Susanne Schädlich
Immer wieder Dezember
Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich
Knaur e-books
Susanne Schädlich, geboren 1965 in Jena, ist literarisch tätig. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Amerikanischen. Sie lebte elf Jahre in den USA; 1999 kehrte sie nach Berlin zurück.
eBook-Ausgabe 2014
Knaur eBook
Erweiterte Neuausgabe April 2014
© 2009 bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Jürgen Bauer
ISBN 978-3-426-55858-4
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Rechtschreibung und Zeichensetzung der Zitate aus den Dokumenten folgen dem Original
Für meine Schwester
Für meine Mutter
Für meinen Vater
Ein Schuss in den Mund, nicht weit von meiner Wohnung, in einem kleinen Park an verkehrsreicher Straße, an einem überaus grauen Dezembersonntag 2007, mitten in Berlin. Ein Mann tot auf einer Bank: Karlheinz Schädlich, der Bruder meines Vaters, unser Onkel. Ja, genau, der mit der Pfeife, die er immer bei sich trug, der aus Pfeifenreinigern Figuren bog, die wir Kinder uns ans Fenster stellten, der mit seinem Tabak den Duft der Ferne in die Wohnung ließ. Der voller Geschichten war und sich Zeit nahm und zuhörte, der ein offenes Ohr hatte, für uns. Und für viele andere. Dem ich vertraut habe, bis 1992.
Damals erreichte mich ein Anruf in Los Angeles. Es war der 29. Januar. Merkwürdig, dass ich das Datum so genau im Kopf habe, aber nicht die Stelle, an der ich mich befand, als das Telefon klingelte. Stand ich am Fenster der Küche mit atemberaubendem Blick über die Stadt? Abends war es. Der Anrufer war die Mutter, sie sagte: »Setz dich. Ich muss dir etwas sagen.«
Ich setzte mich. »Euer Onkel, der Bruder deines Vaters, mein Schwager, hat uns jahrelang ausspioniert. Sein Deckname war IM ›Schäfer‹.«
Ich glaube, ich sagte nichts. Die Mutter sagte: »Auch hinter der Sache mit dir hat er gesteckt.«
Ich glaube, als die Mutter mich informierte, habe ich geweint. Ich glaube, nachdem ich geweint habe, fragte ich, woher sie das wisse. Ob sie sicher sei. Sie war sicher, so sicher wie das Amen.
Danach habe ich nicht wieder mit ihm gesprochen. Ich habe versucht, ihn aus meinem Bewusstsein zu löschen. Ihn einfach vergessen, weil man vergessen wollte. Aber sosehr man sich auch anstrengte, es funktionierte nicht.
Und dann, ein Jahr vor dem Schuss, Zeitungsartikel, die über den Onkel berichteten. Obwohl wir das, was dort stand, seit langem wussten und weit mehr, war es ein Schrecken, denn jetzt war es öffentlich, für alle Welt zu lesen, wer er war.
Die Aufregung legte sich, zur Ruhe kamen wir nicht. Sechs Monate später schrieb der Onkel an den Vater. Sieben Zeilen nach fünfzehn Jahren Schweigen. Dass er bereue, was er ihm und seinen Nächsten angetan habe, dass er sich schäme. Für Angst und Feigheit, moralische und emotionale Deformierung und weil er mit den Feinden des Bruders konspiriert habe. Aber dann der letzte Satz: »Ich kann mir kaum verzeihen, weil ich alles verspielt habe, was es einmal gab.« Die Wörtchen »ich«, »mir«, »kaum«, das Wissen, dass der Onkel Variationen dieser Zeilen auch an andere geschickt hatte, rückten das Geschriebene in ein anderes Licht.
Am 8. Oktober rief der Onkel den Vater an, sagte, eigentlich wisse er nichts zu sagen, und legte auf.
Am 17. Dezember klingelte mein Handy. Es war 9.23 Uhr. Montag. Ich schaute auf die Uhr, weil ich gerade vor dem Kindergarten stand.
Der Vater: »Ich rufe dich an, weil ich dir etwas sagen muss, es ist etwas Schlimmes passiert. Kannst du jetzt reden?«
Ich sagte, ich riefe sofort zurück.
In Panik schob ich das Kind durch die Tür, dachte, der Schwester sei etwas zugestoßen, der Mutter.
Um 9.31 Uhr rief ich ihn an.
Der Vater: »Heute Nacht gegen 2.00 Uhr klingelte die Polizei bei mir, um mir mitzuteilen, dass Karlheinz tot in einem Park aufgefunden wurde. Er hat sich erschossen.«
Ich wusste nichts zu sagen. Auf eine solche Nachricht finden sich nicht gleich Worte.
Der Vater: »Jetzt werde ich deine Schwester anrufen. Aber wie soll ich es ihr sagen?«
Ich sagte: »Nicht so wie mir, sag ihr gleich, was passiert ist.«
Was dann kam, war ein Spießrutenlauf. Anrufe bei der Mutter. Anrufe beim Vater. Er sollte Stellung nehmen.
Vor die Tür gingen wir nicht, wegen der Journalisten.
Am Dienstag waren die Zeitungen voll von dem lauten Tod.
Die Artikel rissen nicht ab. Und nicht nur das! Als Held kam er mir entgegen, mit Pfeife, lächelnd, sympathisch. Der »Gentleman IM« mit den »schlanken Händen eines Pianisten«, der »Tweedjackets liebte«, schrieben sie da, und viele, die es lasen, werden es geglaubt haben. »Ein Schöngeist, hochkultiviert, ein interessanter Gesprächspartner, der sich mit Literatur und Wissenschaft beschäftigte, stets hochdeutsch sprach und sich gewählt ausdrückte. Einer, der Freiräume brauchte und viel Luft zum Atmen.« Uns hat der Onkel die Luft geraubt. Die Harris-Tweed-Jacketts waren sein Schafspelz.
