Karlfried Graf Dürckheim
Zen und wir
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Karlfried Graf Dürckheim, geb. 1896 in München, 1914–1918 Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, Studium der Philosophie und Psychologie in München und Kiel, 1923 Dr. phil., 1925–1932 Assistent am Psychol. Institut der Universität Leipzig, 1930 Habilitation für Psychologie, 1932 Prof. für Psychologie an der Pädagogischen Akademie und Dozent für Philosophie an der Universität Kiel, 1937 bis Kriegsende in Japan. Dort Beschäftigung mit Zen-Buddhismus und Entdeckung der Bedeutung seiner meditativen Praktiken auch für den im Geiste christlich westlicher Tradition lebenden und suchenden Menschen.
Seit 1948 gemeinsam mit Dr. Maria Hippius Entwicklung der Existential-psychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte (Zweigstelle in München). Initiatische Therapie mit meditativen Praktiken, Za-Zen, Personale Leibtherapie, Selbsterfahrung am Instrument und in künstlerischer Tätigkeit.
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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560908-8
Sh. Ohazama – A. Faust, Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan. Gotha: Leopold Klotz Verlag 1925, S. 85. (Fotom. Nachdruck Darmstadt: Wiss. Buchges. 1968.)
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 62.
Altindischer Spruch.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Der Ruf nach dem Meister. Der Meister in uns. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 1972.
Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate. Hrsg. v.J. Quint. München: C. Hanser Verlag 1955.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Im Zeichen der Großen Erfahrung. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 1951 (Neuauflage: München 1974).
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 64.
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 71.
Aus dem Sutra Vimalakirti. Übersetzt von Jakob Fischer und Yokota Takezo. Tokyo: Hokuseido Druckerei. Auszug aus dem IX. Kapitel.
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 83.
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 64.
(Diese Hymne wird Buddha zugeschrieben, der sie z.Z. seiner Erleuchtung verfaßt haben soll.) D.T. Suzuki, Der westliche und der östliche Weg. Frankfurt–Berlin–Wien: Ullstein Verlag 1960, S. 48.
12a Ebd., S. 49.
Vgl. K. Graf Dürckheim, ›Die transzendentale Bedeutung der Ichwirklichkeit‹ in: K. Graf Dürckheim, Erlebnis und Wandlung. Bern–Stuttgart: H. Huber Verlag 1958.
D.T. Suzuki, Der westliche und der östliche Weg, a.a.O., S. 50.
D.T. Suzuki in: Die Große Befreiung. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 61972.
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 79.
Beide Zitate aus: D.T. Suzuki, Leben aus Zen. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 1955.
Sh. Ohazama – A. Faust, a.a.O., S. 77.
A.Watts, Vom Geist des Zen. Basel: B. Schwabe Verlag 1956.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Der Ruf nach dem Meister …, a.a.O.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Der Ruf nach dem Meister …, a.a.O.
D.T. Suzuki, Die Große Befreiung, a.a.O.
K.Graf Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 51971.
BI-YÄN-LU. Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. Verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert. München: C. Hanser Verlag 1960. – Dieses Werk führt wie kein anderes an Hand authentischer Texte den wirklich Suchenden an das Geheimnis des Zen heran. Es ist das Grundbuch des Zen.
Vgl. D.T. Suzuki, Die Große Befreiung, S. 95ff.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille, a.a.O., S. 27.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Hara – Die Erdmitte des Menschen. München: O.W. Barth-Verlag 61973, S. 137.
E.Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens. München: O.W. Barth-Verlag 161973.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Überweltliches Leben in der Welt. Vom Sinn der Mündigkeit. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 21972.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Im Zeichen der Großen Erfahrung. 2., überarbeitete Aufl. München: O.W. Barth-Verlag 1974.
H.M. Enomiya-Lassalle, Zen, Weg zur Erleuchtung. Wien: Herder Verlag 31971; Yasutani, ›Über die Übung des Zen‹ in: K. Graf Dürckheim, Wunderbare Katze. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 21970.
