH, München 2012
Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Veränderung
»Erzähl es mir bitte«, forderte das Mädchen.
Ein tiefes Atmen folgte, ehe eine samtene Stimme antwortete. Sie klang weich, als hätte sie Flügel, auf denen sie zum Ohr des Kindes schwebte.
»Am Tag, als die Begräbnisbarkasse flog – und sie flog hoch, musst du wissen – fiel ein Blütenblatt vom Bug hinab. Es ist unbedeutend, und außer mir hat es niemand gesehen. Aber es kam mir vor, als würde mein Herz in genau diesem Moment alles verstehen. In meinem Kopf wusste ich schon lange, was geschehen war … doch der Weg von dort zum Herzen ist weit.«
Von Ferne drang Rauschen zu den beiden, die sich an diesem Abend unterhielten; zu der Frau und dem Mädchen. Es klang fast wie ein Fluss, der seinen Weg durch Steine suchte, aber tatsächlich war es die Hitze der Feuer, die die Luft bewegte und Wind entfachte. Über den Klippen brannte ein Schiff, das Holz knackte, das Segel längst nur mehr Asche. Es würde nie wieder fliegen.
»Ich fühlte mich«, fuhr die samtene Stimme fort, »als könnte ich auf diesem Blatt in winzigen Buchstaben die gesamte Geschichte lesen. Ich kann sie dir unmöglich auf einmal von vorne bis hinten erzählen. Immerhin hat sie alle Weltensplitter verändert. Es gibt Gute in dieser Geschichte, und Böse, und solche, die nicht wussten, was sie sind.«
»Aber jetzt wissen sie es?«
Die Frau hob ihren Blick in den Raum zwischen den Splittern. War das Crescat, dort oben? Sie blinzelte eine Träne hinweg. »Ja«, sagte sie, log sie. Es war besser so. »Jetzt wissen sie es.« Sie atmete tief durch. »Ich denke nun an dieses Blütenblatt, um meine Gedanken zu sammeln und mein Gleichgewicht zu finden. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich es vor mir: das kräftige Rot vor dem dunklen, glänzenden Holz des Schiffbugs. Es muss sich von dem Platz erhoben haben, an dem normalerweise die Leiche gelegen hätte. Wir umgeben die geehrten Toten nämlich mit Blumen, weißt du, ehe wir die Begräbnisbarkassen aufsteigen lassen. Sie sollen von Schönheit bedeckt ihren Weg antreten, wohin er auch führen mag. An jenem Tag jedoch begruben wir etwas völlig anderes.«
»Was?«, wollte das Mädchen mit weit geöffneten Augen wissen. Wie konnten sie nur so rund werden und so voller Neugierde stecken?
Und bin ich, fragte sich die Frau, immer noch so neugierig wie dieses Kind? Nach allem, was geschehen ist? Sie dachte darüber nach und gab sich selbst die Antwort. Ja, sie war es, nach wie vor. Gerade weil sie so viele Dinge gesehen und erlebt hatte. Sie lachte. »Du willst das Ende dieser Geschichte vor dem Anfang erfahren? Um es zu verstehen, musst du sie von vorne hören. Hast du die Geduld dafür?«
Das Mädchen stemmte die Arme in die Seiten, als wäre es beleidigt. »Natürlich! Ich werde dir drei mal drei Tage lang lausche, ohne auch nur ein einziges Mal zu schlafen!«
Ein leichter Wind zog auf, und er trieb winzige Regentröpfchen mit sich, kaum mehr als ein aufziehender Nebel. Irgendwo in der Nähe sang ein Vogel, aber seine Melodie übertönte nicht den Schrei, der plötzlich über allem hallte.
Ein Laut der Wut, oder des Schmerzes? Jedenfalls klang er hinter dem Feuer auf, hinter dem Chaos, das das Kind überhaupt erst zu seinem Wunsch verleitet hatte: Erzähl es mir bitte.
Die Frau erinnerte sich an eine Geschichte der Veränderung. Aber wann hatte jemals ein Kind das Licht der Weltensplitter erblickt, ohne dass es vorher unter Schmerzen geboren worden wäre? Wann wäre nach dieser Geburt je alles sofort voller Frieden gewesen? Es gehörte zum Wesen der Dinge, dass Neues im Leid begann und Aufbegehren mit sich brachte. Das Gleichgewicht kam nicht von alleine, weder im Kleinen noch im Großen. Man musste es suchen, es festigen und die Hindernisse beseitigen.
Erzähl es mir bitte.
Wenn das nur so einfach wäre. Es gab Angst und Schrecken in dieser Geschichte, ebenso wie Freude und Lachen, und für diejenige, die nun erneut ihre Stimme erhob, gab es viele Wunder darin.
Es war die Geschichte sämtlicher Weltensplitter, und mehr als das. Aber für sie war es vor allem die Geschichte ihres Lebens. Wie jung sie gewesen war, als es seinen Anfang genommen hatte. Fast selbst noch ein Kind. Ein weiter Weg von damals bis zu diesem Tag, bis zu dem Feuer unten am Hafen.
»Kommen Ungeheuer vor?« Das Mädchen blinzelte.
»Ungeheuer?«, fragte die Frau zurück. »Wie meinst du das?«
Die Kleine legte den Kopf in den Nacken. »Zwischen den Weltensplittern, da ist doch nichts. Meine Schwester sagt, das Nichts dort oben ist wie ein dünnes Tuch, und wenn es reißt, stürzen die Ungeheuer durch, die dahinter lauern! Die haben noch nie Licht gesehen!« Mit einem Mal zögerte das Kind und verknetete die Hände ineinander. »Meint meine Schwester jedenfalls«, ergänzte sie kleinlaut.
»Das stimmt nicht«, sagte die Frau. Und lachte. Doch es klang nicht so überzeugend, wie sie es gerne hätte. Natürlich gab es zwischen den Splittern kein Tuch, das reißen konnte, und es gab keine Ungeheuer, aber …
Sie fröstelte.
»Lass uns ein Stück zur Seite gehen«, forderte sie. »Dort können wir uns hinsetzen. Und dann hör gut zu und erzähl es danach deiner Schwester. Und allen anderen Kindern. Jeder soll es wissen. Die Wahrheit wird für Freiheit sorgen.«
Die neugierigen Augen blitzten vor Freude und Erwartung.
Sie gingen los und setzten sich auf hohe Steine, warm von der Sonne. Das Mädchen wählte einen etwas größeren, und so sahen sie sich gleich auf gleich ins Gesicht.
Die Frau stützte sich ab, und eine Echse huschte mit pendelndem Schwanz über ihre Finger. Der Anblick und das kitzelnde Gefühl brachten sie zum Lächeln. Das Tier verschwand im Schatten.
