Lisa Maxwell
Der letzte Magier
von Manhattan
Roman
Aus dem Englischen von Michelle Gyo
Knaur e-books
Lisa Maxwell wuchs in Akron, Ohio, auf und hat einen Doktortitel in Anglistik. Sie arbeitete als Lehrerin, Dozentin, Redakteurin, Schriftstellerin und Buchhändlerin. Wenn sie gerade nicht an einem Roman arbeitet, unterrichtet sie am Collage. Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt sie in der Nähe von Washington, D.C.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Last Magician« bei Simon Pulse, New York.
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 by Lisa Maxwell
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Catherine Beck
Covergestaltung: Guter Punkt, München nach einem Entwurf von Craig Howell
Coverabbildung: © Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Shutterstock und © Craig Howell
Illustration der Schlange im Innenteil: Craig Howell
Stadtplan: Brad Mead
ISBN 978-3-426-45368-1
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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März 1902 – Brooklyn Bridge
Der Magier stand am Rande seiner Welt und blickte ein letztes Mal auf die Stadt hinab. Wie schartige Zähne ragten die Kirchturmspitzen auf, und die schmutzigen Fenster baufälliger Gebäude blitzten im Licht der aufgehenden Sonne. Früher einmal hatte er sie geliebt, diese Stadt, in deren Straßen kein Gesetz galt und in der man alles werden konnte, was man wollte – was ihm auch gelungen war. Letzten Endes war diese Stadt jedoch nichts als ein Gefängnis. Hier war er geboren, diese Stadt hatte ihn geprägt und geschaffen, und nun würde sie ihn umbringen.
So früh am Morgen war die Brücke leer, überspannte still das Wasser zum anderen Ufer. Die Tragseile schwebten hoch oben in der Luft, vom sanften Morgenlicht beschienen, und die einzigen Geräusche rührten von den Wellen und dem Knirschen der Holzplanken unter seinen Füßen her. Kurz gab er sich der Vorstellung hin, wie sich eine Menschenmenge unter ihm versammelte. Fast konnte er ihre angespannten Mienen sehen, wie sie stumm auf den Moment warteten, in dem er dem Tod ein letztes Mal von der Schippe sprang. Er hob einen Arm, winkte seinem unsichtbaren Publikum zu, und in seiner Vorstellung brach es in Jubel aus. Er setzte das Lächeln auf, zu dem er sich immer auf der Bühne zwang – das Lächeln, das bloß eine Lüge war.
Lügner gaben jedoch die besten Magier ab, und zufällig war er außergewöhnlich gut.
Er senkte den Arm, und sofort schienen die Stille und Leere der Brücke auf ihm zu lasten, als ihm die kalte Realität wieder vor Augen stand. Sein ganzes Leben beruhte auf Illusionen, und nun würde sein Tod sein größter Trick. Dieses eine Mal gab es keinen Betrug. Dieses eine Mal würde es echt sein. Sein finaler Ausbruch.
Bei diesem Gedanken erschauderte er. Vielleicht lag es aber auch an dem eiskalten Wind, der durch den dünnen Stoff seines Jacketts drang. In ein paar Wochen wäre es nicht mehr so kalt.
So ist es besser. Der Frühling war schön, der Sommer mit dem widerlichen Gestank in den Straßen und den heißen, stickigen Gebäuden jedoch nicht. Das Gefühl, wie einem unaufhörlich der Schweiß den Rücken hinablief. Wie die Stadt bei der Hitze immer durchdrehte. Das würde er nicht vermissen.
Was natürlich eine weitere Lüge war.
Noch eine. Sollten sie nach seinem Abgang doch schauen, was Wahrheit und was eine Lüge gewesen war.
Er könnte immer noch gehen, dachte er plötzlich voller Verzweiflung. Er könnte einfach die Brücke überqueren und versuchen, durch die Schwelle zu kommen.
Vielleicht erreichte er die andere Seite. Manchen gelang das. Vielleicht endete es für ihn einfach wie für seine Mutter. Das wäre auch nicht schlimmer als das, was er sowieso verdiente.
Es bestand die geringe Chance, dass er überlebte, und dann konnte er vielleicht neu anfangen. Ihm standen genug Tricks zur Verfügung. Er hatte schon einmal sein Leben und seinen Namen geändert, und das könnte er wieder tun. Zumindest könnte er es versuchen.
Doch er wusste, dass es niemals klappen würde. Sein Abgang wäre nur ein anderer Tod. Denn der Orden, der nicht an die Schwelle gebunden war wie er, würde niemals aufhören, ihn zu verfolgen. Jetzt nicht mehr. Die Zerstörung des Buchs reichte nicht. Fanden sie ihn – und das würden sie –, würden sie ihn niemals gehen lassen. Sie würden ihn benutzen, immer wieder, bis nichts mehr von dem übrig wäre, der er einst gewesen war.
Er würde es darauf ankommen lassen und springen.
Er zog sich auf das Geländer hoch und packte das Seil fest, um in der Frühlingsbrise das Gleichgewicht zu halten. In der Ferne hörte er Kutschen und raue, wütende Stimmen, die von der Stadt her näher kamen, und er wusste, dass der Augenblick des Zögerns vorbei war.
Ein einziger Schritt ist so klein. Jeden Tag hatte er unzählige Schritte getan, ohne sie je wahrzunehmen, und doch, dieser eine Schritt …
Der Lärm näherte sich dem Brückenaufgang, wurde lauter, und er wusste, dass die Zeit gekommen war. Erwischten sie ihn, würden ihm weder Magie noch Tricks oder Lügen helfen. Er ließ das Seil los, tat den letzten Schritt und ging – mit dem Buch – an den einzigen Ort, an den der Orden nicht folgen konnte.
Das Letzte, was er hörte, war das trotzige Aufheulen des Buchs. Oder vielleicht war es das Geräusch, das sich seiner Kehle entrang, als er sich der Luft anvertraute.
Dezember 1926 – Upper West Side
Sie setzte nicht ihre Magie ein, um sich von der Party zu stehlen, und doch verließ sie den Ballsaal ungesehen, während die hellen Töne des Flügels hinter ihr leiser wurden. Egal, welches Jahr es war, die Bediensteten sah nie jemand an, und so fiel auch keinem auf, dass sie ging. Und es fiel keinem auf, dass ihr formloses schwarzes Kleid an der einen Seite ein wenig durchhing – das verräterische Anzeichen für das Messer, das sie in den Röcken verbarg.
Den Menschen entging eben für gewöhnlich immer genau das, was sich direkt vor ihren Nasen abspielte.