Es gibt kein Ende, das weiß ich jetzt. Nicht in dieser Angelegenheit. Nicht in dieser Zeit. Und noch etwas: Dieser Tod macht nichts ungeschehen. Deshalb werde ich darüber schreiben, weil alles miteinander zusammenhängt, weil ich draußen war und wieder hineingezogen werde. Dabei geht es mir gar nicht darum, etwas richtigzustellen, obwohl das eine oder andere richtiggestellt werden wird. Es geht mir auch nicht um Abrechnung, obgleich es sicher guttäte. Es geht auch nicht nur um die Sache mit dem Onkel. Es geht um Himmelsrichtungen zum Beispiel. Um das Wort WO. Wie auf einem Kompass. Wo gehöre ich hin, wo komme ich her? Darum, wie es ist, wenn man keine Wahl hat. Wie es für die war, die mitgingen mit dem Vater, oder für die, die blieben. Mir geht es um das, was war, und darum, wie es war. Davor und danach. Was hat das alles aus mir, aus uns gemacht? In zwei Systemen zu leben, erst in der DDR, dann in der Bundesrepublik. Wie ist das einzuordnen?
Gleich am Anfang konnte ich Schlagzeilen lesen wie »An diesem Wochenende hat Hans Joachim Schädlich die DDR verlassen«. Als wäre er alleine gegangen. Wir wurden allenfalls im Halbsatz erwähnt. Der Tross, der mitzog. Ich könnte sagen, um das Fürchten zu lernen. Das Fürchten hätten wir schon in der DDR lernen können. Man konnte sich vor vielem fürchten. Vor Männern zum Beispiel, die nachts an der Gartenpforte klingelten. Davor, dass sich nichts änderte in dem Staat, in dem man lebte und eigentlich leben wollte. Davor, dass immer mehr Freunde gingen. Man konnte sich sogar vor der eigenen Courage fürchten. Das taten wir nicht.
Die Dämonen der Vergangenheit sind wieder da. Dagegen hilft auch die Birke vor meinem Fenster nicht, durch die ein Wind geht. Der Himmel zieht sich zu. Ich betrachte das Schattenspiel der Zweige und muss an den Wald denken, durch den ich als Kind streifte. In Berlin-Köpenick, im Märchenviertel. Im Wald standen Birken. Ich strich um sie herum, besonders im Frühling. Von den Stämmen zog ich das Weiße ab, wie Pergament so dünn, steckte es behutsam in meine Hosentasche, damit es nicht knitterte. Zu Hause fügte ich die Stückchen zu einer Seite, schrieb etwas darauf. Das Papier wurde braun, die Wörter übertüncht vom Lauf der Natur.
In einem Buch habe ich gelesen, Birken seien die Dichter unter den Bäumen. Der Gedanke gefällt mir besser als der ihrer schützenden Kraft vor bösen Geistern.
Die Orte von früher sollen sich nicht einmischen in mein neues Leben. Abgestreift, ad acta, perdu. Doch wie mit den Dämonen, die im Verborgenen lauern, ist es mit Erinnerungen. Sie kommen unerwartet, wie jemand, der nicht eingeladen ist. Ich frage mich, ob es die Birken in dem Wald vor dem Haus mit dem Rotdornbaum, das wir 1977 verließen, noch gibt.
1977, das Jahr, in dem wir »nach drüben sind«, wie es hieß, als gehe man in Nachbars Garten. Ich war zwölf, schon Thälmannpionier, obwohl ich das Halstuch nach Möglichkeit nicht trug. Und fast schon ein Teenager. Das ist wichtig. Warum? Ich bekam mit, was vor sich ging, weil in unserem Haus offen gesprochen wurde. Über Politik und das, was um uns herum geschah. Dass ich draußen besser darüber schwieg, brauchte man mir nicht zu sagen.
Im Westen dann Sprachlosigkeit. Keine Zeit zu reden. Wir mussten uns zurechtfinden in dem neuen Staat, während die Familie fast zerbrach.
Für uns waren die Ereignisse der Jahre vor allem eine private Sache, für die wir selber kaum Worte fanden.
Jetzt frage ich auch andere, die dabeigewesen sind. Ich lese die Akten, bringe die Erinnerungen in eine Chronologie, in eine Abfolge, damit sie ein Ganzes ergeben und nicht nur Bruchstücke bleiben, die man sich am Familientisch erzählt.
Der Anfang ist nicht schwer zu finden. Es sind nicht die Kindheitstage im Märchenwald nahe der Rotkäppchenstraße in Berlin-Köpenick. Sie schlugen noch keine Wellen. Es ist nicht Amerika. Da hatten die Wellen schon geschlagen. Es sind die Tage im Dezember 1977, die keiner von uns vergisst.
Ich blicke aus dem Fenster meines Arbeitszimmers auf die Birke. Draußen tobt ein Sturm, ein anderer als der in jenen Wintertagen. Der brachte nicht nur Wind und Regen. Der veränderte meine Welt.
Es war ein Montag, genauer gesagt, der 5. Dezember. Später Nachmittag. Schon dunkel. Vielleicht verregnet. Sicherlich kalt. Ich kam von der Musikschule. Stieg aus der Straßenbahn, überquerte die Mahlsdorfer Straße in die Genovevastraße. Links der Wald, rechts der Bürgersteig, spärliches Licht von einsamen Laternen. Ich war die einzige dort. Ich weiß nicht, ab wann, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt rannte ich das Stück Genovevastraße bis zur Ecke Rotkäppchenstraße. Nicht aus Angst vor Geistern im Birkenwald. Nicht aus Angst vor dem Mörder, von dem wir Kinder uns erzählten. Erst im Herbst hatten zwei Freunde und ich auf dem Bordstein gesessen und uns ausgemalt, was tun, wenn ein Mann käme und uns Kekse anböte. Nicht annehmen natürlich. Ein Mann, der Kekse anbietet, ist ein Mörder.