»Iih!«, machte das Mädchen.
»Ich mag Echsen.«
»Wieso?«
»Warum nicht?«
»Ich finde sie eklig.«
»Ich früher auch, aber …« Die Frau brach ab, in Gedanken versunken.
»Ja?«
»Ich … ich sollte jetzt beginnen. Also lausche dem, was für mich damals auf diesem roten Blütenblatt geschrieben stand, in winzigen Buchstaben.
Lausche der allumfassenden Veränderung und der Geburt der neuen Zeit.
Es ist meine Geschichte und die meiner Freunde.
Und glaub mir, es wird drei mal drei Tage dauern, um alles zu erzählen … und du wirst zwischendrin schlafen müssen. Aber am Ende kehren wir zu dem Feuer zurück, das heute lodert, zu der Begräbnisbarkasse und zu dem, was wir darin begraben haben, zwischen roten Blütenblättern, die wir in den Himmel schickten.«
Sie begann zu reden, und von Satz zu Satz fiel es ihr leichter, und bald war sie mittendrin in der Vergangenheit.
Prolog
Es war kein vorübergehender Zustand, in dem sich Meisterin Glennara befand. Es war das Leben selbst, die einzig wirkliche Art des Seins, so wie der Haiku der primae es beschrieb:
Leichter als Federn,
den Elementen trotzend,
Himmel und Erde.
Die Augen geschlossen, die Hand- und Fußflächen aneinandergelegt und den Gesetzen der Natur entrückt, fühlte Glennara sich frei und ungebunden … selbst an einem Ort wie diesem.
Nicht ihre eigene Entscheidung hatte sie hierhergeführt, auf diesen Weltensplitter, der weit abseits der Zivilisation und jedes wärmenden Feuers lag, sondern die der Erhabenen Schwester, und Glennara glaubte fest genug an die äonenalten Prinzipien der Gilde, um sich ihrer Entscheidung ohne Widerspruch zu fügen. Auch wenn in diesen Tagen jedem, der sich auf den Außenwelten aufhielt, klar werden musste, dass die Dinge nicht mehr waren wie einst.
Bewahren, was wert
und was besteht seit Langem
der Gilde Macht und Glanz.
Anfangs waren die Veränderungen kaum zu bemerken gewesen, winzige Abweichungen vom Kreislauf der Geschichte, jede für sich genommen unbedeutend. Doch tief im Inneren hegte Glennara die Befürchtung, dass das große Ganze davon betroffen sein würde, das Gleichgewicht der Welten, vom eisigen Pol bis hinab zum Mahlstrom, der alles Wasser verschlang.
Welten unzählig,
schwebend wie im dunklen Traum,
umgeben vom Nox.
Der Gilde kam von jeher die Aufgabe zu, die Welten des Sanktuarions miteinander zu verbinden. Sie war das Blut in den Adern eines Körpers mit unzähligen Gliedern. Ohne die Gilde gab es keinen Fortschritt, keine Zivilisation. Sie hielt das Sanktuarion zusammen, schlug Brücken zwischen Welten, die ansonsten füreinander unerreichbar gewesen wären, ermöglichte Austausch und Handel und, wenn es die Lage gebot, auch feindliche Auseinandersetzung – und das allein aufgrund der geistigen Fähigkeiten, über die die Levitatinnen der Gilde verfügten und die sie weit über jedes andere sterbliche Wesen stellten.
Nie sich zu beugen
und niemals zu erliegen
weltlicher Gewalt.
Schon früh in der Geschichte hatten die Gildemeisterinnen ihre besondere Verantwortung erkannt und entsprechend gehandelt. Die primae, mutige Frauen, die über die Gabe der Levitation verfügten und nicht gewillt waren, sich zum Werkzeug machthungriger Weltenherren machen zu lassen, sagten sich von diesen los und schlossen ein Bündnis, das als der »Pakt« in die Weltengeschichte einging. Dies war die Geburtsstunde der Gilde von Ethera, die von diesem Augenblick an die Geschehnisse im Sanktuarion entscheidend mitbestimmte. Nicht durch Krieg oder Gewalt, wie die Weltenherren es taten, sondern durch die alleinige Kontrolle über das Element der Luft.
Bedacht mit Gaben,
welche niemand sonst besitzt,
vom Schicksal bestimmt.
Die kollektive Erinnerung, die Generationen zurückreichte und von großen Taten kündete, von Gildemeisterinnen, die die Geschicke der Welten maßgeblich beeinflusst hatten, strahlte etwas Beruhigendes aus und versprach Beständigkeit. Selbst in Zeiten wie diesen.
Glennaras Meistergrad entsprach nur dem der dritten Stufe, und es stand ihr nicht zu, Entscheidungen der soror levitata infrage zu stellen. Dennoch ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder nach einem Grund dafür suchte, dass sie auf diese entlegene Welt versetzt worden war.
Hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen? War dies der Grund, dass man ihr befohlen hatte, ein Handelsschiff in die Polregion zu geleiten und bis auf Widerruf dort zu verbleiben? Nein. Sie musste darauf vertrauen, dass ihr Aufenthalt auf diesem barbarischen, von Eis und Schnee bedeckten Weltensplitter einer höheren Bestimmung diente. Sie musste Geduld bewahren und Trost aus der Meditation gewinnen, aus dem Zustand der Schwerelosigkeit, in den Glennara sich kraft ihres Willens zu flüchten vermochte, und in der beruhigenden Gewissheit der eigenen Vergangenheit.
Glennara erinnerte sich gut daran, wie es gewesen war, als sie die Fähigkeit erstmals an sich entdeckt hatte. Mehr als vierzig Zyklen lag dies zurück, dennoch konnte sie noch immer die Freude verspüren, die sie dabei empfunden hatte. Sie war aus dem Schlaf erwacht und hatte geglaubt, noch zu träumen. Erst allmählich war ihr aufgegangen, dass sie wach war und dass sie tatsächlich mehrere Ellen über ihrer Schlafstatt schwebte …
Auch jetzt öffnete Glennara die Augen und blickte hinab auf den steinernen Boden der kargen Kammer. Das schneeweiße Meditationsgewand schützte sie nur unzureichend gegen die Kälte, die jeden Winkel der Festung durchdrang. Dennoch hatte sie es angelegt, um sich der Gemeinschaft der Gilde verbunden zu fühlen. Wie ein zu Eis erstarrter Katarakt fiel der Stoff an ihr herab, während sie selbst in der Mitte der Kammer schwebte, scheinbar schwerelos und den Naturgesetzen entrückt.
