Die Mörder der Queen

David Morrell

Die Mörder
der Queen

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen
von Christine Gaspard

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über David Morrell

David Morrell, 1943 geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Seit er die Figur des John Rambo erfand, gilt er als Vater des modernen Actionthrillers. Mit seiner Trilogie um den Opiumesser, Schriftsteller und Ermittler Thomas De Quincey im viktorianischen England zeigt er, dass er auch im historischen Kriminalroman ein Meister seines Fachs ist.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Inspector of the Dead« bei Mulholland Books, New York.

 

© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2015 by Morrell Enterprises, Inc.

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Maria Koettnitz

Covergestaltung: U1 berlin, Patrizia Di Stefano

Coverabbildung: © Roy Bishop / Arcangel, © Juanmonino / Getty Images, © blue_iq / Getty Images, © posscriptum / shutterstock

ISBN 978-3-426-44410-8

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Grevel Lindop und Robert Morrison,

die mich angeleitet haben, während ich mir alles aneignete,
was es über Thomas De Quincey zu wissen gab,

und für die Historikerin Judith Flanders,

die mich die dunklen viktorianischen Straßen entlangführte

Einleitung

Heute halten wir die strengen Gesetze, die den Verkauf von Rauschmitteln kontrollieren, für selbstverständlich. Entsprechend überrascht sind wir, wenn wir erfahren, dass Opium – zu dessen Derivaten Heroin und Morphium gehören – im Britischen Weltreich und den Vereinigten Staaten im neunzehnten Jahrhundert sehr lange frei verkäuflich war. Drogisten, Metzger, Gemischtwarenhändler und sogar Zeitungsjungen verkauften es. Die flüssige Variante war als Laudanum bekannt; hier handelte es sich um eine Mischung aus gemahlenem Opium und Alkohol (in der Regel Branntwein). Fast jeder Haushalt besaß eine Flasche davon, etwa so, wie in fast jedem modernen Medizinschränkchen Aspirin zu finden ist. Opium war das einzige bekannte Schmerzmittel (abgesehen vom Alkohol); man verwendete es gegen Kopfschmerzen, Menstruationsbeschwerden, verdorbenen Magen, Heuschnupfen, Ohrenschmerzen, Rückenkrämpfe und Krebs und bei Säuglingen gegen Koliken, kurz, es kam bei allen nur denkbaren Leiden und Beschwerden zum Einsatz.

Thomas De Quincey, einer der berüchtigtsten und brillantesten Autoren des neunzehnten Jahrhunderts, machte erstmals Bekanntschaft mit der Droge, als er als junger Mann unter Zahnschmerzen litt. Er beschrieb die Euphorie, die er daraufhin empfand, als »Abgrund himmlischen Genusses … die große Panacea, das geheimnisvolle Labsal zur Erfüllung aller menschlichen Wünsche … das Geheimnis der Glückseligkeit«. In den folgenden acht Jahren verwendete er das Mittel zwar nur gelegentlich, aber mit achtundzwanzig Jahren war er abhängig geworden und sollte es sein Leben lang bleiben. Die Vorstellung von körperlicher und psychischer Abhängigkeit war im neunzehnten Jahrhundert unbekannt. Man betrachtete den Opiummissbrauch einfach als eine schlechte Angewohnheit, die mit etwas Charakterstärke und Disziplin von jedermann zu überwinden war. Weil De Quincey nicht aufhören konnte, wurde er seines Mangels an Selbstbeherrschung wegen angefeindet, obwohl seine Versuche, sich von der Droge zu lösen, dazu führten, dass er sich vor Schmerzen wand – »angstvoll klopfenden Herzens, zitternd und zerschlagen, völlig wie ein Gefolterter«.

Im Jahr 1821, mit sechsunddreißig Jahren, veröffentlichte De Quincey seine Bekenntnisse eines englischen Opiumessers und löste damit eine Schockwelle aus, die durch ganz England rollte. Dieses erste Buch, das je über Drogenabhängigkeit geschrieben wurde, machte ihn seiner Offenheit wegen berühmt – zu einer Zeit, in der viele Menschen an der gleichen Abhängigkeit litten, es aber niemals eingestanden hätten: Sie fürchteten sich davor, ihr Privatleben dem Blick der Öffentlichkeit preiszugeben. Zu diesem Zeitpunkt war die zunächst wohltätige Wirkung der Droge längst verflogen, und De Quincey benötigte riesige Mengen von ihr, um sich selbst funktionsfähig zu halten. Ein Esslöffel Laudanum hätte einen Menschen, der nicht an das Mittel gewöhnt war, umbringen können; auf dem Höhepunkt seiner Sucht schluckte De Quincey sechzehn Unzen [knapp 0,5 l] am Tag, allein um einen Normalzustand aufrechtzuerhalten, während er zugleich Opiumpastillen aus einer Schnupftabaksdose kaute, wie ein anderer Mensch Haselnüsse isst – so beschrieb es jedenfalls ein Freund.