Ein Mann kam die Straße entlang. Er hatte eine Packung Kekse in der Hand, aß. Wir blickten gierig. Er bot uns welche an. Zögernd schüttelten wir die Köpfe. Der Mann zuckte mit den Schultern und warf die Packung weg. Wir blickten ihm nach. Irgendwann stand ich auf, holte sie, setzte mich wieder zu meinen Freunden. Wir aßen sie alle. Und wir warteten darauf, an einer Vergiftung zu sterben.
Der Mann war kein Mörder.
Und die Männer, die nachts kamen, wenn die Eltern sich mit Freunden trafen? Das geschah in jener Zeit häufiger. Es gab viel zu besprechen.
Ich lag im Bett und wartete auf das Klingeln. Und es kam. Ich lief zum Wohnzimmerfenster, spähte aus der Dunkelheit hinunter auf die Straße. Da standen sie. Immer zu zweit. Trenchcoat und Hut. Sie klingelten noch einmal. Die Pforte war unverschlossen. Sie hätten die Klinke hinunterdrücken können. Das taten sie nicht. Sie redeten. Sie sahen zu mir herauf. Lange. Ich wusste, sie wussten, dass die Schwester und ich alleine waren. Ich hielt ihren Blicken in der Dunkelheit stand. Den Eltern sagte ich nichts. Mit den Männern in Trenchcoats wurde ich alleine fertig.
An der Ecke Rotkäppchenstraße hörte ich zu rennen auf. Langsam, als sei nichts, ging ich zum Haus Nummer 5. Ich klingelte wie immer. Ich drückte die Pforte auf wie immer. Ich stieg die Treppe hoch wie immer. Die Mutter öffnete mir die Tür. Nicht wie immer. Wir gingen in ihr Arbeitszimmer, sie sagte: »Setz dich, ich muss dir etwas sagen.« Ich setzte mich auf die weiße Liege mit der blauen Matratze. Die Mutter zog die Tür hinter sich zu: »Wir ziehen um. In den Westen, Samstag.« Sie sagte nicht, warum. Das musste sie nicht. Ich wusste, es hatte mit den Schriftstellern zu tun, die über die letzten Jahre immer wieder zu uns gekommen waren, mit dem, was ein Jahr zuvor mit der Ausbürgerung Biermanns begonnen hatte, mit dem Buch des Vaters, das erst vor ein paar Monaten im anderen Teil Deutschlands erschienen war.
Der Westen! Meine Augen müssen geleuchtet haben. Das, was ich im Fernsehen gesehen hatte, sollte ich mit eigenen Augen sehen. Nicht warten müssen, bis ich Großmutter war. Das waren die ersten Gedanken. Dann: Was soll aus den Freunden werden? Was aus der Schule? Was mit unseren Sachen?
Samstag, das waren nur fünf Tage. Ich muss gefragt haben, ob ich noch zur Schule dürfe? Wie lange sie es schon wüssten? Ob Jan, der Bruder, es wisse? Was mit Großmama sei? Die Mutter wird mir die Fragen beantwortet haben.
Ich fragte noch: »Und unsere Katze?«
»Sie kann nicht mitkommen.«
Ich fing an zu weinen.
»Du wirst wieder ein Kätzchen bekommen, das verspreche ich dir«, sagte die Mutter. »Wenn wir erst drüben sind.«
Ich muss ihr geglaubt haben.
»Jan kommt auch nicht mit.«
Ich weinte mehr. Diesmal versprach die Mutter nichts.
Die Tränen sollte ich mir abwischen. Lächeln, damit der Bruder nichts merke. Er sei traurig genug.
Ich lächelte, als wir in das Arbeitszimmer des Vaters gingen, wo er dem Bruder Büchertitel in die Schreibmaschine diktierte. Es war ungewöhnlich, und doch fragte ich nicht, welchen Sinn es hatte. Das rhythmische Tippen, die sonore Stimme des Vaters beruhigten. Vielleicht verständigten sich Vater und Mutter mit einem Blick, damit die Arbeit nicht unterbrochen wurde. Sie weiß Bescheid, ich habe es ihr gesagt, der Satz in den Augen der Mutter. Vielleicht nickte der Vater, während er weiter Titel, Autor, Verlag, Erscheinungsdatum eines Buches vorlas. Der Bruder blickte nicht auf. Das weiß ich genau. Die Mutter verließ das Zimmer.
Ich blieb vor dem Stadtplan Berlins stehen, der an einem Regal befestigt war und ein paar Reihen Bücher versteckte. Die Hälfte des Plans war ein weißer Fleck. Als ich kleiner war, hatte ich oft davor gestanden und mich gefragt, warum die Stadt dort aufhörte. Ob Schnee dort läge. Bei einem Besuch auf dem Fernsehturm suchte ich das Weiß, das ich auf der Karte gesehen hatte. Ich sah Häuser und Bäume. Das Weiß sah ich nicht. »Das da hinten ist West-Berlin«, hörte ich. »Dahin dürfen wir nicht.« Das W auf dem Kompass. Dahin würden wir jetzt gehen.
Am Dienstag keine Schule mehr. Auch die nächsten Tage nicht. Ich sei eine Gefahr für die anderen, hieß es. Ich wollte die Freunde noch einmal sehen. Die Mutter rief in der Schule an. Nein, das komme nicht in Frage, sagte der Direktor. Dann ging es doch. Zur Turnstunde sollte ich kommen, in den Umkleideraum, fünf Minuten vor dem Unterricht. Das sollte reichen.