BI-YÄN-LU. Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand, a.a.O.
E.Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens.
K.Graf Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille.
H.Hammitzsch, Cha-Do. Der Tee-Weg.
G.Herrigel, Der Blumenweg.
K.Graf Dürckheim, Hara – Die Erdmitte des Menschen. – Alle im O.W. Barth-Verlag, Weilheim [München].
K.Graf Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille.
K.Graf Dürckheim, Sportliche Leistung – Menschliche Reife. Frankfurt/M.: Limpert Verlag 31969.
Kenran Umeji, ›Das Tao der Technik‹ in: K. Graf Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille, a.a.O.
M.Hippius, ›Das geführte Zeichen‹ in: M. Hippius (Hg.), Transzendenz als Erfahrung. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 1966.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Der Alltag als Übung. Bern–Stuttgart: H. Huber Verlag 41972.
K.Graf Dürckheim, Hara – Die Erdmitte des Menschen, a.a.O.
Hakuun Yasutani war auch der Lehrer von Philip Kapleau (Die drei Pfeiler des Zen. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 1969).
Vgl. K. Graf Dürckheim, Hara – Die Erdmitte des Menschen, a.a.O.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Der Alltag als Übung, a.a.O.
K.Graf Dürckheim, Erlebnis und Wandlung, a.a.O.
J.Gebser, Ursprung und Gegenwart. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 31971.
Anfang der 40er Jahre wurde der Text zusammen mit 4 anderen Texten zur 5-Schritt-Dialektik gedruckt. Die hier vorliegende Übersetzung 1944 ist das Ergebnis langer und sorgfältiger Zusammenarbeit mit T. Teramoto und F. Hashimoto.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Überweltliches Leben in der Welt. Weilheim: O.W. Barth-Verlag 21972, Kapitel: ›Ost und West‹.
Vgl. K. Graf Dürckheim, Der Ruf nach dem Meister …, a.a.O.
Maria Hippius
zugeeignet
Die in der ersten Auflage dieses Buches vertretene Auffassung von der Bedeutung des Zen für den westlichen Menschen hat sich bestätigt. Mächtig schlugen seither die Wellen des Zen in die Gefilde des abendländischen Geistes herüber. Doch Zen im Westen aufnehmen, kann zweierlei bedeuten: die Bereitschaft, Buddhist zu werden – oder sich dem allgemeinmenschlich Bedeutsamen, das im Zen enthalten ist, zu öffnen. Mir geht es nur um das Letztere. Ich weiß, daß es die Auffassung gibt, Zen ließe sich nicht von seiner buddhistischen Wurzel trennen. Zen sei Zen-Buddhismus oder kein Zen. Das mag für den Theoretiker stimmen, der mangels eigener Erfahrung und Entwicklung in der Lehre von der uns allen innewohnenden Wesens (»Buddha«)-Natur ein nur östliches Selbstverständnis des Menschen sieht oder Zen nur aus Büchern oder als Tourist kennt. Wer aber nicht seinstaub ist oder sich einmal für einige Zeit einer Zen-Praxis, z.B. dem Za-Zen widmet, wird bald erleben, daß hier allgemeinmenschliche Voraussetzungen jeder lebendigen Religiosität, ja, jeder Entwicklung zur Vollreife des Menschen angesprochen werden: die Möglichkeit 1. zur Einswerdung mit unserem »Wesen« als der Weise, in der das überweltliche, göttliche SEIN in uns anwesend ist, 2. zu der uns Menschen aufgegebenen Verwandlung, deren Sinn die Große Durchlässigkeit ist, die Transparenz für die uns innewohnende Transzendenz. – Das Za-Zen, dies »Sitzen in stiller Versenkung« als Praxis der Meditation – Meditation nicht als »Betrachtung«, sondern als Verwandlungsübung verstanden – ist ein sehr nüchternes, hartes und strenges Exerzitium, bildet ein gesundes Gegengewicht gegen allerlei ekstatische Bewegungen unserer Zeit und kommt durch das Gewicht, das es auf die disziplinierte Haltung im Leibe legt, nicht nur dem abendländischen Ja zur personalen Gestalt, sondern auch der christlichen Forderung nach Fleischwerdung des Geistes entgegen. – Die Begegnung mit dem Zen wird dazu beitragen, die Erfahrungswurzeln der in ihm enthaltenen universalen Wahrheit in unserer eigenen Tradition wiederzuentdecken und auch unser Glaubensleben neu zu beleben.