Trotz der schweren Türen hörte sie noch immer fern die Klänge des Ragtime, den das Quartett spielte. Wie ein Geist folgte ihr die viel zu fröhliche Melodie durch die Eingangshalle, in der Schnitzwerk und glatt polierter Stein drei Stockwerke weit über ihr aufragten. Die Pracht überwältigte sie jedoch nicht. Sie war kaum beeindruckt und eingeschüchtert schon gar nicht. Hoch aufgerichtet und zielstrebig durchquerte sie den Raum – eine ganz eigene Magie, dachte sie. Man vertraute Menschen mit selbstbewusster Haltung, selbst wenn man das nicht tun sollte. Vielleicht sogar besonders dann, wenn man es nicht tun sollte.
Der gewaltige Kristalllüster ließ Splitter aus elektrischem Licht durch die gewaltige Halle tanzen, doch die Ecken des Raums und die hohe Kassettendecke lagen dennoch im Dunkel. Unter den Palmen, die über zwei Stockwerke an den Wänden hinaufaufragten, lauerten weitere Schatten. Die Halle erschien zwar leer, aber es gab in dieser Villa zu viele Verstecke, aus denen sie beobachtet werden konnte. Rasch ging sie weiter.
An der geschwungenen Prunktreppe angekommen, blickte sie hinauf zum Treppenabsatz, auf dem eine große Orgel stand. In dem Stockwerk darüber befanden sich die privaten Gemächer, in denen Kunstgegenstände, Juwelen, Vasen von unschätzbarem Wert und zahllose Antiquitäten standen – leichte Beute, während alle mit der ausgelassenen Party im Ballsaal beschäftigt waren. Esta war jedoch nicht wegen dieser Schätze hier, so verlockend diese auch sein mochten.
Und sie waren wirklich verlockend.
Sie hielt kurz inne, doch in diesem Moment läutete die Glocke die Stunde und bestätigte ihr, dass sie später dran war als geplant. Erneut warf sie einen Blick über die Schulter, dann huschte sie an der Treppe vorbei und in den Flur, der tiefer in die Villa hineinführte.
Es war ruhig. Still. Der Lärm der Party verfolgte sie nicht mehr, und sie ließ endlich die Schultern ein wenig sinken und stieß einen Seufzer aus, als sich ihre Rückenmuskeln von der kerzengeraden Haltung erholten, die zu ihrer Tarnung als Dienstmädchen gehört hatte. Sie neigte den Kopf und dehnte den Hals, doch bevor sie die erhoffte Lockerung verspürte, wurde sie am Arm gepackt und in die Schatten gezogen.
Instinktiv drehte sie sich um, packte das Handgelenk des Angreifers und zog es mit aller Kraft nach unten, bis er erstickt aufjaulte und sein Ellbogen kurz davor war, aus dem Gelenk zu springen.
»Teufel noch mal, Esta, ich bin’s«, zischte eine vertraute Stimme. Sie war eine oder zwei Oktaven höher als sonst, vermutlich weil Esta immer noch an seinem Arm zog.
Mit einem leisen Fluch ließ sie ihn los. »Du solltest es besser wissen, als mich einfach so zu packen.« Ihr Herz pochte heftig, deshalb verspürte sie keine Reue, als er sich jetzt den Arm rieb. »Was ist überhaupt los mit dir?«
»Du bist spät dran«, schnappte Logan, sein zu attraktives Gesicht dicht an ihrem.
Logan Sullivan hatte goldenes Haar und blaue Augen, über die naive Mädchen Gedichte schrieben, und er war ein Meister darin, dieses Aussehen zu seinem Vorteil zu nutzen. Frauen wollten ihn, Männer wollten sein wie er, doch Esta versuchte er nicht zu beeindrucken. Zumindest nicht mehr.
»Jetzt bin ich ja hier.«
»Du hättest vor zehn Minuten hier sein sollen. Wo warst du?«, fragte er.
Sie brauchte ihm nicht zu antworten. Es hätte ihn auch mehr geärgert, hätte sie es ihm verschwiegen, doch sie konnte ihr zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken, als sie eine Diamantkrawattennadel hochhielt, die sie im Ballsaal einem alten Mann gestohlen hatte, der seine Hände nicht hatte bei sich behalten können.
»Wirklich?« Logan funkelte Esta böse an. »Dafür hast du alles aufs Spiel gesetzt?«
»Ansonsten hätte ich ihm eine runterhauen müssen.« Sie blickte zu ihm auf, um ihren Standpunkt ganz klarzumachen. »Grapscher gehen nicht, Logan.« Sie hatte sich nicht einmal bewusst dazu entschieden, ihn anzurempeln, während er ein junges Dienstmädchen begrapschte, um dann so zu tun, als wischte sie ihm den Champagner vom Mantel, und dabei die Nadel aus seiner Seidenkrawatte zu ziehen. Vielleicht hätte sie sich einfach abwenden sollen, doch das hatte sie nicht. Das konnte sie nicht.
Logan sah sie weiter finster an, aber Esta weigerte sich, Reue zu zeigen. Reue war denen vorbehalten, die ihre Vergangenheit mit sich herumschleppten, und diesen überflüssigen Ballast hatte Esta sich noch nie erlauben können. Und wer konnte es schon bereuen, einen Diamanten zu besitzen? Selbst in dem düsteren Korridor war der Stein eine Pracht – ganz Feuer und Eis. Für Esta stellte er auch ein Stück Sicherheit dar, nicht nur wegen seines Werts, sondern weil er sie daran erinnerte, dass sie immer überleben konnte, was auch geschah. Der Adrenalinschub ob dieser Erkenntnis jagte ihr immer noch durch die Adern, und nicht einmal Logans Wut konnte das Gefühl dämpfen.
»Du machst genau das, was der Auftrag erfordert.« Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ja, das tue ich«, sagte sie leise, aber kein bisschen eingeschüchtert. »Das habe ich immer. Und werde es immer tun. Der Professor weiß das, da dachte ich, du hast das mittlerweile auch begriffen.« Sie sah ihn noch einmal finster an, dann warf sie einen weiteren zufriedenen Blick auf den Diamanten, nur um ihn noch ein wenig zu reizen. Er war auf jeden Fall näher an vier Karat dran, als sie zuerst geglaubt hatte.
»Wir dürfen heute Nacht kein unnötiges Risiko eingehen«, sagte er dann geschäftsmäßig und offensichtlich immer noch in dem Glauben, er hätte etwas zu melden.