Verwunderung, als ich plötzlich dastand. Die beste Freundin fing an zu weinen. Aufgeregte Fragen von einigen. Feindseliges Schweigen von anderen. Ich verteilte mein Geld, ich brauchte es nicht mehr. Das meiste bekam die beste Freundin. Sie war die ärmste von allen, nicht nur, weil sie oft mit blauen Flecken in die Schule kam. Dafür hatten die Lehrer kein Auge. »Jetzt bin ich ganz allein«, sagte sie. Ich gab zwei Poesiealben ab, eins für die Klassenkameraden, eins für meine Lehrer, für alle die, die noch nichts hineingeschrieben hatten. Das war’s. Ich sehe noch die schwarzen Turnhosen, die sie sich anzogen, die weißen Hemden. Der Umkleideraum leerte sich. Der Unterricht ging weiter. Ohne mich.
Ich übte nicht mehr Klarinette, wie ich es sonst jeden Nachmittag getan hatte. Ich lief allein durch die Grimmschen Straßen, wenn ich nicht mit dem Bruder die Bücherlisten schrieb. Er an der Schreibmaschine, weißes Blatt, Kohlepapier, Durchschlagpapier. Ich auf der Leiter. Regal für Regal. Tag für Tag, schweigend bis zum Buch Nr. 3541. Dann hörten wir auf und machten drei Punkte. Das war gegen die Anordnung, aber die sollten uns unsere Zeit nicht mehr stehlen.
Großmama aus Jena kam, kaufte ein, kochte. Sie war der Felsen in der Aufregung. Das gewohnte Leben in Köpenick, im Märchenviertel, war wie durch einen Zauberspruch vorbei. Unwirklich verflog die Zeit der letzten Tage. Jeder bewegte sich wie unter einer Glocke oder wie ferngesteuert.
Der Vater verließ früh das Haus und kam oft erst nachmittags zurück. Behördengänge. Die Mutter organisierte den Umzug vor. Ausmisten, sortieren, überlegen, bevor die Kisten geliefert wurden. Manchmal – wir fragten uns, ob sie wiederkämen – waren beide stundenlang fort.
Abends verwandelte sich die Wohnung in normale Lebhaftigkeit, wenn die Freunde der Eltern kamen und bis in die Nacht blieben, um sich in langen Gesprächen zu verabschieden. Auch der Onkel.
Der Kontakt war in den letzten Monaten sehr eng geworden. Er als Stütze für uns in der Aufbruchzeit und wir als Stütze für ihn, weil sie ihn, wie er glaubhaft versicherte, aus der Partei ausschließen wollten. Ständig Telefonate, viele Besuche, er kümmerte sich wie nie zuvor und erkundigte sich.
Wenn die Freunde kamen, lagen wir längst in unseren Betten. Schlaflos ich, meinen Gedanken überlassen. Das, was ein Zuhause, eine Heimat war, würde ein Zuhause, eine Heimat nicht mehr sein. Heimat. Ich weiß nicht, wie oft und zu wie vielen Anlässen wir als Schüler singen mussten: »Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsere Heimat sind auch all die … und die Vögel in der Luft.« Ich kann es heute noch singen. »Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.« Was kümmerten mich Städte und Dörfer, Vögel in der Luft, die konnten fliegen, wohin immer sie wollten. Meine Heimat waren die Eltern und die Schwester, Großmama in Jena. Der Bruder, die Freunde. Dorthin gehörte ich.
Der Bruder war gefragt worden, ob er mitkommen wolle. Er war schon siebzehn, fast erwachsen. Er hatte nein gesagt, er bliebe, bei seiner Mutter, der ersten Frau des Vaters, in der Schule, bei seinen Freunden. Es war gar keine Frage. Das sagt er heute noch.
Ob ich auch hatte gefragt werden wollen, überlegte ich. Auch wenn ich gefragt worden wäre, es gab keine Wahl, weil die Wahl feststand, von vornherein und sowieso: Vater, Mutter, Schwester. Egal, zu welchem Buchstaben auf dem Kompass. Und die Klarinette? Drüben gab es auch Musikschulen. Und Großmama? Die konnte zu uns kommen, durfte reisen. Und die Cousins? Ich käme sie besuchen. Und die Freunde? Ich würde drüben neue finden. Als ob sie wie Pilze und Beeren in einem Märchenwald stünden.
Irgendwann wurden Holzkisten geliefert, die in der Garage gestapelt wurden. Es gibt ein Foto: Der Vater steht vor den noch leeren Kisten, auf denen in kyrillischen Buchstaben steht »Export GDR«. Das Foto hat Roger Melis gemacht.
Es wurden Packer geschickt. Selber packen durften wir nicht. Sie waren in allen Zimmern, sie vergriffen sich an allem, auch am Schreibtisch des Vaters, Ausreisedokumente, Geburtsurkunden, alle wichtigen Papiere verschwunden. Der Vater bemerkte es erst am Abend. Panik. Er fragte die Mutter. Verzweiflung. Er fragte die Packer. Schulterzucken. Schatzsuche zu später Stunde. Kiste für Kiste im Arbeitszimmer, bis alles wieder auf dem Schreibtisch lag. Aufatmen. Großmama bot Kaffee an. Verwickelte die Packer in Gespräche. »Sagen Sie, machen Sie das eigentlich gerne?« Sie blickten sich um. »Beim Manfred hatten wir noch mehr zu tun.« Sie bot belegte Brote an. »Sagen Sie, machen Sie das eigentlich immer so?« Sie sahen die alte Bauerntruhe. »So einen Schrank haben wir bei der Sarah eingeladen.« Sie sagten nicht Krug, nicht Kirsch, nur die Vornamen, als seien unsere Freunde auch ihre Freunde.