Die Droge löste Nacht für Nacht entsetzliche Albträume aus, die De Quincey vorkamen, als dauerten sie hundert Jahre. Die Geister der Menschen, die er geliebt hatte, besuchten ihn. Jede Verletzung und jeder Verlust seines Lebens kam wieder an die Oberfläche, um ihn heimzusuchen, und in seinen Albträumen entdeckte De Quincey eine im wörtlichen Sinne bodenlose Innenwelt, »tiefe Schlünde und sonnenlose Abgründe, unergründliche Tiefen«. Siebzig Jahre vor Freud entwickelte er Theorien über das Unbewusste, die große Ähnlichkeit mit der später veröffentlichten Traumdeutung des großen Psychoanalytikers hatten. Tatsächlich war es De Quincey, der den Begriff des Unterbewussten erfand und die finsteren Kammern des Geistes beschrieb, in denen sich eine fürchterliche, fremdartige Natur verbergen konnte, unbekannt nicht nur Außenstehenden, sondern auch dem Menschen selbst.

Und De Quincey besaß noch eine weitere bemerkenswerte Qualifikation: Er war Experte für die Kunst des Mordens.

 

Ist der Mörder es wert, ein Künstler genannt zu werden, so tobt in ihm ein großer Sturm der Leidenschaft – Eifersucht, Ehrgeiz, Rachsucht, Hass –, der in seinem Inneren eine Hölle schaffen wird.

 

Thomas De Quincey

Über das Klopfen an die Pforte in Shakespeares »Macbeth«

1

DIE TODESZONE

London 1855

Wenn sie nicht gerade ein Theater oder einen Herrenclub aufsuchten, legten die meisten achtbaren Bewohner der größten Stadt der Welt Wert darauf, zu Hause zu sein, bevor die Sonne untergegangen war – was an diesem kalten Samstagnachmittag, dem dritten Februar, um sechs Minuten vor fünf der Fall war.

Eben diese Uhrzeit – abgestimmt auf die Uhr des Royal Greenwich Observatory – erschien auch auf dem Zifferblatt einer silbernen Taschenuhr, die ein teuer gekleideter und offenkundig distinguierter Herr im Licht einer zischenden Gaslaterne studierte. Bittere Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass das äußere Erscheinungsbild über Leben oder Tod entscheiden konnte. Welche niederträchtigen Gedanken ein Mann auch hegen mochte, es zählte nur der Anschein der Achtbarkeit. Seit nunmehr fünfzehn Jahren konnte er sich nicht mehr an einen Augenblick erinnern, in dem die Rage nicht in ihm getobt hätte, aber er hatte nie zugelassen, dass jemand Verdacht schöpfte. Er genoss die Überraschung derjenigen, an denen er seinen Zorn ausließ.

An diesem Abend stand er an der Straße Constitution Hill und starrte zu den verschatteten Mauern des Buckingham Palace hinüber. Lichter glommen schwach hinter den Vorhängen. In Anbetracht der Tatsache, dass vier Tage zuvor die britische Regierung gestürzt war, eine direkte Folge ihrer katastrophalen Fehlentscheidungen im Krimkrieg, saß Queen Victoria zweifellos gerade in einer dringenden Sitzung mit ihrem Kronrat. Ein Schatten, der sich an einem der Fenster vorbeibewegte, mochte der ihre sein oder vielleicht auch der ihres Ehemannes, Prinz Albert. Der Herr draußen auf der Straße war sich nicht sicher, wen von beiden er mehr hasste.

Schritte kamen näher und veranlassten ihn, sich umzudrehen. Ein Constable erschien; der Umriss seines Helms zeichnete sich gegen den Nebel ab. Als der Beamte den Strahl seiner Laterne auf die teure Kleidung seines Gegenübers richtete, sorgte der Herr dafür, dass er ruhig wirkte. Sein Zylinder, der Mantel und die Hose waren von bester Qualität. Der Vollbart – eine Verkleidung – hätte einige Jahre zuvor noch Aufmerksamkeit erregt, war inzwischen aber modisch geworden. Selbst der schwarze Spazierstock mit dem polierten Silberknauf entsprach der aktuellen Mode.