Sie tat seine Bemerkung mit einem Schulterzucken ab und steckte den Diamanten in ihre Tasche. »War kein so großes Risiko«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Wir sind längst weg, bis der alte Bock es bemerkt. Und du weißt, dass er nicht gesehen hat, wie ich sie ihm genommen habe.« Das taten sie nie. Sie warf ihm einen trotzigen Blick zu.
Logan öffnete den Mund, doch sie war schneller.
»Hast du es gefunden?«, fragte Esta.
Sie wusste schon, wie die Antwort lauten würde – natürlich hatte er es gefunden. Logan fand alles. Das war sein Daseinszweck – zumindest im Team des Professors. Esta ließ ihm seinen Triumph, denn sie musste ihn von dem Diamanten ablenken. Sie hatten keine Zeit für einen seiner Wutanfälle, und so ungern sie es auch zugab, sie war später dran als geplant.
Logan presste die Lippen aufeinander, als müsste er sich mühsam davon abhalten, weiter über den Diamanten zu reden, doch dann gewann sein Ego die Oberhand – wie üblich –, und er nickte. »Im Billardzimmer, wie erwartet.«
»Geh vor«, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, gewinnenden Lächeln. Sie kannte den Grundriss der Villa genauso gut wie er, wusste aber aus Erfahrung, dass man Logan am besten das Gefühl gab, er wäre nützlich oder hätte sogar das Sagen. So ließ er sie wenigstens in Ruhe.
Er zögerte kurz, dann deutete er mit dem Kinn endlich in eine Richtung. Sie folgte ihm schweigend und mehr als zufrieden mit sich durch den schwach beleuchteten Flur.
Die Wände waren mit Gemälden bedeckt, auf denen mürrisch dreinblickende Adlige irgendeines bankrotten Landguts aus Europa zu sehen waren. Charles Schwab, der Eigentümer der Villa, war aber nicht adliger als Esta selbst. Er stammte aus einer Familie deutscher Immigranten, das wusste jeder in der Stadt. Das Haus half da auch nicht – es war auf der falschen Seite des Central Parks erbaut, nahm einen ganzen Häuserblock ein und war protzig vergoldet und mit Kristallglas überladen. Der Hausrat darin mochte ein Vermögen wert sein, doch in New York reichte selbst ein Vermögen nicht aus, um sich seinen Platz in den exklusivsten Kreisen der Gesellschaft zu erkaufen.
Zu schade, dass es nicht lange Bestand haben würde. In ein paar Jahren würde der Schwarze Dienstag zuschlagen, und dann würden all diese Kunstwerke sowie jeder Einrichtungsgegenstand verkauft werden, um Schwabs Schulden zu begleichen. Die Villa selbst würde leer stehen, bis man sie eine Dekade später abriss, um Platz für ein weiteres fantasieloses Mietshaus zu schaffen. Wäre die Villa nicht so offensichtlich geschmacklos, wäre das beinahe bedauerlich.
Bis dahin würden noch ein paar Jahre vergehen, und Esta hatte keine Zeit, sich Gedanken über die Zukunft eines Stahlmagnaten zu machen. Nicht, wenn sie einen Auftrag zu erledigen und weniger Zeit als geplant hatte.
Sie liefen durch einen weiteren Flur, der vor einer großen Holztür endete. Logan lauschte aufmerksam, bevor er sie aufstieß. Kurz fragte sich Esta, ob er mit ihr zusammen hineingehen würde.
Doch er nickte ihr nur ernst zu. »Ich passe auf.«
Dankbar, dass Logan ihr doch nicht im Nacken sitzen würde, huschte sie ins Zimmer, das sie sofort mit dem Geruch nach Holzpolitur und Zigarren umhüllte. Das Billardzimmer war durch und durch maskulin eingerichtet, nicht übertrieben vergoldet und mit Kristall überladen, so wie der Rest des Hauses. Hier waren schwere Ledersessel zu kleinen Sitzgruppen arrangiert, und ein gewaltiger Billardtisch stand in der Mitte des Zimmers wie ein Altar.
Die Luft war wegen des Feuers im Kamin stickig, und Esta zupfte am hochgeschlossenen Kragen ihres Kleids und wog dabei das Risiko ab, entweder den Kragen aufzuknöpfen oder die Ärmel aufzurollen. Sie musste es bequem haben, während sie arbeitete, und außer Logan war niemand da …
»Mach endlich«, drängte er. »Schwab beginnt bald mit der Auktion, und dann müssen wir weg sein.«
Den Rücken immer noch Logan zugewandt, musterte sie das Zimmer und zwang sich zu einem tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen und ihn nicht umzubringen. »Hast du herausgefunden, wo der Tresor ist?«
»Bücherregal«, sagte er, bevor er die Tür zuzog und sie in dem stickigen Raum einschloss. Die Stille wurde nur von dem steten Ticken der Standuhr unterbrochen – tick … tick … tick –, einer Erinnerung, dass mit jeder verstreichenden Sekunde der Augenblick näher rückte, in dem sie entdeckt werden konnten. Und wenn man sie sah …
Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. An der dem großen Kamin gegenüberliegenden Wand reihten sich Regalbretter mit in Leder gebundenen Büchern. Esta strich bewundernd über die makellosen Rücken.
»Wo bist du?«, flüsterte sie.
Die Titel schimmerten sanft im schwachen Licht und behielten ihre Geheimnisse für sich, während sie mit den Fingern über die Unterseite der Regalbretter fuhr. Es dauerte nicht lange – ein kleiner Knopf war ins Holz eingelassen, dort, wo ihn kein Bediensteter aus Versehen fand und niemand außer einem Dieb suchen würde. Sie drückte darauf, der Mechanismus in den Regalen gab mit einem befriedigenden Klicken nach, und ein Viertel der Wand schwang so weit vor, dass sie die an Scharnieren befestigten Regale vorziehen konnte.
Genau, wie sie es erwartet hatte – ein Tresor mit Kombinationsschloss von Herring-Hall-Marvin. Acht Zentimeter dicker Gussstahl und so groß, dass ein Mensch bequem darin sitzen konnte, war es der raffinierteste Tresor, den man 1923 hatte kaufen können. Sie hatte noch nie zuvor ein so neues Modell gesehen. Dieses hier war glänzend dunkelgrün lackiert, und Schwabs Name stand mit goldener, verschnörkelter Schrift darauf. Ein wunderschöner Tresor für die Dinge, die einem sehr reichen Mann am meisten am Herzen lag. Glücklicherweise hatte Esta bereits im Alter von acht Jahren Schlösser geknackt, die eine größere Herausforderung darstellten.