Nicht alles, was in jenen Tagen geschah, ist noch gegenwärtig. Vieles ist verdrängt. Oder vergessen? Beides, denke ich. Ein weißer Fleck auf der Seelenlandkarte, nur die Himmelsrichtung ist eine andere, jetzt liegt der Fleck im Osten.
Am 9., Freitag, muss alles gepackt gewesen sein. Zollbeamte betraten unsere Wohnung. Sie durchkämmten die Zimmer, als bewegten sie sich auf feindlichem Gebiet. Die Bücherliste musste vorgelegt werden, sie war unvollständig. Der Zolloffizier sah sich die Liste an und sagte: »Biermann haben Sie auch?«
Der Vater: »Ja.«
»Na, mit dem haben wir es richtig gemacht.«
Der Vater sah ihn fragend an.
»Er ist raus und vergessen.«
Sie machten Stichproben. Sie fanden ein Notenheft mit einem Stempel der Musikbibliothek Köpenick. Ein Zollbeamter sagte: »Alles auspacken!« Totenstille. Und der Gedanke der Mutter, des Vaters? Das schaffen wir nie. Der Vater ging aus dem Zimmer, die Mutter war wie gelähmt. »Zunageln!« sagte der andere Zollbeamte mit einer Armbewegung wie ein zufallender Deckel. Die Kisten wurden verplombt mit einem Bleisiegel an schwarz-rot-goldener Schnur.
Sie notierten Namen, Telefonnummern und Adressen von Postkarten am Spiegel im Flur, von Zetteln auf dem Schreibtisch des Vaters. Sie sahen sich alles an und hatten keine Angst, gesehen zu werden. Sie kontrollierten sogar das Reisegepäck: 4 Koffer mit persönlicher Garderobe, 1 Koffer mit Schuhen und Hausapotheke, 1 Reisetasche mit Nachtwäsche, 1 Reisetasche mit Geschenken, 1 Reisetasche mit Garderobe, Kofferradio, Kassettenrekorder, 1 Schmuckkassette mit persönlichen Schmucksachen, 1 Schulmappe mit Spielzeug, 1 Puppe, 1 Stoffhund, 2 Handtaschen, 1 Föhn, 2 Schlafdecken, 1 Beutel. Auch das Reisegepäck wurde mit Zollverschlüssen verplombt.
Die Liste hatte die Mutter geschrieben, handschriftlich, ich fand sie in den Akten. Im ersten Moment schmunzele ich darüber hinweg. Dieser Grad der Überwachung, die Penibilität hat etwas Groteskes. Ich frage mich, ob es den Beamten nicht peinlich gewesen sein muss, alles zu durchwühlen, sogar das Spielzeug in Augenschein zu nehmen. Das Schmunzeln vergeht mir im zweiten Moment. Eine Umkehrung findet statt. Mir ist es peinlich – schmerzhaft –, wenn ich jetzt, im nachhinein lese, dass diese Leute im Privatesten herumschnüffelten. Dass sie das Negligé der Mutter in der Hand hatten, in dem sie in der Nacht im Westen zu Bett gehen würde, den Schmuck, den Großmama getragen hatte, die Urgroßmama. Dass sie die Puppe, den Stoffhund inspizierten. Diese Finger in unseren Sachen, dieser Raub der Intimität – das ekelt mich an. Immer wieder wird mir durch diese scheinbar kleinen, dokumentierten Ereignisse das Ausmaß der Schamlosigkeit bewusst, der Niedertracht. Der Teufel steckt im Detail, heißt es. Die Details sind es, die besonders verletzen. Eine einzelne Seite in dem Tausende Seiten Blätterwald, ein einziger Satz. Manchmal nur ein Wort.
Wie ging es an dem Abend des 9. Dezember weiter? Nebel. Auch Gespräche lösen ihn manchmal nicht auf.
Der Vater: »Weißt du, was mir nicht klar ist? Wie und wo wir übernachtet haben am 9. abends.«
Die Mutter: »Am 9. Dezember waren wir in der Bogenstraße bei Jan und Reni.«
Der Vater: »An die Atmosphäre erinnere ich mich. Es gab Bouletten.«
Die Mutter: »Daran kannst du dich erinnern!«
Der Vater: »Geschneit hat es nicht.«
Die Mutter: »Die Kisten waren gepackt, aber die Möbel waren noch nicht aufgeladen.«
Der Vater: »Nein, verschneit war es nicht.«
Die Mutter: »Die Mädchen haben in der Bogenstraße übernachtet.«
Der Vater: »Und wir?«
Die Mutter: »Wir haben jedenfalls nicht in der Bogenstraße übernachtet.«
Der Vater: »Wir haben in der Rotkäppchenstraße übernachtet?«
Die Mutter: »Wir haben uns aber von der Bogenstraße auf den Weg gemacht.«
Der Vater: »Weit musste man ja nicht, bis zur Ecke, dann war das Haus in der Bogenstraße verschwunden.«
Die Mutter: »Sag mal, hast du noch Erinnerungen an das Abschiedsfest in der Bogenstraße?«
Der Vater: »Was heißt Abschiedsfest?«
Die Mutter: »Wir haben ein Fest gemacht.«
Der Vater: »Glaube ich nicht. Wo soll das gewesen sein?«
Die Mutter: »Na, in der Bogenstraße.«
Der Vater: »Das soll in der Bogenstraße gewesen sein? Ich erinnere mich an den Besuch verschiedener Leute in der Rotkäppchenstraße, als die Kisten schon gepackt waren. Ist Anna eigentlich noch in den Kindergarten gegangen?«
Die Mutter: »Zu Hause war sie jedenfalls nicht.«
Der Vater: »Wir hatten ein Gespräch mit der Leiterin und haben gesagt, wir möchten Ihnen mitteilen, Anna kommt nicht mehr, wir siedeln in die Bundesrepublik um. Die Leiterin sagte: Schade um das arme Kind.«
Die Mutter: »Wir waren jedenfalls am Abend vor der Ausreise in der Bogenstraße.«
Der Vater: »Wir sind von der Bogenstraße wohl noch mal zurückgefahren.«
Die Mutter: »Wir sind zurückgefahren, denn wir haben in der Rotkäppchenstraße übernachtet.«
Der Vater: »Ja, aber ich weiß nicht, wie.«
Die Mutter: »Auf den weißen Liegen mit den blauen Matratzen. Meine Mutter war auch da. Und deine.«
Der Vater: »Wo? In der Bogenstraße?«
Die Mutter: »Nein, in der Rotkäppchenstraße.«
Der Vater: »Meine Mutter nicht. Die kam am nächsten Tag, aus Bad Saarow. Die war vollkommen fertig.«
Die Mutter: »Die hat Blumen gebracht.«
Der Vater: »Blumen? Abgereist sind wir endgültig aus Köpenick.«
Die Mutter: »Wo war eigentlich unsere Katze?«
Woher soll ich das wissen. Ich war mit der Schwester in der Bogenstraße bei dem Bruder, vielleicht sogar mit Katze, und spielte normal sein. Bouletten wird es zum Abendessen gegeben haben. Und Schmalzstullen. Die gab es dort oft. Manchmal auch gebratenen Knoblauch auf Graubrot. Wir sahen im Fernsehen die Muppet Show. Einstimmung auf das, was uns erwartete? Wer war noch alles da? Worum drehten sich die Gespräche? Wann sind wir ins Bett gegangen? Konnte irgend jemand schlafen? Wie verlief der nächste Morgen? Haben Mutter und Vater doch nicht auf den weißen Liegen mit den blauen Matratzen geschlafen?