»Gildemeisterin?«
Die Stimme, die von jenseits der grob gezimmerten und mit Eisenbeschlägen versehenen Tür drang, riss Glennara aus ihren Gedanken. Ihre erste Reaktion war Verärgerung, doch sie beherrschte sich, wie es von einer Meisterin erwartet wurde.
»Ja?«
»Es gibt Nachrichten, Gildemeisterin. Man wünscht Euch zu sprechen.«
Da es spät nachts war, flüsterte die Stimme. Dem Lispeln war jedoch zu entnehmen, dass sie einem der Animalen gehörte, die in der Festung ihren Dienst versahen, zu Glennaras Verdruss und Ärgernis.
»Worum geht es?«, schnaubte sie.
»Das weiß ich nicht, Gildemeisterin.«
Glennara schüttelte unwirsch den Kopf. Ihrer Abneigung gegen die barbarischen Bewohner dieser Welt gemäß hatte sie in den vergangenen Wochen kaum Kontakt zu ihnen unterhalten. Von den offiziellen Anlässen abgesehen, die ihr keine andere Wahl gelassen hatten, als die Gesellschaft des Weltenherrschers und seiner ungehobelten Gefolgschaft zu ertragen, hatte sie es vorgezogen, in ihrer Kammer zu bleiben und sich der Kontemplation zu widmen. Umso überraschter war sie darüber, dass jemand sie zu sprechen wünschte.
»Kann es nicht warten bis morgen früh?«
»Ich glaube nicht, Gildemeisterin. Die Besucherin meinte, es sei dringend.«
Die Besucherin!
Glennara atmete innerlich auf. Das musste bedeuten, dass jemand von außerhalb nach Jordråk gekommen war, womöglich eine Abgesandte der Gilde, die ihr Nachricht von Ethera brachte …
Sie beendete die Levitation und sank zum Boden zurück. Die Wehmut, die sie gewöhnlich überkam, sobald ihre Füße den Stein berührten, verspürte sie diesmal nicht. Sie bemerkte noch nicht einmal die eisige Kälte der grob behauenen Fliesen, über die sie eilig zur Tür schritt.
Mit einem Ruck zog die Gildeschwester den Riegel zurück und öffnete. Der Diener, der davor stand und dessen birnenförmiger Körper ihr nur bis zur Hüfte reichte, blickte furchtsam zu ihr auf. Seine Barthaare bebten, Glennaras strenge Züge spiegelten sich in den schwarzen Knopfaugen.
»Worauf wartest du?«, fuhr sie ihn an. »Bring mich zu ihm!«
Der Phocide nickte ergeben. Sie versuchte, den Diener und den strengen Geruch, den er verströmte, zu ignorieren, während sie seinen schlurfenden Schritten den von Fackeln beleuchteten Gang hinabfolgte.
Es dauerte nicht lange, bis sie die Orientierung verloren hatte. Für die Levitatin sah einer der kalten, aus groben Steinen gemauerten Gänge wie der andere aus, und weder hatte sie sich je die Mühe gemacht, noch war sie oft genug unterwegs gewesen, um sie genauer zu erkunden. Wann immer sie von einem Ort zum anderen zu gelangen wünschte, nahm sie die Dienste eines Hausknechts in Anspruch. Eines Menschen, wenn es möglich war, eines Animalen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Doch obwohl sie sich nicht auskannte, war Glennara schon nach wenigen Abzweigungen und Treppen überzeugt, noch niemals zuvor in diesem Teil der Festung gewesen zu sein.
»Wohin führst du mich?«
»Zu Eurem Besuch«, lispelte der Robbenmann schlicht. »Das war Euer Wunsch, nicht wahr?«
Die Gildemeisterin empfand es als unter ihrer Würde zu antworten. Stattdessen fragte sie sich, was die Botin – denn um eine solche musste es sich handeln – ihr zu sagen haben würde. Hatte sich die Erhabene Schwester anders besonnen? Würde ihr Dienst an diesem unwirtlichen Ort womöglich schon bald zu Ende gehen? Würde sie auf eine andere Welt versetzt? Durfte sie womöglich zurückkehren in den Schoß der Gilde und den schützenden Hort von Ethera?
Allein der Gedanke ließ ihren Herzschlag beschleunigen, während sie weiter den Gang hinabschritt, ihre schlanke, von weißem Stoff umflossene Gestalt ein krasser Gegensatz zur gedrungenen Erscheinung des Animalen.
Schließlich gelangten sie an eine Tür, die einen Spalt weit offen stand; flackerndes Licht fiel auf den Gang, dazu war das leise Knacken von Kaminfeuer zu hören. Der Robbenmann blieb stehen und wies ihr den Weg. Glennara öffnete die Tür vollends und trat ein.
Dahinter befand sich ein mittelgroßes Gewölbe, dessen hohe Decke von Säulen getragen wurde, grob und plump wie alles an diesem Ort. In einer Esse loderte Feuer, in dessen flackerndem Schein die Pfeiler lange Schatten warfen. Weitere Möbel gab es nicht, und es war niemand zu sehen. Im ersten Moment glaubte Glennara, der Diener hätte sich einen Scherz mit ihr erlaubt, und wollte sich wutentbrannt abwenden, als sie das Geräusch vernahm.
Ein Rauschen wie von feinem Stoff.
Instinktiv blickte sie nach oben – um verblüfft zurückzufahren, als sie die Ehrfurcht gebietende, von einem weiten Gewand umwallte Gestalt gewahrte, die dort schwebte, reglos und mit vor der Brust verschränkten Armen. Ihre Augen starrten in milchigem Weiß.
»Ihr?«, fragte sie nur.
»Seid Ihr überrascht?«
»Durchaus. Ich hatte nicht erwartet, Euch so weit entfernt von …«
»Ihr hattet vieles nicht erwartet, ist es nicht so? Auch Eure Versetzung an diesen Ort nicht.«
»Nun«, entgegnete Glennara ausweichend, »ich habe mich bemüht, die Anweisungen der Erhabenen Schwester nach bestem Wissen auszuführen.«
»Das habt Ihr«, bestätigte die schwebende Gestalt, »und mehr als das.«
»Wie meint Ihr das?«
»Ihr habt dazu beigetragen, die Geschichte zu verändern, Glennara, dafür gebührt Euch mein Respekt und mein Dank.«
»Die Geschichte zu verändern?«, fragte die Gildemeisterin zweifelnd. »Ich fürchte, ich verstehe nicht. Wann soll ich die Dinge getan haben, von denen Ihr sprecht?«
»Noch nicht«, gab die schwebende Gestalt zurück, »aber Ihr werdet sie tun, schon in wenigen Augenblicken.«
Glennara begriff noch immer nicht, wovon die Rede war, aber sie gab sich alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Es musste sich um einen Test handeln, um eine Prüfung ihrer mentalen Reife. Entsprechend konnte ihre nächste Antwort über ihre Zukunft innerhalb der Gilde entscheiden …
»Was soll ich tun?« Sie neigte ergeben das Haupt, kaum anders als der Robbenmann zuvor.