Was geht Zen uns Abendländer an? Zen ist heute in aller Munde. Jede Veröffentlichung über den Zenbuddhismus findet durstige Leser. Woher kommt diese geheimnisvolle Anziehungskraft des Zen? Ist es eine Modeströmung? Ist es die Neigung zum geheimnisvoll Fremden? Eine Flucht aus der eigenen Problematik in eine ferne Welt? Das alles mag hineinspielen. In Wahrheit aber ist es etwas anderes, das die Anziehungskraft des Zen bedingt.
Der Mensch unserer Zeit spürt das innere Ungenügen der ihn bestimmenden weltlichen Ordnungen. Aus seinem wahren Wesen leidet er immer tiefer darunter, daß die Herrschaft der Formen des Denkens und Wirkens, mit denen er sein Leben »in der Welt« meistert, sein inneres Leben aushöhlt. Wo der Glaube ihn nicht mehr trägt, treibt ihn die fortschreitende innere Verödung in die Flucht vor sich selbst in die Welt. Sich selber entfremdet, stockt sein innerer Atem. Schuldgefühle und Angst beherrschen ihn. Er weiß nicht warum und sucht selbstverloren den Ausweg. Sobald ihm nun ein Text zu Gesicht kommt, den ein Zen-Meister schrieb, spricht ihn ein Tieferes an, und es ist ihm, als wittere er Freiheitsluft, als löse ein Frühlingswind plötzlich die erstarrte Oberfläche seines Daseins und riefe, Befreiung verheißend, ein verborgenes Leben hervor. Darin liegt die Anziehungskraft aller Äußerungen des Zen: Sie verheißen Befreiung aus der Not der Verstelltheit unseres eigentlichen Lebens und Seins!
Alle echten Lebensäußerungen des Zen stoßen durch die Kruste des Gewordenen hindurch und zeugen von der Möglichkeit eines neuen Werdens. Sie durchbrechen das wohlgeordnete Gefüge der Vorstellungen, Begriffe und Bilder, die uns zwar tragen und schützen, zugleich aber von dem wirklichen Leben in uns abriegeln, das sich im ewigen Neuwerden bekundet. Zen rührt in uns das Eigentliche an, das als das ewig verwandelnde, erlösende und schöpferische LEBEN vor keinem Gewordenen haltmacht und in keine feste Form gebannt werden kann. Zen schlägt die Tore auf und weist ins Freie. Darum ist Zen unbehaglich für den Bürger in uns, der sich gern im gewohnten Gehäuse rhythmisch im Kreise bewegt, bedrohlich für die Hüter verhärteter Weltanschauung, ärgerlich für jeden Vertreter eines »Systems«, in dem er sich eingerichtet hat und die Welt reibungslos ordnet und meistert; höchst beunruhigend auch für uns alle, die wir mit dem Wort »Wirklichkeit« etwas verbinden, das dem Verstand begreiflich sein muß. Was Zen uns beschert, ist für den Verstand gänzlich unfaßbar. Aber gerade darum auch ist Zen so anziehend und voller Verheißung für jeden von uns, der sich nach neuem Horizont umsieht, weil er es satt hat, sein Leben im faulen Frieden fester Begriffe und gesicherten Behagens veröden zu lassen, und durstig ist nach wirklichem Leben, das sich immer erst im Herausspringen aus aller Sicherheit im Bedingten in der ungesicherten Fühlung mit dem Unbedingten entzündet.