Vielleicht war es so, wie es in dem Beobachtungsbericht steht, den ich in den Akten gefunden habe. Ich lese:
»Beobachtungsbericht zum Objekt 117 Berlin, Rotkäppchenstr. 5, für die Zeit vom 10.12.1977, 7.00 Uhr bis 12.30 Uhr.
6.53 Uhr Beginn der Beobachtung; Meldung an 59 2812, Gen. Waldow
6.53 Uhr Die Mutter der Krista Maria Schädlich, Edith Hübner, war im Objekt anwesend; weitere Personen nicht feststellbar
7.27 Uhr Hans Joachim Schädlich und Krista Maria Schädlich treffen mit PKW IS 98-55 ein. PKW wird vor dem Haus Nr. 1–3 abgestellt.
7.44 Uhr bis
8.10 Uhr Ankunft der Transportarbeiter des VEB Deutrans (2 PKW, 1 Barkas, 1 Lastzug ohne und ein Lastzug mit Anhänger). Anschließend Beginn der Verladearbeiten.
7.55 Uhr Drei Genossen der Zollorgane eingetroffen und um 8.00 Uhr Objekt betreten.
10.00 Uhr Beendigung der Abfertigung und Abfahrt Deutrans und der Genossen der Zollorgane.
11.20 Uhr ca. 65jährige weibliche Person, mittelgroß, weißhaarig, korpulent, betritt das Objekt.
11.23 Uhr ca. 38jährige männliche Person kommt in Begleitung eines ca. 10jährigen Mädchens und eines ca. 67jährigen Paares bis zur Rotkäppchenstr. 7. Während die anderen Personen vorerst vor dem Haus Nr. 7 stehen blieben, betrat sie ca. 2 Minuten das Haus Nr. 5 und begab sich dann ins Haus Nr. 7. Beim Betreten des Hauses Nr. 5 gab sie den drei vor dem Haus Nr. 7 Wartenden einen verdeckten Wink, das Haus Nr. 7 zu betreten. Die vier genannten Personen konnten bei bisherigen Personen nicht festgestellt werden. Die jüngere männliche Person ging gegen 10.00 zweimal am Haus Nr. 5 vorüber.
11.00 Uhr Das Objekt Hans Joachim Schädlich beendete das Beladen seines PKW. Festgestellt wurden 4 Koffer, 3 Reisetaschen, 2 orange-farbene Reiseplaids, 1 Wintermantel – Rauhleder mit Pelzbesatz.
11.45 Uhr H. J. Schädlich, eine schwarze Katze und die alte, weißhaarige Dame verlassen mit Blumenstrauß das Haus Nr. 5. Von der im Parterre wohnenden Familie verabschieden sie sich herzlich und mit mehrfachem Winken und von Edith Hübner und der alten Dame so, als sähen sie sich bald wieder.
11.48 Uhr Abfahrt der beiden Objekte Schädlich ohne Kinder. Aber mit schwarzer Katze mit PKW IS 98-55.
Die alte Dame geht wieder ins Haus Nr. 5, auch die Edith Hübner ist dort verblieben.
12.30 Uhr Abbruch der Beobachtung nach Rücksprache mit Gen. Waldow.
SONJA«
Nach der Lektüre bin ich auf zynische Weise beruhigt. Auf die Stasi ist Verlass, denke ich. Die Ungewissheit darüber, wie es war, weicht dem Glauben, dass es so gewesen sein muss, denn IM »Sonja«, mit Klarnamen Hannelore Hösch, die seit 1953 mit dem MfS zusammenarbeitete und ab 1977 unter anderem für die Beurteilung von Manuskripten monatlich fünfhundert Mark erhielt, war stets gewissenhaft. Für die Bobachtung von Personen eingesetzt, »im Umgang und der Handhabung offener und gedeckter fototechnischer Mittel ausgebildet«, führte sie eigenständige Ermittlungen durch, machte sogar Lagepläne, Skizzen von Wohnungen, von Nebenstraßen und Nachbarhäusern, stellte geeignete Beobachtungspunkte fest, auch vor dem Haus des Bruders in der Bogenstraße.