»Nichts«, lautete die seltsame Antwort. »Wartet ab. Schließt die Augen und vertraut darauf, dass Eure Bestimmung Euch leiten wird.«
Glennara gehorchte.
Sie wollte zeigen, dass sie würdig war, den nächsten Grad der Reife zu erlangen, dass sie bereit und willens war, zur Ordenswelt zurückzukehren und sich dort neuen Aufgaben zu stellen, dass sie in der Lage war …
Ein leises Knurren unterbrach ihren Gedankengang.
Die Gildemeisterin widerstand der Versuchung, die Augen zu öffnen. Auch dies mochte Teil der Prüfung sein. Stattdessen versuchte sie, sich zu konzentrieren und das innere Gleichgewicht zurückzuerlangen, das den Schwestern der Gilde als das höchste Ideal galt.
Es gelang ihr nicht.
Ein erneutes Knurren hinderte sie daran.
Es war näher als zuvor und paarte sich mit dem ekelerregenden Gestank von Fäulnis und Verwesung.
Die hässliche Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte, ließ die Gildemeisterin alle Beherrschung vergessen. Sie riss die Augen auf und sah, wer vor ihr stand.
Einen Moment lang war sie wie erstarrt vor Entsetzen. Dann öffnete sich ihr Mund zu einem gellenden Schrei, der jedoch nie erklang. Denn die Klaue des Wolfs schnellte vor und zerfetzte ihre Kehle.
Erstes Buch
CALIGO PRODITIONIS
»Das Erste unter allen Gesetzen jedoch ist Folgendes: Die Herrschaft über das flüchtige Element soll auf alle Zeit jenen vorbehalten bleiben, die befähigt sind, kraft ihres Willens die Klüfte zwischen den Welten zu überbrücken – den Levitatinnen der Gilde.«
Pakt der Gilde · Präambel
1. Kapitel
Es war eine Prozession des Schweigens.
Dreizehn Frauen in weiten Roben, die die steinernen Stufen hinabstiegen. Immer weiter drangen sie in das Gewölbe vor, das sich dem Inneren eines gigantischen Schneckenhauses gleich in die Tiefen Etheras erstreckte. Das Licht, das sie begleitete und die umgebende Schwärze doch nur unzureichend vertrieb, rührte von kleinen eisernen Schiffen her, in denen Kohlefeuer brannten; wie von unsichtbarer Hand geführt, schwebten sie neben den Frauen her, deren Augen von einem milchig anmutenden Schleier überzogen waren.
Sie waren die numeratae, die Gezählten; die obersten und ranghöchsten Schwestern der Gilde und damit die legitimen Nachfolgerinnen jener glorreichen primae, die die Schwesternschaft einst begründet hatten. Vor vielen Generationen schon hatten sie sich königlichem Gebot widersetzt, auf dass kein weltlicher Herrscher, auf dass kein Mann jemals wieder Macht über sie gewänne. Doch hier, tief im Herzen der Gildewelt, war die Erinnerung an sie so lebendig wie einst.
Die dreizehn Frauen setzten ihren Weg fort, vorbei an bizarren Skulpturen, die sich im Fels geformt hatten, hinab zur Quelle der Macht. Je tiefer sie kamen, desto schwieriger wurde das Vorankommen. Nicht nur, weil die Luft in dem sich krümmenden und windenden Felsengang mit jedem Schritt stickiger wurde und sich beständig erwärmte. Sondern auch, weil sich den Schwestern des Rates eine unsichtbare Barriere in den Weg zu stellen schien; eine Barriere, errichtet von einem fremden Willen.
Schließlich endete der Stollen und mündete in eine Höhle, die so riesig war, dass der Schein der Feuerschiffchen nicht mehr ausreichte, sie vollständig zu erhellen. Im Zentrum stand ein geräumiges Zelt, das von innen beleuchtet war, wie ein großer Leuchtkörper inmitten der Dunkelheit schwebend. Der Boden ringsum lag in Schwärze, lediglich eine steinerne Brücke war zu sehen, die vom Rand der Höhle zum Vorplatz des Zeltes führte und dabei ungeahnte Tiefen überwand. Lautlos schritten die Frauen hinüber, begleitet von ihren Fackeln, die erst zu Boden sanken, als die numeratae die andere Seite erreicht hatten. In einem Halbkreis nahmen sie vor dem Zelt Aufstellung, schlugen die Kapuzen ihrer Roben zurück und verbeugten sich tief und ehrerbietig. Dabei klärte sich der Blick ihrer Augen.
»Erhabene Schwester«, rief schließlich Harona, die die Gezählten zu ihrer Sprecherin gewählt hatten. »Wir sind gekommen wie von Euch verlangt!«
In dem Zelt, dessen Eingang verschlossen war, schien sich zunächst nichts zu regen. Dann war ein leises Schlurfen zu vernehmen, als wenn sich jemand langsam und schwerfällig über den steinernen Boden schleppte, und eine zaghafte Stimme erklang. »Ich danke Euch, Schwestern, dass Ihr meinem Ruf gefolgt seid. Wichtige Dinge sind es, die Eure Anwesenheit hier erforderlich machen.«
Die numeratae verbeugten sich abermals, um ihrem Oberhaupt Respekt zu erweisen. In einigen Mienen war Betroffenheit zu lesen. Die Stimme der soror levitata hatte seit der letzten Versammlung abermals an Kraft verloren. Es schien sich zu bewahrheiten, was einige hinter vorgehaltener Hand behaupteten und die meisten längst befürchteten.
Die Erhabene Schwester wurde schwächer.
Sie würde sterben.
Ein tiefer, rasselnder Atemzug war in der Stille zu hören. Einige Gildemeisterinnen tauschten betroffene Blicke. Andere starrten zu Boden, um sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.
»Geliebte Schwestern«, drang es weiter aus dem Zelt, »ich habe Euch rufen lassen, weil tiefe Sorge mein Herz verdunkelt. Über tausend Zyklen hinweg hat die Gilde von Ethera die Lüfte beherrscht, so wie die primae es uns vorgegeben haben, und die Völker des Sanktuarions sind uns dafür dem Pakt gemäß mit Respekt und Dankbarkeit begegnet. Doch diese Zeiten der Ruhe und des Friedens gehen ihrem Ende entgegen. Dunkle Kräfte erstarken. Menschen, die dem Einfluss des Nox verfallen sind und Lügen über die Gilde verbreiten; aber auch Animalen und Chimären, die den Menschen gleich sein wollen und unsere Vorherrschaft anzweifeln, sodass sich die Geschichte gegen uns zu wenden droht.«
Wieder wurden verstohlene Blicke getauscht.