Wie könnte aus dem Osten etwas für uns so Entscheidendes kommen, wie Zen es verspricht? Fließt die geheimnisvolle Quelle nicht genauso bei uns? Gewiß, aber nur im Verborgenen. Die Entwicklung des abendländischen Geistes hat sie für unser Bewußtsein verschüttet oder in Mißkredit gebracht. Im Osten blieb der Zugang zu ihr immer frei, und seit alters her wurde sie in einem reich verzweigten System von Kanälen gefaßt und im Fließen gehalten. Doch ist der Osten auch heute noch, was er war? Unterliegt er jetzt nicht einer Entwicklung, die ihn verwestlicht und uns nichts Eigenes mehr zu sagen hat? Diese Frage hört man heute so oft. Aber so wenig die Bedeutung, die der Geist der Antike für uns Abendländer besitzt, davon abhängt, welche Entwicklung das Volk der Griechen genommen, so wenig ändert sich für uns die Bedeutung des fernöstlichen Geistes und seiner Früchte mit der politischen, wirtschaftlichen oder auch geistigen Entwicklung der Völker Japans, Chinas und Indiens. Ja, vielleicht rückt gerade diese Entwicklung, die die noch lebendigen Zeugen altöstlichen Geistes oft zu gefährden scheint, die Bedeutung, die der östliche Geist für uns hat, erst ins volle Licht unseres Bewußtseins. Dies um so mehr, als wir begreifen, daß die Rasanz, mit der die östlichen Völker sich heute westlicher Denk- und Lebensformen bemächtigen, keineswegs nur das Bedürfnis nach westlichen Produkten und Techniken zum Zwecke der Selbsterhaltung und Machtgewinnung bekundet, sondern tiefer noch die Notwendigkeit ausdrückt, endlich auch die Seite des menschlichen Geistes zu entwickeln, die bisher immer zu kurz gekommen war, ohne deren Ausbildung der Mensch aber doch noch nicht der ganze Mensch ist: die rationale, mit der der Mensch die Welt theoretisch und praktisch meistert.
Umgekehrt: je mehr wir uns gerade heute, einer geheimen Anziehungskraft folgend, mit den Zeugnissen altöstlichen Geistes befassen, um so deutlicher kann und sollte es werden, daß die Spannung, die wir zwischen dem östlichen und westlichen Geiste empfinden, letztlich nicht auf einen völkerkundlich zu verstehenden Gegensatz zurückgeht, sondern ein innermenschliches Problem ausdrückt. So wie die Tiefenpsychologie heute deutlich gemacht hat, daß der Mann, um ein ganzer Mensch und so auch erst ein ganzer Mann zu werden, das Weibliche in sich selbst kennenlernen, ernstnehmen und entwickeln muß, ebenso muß der Abendländer, um ein ganzer Mensch und so auch in der ganzen Fülle des ihm menschlich Zugedachten ein ganzer Abendländer bleiben zu können, das, was er zunächst als östlich empfindet, als etwas ernstnehmen und entwickeln, das in ihm selbst darauf wartet, wahrgenommen und zugelassen zu werden.
Im östlichen Geist treten, wenn auch in spezifisch östlicher Einkleidung, Seiten und Möglichkeiten des Menschen hervor, die bei uns im Schatten der für uns charakteristischen Züge nicht recht zur Entwicklung kamen, obwohl sie zur Ganzheit des Menschseins gehören. In diesem Sinne verstanden, enthält auch die Erfahrungsweisheit des Buddhismus, insbesondere des Zen, nicht nur »Östliches«, sondern etwas von allgemein menschlicher Bedeutung, ja etwas, das in unserer Zeit, die die Gefahr der Einseitigkeit unserer Entwicklung in beängstigenden Zeichen ans Licht bringt, von besonderer Bedeutung ist.
Was ist das zentrale Anliegen des Zen? Die Neugeburt des Menschen aus der Erfahrung des Seins!