Von dort sind die Eltern also nach Köpenick gefahren. Sie haben uns nachts nicht allein gelassen. Dafür aber Großmama in der Rotkäppchenstraße.
Aber Gewissheit? Wahr ist, dass der Möbelwagen der Firma Deutrans am 10. Dezember in aller Frühe vorfuhr. Sechsundvierzig Kisten und das restliche Umzugsgut wurden unter peinlichster Kontrolle »auf den Volvo-Zug (Maschinenwagen) IC 82-02 und (Anhänger) IC 82-27 verladen. Die gesamte Ladung wurde mit vier Zollverschlüssen Z 825 versehen. […] Es wurde bemerkt, dass vor dem Nachbargrundstück (Rotkäppchenstr. 4) auf der Straße ein Herr […] längere Zeit sich mit Herrn Dr. Schädlich angeregt unterhielt und mit einem PKW Wartburg/Tourist (Farbe rot) polizeiliches Kennzeichen IZ 51-29 entfernte. Herr Schädlich machte einen ruhigen Eindruck, zeigte sich im Gespräch jedoch unkonzentriert bzw. wirkte zerfahren. A., Zollkommissar, Zollamtsleiter.«
Die Eltern waren noch einmal zurückgefahren, weil sie sichergehen wollten, dass der Möbelwagen auch wirklich abfuhr. Danach holten sie die Schwester und mich vom Bruder ab, das Auto schon vollgepackt mit Katze, Koffern, Provianttasche.
Der Vater: »Ich erinnere mich jetzt an folgendes. Am 10. vormittags, es war Jans Geburtstag, sein siebzehnter, waren wir in der Bogenstraße, um auf Wiedersehen zu sagen. Ich weiß noch genau, dass ich mich von Jan verabschiedet habe und er angefangen hat zu weinen. Dann ist er ins Haus gerannt.«
Fahrt in Richtung Nordwesten, ein Ziel vor Augen, das einen kurzen Aufschub geben sollte, bevor der östliche Landesteil verlassen werden musste. Das Ziel hieß Perleberg. Dort wohnten der Bruder der Mutter, die Tante und die Cousins. Langsames Vorankommen. Das Auto, schwer beladen, kündigte durch Geräusche Hinfälligkeit an. Es nieselte. Die Schwestern schwatzhaft. Die Eltern angespannt. Die Schwestern hungrig. Die Eltern rauchend. Die Katze lugte aus der Tasche. Ablenkung auf der Rückbank, damit die Zeit vergeht, die die Schwestern nicht, wie gehofft, schlafend verbrachten. Im Gegenteil, je länger die Fahrt, desto weniger Ruhe kam auf.
Irgendwann war die Katze unter dem Gaspedal.
Der Vater: »Nimm die Katze weg.«
Die Mutter: »Die muss mal pinkeln.«
Die Schwestern lachten. Pause am Straßenrand. Die Katze wurde rausgesetzt wie ein Hund, die Katze aber hob das Bein nicht wie ein Hund, sondern sprang in den Graben in Richtung Wald. Jetzt bloß nicht noch die Katze verlieren. Die Mutter fing sie ein. Es konnte weitergehen.
In der Dämmerung winkte die Kelle eines Polizisten. Papiere zeigen. Aussteigen. Der Vater stieg aus. Der rechte Scheinwerfer sei defekt.
»Reparieren«, sagte der Polizist.
»Was, jetzt, hier, vor der Ausreise?«
»Reparieren!«
Der Vater wusste nicht, wie. Der Polizist leuchtete mit einem Stab.
Die Mutter wartete mit uns im Auto. Die Temperaturen sanken. Die Zeit rannte auf das Ende des Tages zu, bis 0.00 Uhr mussten wir es geschafft haben.
Der rechte Scheinwerfer blieb dunkel in der Dunkelheit. Der Polizist gab auf, der Scheinwerfer müsse in der nächsten Stadt repariert werden. Dort wohnten der Bruder der Mutter, die Tante und die Cousins.
Sonderbar, welche Begebenheiten klar vor Augen stehen, als wären sie erst gestern passiert. Andere wiederum sind verschollen. Ein Segen manchmal, verstörend aber, wenn man sich erinnern will.
Oft habe ich die Schwester beneidet, die sich kaum an jene Zeit erinnert. Oft klagt sie, ihr fehle ein Stück Biographie. Ich denke, sei froh, dass deine erst später beginnt. Man muss nicht alles wissen.
Seit Stunden überfällig. Der Bruder der Mutter, Tante und Cousins erwartungs- und sorgenvoll. Eine Käsetorte blieb von den Vätern unangerührt, sie reparierten in der Garage bei Licht das Licht am Wagen, während die Mütter von Cousins und Cousinen ihre Teller leer aßen. An Gespräche nicht zu denken, Ablenkung mit der Fertigung von Reiseproviant. »Wer weiß, was euch noch alles erwartet.«
Nach der Reparatur des einen war der andere Scheinwerfer lichtlos und der Tag noch schneller zu Ende. Das Ticken der Uhren wurde mit fortschreitender Stunde lauter, auch die Stimmen der Kinder. Der Abschied dann in nervöser Hast. Das Geld, das der Vater den Cousins schenken wollte, wurde auf Rat für Benzin verbraucht. »Kommt ihr wenigstens vollgetankt drüben an.«
Es ging weiter durch die Nacht. Geräuschvoll näherte sich der Wagen dem Posten. Der Motor wurde ausgestellt. Stille. Der Posten mit eiserner Gesichtsleere kontrollierte schweigend, vorschriftsmäßig, zügig, so, als wollte er, dass alles leise über die Bühne ginge, ohne besondere Vorkommnisse, als fiele gar nichts vor, als existierte dieser Moment nicht.