Die Ratsschwestern hatten von den Gerüchten gehört, sie jedoch ins Reich der Legenden verwiesen, so lange sie nicht offiziell bestätigt worden waren. Genau dies jedoch schien gerade zu geschehen.
»Immer häufiger«, fuhr die Erhabene Schwester mit brüchiger Stimme fort, »wurde mir in jüngster Zeit berichtet, dass Levitatinnen angefeindet wurden. Auf Pilar kam es zu einer bewaffneten Erhebung, der die dortige Gesandte mithilfe der Schöpferin entkommen konnte, zu unseren Schwestern auf Ayforas und Ulster haben wir jeden Kontakt verloren, sodass ihr Schicksal ungewiss ist. Auf Jordråk jedoch ist geschehen, wovor wir alle uns insgeheim gefürchtet haben.«
Erneut tauschten die numeratae verstohlene Blicke.
»Als Euer Oberhaupt habe ich die traurige Pflicht, Euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass unsere Mitschwester Glennara, die als missa auf Jordråk weilte, auf ebenjener Welt einem feigen Mordanschlag zum Opfer gefallen ist.«
Wären die Tiefen Etheras von einem Weltenbeben erschüttert worden, die Bestürzung der Ratsschwestern hätte kaum größer sein können.
»Ein Mordanschlag?«
»Gegen eine Vertreterin der Gilde …?«
Entsetzte Blicke wurden getauscht, einige Schwestern, vor allem die älteren, begannen zu weinen. Doch auch ihre bitteren Tränen änderten nichts daran, dass auf jener fernen, bitterkalten Welt geschehen war, was niemals hätte geschehen dürfen.
»Frevel!« Graia, die Älteste der dreizehn, raufte sich das ergraute Haar. »Der Pakt wurde gebrochen!«
Zustimmende Rufe wurden laut, das Entsetzen schlug in Empörung um. Geduld und Gleichmut, die notwendigen Voraussetzungen für ein ausgewogenes Urteil, drohten verloren zu gehen angesichts der schrecklichen Nachricht.
»Der Pakt wurde gebrochen, in der Tat«, verschaffte sich deshalb Meisterin Cedara Gehör, deren besonnenes Wesen von allen geschätzt wurde. Das satte Königsblau ihrer Robe bot selbst im Fackelschein einen auffälligen Kontrast zum Grau und Schwarz ihrer Mitschwestern. »Doch sollten wir abwarten, was unsere Erhabene Schwester uns weiter zu sagen hat.«
Die Aufregung legte sich daraufhin ein wenig, nicht weil die Frauen sich beruhigt hätten, sondern aus Respekt vor ihrer geistigen Führerin. »Ich danke dir, Schwester Cedara, für deine Worte«, ließ diese sich wieder vernehmen. »So großes Verständnis ich für Eure Wut hege, geliebte Schwestern, und sosehr auch mein Innerstes in Aufruhr ist über diese frevlerische Untat, rate ich dennoch zur Besonnenheit. Zorn und Rachsucht sind schlechte Ratgeber, die das Gleichgewicht stören und die Vernunft verstummen lassen.«
»Das ist wahr«, räumte Meisterin Graia ein. »Dennoch kann die Gilde es nicht einfach hinnehmen, wenn eine der Ihren getötet wird. Offenbar haben wir den Lügen und Schmähreden, die man über uns verbreitet, zu lange tatenlos beigewohnt. Nun haben sie furchtbare Wirkung gezeitigt.«
Wieder gab es Zustimmung, und erneut war es Cedara, die einen Einwand erhob.
»Solange es die Gilde gibt«, gab sie zu bedenken, »wurde sie mit Neid und Missgunst bedacht. Daran ist nichts Neues.«
»Wollt Ihr leugnen, dass die Aggression gegen unsere Schwesternschaft in den vergangenen Zyklen zugenommen hat? Habt Ihr nicht gehört, was die Erhabene Schwester gesagt hat?«
»Ich habe es gehört«, versicherte Cedara. »Doch solange wir nicht wissen, was dort auf jener fernen Welt tatsächlich vorgefallen ist, sollten wir keine voreiligen Schlüsse …«
»Voreilige Schlüsse? Eine der Unseren wurde getötet, und Ihr sprecht von voreiligen Schlüssen?« Der helmartige Schopf, zu dem Graia ihr langes graues Haar gebunden hatte, bebte vor Empörung. »Ich glaube, Schwester, dass Ihr es Euch ein wenig zu leicht macht. Meisterin Glennara wurde nicht das Opfer eines tragischen Unglücks! Zu allen Zeiten wurden wir angefeindet und geschmäht, das ist wahr, aber nie zuvor hat es jemand gewagt, die Hand gegen uns zu erheben. Was, so frage ich Euch, geliebte Schwestern, wird als Nächstes geschehen? Womöglich wird auch auf anderen Welten schon bald unser Blut fließen!«
Das Entsetzen, in das sie diese Vorstellung stürzte, war den meisten der Gezählten deutlich anzusehen. Lediglich Cedara bewahrte zumindest äußerlich ihre Gelassenheit – und Harona, deren schmale, von Askese gezeichneten Züge kaum jemals eine Gefühlsregung erkennen ließen.
»Sehr richtig«, pflichtete sie Graia ruhig, aber entschieden bei. »Was auf Jordråk geschehen ist, sollte uns eine Warnung sein – eine Warnung der Schöpferin, den Veränderungen, die allenthalben vor sich gehen, nicht weiter tatenlos zuzusehen.«
»Von was für Veränderungen sprichst du«, fragte Cedara.