Voller Vorfreude lockerte sie die Finger. Die ganze Nacht hatte sie sich nicht wie sie selbst gefühlt – das steife Kleid, der zu Boden gesenkte Blick, wenn jemand sie ansprach –, es war, als spielte sie eine Rolle, die ihr nicht passte. Jetzt, vor dem Tresor, fühlte sie sich endlich wieder wohl in ihrer Haut.
Sie drückte das Ohr an die Tür, dann begann sie, an der Nummernscheibe zu drehen. Ein Klick … zwei … der Klang von Metall, das im innen liegenden Zylinder gegen Metall rieb, während sie auf den Herzschlag des Schlosses lauschte.
Die Sekunden verstrichen mit unheilbringender Gewissheit, doch je länger sie arbeitete, desto mehr entspannte sie sich. Ein Schloss konnte sie besser lesen als einen Menschen. Schlösser hatten keine Launen oder änderten sich bei jedem Wetterumschwung, und bisher hatte es kein Schloss gegeben, das sein Geheimnis vor ihr hätte wahren können. Innerhalb von Minuten hatte sie drei der vier Ziffern. Sie drehte das Rad erneut, um die vierte …
»Esta?«, zischte Logan und störte ihre Konzentration. »Bist du endlich fertig?«
Die letzte Ziffer war weg, und sie blickte ihn über die Schulter finster an. »Wäre ich vielleicht, wenn du mich in Ruhe lassen würdest.«
»Beeil dich«, blaffte er, trat wieder in den Flur und zog die Tür zu.
»Beeil dich«, murmelte sie und ahmte seinen Befehlston nach, während sie sich wieder nach vorn beugte, um zu lauschen. Als könnte man bei der Kunst des Tresorknackens hetzen. Als wüsste Logan überhaupt, wie das ging.
Als sich der letzte Zylinder endlich mit einem Klicken an seinen Platz schob, verspürte sie eine tiefe Zufriedenheit in sich nachhallen. Nun musste sie die Kombinationen durchprobieren. Noch eine Minute, dann wäre der Inhalt des Tresors in Reichweite. Noch eine Minute, und Logan und sie wären weg. Und Schwab würde es niemals herausfinden.
»Esta?«
Sie fluchte. »Was jetzt?« Dieses Mal drehte sie sich nicht zu Logan um und konzentrierte sich weiter auf die zweite und falsche Kombination.
»Da kommt jemand.« Er blickte kurz hinter sich. »Ich lenke sie ab.«
Jetzt drehte sie sich zu ihm um und bemerkte seine vor Angst angespannte Miene. »Logan …« Doch er war schon wieder weg.
Sie überlegte, ihm zu helfen, verwarf den Gedanken aber und wandte sich stattdessen wieder dem Tresor zu. Logan würde sich darum kümmern. Er würde sich für sie beide darum kümmern, denn so lief das nun mal bei ihnen. So arbeiteten sie. Sie hatte ihre Aufgabe und er seine.
Zwei weitere falsche Kombinationen – die Hitze des Zimmers kroch über ihre Haut, während der Geruch nach Tabak und Holzrauch ihr im Hals kratzte. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und versuchte zu ignorieren, dass es sich anfühlte, als würde das Kleid sie ersticken wollen.
Sie versuchte es erneut und ignorierte die Schweißtropfen, die sich unter den Stoffbahnen langsam ihren Weg nach unten suchten. Acht. Einundzwanzig. Dreizehn. Fünfundzwanzig. Sie zog am Griff, und zu ihrer Erleichterung öffnete sich die schwere Tresortür.
Vor dem Zimmer hörte sie das tiefe Brummen von Männerstimmen, doch sie war zu sehr mit dem Inhalt des Tresors beschäftigt, um ihnen viel Beachtung zu schenken. Auf den Regalbrettern und Fächern lagen Briefumschläge aus Leinwand, in denen Aktienzertifikate und Anleihen, Ordner mit Papieren und ordentlich gebündelte, große Geldscheine lagen. Enttäuscht blickte sie auf das seltsam aussehende Geld, da sie nicht einmal einen Dollar mitnehmen konnte. Damit ihr Plan Erfolg hatte, durfte Schwab nicht wissen, dass jemand hier war.
Sie fand, was sie suchte, auf einem Brett weiter unten.
»Hallo, meine Schönheit«, schnurrte sie und griff nach der langen schwarzen Schachtel. Sie hatte sie kaum in den Händen, als die Stimmen im Gang lauter wurden.
»Das ist unerhört! Ich könnte Sie mit einem einzigen Telegramm ruinieren«, brüllte Logan, dessen Stimme durch die schwere Tür hindurch zu hören war. »Wenn ich meinem Onkel berichte – nein, meinem Großvater –, mit welch bodenloser Frechheit ich hier behandelt wurde«, fuhr er fort, »werden Sie keinen weiteren Vertrag diesseits des Mississippi abschließen. Nicht einmal auf der anderen Seite. Niemand wird noch mit Ihnen reden, wenn ich …«
Das muss Schwab sein, dachte Esta, zog eine Nadel aus ihrem Haar und fing an, sich an der verschlossenen Kiste zu schaffen zu machen. Seit Jahren versuchte Schwab, sich einen Namen in der Stadt zu machen. Das Haus war ein Teil davon, doch der Inhalt der Kiste war der wichtigere. Und es war der Inhalt dieser Kiste, den Esta brauchte.
»Sei vernünftig, Jack.« Eine andere Stimme … vermutlich Schwabs. »Ich bin sicher, das ist nur ein Missverständnis …«
Sie bekam eine Gänsehaut, als die Worte zu ihr durchdrangen. Jack? Also war Schwab nicht allein da draußen.
Egal, wie fähig Logan war, in der Unterzahl zu sein, war nie gut. Schnell rein und raus, mit möglichst wenig Kontakt. Diese Regel hielt sie am Leben.
Sie stocherte einen Moment mit der Haarnadel im Schloss herum, bis sie spürte, wie der Verschluss nachgab, und die Kiste aufsprang.
»Nimm deine dreckigen Pfoten von mir!«, schrie Logan laut genug, dass Esta es hörte. Das Zeichen, dass die Lage eskalierte.
Sie legte die Kiste wieder auf das Brett, damit sie ihre Röcke heben und das Messer hervorziehen konnte, das sie dort verborgen hatte. Trotz der Rangelei im Flur bewunderte Esta kurz Maris Handwerkskunst, als sie nun das Messer mit dem juwelenbesetzten Dolch verglich, der auf dem schwarzen Samt der Schachtel lag. Ihrer Freundin war es wieder mal gelungen – nicht dass sie das ernsthaft überraschte.