Zen lehrt die empirische Entdeckung des transzendenten Kernes unseres Selbstes, lehrt das »Schmecken« des divinen Seins in diesem weltlichen Dasein. Zen lehrt es nicht in der Weise eines analytischen, schlußfolgernden Denkens, nicht in der Form eines dogmatischen Glaubens und auch nicht als System einer spekulativen Metaphysik, sondern als Weg zu einer dem Menschen möglichen und im Grund zugedachten Erfahrung. In ihr geht uns auf, daß unser zwischen Leben und Tod gespanntes weltliches Dasein in einem überweltlichen Sein wurzelt, das wir alle im verborgenen Grunde unseres Wesens sind und dessen bewußt zu werden unsere menschliche Chance und Aufgabe ist. Diese Erfahrung und ihre Bewährung hat freilich zur Voraussetzung, daß wir die Herrschaft einer uns eingefleischten Bewußtseinsform brechen, in deren Grenzen wir uns für gewöhnlich bewegen. Was dies bedeutet als Möglichkeit, als Forderung, als Weg und als Folge – das lehrt Zen in einer Weise, die nicht nur für den Osten gültig ist, sondern auch für uns. Und weil die Zeit für dieses Überschreiten auch für uns da ist – sofern wir die Grenze spüren, an die wir gelangt sind –, hat Zen für uns heute seine besondere Bedeutung. Was der östliche Meister seinem Schüler zumutet, in harter Übung, jenseits derer ein ganz anderes, Unerhörtes aufleuchtet, das ist heute bei vielen von uns durch die Gesamtentwicklung des westlichen Geistes geleistet. Immer mehr Menschen sind heute an eine Grenze gelangt, an der sie nicht nur verzweifelt und in Auflehnung gegen das in ihnen und um sie herum Gewordene leben, sondern in sich auch Zeichen eines Neuen verspüren, das ihnen Befreiung verheißt. Doch wie immer da, wo das Wesen erwacht, die Widerwelt auf den Plan tritt und die Trägheit des Gewordenen den Durchbruch zum Neuen verstellt, so sind auch heute alle dunklen und retardierenden Mächte am Werk, um im Mantel ehrwürdiger Traditionen der Wissenschaft und der Religion das Kommen des Neuen zu verhindern. Und wie immer, so wird auch heute das offene und das verborgene Wirken der »Reaktion« durch das heillose Reden und Tun derjenigen erleichtert, die das Neue, ohne es wurzelecht zu kennen, oder allzu billig in einer Weise »verkaufen«, die die Frucht der überall aufbrechenden höheren Kräfte durch heillose Erkenntnis- und Übungspraktiken verderben.
In aller Munde ist heute schon die Rede vom Nichts und vom Sein, von der Grenze und vom Durchbruch, vom Tao und vom Zen. Alles wird beredet und zerredet und vor allem dadurch verfälscht, daß es als etwas hingestellt wird, das ohne Not und Verwandlung verstanden werden und in uns eingehen kann. So aber ist etwas, das nur in einer existentiellen Praxis aufgehen kann, zum Objekt einer theoretischen Reflektion geworden. Allzu leicht berauscht man sich hier dann an abstrakten Formeln und hohen Begriffen, ohne die sehr konkrete Forderung, die sie enthalten, zu ahnen oder auf sich zu beziehen. Dies ist auch die Gefahr, die aus einem falschen Sichbefassen mit Zen droht. Und doch müssen wir wissen: Was hier oft einer theoretischen Spekulation gleicht, in der das, wovon die Rede ist, dem Unwissenden oder Unvorbereiteten als etwas Abstraktes erscheint, das ist im Zen als glutvolle Erfahrung gegenwärtig und betrifft in der leiddurchzogenen, vom ewigen Stirb und Werde durchfurchten Tiefe unseres Lebens unser eigentliches Wesen, das nur darauf wartet, entdeckt und ernstgenommen zu werden. Wird es entdeckt, dann ist dies das entscheidende, alles umstürzende und neumachende Ereignis unserer menschlichen Existenz. Um dieses Ereignis und um nichts anderes dreht es sich im Zen, um das Satori, die »Große Erfahrung«, in der das uns ewig hervorbringende, immer durchwirkende, immerzu wieder heimliebende und neu gebärende LEBEN, das wir selber im Wesen auch sind, in unser Bewußtsein tritt.