»Als ob du das nicht wüsstest!« Eisige Blitze schienen aus Haronas gletscherblauen Augen zu schlagen. »Muss ich ausgerechnet dir sagen, was auf den Außenwelten vor sich geht? Dir von den Unruhen erzählen? Von den blutigen Fehden, die dort vor sich gehen?«
»Wenn ich mich recht entsinne«, konterte Cedara, »haben wir selbst diese Fehden stets gutgeheißen, so lange sie unseren Zwecken dienten …«
»Das war zu einer anderen Zeit! Nordath Durandor war ein großer Herrscher, der es verstand, die Welten des Sanktuarions im Gleichgewicht zu halten und den Schwestern der Gilde zuverlässigen Schutz zu gewähren. Sein Sohn jedoch ist durch und durch verkommen. Unter seiner Herrschaft ist Tridentia ein Hort der Unzucht und des Lasters geworden – wen will es da verwundern, wenn das Reich in Auflösung begriffen ist und die Gesetze des Paktes, die uns über so viele Zyklen geschützt und bewahrt haben, keine Gültigkeit mehr besitzen?«
Cedara unterdrückte ein Seufzen. »Wir alle wissen, Schwester, dass du kein Parteigänger König Ardaths bist, dessen ausschweifende, ja verschwenderische Lebensweise der unseren in jeder Hinsicht widerspricht. Aber es missfällt mir, dass du den tragischen Tod unserer Mitschwester Glennara dazu missbrauchst, um Unfrieden zu stiften und unsere Mitschwestern gegen den König aufzubringen.«
»Unfrieden?« Haronas Augen weiteten sich. »Du behauptest, ich würde Unfrieden stiften? Bin ich es, der seine Frevlerhand gegen unsere Mitschwester erhoben hat? Der die Werte unserer Gemeinschaft verachtet und sie mit Füßen tritt?«
»Nein, aber …«
»Oder bin ich es gewesen, der seine Fürsorgepflicht der Gilde gegenüber sträflich vernachlässigt und der durch seine falsche Politik das Sanktuarion ins Chaos stürzt?«, legte Harona nach, noch ehe Cedara ihren Einwand vorbringen konnte. »Nein, geliebte Schwestern! Nicht wir sind es, die den Unfrieden säen, sondern jene dort draußen, die von nokturnen Mächten besessen sind und nach unserer Vernichtung trachten, die Tiermenschen und jene, die sich mit ihnen verbünden. Und was den König betrifft, so spreche ich nur die Wahrheit aus – jene Wahrheit, die du nicht anerkennen willst, Cedara.«
»Eine jede unserer Schwestern weiß, dass ich mich der Wahrheit nie verschlossen habe«, widersprach Cedara. »Dennoch warne ich vor voreiligen und übereilten Schlüssen.«
»Ist es voreilig, wenn wir uns gegen die Mörder unserer Schwester stellen?«, fragte Harona. »Ist es übereilt, wenn wir handeln, statt weiter abzuwarten, was geschieht?«
»Was wollt Ihr tun?«
»In meinen Augen haben wir schon viel zu lange gewartet, geliebte Schwestern«, entgegnete Harona, und einige, allen voran die gestrenge Graia, bekundeten lautstark ihre Zustimmung. »Den Feinden der Gilde muss Einhalt geboten werden – oder dort draußen wird sich ein Sturm zusammenbrauen, der uns alle hinwegreißen wird! Wir müssen ein Zeichen setzen, ein Signal, dass auf Jordråk eine Grenze überschritten wurde, die niemals hätte überschritten werden dürfen. Die Frevler müssen ausfindig gemacht und bestraft werden.«
»Darin stimmen wir überein«, gab Cedara zu. »Doch wer sind die Täter? Sollten wir dies nicht zunächst herausfinden?«
»Durchaus«, räumte Harona ein, und ihrem dünnen Lächeln war anzumerken, dass sie mit dem Einwand gerechnet, ja ihn sogar erwartet hatte. »Deshalb sollte jemand nach Jordråk gehen und die Vorgänge vor Ort untersuchen.«
»Sehr richtig«, stimmte eine der anderen Ratsschwestern zu, »ein legatus legis sollte sich der Sache annehmen!«
»Ich würde Euch zustimmen, Meisterin Vana, wenn Nordath noch an der Macht wäre«, erwiderte Harona, »doch statt seiner sitzt sein liederlicher Sohn auf dem Thron. Wie soll ein Legat des Königs auf Jordråk für Recht und Ordnung sorgen, wenn noch nicht einmal der König selbst dies vermag? Nein, geliebte Schwestern, wir selbst müssen uns dieser Aufgabe annehmen und eine der Unseren nach Jordråk entsenden.«
»Eine von uns? Ihr meint, eine inquisitora?«
»Jenes Wort hast du gebraucht, nicht ich«, wehrte Harona ab. »Du weißt so gut wie ich, dass das Amt der Inquisitorin nicht mehr existiert.«
Cedara schnaubte, ihre sonst so wachen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was sagt Ihr dazu, Erhabene Schwester?«, wandte sie sich dem Zelt der Anführerin zu, die zuletzt beharrlich geschwiegen hatte.
Die Antwort ließ auf sich warten, so als müsste die Erhabene Schwester zunächst Atem schöpfen. »Angesichts der jüngsten Ereignisse«, ließ sich ihre brüchige Stimme schließlich vernehmen, »ist es schwer zu beurteilen, was richtig ist und was falsch. Aber ich stimme zu, dass wir mehr Informationen brauchen, um ein ausgewogenes Urteil zu fällen – und dass wir diese Informationen aus erster Hand bekommen sollen. Ich entspreche deshalb Schwester Haronas Ersuchen, eine numerata nach Jordråk zu entsenden.«
»Und wer?«, fragte Meisterin Vana. Furcht und Ratlosigkeit schienen ihre kleinwüchsige, zerbrechlich wirkende Gestalt zu beugen. »Wer soll auf jener entlegenen, barbarischen Welt den Kampf gegen das Nox aufnehmen?«
»Ich erbiete mich freiwillig, diese Aufgabe zu übernehmen«, verkündete Harona großmütig.
»Du?«, fragte Cedara schnell und sehr viel schärfer, als es unter den numeratae üblich war. »Ausgerechnet du?«
Haronas Gesichtsausdruck blieb unverändert. Nur ihre schmalen Brauen hoben sich. »Du hast Einwände?«
»Du selbst hast gesagt, dass es an den Rändern des Reiches gärt und brodelt«, konterte Cedara. »Hältst du es für klug, auf diese Weise noch weiter Öl ins Feuer zu gießen?«
»Vielleicht nicht«, räumte Harona ein. »Mir ist durchaus bewusst, dass ich auf den Außenwelten einen … zwiespältigen Ruf genieße. Aber ich kann hier beim besten Willen niemanden sehen, der außer mir bereit wäre, sich dieser schwierigen und gefährlichen Aufgabe zu stellen. Oder seht Ihr das anders?«
Erneut zeigte sich ein dünnes Lächeln auf ihren blassen Zügen – und Cedara wusste, dass sie in die Falle gegangen war. Sie biss sich auf die Lippen, suchte fieberhaft nach einem Ausweg, nach einer Lösung, die den Rat überzeugte und sie dennoch nicht dazu zwang, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Aber es gab keine.
Harona hatte den Köder ausgelegt, und sie war darauf hereingefallen.