Mariana Cestero konnte alles replizieren – jedes Material aus jeder Zeit, inklusive Logans geprägter Einladung für die Party an diesem Abend und den fünfzehn Zentimeter langen Dolch, den Esta in den Falten ihres Rocks bei sich getragen hatte. Das Einzige, was Mari nicht vollständig replizieren konnte, war der Stein im Griff des Dolchs, das Herz des Pharao, denn dieser Stein war mehr, als er zu sein schien.
Es war ein Granat, der aus einer der Grabkammern im Tal der Könige entwendet worden sein sollte, der angeblich Macht über das Feuer barg, das am schwersten zu beherrschende Element. Feuer, Wasser, Erde, Himmel und Geist waren die fünf Elemente, die sich der Orden des Ortus Aurea um jeden Preis nutzbar machen wollte, um seine Macht auszubauen.
Natürlich war das ein Irrtum. Elementarmagie war bloß ein Märchen, erfunden von jenen ohne Magie – den Sundren –, um zu erklären, was sie nicht begriffen. Es machte den Orden jedoch nicht weniger gefährlich, nur weil er die Magie nicht begriff. Nur weil man mit dem Stein nicht das Feuer beherrschte, bedeutete das nicht, dass ihm nicht doch etwas Besonderes zu eigen war. Sonst würde Professor Lachlan ihn nicht haben wollen.
Der Granat war so poliert, dass er selbst im sanften Schein des Feuers zu glühen schien. Esta spürte den Sog des Steins, er zog sie an, aber nicht wie die Diamantnadel, sondern auf einer tieferen Ebene.
Elementarmagie mochte ja ein Märchen sein, aber die Magie selbst war real genug.
Organisationen wie der Orden des Ortus Aurea versuchten seit Jahrhunderten, sich die Magie zu eigen zu machen. Schwab hatte den Dolch erworben und die Auktion in der Hoffnung arrangiert, sich so seinen Platz im Orden zu erkaufen. Doch die einzige Magie, die der Orden besaß, war künstliche und verdorbene Zeremonialmagie – pseudowissenschaftliche Praktiken wie Alchemie und Theurgie –, und so würden sie nicht spüren können, was Esta fühlte. Sie würden erst viel später merken, dass Maris Stein eine Fälschung war – wenn sie ihre Experimente durchführten und versuchten, sich die Macht des Steins zunutze zu machen. Und selbst dann würden sie davon ausgehen, dass Schwab sie betrogen hatte … oder den Unterschied erst gar nicht bemerkt hatte. Schwab selbst würde glauben, dass ihn der Antiquitätenhändler betrogen hätte, der ihm den Dolch verkauft hatte. Niemand würde die Wahrheit erkennen – dass das echte Herz des Pharao direkt vor ihren Nasen gestohlen worden war.
Esta nahm den Tausch vor, legte den gefälschten Dolch in die mit Samt ausgeschlagene Kiste und schob den echten Dolch in ihre Rocktasche. Er war schwerer als der, den sie den ganzen Abend dort mit sich herumgetragen hatte, als hätte das Herz des Pharao ein Gewicht und eine Dichte, die Mari nicht vorausgesehen hatte. Einen Augenblick lang sorgte sich Esta, dass Schwab den Unterschied vielleicht doch bemerkte. Dann dachte sie an das Haus – seinen übertriebenen Versuch, seinen Kontostand zur Schau zu stellen – und schüttelte diese Befürchtung ab. Schwab gehörte nicht gerade zu denen, die begriffen, worauf es ankam.
Vor dem Zimmer zerbrach etwas, und eine ihr unbekannte Stimme schrie auf. Rasch verschloss Esta die Kiste und achtete darauf, sie genau so auf das Regal zu stellen, wie sie sie vorgefunden hatte. Dann schloss sie den Tresor. Sie schob gerade den Bücherschrank davor, als sie Logan hörte – ein gequältes Aufstöhnen.
Und dann zersplitterte ein Schuss die Nacht.
Nein!, dachte Esta und rannte schon durch die Tür, als ihr der Schuss noch in den Ohren hallte. Sie musste zu Logan. Er mochte ja vielleicht eine Nervensäge sein, aber er war ihre Nervensäge. Und es war ihr Job, sie beide hier rauszubringen.
Logan lag am anderen Ende des Flurs auf dem Boden und versuchte, sich aufzurappeln, während Schwab sich mühte, einem Mann mit lichter werdendem blondem Haar, dessen Smoking sich um die fette Leibesfülle bauschte, eine Pistole zu entreißen. Der Blonde wehrte sich gegen Schwab und richtete die Waffe erneut auf Logan.
Esta erfasste diese Szene in einem Augenblick, holte tief Luft und zwang sich, das Chaos zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das stetige Schlagen ihres eigenen Herzens.
Poch. Poch.
So gleichmäßig wie die Zylinder des Schlosses, die an ihren Platz glitten.
Poch. Poch.
Beim nächsten Schlag verdichtete sich die Zeit für sie, und es war, als erstarrte die Welt um sie fast vollständig: Schwabs wabbelnde Wangen hielten beinahe still. Der Schweiß, der dem blonden Mann von der Schläfe tropfte, schien mitten in der Luft eingefroren, während er quälend langsam zu Boden fiel.
Es war, als spulte jemand die Welt wie einen Film vor, Bild um Bild. Und dieser Jemand war sie.
Finde die Spanne zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, hatte Professor Lachlan sie gelehrt.
Denn nicht in den Elementen war die Magie. Die Magie befand sich in den Zwischenräumen, in der Leere zwischen allen Dingen, sie verband sie. Sie wartete dort auf die, die wussten, wie man sie fand, auf die, denen die Fähigkeit angeboren war, diese Verbindungen zu sehen – die Mageus.
Wie Esta.
Vorhin hatte sie die Magie nicht gebraucht, nicht, um von der Party weg zu entkommen oder das Schloss zu knacken, doch sie brauchte sie jetzt, also öffnete sie sich für sie. Für sie war es fast so leicht wie zu atmen, die Leere zwischen den Sekunden und dem Schlagen der Herzen zu finden. Sie stürzte zu Logan und stahl Zeit, während sie durch das beinahe erstarrte Standbild huschte.
Doch sie konnte die Zeit nicht vollständig anhalten. Sie konnte den Moment nicht umkehren und den Finger des blonden Mannes auch nicht davon abhalten, den Abzug noch einmal zu drücken.