Die »Große Erfahrung« ist eine Erfahrung, die auf alle Menschen wartet, die kraft einer Stufe oder aus innerer Not dazu aufgeschlossen sind, ganz gleich, zu welcher Religion sie sich bekennen. Der Gehalt dieser Erfahrung ist ohne allen Zweifel die Wurzel aller echten Religiosität und so auch die Voraussetzung jeder Erneuerung religiösen Lebens. So auch heute, sofern es sich um Menschen handelt, die, der ursprünglichen und unbewußten Verwobenheit mit der Wurzelschicht unseres Lebens entwachsen, ihren einstmals dort verankerten Glauben in seiner theologischen Deformation verloren und im Versuch, die Unbegreiflichkeiten des Lebens rational zu meistern, gescheitert sind.
Zen führt uns in die Wahrheit des Lebens. Es tut dies zwar in Gestalt einer Blüte am östlichen Zweige des menschlichen Lebensbaumes, meint aber eine im Grunde allen Menschen zugängliche Erfahrung, Weisheit und Übung.
So ist Zen seiner universalen Bedeutung nach keine besondere Religion oder Weltanschauung, die dem, der in einer anderen Tradition steht, eine ihm fremde Gestalt aufdrängen will, sondern Zen meint das eine Licht, das durch all die farbenreichen Fenster hindurchscheint, durch die die verschiedenen Menschen und Völker ihrer Eigenart und Tradition gemäß ins Freie zu blicken suchen. Zen ist wie der Regen, der jeden Samen zu seiner Gestalt heranwachsen läßt und ohne den jedes Wachstum erstirbt. Zen meint die Erde aller Wurzeln des Lebens, in die jeder seine Wurzeln wieder einsenken muß, wenn er zu sich selbst kommen und neu werden will. Zen meint die Luft, in der jedes menschliche Wesen atmet und ohne die das menschliche Leben am Ende erstickt.
So wie Zen aus dem Osten zu uns dringt, ist er oft unverständlich. Damit Zen fruchtbar werde für uns, ist zweierlei notwendig. Es muß uns gelingen, Zen losgelöst von seiner uns fremden Hülle zu verstehen. Wir müssen das Allgemeinmenschliche, auf das es für uns Abendländer ankommt, aus dem Gewande fernöstlicher, buddhistischer, mahajana-buddhistischer und endlich spezifisch ostzenistischer Einkleidungen herauslösen, in denen sich die allgemein gültige Wahrheit des Zen für uns zunächst oft verbirgt. Aber auch dann werden wir, was Zen uns zu sagen hat, nur vernehmen, wenn wir es in einer nicht nur theoretisch interessierten Haltung aufzunehmen versuchen, sondern ihm aus unserer eigenen eixistentiellen Bedürftigkeit heraus begegnen. Es gibt keine Einsicht in das Wesen des Zen für den, der das Einzusehende im Raum des theoretisch Begreifbaren und also in sachlich objektiver Distanz sucht. Denn in dieser Distanz gibt es überhaupt kein Zen.
Wie es die Geliebte und was sie bedeutet nur für den Liebenden gibt, den Feind nur für den, der ihn als Feind fürchtet, den Freund nur für den, der ihn als den ihn Verstehenden fühlt, und so wie der Heilbringer nur für den Heilsuchenden da ist, so auch gibt es Zen nur als lebendige Antwort auf eine von Leid und Sehnsucht erfüllte eigene existentielle Wirklichkeit. Nimmt man die Äußerungen des Zen objektiv, wertet sie logisch, ethisch oder ästhetisch, so nimmt man das in ihnen Geäußerte überhaupt nicht wahr oder mißversteht es völlig und empfindet es nur als dunkel oder abstrus. Doch immer droht ja, wo ein Unfaßbares in ein Bild oder in einen abstrakten Begriff gefaßt wird, seine aufregend existentielle Bedeutung im beruhigenden Gefüge einer gegenständlichen Ordnung unterzugehen.