Genau wie früher …
»Ich werde gehen«, erklärte Cedara und gab sich Mühe, ihren Widerwillen dabei zu verbergen.
»Ihr?«, fragte Graia.
»Ihr alle wisst, was ich einst gewesen bin und dass ich genau wie Schwester Harona über die Kenntnisse verfüge, die nötig sind, um diesen Auftrag zu erfüllen«, sagte sie in die Runde, »aber nicht als Inquisitorin, was die Völker der Außenwelten nur noch mehr gegen uns aufbringen würde, sondern in meiner Eigenschaft als Mitglied dieses Rates.«
»Und du glaubst, damit Erfolg zu haben?«, fragte Harona.
»Geschulte Sinne und ein wacher Verstand vermögen die Wahrheit eher ans Licht zu bringen als nackte Furcht.«
»So hast du nicht immer gedacht.«
»Aber heute denke ich so«, beharrte Cedara und wandte sich den anderen numeratae zu. »Wer von uns beiden also soll gehen?«
Ratlosigkeit sprach aus den Augen der Ratsschwestern. Eine jede von ihnen wusste genau, worauf Cedara angespielt hatte und weshalb vieles dagegen sprach, Harona mit jener Mission zu betrauen. Aber nicht eine von ihnen hatte den Mut, dies offen auszusprechen.
»Ich habe nachgedacht«, vermeldete die Anführerin der Gilde bedächtig, »und in meiner Weisheit habe ich beschlossen, dass Cedara gehen soll.«
»Wie Ihr wünscht«, sagte Harona nur und verbeugte sich tief – die Tatsache, dass sie auf jeden Widerspruch verzichtete, machte deutlich, dass Cedara richtig vermutet hatte.
Es war eine Falle gewesen.
Und sie war blindlings hineingetappt …
»Euer aller Fähigkeiten und Vorzüge habe ich wohl abgewogen«, fuhr die Erhabene Schwester leise fort, »Cedaras Gabe jedoch, stets die Mitte zu finden zwischen Vernunft und Gefühl, scheint mir am besten geeignet, um diese schwere Aufgabe zu lösen. Die Schuldigen müssen gefunden werden, und das möglichst rasch.«
»Wie Ihr es wünscht, Erhabene Schwester«, sagte Cedara und verbeugte sich ebenfalls – was hätte sie sonst auch tun sollen? »Jedoch bitte ich Euch zu bedenken, dass ich eine Schülerin habe, die kurz davor steht, die Windweihe zu empfangen. Wenn Ihr es erlaubt, so werde ich sie für die Zeit meiner Abwesenheit in die Obhut einer anderen Meisterin geben.«
»Das wäre nicht ratsam«, wandte Schwester Vana ein. »Die Ausbildung zur Levitatin darf nicht unterbrochen, das Band zwischen Euch und Eurer Schülerin nicht durchtrennt werden.«
»Dann soll deine Schülerin dich begleiten«, schlug Harona unverblümt vor. »Welche Schule könnte besser sein als die der rauen Wirklichkeit?«
»Du willst Kalliope dem Schutz der Gemeinschaft entreißen? Ausgerechnet jetzt?« Cedara sah die Ratssprecherin herausfordernd an. »Würdest du das auch deiner eigenen Schülerin zumuten?«
Erneut formten Haronas Lippen ein dünnes Lächeln. »Wenn es ihrem Vorankommen diente – warum nicht?«
»Es ist entschieden«, gab die Erhabene Schwester bekannt, mit einer Endgültigkeit, die jeden Widerspruch zum Frevel gemacht hätte. »Deine Schülerin wird dich begleiten, Cedara. Jedoch darfst du ihr die wahre Natur eurer Mission erst enthüllen, wenn ihr am Ziel eurer Reise angelangt seid. Zudem werdet ihr Ethera nachts und in aller Heimlichkeit verlassen. Nichts von dem, was hier gesprochen wurde, darf vorher nach außen dringen.«
»Ja, Erhabene Schwester«, bestätigte Cedara und verbeugte sich. »Wie Ihr wünscht.«
»Ich danke euch, Schwestern«, drang es aus dem leuchtenden Inneren des Zeltes. »Geht nun, die Beratung hat mich geschwächt und ich muss ruhen. Nur Harona und Cedara bitte ich, noch zu bleiben.«
»Wie Ihr wünscht, Erhabene Schwester.«
Graia, Vana und die übrigen numeratae beugten die Häupter, dann schlugen sie die Roben ihrer Kapuzen wieder herauf, und sie gingen so lautlos, wie sie gekommen waren, elf schweigende Gestalten. Ihre Feuerschiffchen verließen den Boden und folgten ihnen, sodass es merklich dunkler wurde in der Höhle. Nur noch das Zelt sowie die beiden verbliebenen Fackeln verbreiteten unstetes Licht, das einen beständigen Kampf gegen die umgebende Dunkelheit zu führen schien.
»Kommt näher«, verlangte die Erhabene Schwester.
Cedara und Harona leisteten der Aufforderung Folge. Dabei konnten sie, wie schon bei ihrer Ankunft, den Widerstand spüren, der sich ihnen entgegenstellte und der nun, da sie sich dem Zelt noch weiter näherten, zu körperlichem Schmerz wurde. Cedara merkte, wie ihr Schweiß auf die Stirn trat. Unruhe erfüllte sie, die ihr inneres Gleichgewicht bedrohte.
»Näher«, forderte die Erhabene Schwester unbarmherzig.
Cedara streifte Harona mit einem Blick. Auch ihr war anzusehen, dass ihr die Präsenz der Erhabenen Schwester zusetzte.
Die beiden numeratae bemühten sich, sich weder den Schmerz anmerken zu lassen, der mit der Wucht eines Schraubstocks auf ihre Schläfen drückte, noch die Überwindung, die es sie kostete, die Eingangsplane des Zeltes beiseitezuschlagen und einzutreten. Feuchtwarme, von Kräutergeruch durchsetzte Luft schlug ihnen entgegen, die von Dampfschwaden durchsetzt war, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Erst als die beiden Schwestern weiter vortraten, klärte sich die Sicht – auf den Anblick, der sie jenseits der Schleier erwartete, waren sie jedoch nicht gefasst. Der Zustand ihrer Anführerin hatte sich seit ihrem letzten Besuch dramatisch verschlechtert, die Verwandlung war weiter vorangeschritten.
Unumkehrbar.
Unaufhaltsam.