Sie war noch nicht ganz bei Logan, als das Krachen des Revolvers ihre Konzentration zerschmetterte. Ihr entglitt die Zeit, und die Welt setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung. Esta kam die Entfernung zwischen dem Billardzimmer bis zu der Stelle, an der sie jetzt für alle sichtbar und ungeschützt mitten im Flur stand, wie eine Ewigkeit vor, doch für die beiden Männer tauchte sie vollkommen unvermittelt dort auf. Mitglieder des Ordens würden sofort begreifen, dass sie Magie angewandt hatte.
Die Männer hielten einen Augenblick inne, die Augen beinahe schon komisch weit aufgerissen. Dann schien der Blonde sich wieder zu fangen. Er machte sich von Schwab los, hob die Pistole und zielte.
August 1900 – East 36th and Madison Avenue
Dolph Saunders war für die Nacht geboren. Die stillen Stunden, in denen sich die Stadt verdunkelte und das Gelichter des Tages die Straßen verließ, waren ihm am liebsten. Sie waren zwar Kriminelle und Halsabschneider, aber die, die sich nach dem Entzünden der Lampen dort draußen aufhielten, waren seine Leute – Besitzlose und Verleugnete, die in den Schatten lebten und sich ihr jämmerliches Leben am Rande der Gesellschaft schufen. Die, die wussten, dass es nur darauf ankam, sich nicht erwischen zu lassen.
In dieser Nacht waren ihm die Schatten jedoch kein Trost. Er hockte in einer Nische gegenüber der Villa von J.P. Morgan und verfluchte sich selbst, weil er nicht mehr tun konnte. Seine Mannschaft war spät dran, und in der Luft lag eine Unruhe – es fühlte sich zu sehr danach an, als wartete die Nacht selbst darauf, dass etwas geschah. Dolph gefiel das überhaupt nicht. Nicht, nachdem bereits so viele verschwunden waren, und besonders dann nicht, wenn Leenas Leben auf dem Spiel stand.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen in diesem Teil der Stadt verschwanden. Kreuzte man die falsche Straße, kam man der falschen Gang in die Quere. Und kam man dem falschen Boss in die Quere, verschwand man vielleicht spurlos. Die mit alter Magie, besonders die, die unter Dolphs Schutz standen, wussten den meisten Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Aber eine Handvoll seiner Leute, die innerhalb eines Monats verschwanden? Das konnte kein Zufall sein.
Dolph zweifelte nicht daran, dass der Orden die Schuld daran trug, doch in letzter Zeit hatte der sich ruhig verhalten. Seit Wochen war in der Bowery keine Razzia durchgeführt worden, was an sich schon ungewöhnlich war. Und obwohl ihre Klausur am Ende des Jahres bevorstand, hatten seine Leute nichts gehört, was einen Hinweis auf die Pläne des Ordens gab. Dolph traute diesem Frieden nicht, und er war nicht der Typ, der die, die ihm gegenüber loyal waren, ohne Antworten sitzen ließ. Also hatte Leena, Dolphs Partnerin in allem, als Dienstmädchen in Morgans Villa angeheuert. Morgan bekleidete eines der höchsten Ämter des Ordens, und sie hofften, dass jemand aus seinem Umfeld etwas ausplauderte.
Die letzten paar Wochen hatte sie poliert und geputzt … und nichts über die vermissten Mageus herausgefunden. Vor zwei Nächten war sie nicht nach Hause gekommen.
Er hätte es selbst machen sollen. Es waren seine Leute, seine Verantwortung. Wenn ihr irgendetwas zugestoßen war …
Er zwang sich, den Gedanken beiseitezuschieben. Ihr geht es gut. Leena war schlau, stark und sturer als sonst jemand, den er kannte. Sie kam mit jeder Situation klar. Ihre Magie funktionierte jedoch nur bei den Gaben anderer Mageus. Gegen den Orden war sie nutzlos.
Wie als Antwort auf seine düsteren Gedanken fuhr eine Mietkutsche an der Seite des Hauses vor. Heute Abend wurde keine Lieferung erwartet, und die Ankunft verstärkte Dolphs Unruhe nur. Die Kutsche versperrte ihm die Sicht, sodass er nicht erkennen konnte, ob sich Ärger zusammenbraute.
Doch bevor er sich einen anderen Posten suchen konnte, schwappten wütende Männerstimmen in die Nacht. Einen Augenblick später schlug die Tür der Kutsche mit einem Knall zu, und der Fahrer ließ die Peitsche schnalzen, sodass die Pferde losgaloppierten.
Dolph sah ihr nach, doch als sich ihm jemand mit schnellen Schritten näherte, packte er seinen Stock fester, bereit für alles, was da kam.
»Dolph?«
Es war Nibsy Lorcan. Verstoßen aus einem Heim für Jungen, war er vor ein paar Jahren in Dolphs Bar aufgetaucht. Klein und bescheiden, wie er war, übersah man ihn leicht, aber Dolph konnte die Kraft und die Gabe eines Menschen auf zehn Schritt erspüren. Er hatte gedacht, dass Nibsy eine wertvolle Ergänzung seiner Mannschaft sein könnte, und er hatte recht behalten. Nibsy hatte sich mit der leisen, ruhigen Stimme und dem scharfen Verstand den Respekt selbst der sauertöpfischsten Mitglieder von Dolphs Mannschaft verdient, und mit seiner Gabe vorauszusagen, wie sich unterschiedliche Entscheidungen auswirken könnten, hatte er rasch seinen Platz als Dolphs rechte Hand gewonnen.
Nibsy kam näher, und seine dicken Brillengläser blitzten im Mondlicht auf. »Dolph? Wo bist du?«
Dolph trat aus den Schatten. Trotz der Hitze der Nacht fühlte sich seine Haut eiskalt an. »Hast du sie gefunden?«
Nibs nickte und mühte sich, wieder zu Atem zu kommen.