Es grenzt oft an das Groteske, mit welcher Naivität sich der von seiner Rationalität gefangene Mensch des Westens beurteilend und wertend dem Wesen und dem Wahrheitsgehalt von Religionen – seine eigene nicht ausgeschlossen – in einer Einstellung nähert, in der der existentielle Sinn der Religion verschwindet und nur die sichtbaren Hüllen, die Bilder und Formen, Formeln und Begriffe übrigbleiben, die – häufig verhärtete Interpretationen ursprünglicher Erfahrungen – nunmehr, ihrer lebendigen Quelle entfernt, irreführend und tot sind. Lebendige Religion, und nur als lebendige ist Religion wirklich, ist immer Antwort auf die existentielle Not und Sehnsucht des Menschen. Außerhalb derselben gibt es keine Religion und kein Verständnis für Religion. Aber sind heute nicht die Hüter der Religion, die Vertreter der Kirchen oft selbst in hohem Ausmaß der existentiellen Wurzel der von ihnen vertretenen »Lehre« entfremdet? Wie könnten sie sonst den Versuch der Rückbindung der in Kult, Dogma und theologischen Begriffen eingefangenen Offenbarung in die existentielle Voraussetzung des Glaubens, die Tiefe personalen Erfahrens und Geschehens, als eine gefährliche Psychologisierung des objektiven Gehaltes betrachten – so als habe der übermenschliche und überweltliche Gehalt der Religion des Menschen keinen Ansatzpunkt und keine Voraussetzung im Menschen selbst.
Religion wird immer in dem Maße als bewegende Kraft in den Herzen verblassen, als sie aus dem von Leid und Sehnsucht bestimmten Raum des personalen und existentiellen Lebens herausgerät; denn in ihm allein hat sie Sinn, Geltung und Leben. Wo der Mensch nicht mehr mit dem Herzen auf die Verkündigung anspricht, wird sie zu einer Lehre, deren Gehalt man mit einem Salto mortale des Geistes glauben muß, oder zu einer Weltanschauung, deren Kohärenz und Gültigkeit den Prinzipien des Verstandes »unterliegt«. Wie wäre es anders möglich, daß in unserer Zeit Millionen von Menschen ihren sogenannen Glauben verloren, weil ihnen Dinge widerfuhren und in der Welt Dinge geschahen, die sie mit dem rational-ethischen Gebäude ihrer Vorstellung von der göttlichen Ordnung und der Gerechtigkeit Gottes nicht mehr in Einklang zu bringen vermochten.
Die Irreführung der Geister auf dem Feld des Glaubens legitimiert sich meist damit, daß man glaubt, einen objektiven, allgemein verbindlichen, von allem menschlichen Erleben unabhängigen Gehalt der Religion gegen das »nur-subjektive« Erleben des einzelnen schützen zu müssen. Dies geht aber meist in dreifacher Hinsicht an der Sache vorbei.
1. Die für die Welt der begrifflich faßbaren Tatsachen so notwendige Unterscheidung von »objektiv« (begrifflich fixierbar) und »subjektiv« (von persönlichen Gefühlen und Wünschen gefärbt) wird auf ein Gebiet übertragen, in dem es sich gar nicht um objektive Tatsachen etwa im Sinne der Naturwissenschaft handelt, sondern ausschließlich um Wirklichkeiten, die für den Menschen überhaupt nur in dem Maße da sind und ihm aufgehen, als er ihnen persönlich begegnet und sich aus seinem Gemüt heraus auf sie und in sie einläßt.
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