»Seht mich nicht so an«, verlangte die Erhabene Schwester mit ihrer wispernden Stimme, die in solch krassem Gegensatz zu ihrer Erscheinung stand. »Ihr wusstet, was geschehen würde.«
»Das ist wahr«, gab Cedara zu. »Jedoch Euch so zu sehen …«
»Es ist der Preis für das, was ich bin. Doch ich habe euch nicht zu mir gerufen um eures Mitleids willen, sondern weil ich euch etwas mitzuteilen habe. Ich hätte wissen müssen, dass eine unserer Mitschwestern gewaltsam zu Tode kommen würde, denn ich war gewarnt.«
»Wir alle waren gewarnt«, versicherte Harona. »Wären wir den Animalen gegenüber nicht so nachlässig gewesen …«
»So meine ich es nicht«, wandte die Anführerin der Schwesternschaft ein und hob abwehrend die kurzen Arme. »Vor einigen Wochen hatte ich einen Traum. Darin sah ich, wie eine Schwester unserer Gemeinschaft grausam ermordet wurde, aber weder konnte ich ihr Gesicht erkennen noch den Ort des Verbrechens. Ich wusste nicht, was ich von jenem Traum halten sollte – bis du, Harona, mir die Nachricht vom Tod Schwester Glennaras überbrachtest. Von diesem Augenblick an wusste ich, dass es die Zukunft war, die ich gesehen hatte.«
»Ihr … habt die Gabe der Prophetie erlangt?«, erkundigte sich Cedara vorsichtig. Gelegentlich kam es vor, dass Gildeschwestern über die Fähigkeit der Levitation hinaus auch noch andere Begabungen entwickelten, darunter auch jene der Hellsicht – doch sie taten es stets erst am Ende ihres Lebens, wenn die Schatten der ewigen Nacht bereits begannen, sich über sie zu breiten …
Die Erhabene Schwester wog das entstellte, unförmig gewordene Haupt. »Ich werde diese Welt bald verlassen«, stellte sie mit erschreckender Nüchternheit fest, »und ich will nicht gehen, ohne euch zu warnen.«
»Uns zu warnen?« Harona hob eine Braue. »Wovor?«
»Glennaras Tod war nicht alles, was ich gesehen habe. Jordråk war erst der Anfang, und es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Mehr Blut wird fließen, der Krieg wird über uns kommen, und eine Zeit der Finsternis wird anbrechen. Aufruhr und Revolte werden das Sanktuarion in Flammen setzen, und die Welten, wie wir sie kennen, werden untergehen.«
»Ihr … sprecht vom letzten Kampf«, sagte Cedara vorsichtig. »Vom Ende der Zeiten.«
»Doch wenn dies geschieht, werde ich nicht mehr am Leben sein – und es ist an euch beiden, meine Nachfolge anzutreten.«
»Welche von uns?«, wollte Harona wissen.
»Diese Frage habe auch ich mir wieder und wieder gestellt: Welche von euch beiden wird am ehesten in der Lage sein, unsere Gemeinschaft durch diese dunklen Zeiten zu führen?« Die Erhabene Schwester keuchte, ihr Atem ging rasselnd und schwer. »Ich erinnere mich, wie ihr einst wart. Gemeinsam seid ihr nach Ethera gekommen, erst sehr viel später als die meisten, und habt eure Ausbildung begonnen. Sorores facto animoque – Schwestern in der Tat und im Geiste …«
»Das ist lange her«, bemerkte Harona kühl. »Seither ist viel geschehen.«
»Vieles, das euch geprägt hat«, stimmte die Anführerin der Gilde zu, »und vieles, das euch trennt. Du, Cedara, würdest die Schwesternschaft mit Nachsicht führen, du, Harona, mit Disziplin. Da ich trotz meiner Gabe nicht zu sagen vermag, welches von beiden uns in jener dunklen Zukunft besser dienen wird, ist die Entscheidung über meine Nachfolge zugleich auch eine Entscheidung über das Schicksal der Gilde. Lange habe ich mit mir gerungen und die Urmutter um Weisheit gebeten – und endlich wurde sie mir zuteil.«
»Und?«, fragte Harona nach. »Zu wessen Gunsten habt Ihr Euch entschieden?«
»Zu euer beider – oder für keinen von beiden«, entgegnete die Erhabene Schwester rätselhaft. »Ich werde mein Amt an euch beide übergeben. Auf diese Weise ist alles vereint, Milde und Disziplin, Weisheit und Strenge.«
»Aber … das ist unmöglich«, wandte Cedara ein. Die Aussicht, zum Oberhaupt der Gilde ernannt zu werden, bestürzte sie. Nie hätte sie mit einer solchen Entwicklung gerechnet, und der bloße Gedanke der Verantwortung, die auf den Schultern einer Erhabenen Schwester ruhte, ließ sie erschaudern. Jedoch entsetzte sie die Vorstellung, sich dieses Amt mit Harona teilen zu müssen, noch ungleich mehr.
»Nichts ist unmöglich, wenn guter Wille am Werk ist«, zitierte die Erhabene Schwester den Codex. »Ihr werdet eure Differenzen überwinden und wieder Schwestern sein wie einst – das Überleben der Gilde hängt davon ab.«
Cedara biss sich auf die Lippen. Der Widerspruch lag ihr auf der Zunge, zusammen mit einem Dutzend Argumenten, die belegen sollten, dass die Anführerin der Gilde Unmögliches verlangte – aber sie schwieg. Auch in der Vergangenheit hatte es Zeiten gegeben, da zwei Erhabene Schwestern das Schicksal der Gilde gelenkt hatten, Zeiten der Krise und des Neubeginns. Und wenn sich bewahrheitete, was die Visionen von der Zukunft gezeigt hatten, so standen der Schwesternschaft genau solche Zeiten bevor.
»Ich verstehe«, sagte Cedara deshalb nur.
»Harona?«
»Ich bin einverstanden«, erklärte die Sprecherin des Schwesternrates ohne Zögern.
»Dann habt ihr mein Herz soeben um eine schwere Bürde erleichtert.«
»Soll ich es den Schwestern sagen?«
»Noch nicht, Harona. Der Augenblick, da sie all dies erfahren werden, naht ohnehin mit beängstigender Schnelle. Gönne ihnen noch diese kurze Zeit des Friedens und des Gleichgewichts. Es wird nicht mehr lange währen.«
»Wie Ihr wünscht.«
»Geht jetzt und stärkt euren Geist für die Aufgaben, die vor euch liegen«, entgegnete die Erhabene Schwester, die sich nicht länger aufrecht halten konnte und erschöpft auf ihr Lager niedersank. Ihre Augen wurden glasig und nahmen einen entrückten Ausdruck an. »Uns allen stehen Zeiten der Prüfung bevor. Dunkelheit senkt sich über die Welt, das Nox … Der letzte Kampf steht bevor, das Ende der Welten. Und wir, die Schwestern der Gilde, müssen obsiegen.«
2. Kapitel