»Wo ist sie?«, fragte Dolph, und seine Kehle wurde eng, als er das Haus nach einem Zeichen absuchte. »Was ist geschehen?«
»Der Orden muss auf uns gewartet haben«, sagte Nibsy, immer noch nach Luft ringend. »Spot haben sie sofort geschnappt. Ein Messer in den Bauch, keine Fragen. Und dann Appo.«
»Jianyu?«
»Weiß ich nicht«, keuchte Nibsy. »Hab ihn nicht gesehen, als ich weg bin. Leena habe ich gefunden. Morgan hatte sie im Keller, aber … ich konnte nicht zu ihr. Sie haben eine Barriere errichtet. Eine Art Wolke hing in der Luft. Als ich näher heranging, fühlte es sich an, als würde ich sterben.« Nibsy erschauderte und holte erneut tief Luft. »Sie ist ziemlich schwach. Ich hätte sie nicht dort herausholen können. Aber sie hat mir das hier zugeworfen«, sagte er und hielt etwas Kleines hoch, das in Musselin eingeschlagen war. »Sagte, ich solle sie zurücklassen. Und es kamen mehr von ihnen, also … habe ich es getan. Es tut mir leid. Ich hätte nicht …« Seine Stimme brach. »Sie haben sie geholt.«
Dolph nahm das Ding entgegen. Ein Stück Stoff war um einen Messingknopf gewickelt worden – einen, den Dolph von der Dienstmädchenuniform erkannte, die Leena getragen hatte. Der Fetzen wog nicht mehr als ein Atemzug zwischen seinen Fingerspitzen. An einer Seite war er zerfetzt. Sie musste ihn von ihrem Unterrock abgerissen haben. Anscheinend hatte sie Blut benutzt, um zwei Worte auf Latein daraufzuschmieren. Ihr Blut, begriff er. Die Nachricht war so wichtig, dass sie dafür ihr Blut vergossen hatte. Beim Anblick der verschmierten Buchstaben, die bereits zu einem dunklen Rostbraun getrocknet waren, nistete sich die Kälte tief in seine Knochen ein.
»Wir holen sie zurück.« Dolph weigerte sich, etwas anderes auch nur zu denken. Mit dem Daumen rieb er über den Fetzen, spürte das vertraute Echo von Leenas Energie. Er sandte seine Magie in das Stück Stoff, in die Spuren ihres Bluts, versuchte, mehr zu spüren und zu verstehen, was geschehen war. Er konnte die Gabe eines Menschen spüren, wenn dieser eine hatte, konnte sie sogar anzapfen und sie sich borgen, wenn er den Menschen berührte, doch Gegenstände zu lesen, war noch nie seine Stärke gewesen.
Und doch hatte Nibs recht – die winzige Spur, die er von Leena spürte, fühlte sich falsch an, schwach. Er warf den Knopf weg und schob den Stofffetzen in die Innentasche seines Mantels, die seinem Herzen am nächsten war.
»Noch ist Zeit«, sagte er und schritt bereits zu dem Platz hinüber, auf dem die Kutsche wartete.
Die Straßen waren leer, und sie holten die andere Kutsche rasch ein. Sie folgten ihr durch die Stadt gen Süden, und Dolph überkam das ungute Gefühl, dass er wusste, wohin sie fuhr. Als sie endlich auf die Park Row abbogen, wusste Dolph es mit Sicherheit.
Er brachte die Kutsche am Rand des Parks zum Stehen, der die City Hall umgab. Hinter den dunklen Gärten stand die große Endhaltestelle, die den Blick auf die Brücke nach Brooklyn versperrte. Einer Warnung aus Stahl und Glas gleich, ragte sie in der Nacht auf. Dahinter lag die Brücke, die erste ihrer Art, die einen so breiten Fluss überspannte. Quer über die Brücke verlief die Schwelle, die unsichtbare Grenze, die jeden Mageus davon abhielt, die Stadt zu verlassen und mit unversehrter Magie davonzukommen. Sie verhinderte, dass sie das Land jenseits der Brücke mit dem verdarben, was der Orden – und der größte Teil der Bevölkerung – für ungezähmte und gefährliche Macht hielt.
Leena war, wie Dolph auch, mit alter Magie geboren worden. Dass der Orden sie zur Brücke brachte, konnte nur eines bedeuten – sie wussten, was sie war. Und sie würden die Schwelle einsetzen, um ihre Gabe zu zerstören. Um sie zu zerstören.
Das würde er nicht zulassen.
Dolph beobachtete, wie die Mietkutsche mit Leena hinter die Haltestelle fuhr, auf den Eingang für Kutschen zu. »Ich gehe zu Fuß«, sagte er. »Du bleibst hier. Hältst Wache.«
»Sicher?«, fragte Nibs.
»Wir können nicht riskieren, dass sie uns bemerken.« Folgten sie ihnen mit der Kutsche, konnten sie sich nicht verstecken, auf dem Fußgängerweg darüber könnten sie sie vielleicht überraschen und hätten die Chance, Leena zu retten. »Sie werden warten müssen, um die Maut zu zahlen. So werde ich sie leicht einholen können.«
»Aber dein Bein«, sagte Nibs. »Ich könnte …«
Er warf Nibs einen vernichtenden Blick zu. »Mein Bein hat mich noch nie davon abgehalten, zu tun, was getan werden muss. Du bleibst hier. Komme ich nicht zurück, bevor ihre Kutsche wieder hier ist, geh und warne die anderen. Wenn das hier schiefgeht, könnte der Orden Jagd auf sie alle machen.« Er sah Nibs eindringlich an, wollte ihm die Bedeutung dieses Augenblicks begreiflich machen.
Nibs Augen wurden groß. »Du wirst zurückkommen«, sagte er. »Und du wirst Leena zurückbringen.«
Dolph war froh über diese Zuversicht, doch darauf würde er sich nicht verlassen. Er zog sich die Kappe tiefer in die Stirn und ging auf die Haltestelle zu. Er ignorierte sein steifes Bein, so wie immer, und zog sich die breiten Treppen hinauf, die zum Eingang der Brücke führten. Oben angekommen, hielt er sich von den schmalen Lichtstreifen auf den Planken des Stegs fern. Er blieb in den Schatten und bewegte sich trotz seines ungleichmäßigen Gangs schnell – er lebte schon so lange mit dem Hinken, dass es einfach ein Teil von ihm war.
Die Mietkutsche hatte vor dem ersten Turm der Brücke angehalten – direkt hinter dem Ufer. Drei Gestalten stiegen aus. Eine beugte sich wieder in die Kutsche und zog eine vierte heraus. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, dass es Leena war. Er spürte ihre Gabe – vertraut, warm, sein. Doch sie hing schlaff zwischen ihren Entführern. Er spürte auch, wie schwach ihre Magie war, und als er näher kam, sah er, was sie ihr angetan hatten, sah ihr zerschrammtes Gesicht und die blutende Lippe. Sah, wie sie bei einem flattrigen Atemzug zusammenzuckte und sich gegen die Männer zur Wehr setzte, als diese sie auf den Turm, auf die Schwelle zuzerren wollten.