Mit zu lautem russischen Motorengeräusch fuhren wir langsam über eine Brücke durchs Nichts und tauchten plötzlich in gleißendes Weiß aus Flutlicht.
»Jetzt sind wir im Westen«, sagte der Vater.
Halt. Der Vater musste aussteigen und folgen. Seine lange Abwesenheit weckte auf gedacht sicherem Boden Unsicherheit bei den Wartenden im Wagen. Der Grenzpolizist in grünerer Uniform brachte ihn endlich zurück.
»Warum hast du denn ein Schießgewehr? Sind wir jetzt bei den Indianern?« fragte die Schwester den Mann.
Die Antwort blieb er schuldig.
Was hatten wir erwartet, ein Lächeln, eine Begrüßungsformel? Ein »Willkommen in Ihrem neuen Leben«? Ich sage, was wir erwarteten: bunte Lichter, andere Luft, ein Gefühl der Erleichterung. Jedenfalls keinen wortkargen Grenzpolizisten, der uns nicht weniger bedrohlich erschien als der von der anderen Seite.
Eingeschüchtert fuhren wir weiter. Vor uns eine lange Landstraße. Dunkel war es. Der Vater, den Blick starr nach vorne gerichtet, lenkte. Er kannte die Wege nicht. Die Mutter blickte nach vorn, zu ihm, nach rechts, zu uns. Wir blickten aus dem Fenster und sahen uns die Augen wund. Es hatte der Schwester und mir die Sprache nun doch verschlagen.
Jetzt waren wir also da, wo wir hinmussten.
Warum? Jahrelang hatte sich der Vater vergeblich bemüht, seine Prosa in DDR-Verlagen zu publizieren. Statt dessen 1975 die zynische Empfehlung, es einmal mit der Arbeit auf dem Feld zu versuchen, vielleicht auf einem Mähdrescher. Dann ein Hoffnungsschimmer. 1976 stellte man ihm für den April 1977 einen Fördervertrag in Aussicht, das bedeutete so viel wie einen Vorvertrag. Doch am 20. Dezember teilte der Lektor des Verlages Neues Leben mit, die Hauptabteilung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur habe den Abschluss eines Fördervertrages untersagt, weil der Vater wegen seiner Unterschrift unter den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann nicht förderungswürdig sei.
Am 4. Januar 1977 sagte der stellvertretende Direktor des Akademie-Instituts, für das der Vater seit 1976 wegen seiner schriftstellerischen Arbeit als freier Mitarbeiter tätig war, er hätte die Zusammenarbeit mit dem Institut rückwirkend zum 31. Dezember 1976 als beendet zu betrachten. Da auch die Übersetzungsaufträge für den Verlag Volk & Welt ausblieben, war guter Rat teuer. Keine Arbeit, keine Möglichkeit der Veröffentlichung in der DDR. Was blieb, war eine Publikation in der Bundesrepublik. Das Manuskript wurde in den Westen geschmuggelt, und der Erzählungsband Versuchte Nähe erschien im August 1977 im Rowohlt Verlag. Kurz nach der Veröffentlichung gab Klaus Höpcke, damals stellvertretender Kulturminister, am 2. September laut Bericht eines GMS »Karlheinz« zu verstehen, »daß es auch Erscheinungen wie Rudolph[1] Bahro oder Hans-Joachim Schädlich gibt, deren Arbeiten vom Klassengegner bewußt im ideologischen Kampf zu einer massiven Hetze gegen die DDR genutzt werden und denen man höchstes Lob zollt«. Die beste Freundin der Mutter, damals Lektorin im Aufbau Verlag, war dabei und berichtete den Eltern.
Am 4. September 1977 stellte der Vater den ersten Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. Am 21. September, als noch immer keine Antwort auf den Ausreiseantrag gekommen war, bekräftigte der Vater das Ersuchen schriftlich. Am 19. September äußerte jemand auf einer Mitgliederversammlung der Berliner Abteilung des DDR-Schriftstellerverbandes, das Buch Versuchte Nähe erfülle den Tatbestand der »staatsfeindlichen Hetze«, was nach § 106 des Strafgesetzbuches mit bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug bestraft werden konnte. Ein anderer sagte, dass der Vater noch nicht verhaftet sei, sei der Großzügigkeit der Staatsorgane zuzuschreiben, und stellte die Frage, wann man den Autor aus dem Schriftstellerverband, in den er dank einer Bürgschaft von Sarah Kirsch und Roland Links, damals Cheflektor des Verlages Volk & Welt, als Kandidat aufgenommen worden war, ausschließen werde. Klaus Schlesinger berichtete den Eltern. Am selben Tag wurde dem Vater in der Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Köpenick mitgeteilt, der rechtswidrige Übersiedlungsantrag sei abgelehnt worden. Die Schlinge zog sich zu.
Dass tatsächlich ein Strafverfahren nach § 100 des Strafgesetzbuches wegen »staatsfeindlicher Verbindungen« – Anlass war die Freundschaft zu dem Schriftsteller Uwe Johnson – geprüft und von einer eigenen Untersuchungsabteilung des MfS auch eines nach § 106 gegen den Vater vorbereitet wurde, wussten wir damals nicht, erst später, aus den Akten. Während der Untersuchung für einen möglichen Prozess kam man zu dem Schluss, dass es besser sei, von einem Verfahren abzusehen, weil befürchtet wurde, dass Westautoren wie zum Beispiel Günter Grass, Uwe Johnson, Nicolas Born oder Max Frisch es nicht schweigend hinnähmen, wenn der Vater eingesperrt würde. Außerdem hatte es Interviews gegeben. Eines von Karl Corino für den Hessischen Rundfunk, eines von Dirk Sager für das ZDF. Der Schaden, der durch einen Prozess der DDR entstünde, wäre größer als der, den der Vater mit der Veröffentlichung seines Buches angerichtet hätte.