Sein Blut begann zu brodeln.
Dolph wusste, wie jeder andere Mageus in der Stadt, was geschehen würde, wenn jemand mit alter Magie diese Grenze überschritt. Sobald man die Schwelle übertrat, zehrte sie einen aus. Hatte derjenige Glück und seine Gabe war schwach – mehr ein Talent als wahre Macht –, so überlebte er vielleicht, doch der fortan fehlende Teil seiner selbst zerrüttete ihn, und er litt für den Rest seines Lebens unter diesem Verlust.
Die meisten blieben hohl und leer und vernichtet zurück. Oftmals tot. Und deshalb wusste er ganz genau, was mit Leena geschehen würde, denn sie war eine der mächtigsten Mageus, die er jemals kennengelernt hatte.
Er hielt sich in den Schatten und rechnete sich seine Chancen aus, Leena den Männern zu entreißen. Einen könnte er mit Leichtigkeit ausschalten, sogar mit dem Bein, und die vergiftete Klinge in seinem Stock reichte für den zweiten, aber der dritte? Ihm blieb keine Zeit, zurückzugehen und Nibs zu holen … nicht dass der Junge in einem Kampf eine große Hilfe wäre.
»Haltet sie aufrecht, Jungs«, sagte der Anführer der drei. »Ich will die Angst in ihren Augen sehen – dreckige Made.«
Die zwei Männer zogen Leena auf die Füße, und einer schlug ihr fest auf die Wange.
Dolphs Blut kochte, und er konnte seine Wut kaum zügeln. Doch er zwang sich, still zu bleiben, nichts zu überstürzen und so die einzige Gelegenheit zu verpfuschen, die ihm blieb, um sie zu befreien.
Doch zuzusehen, wie ein anderer Mann sie berührte, ihr wehtat … Seine Knöchel schmerzten, so fest packte er seinen Stock. Zur Hölle mit dem Plan, die Schwelle zu zerstören. Er würde sie alle zerstören.
Er schlich durch die Schatten, bis er beinahe über ihnen war. Hier spürte er die kalte Energie der Schwelle bereits. Anders als natürliche Magie, die sich warm und lebendig anfühlte, war die Schwelle wie Eis. Verzweiflung und Verwesung. Es war widernatürliche Magie, Macht, die ein Ritual verdorben hatte und die von der Energie genährt wurde, die sie anderen aussaugte. Und wie jede widernatürliche Magie forderte sie einen Preis.
Er war ihr jetzt so nahe, dass er sich nur umdrehen und davonlaufen wollte. Er war ihr so nahe, dass er spürte, wie leicht ihm all das genommen werden konnte, was ihn ausmachte. Doch er würde nicht zulassen, dass jemand noch einmal Hand an sie legte.
Der Mann, der gesprochen hatte, zerrte Leenas Kopf an den Haaren zurück. »Da bist du ja«, sagte er und lachte, als sie das linke Auge öffnete, um ihn anzusehen. Ihr rechtes Auge war zugeschwollen. »Weißt du, was gleich mit dir passiert, Täubchen? Ich wette, das tust du. Ich wette, du kannst es fühlen, nicht wahr?« Der Mann lachte. »Genau das verdienen Maden wie du und deinesgleichen.«
Leenas Auge schloss sich. Kein Anzeichen der Schwäche, das wusste Dolph, sie sammelte nur ihre Kraft.
Das ist mein Mädchen, dachte Dolph, als Leena einen üblen Fluch murmelte. Dann öffnete sie das Auge, das nicht zugeschwollen war, und spuckte dem Mann ins Gesicht.
Der Mann reagierte sofort. Seine Hand schoss vor, und Leenas Kopf zuckte nach hinten.
Dolph war bereits in Bewegung. Er schwang sich auf das Geländer und schlug mit dem Ende seines Stocks gegen die Straßenlampe. Wie Beute, die den nahenden Jäger spürte, wurden die Männer unter ihm ganz ruhig, als das Licht ausging, und lauschten angestrengt auf die Quelle dieser Störung.
»Auf was wartet ihr?«, rief der Anführer und durchbrach die entstandene Stille. In seiner Stimme schwang jedoch eine Unruhe mit, die vorher nicht da war. »Bringt sie rüber.«
Die Männer gehorchten nicht augenblicklich. Während sie zögerten, da ihre Augen sich noch an die Dunkelheit gewöhnen mussten, schob Dolph die Augenklappe auf das andere Auge und sah nun mit dem, das bereits an die Dunkelheit gewöhnt war. Er sah die Brücke unter sich klar und deutlich, und lautlos ließ er sich von dem Steg darüber auf sie hinabfallen. Er ignorierte das Stechen in seinem Bein, als er auf dem Anführer landete, ihn zu Boden stieß und ihm die scharfe Klinge in den Knöchel rammte, die im Ende seines Stocks verborgen war. Der Mann stieß einen Schrei aus, als würde er bei lebendigem Leib verbrannt.
Nun, dieses Gift brannte tatsächlich.
Während der Anführer weiterschrie, wandte Dolph sich schon dem nächsten Mann zu, aber der wehrte sich bereits gegen einen unsichtbaren Angreifer. Er zuckte auf, dann wurde er ganz still und sank mit weit aufgerissenen Augen zu Boden. Jianyu tauchte auf, schien sich förmlich aus der Nacht heraus zu materialisieren. Er nickte Dolph kurz zu, und gemeinsam wandten sie sich dem dritten Mann zu.
Der Letzte schien vor Angst gelähmt und begriff nicht, dass er besser davonlaufen sollte. Er hielt Leena wie einen Schild vor sich.
»Lasst mich in Ruhe, oder ich bringe sie um«, sagte er, und seine Stimme brach, während er in der Dunkelheit blinzelte.
Dolph trat auf ihn zu, und Jianyu umkreiste den Mann von der anderen Seite.
»Du bist bereits in dem Moment gestorben, in dem du sie angefasst hast«, murmelte Dolph, kaum noch eine Armeslänge von dem Mann entfernt.
Der Mann taumelte rückwärts, und Leena nutzte die Gelegenheit, um sich von ihm loszumachen. Doch er verlor das Gleichgewicht, und er hatte sie zu fest gepackt. Der Mann zog sie mit sich, weg von Dolph, auf die eisige Schwelle zu.
Ohne an sich selbst zu denken, griff Dolph nach ihnen, aber seine Finger erwischten nur den Ärmel des Mannes. Der Mantelstoff riss, und der Mann – und Leena – stürzten rückwärts in die Schwelle.