»Guten Abend, Sir. Nehmen Sie’s mir bitte nicht übel, aber Sie sollten sich nicht hier aufhalten«, warnte der Constable. »Es ist nicht gut, allein im Dunkeln unterwegs zu sein, nicht mal in der Gegend hier.«

»Danke, Constable. Ich bin schon unterwegs.«

 

Von seinem Versteck aus hörte der junge Mann schließlich doch noch, dass sich ein Opfer näherte. Er hatte schon beinahe aufgegeben in dem Wissen, wie unwahrscheinlich es war, dass ein wohlhabender Mensch sich auf die nebelverhangene Straße hinauswagen würde – aber er wusste auch, dass der Nebel sein einziger Verbündeter gegen den Constable war, der alle zwanzig Minuten hier vorbeikam.

Er kam zu dem Schluss, dass die Schritte nicht wie das bedrohliche, wuchtige Stapfen des Constable klangen, und dann wappnete der junge Mann sich für die verzweifeltste Tat seines Lebens. Er hatte auf drei Reisen von England in den Orient und zurück an Bord eines Schiffs der Britischen Ostindien-Kompanie Taifune und Fieberkrankheiten überstanden, aber sie waren nichts gewesen verglichen mit dem, was er jetzt riskierte und wofür er mit dem Strick bestraft werden konnte. Sein Magen knurrte vor Hunger, und er betete darum, dass das Geräusch ihn nicht verraten möge.

Die Schritte kamen näher, und ein Zylinder kam in Sicht. Trotz seiner Schwäche trat der junge Mann hinter dem Baum im Green Park hervor. Er packte das schmiedeeiserne Geländer, sprang darüber und landete unmittelbar vor einem Herrn, dessen dunkler Bart in dem verschleierten Licht einer in der Nähe stehenden Straßenlaterne eben noch zu erkennen war.

Der junge Mann gestikulierte mit einem Knüppel. »Ich brauch dir ja wohl nicht erst eine blutige Nase zu schlagen, nehm ich mal an, Kumpel. Gib mir deine Brieftasche, sonst geht’s dir gleich ganz dreckig.«

Der Herr studierte die schmutzige, zerfetzte Seemannskleidung seines Gegenübers.

»Die Brieftasche, hab ich gesagt, Kumpel«, forderte der junge Mann, während er zugleich auf die Schritte des zurückkehrenden Constable lauschte. »Mach schnell, noch eine Warnung kriegst du nicht.«

»Das Licht könnte besser sein, aber vielleicht kannst du meine Augen sehen. Sieh sie dir genau an.«

»Ich mach dir die dicht, und zwar auf Dauer, wenn du mir nicht die Brieftasche gibst.«

»Kannst du Furcht in ihnen erkennen?«

»Gleich kann ich’s.«

Der junge Mann stürzte vor, den Knüppel hochgeschwungen.

Mit verblüffender Geschwindigkeit drehte der Herr sich zur Seite und schlug mit dem Spazierstock zu. Er traf das Handgelenk des Angreifers und schlug ihm den Knüppel aus der Hand. Mit einem zweiten Hieb seitlich gegen den Kopf des jungen Seemannes schleuderte er ihn zu Boden.

»Bleib unten, wenn du nicht noch mehr von der Sorte willst«, riet der Herr.

Der junge Mann umklammerte seinen schmerzenden Kopf und verkniff sich ein Stöhnen.

»Bevor du jemanden angreifst, solltest du ihm immer in die Augen sehen. Vergewissere dich, ob seine Entschlossenheit nicht größer ist als deine. Dein Alter bitte.«

Der höfliche Tonfall überraschte den jungen Mann so sehr, dass er sich unversehens bei einer Antwort ertappte. »Achtzehn.«

»Wie heißt du?«

Der junge Mann zögerte. Er schauderte in der Kälte.

»Sag ihn mir. Dein Vorname reicht völlig, und er kann dich nicht belasten.«

»Ronnie.«

»Ronald meinst du. Wenn du es zu etwas bringen willst, solltest du immer deinen richtigen Namen verwenden. Sag’s.«

»Ronald.«

»Trotz der Schmerzen durch meine Schläge hattest du genug Willensstärke, um nicht zu schreien und damit den Constable zu alarmieren. Charakter verdient belohnt zu werden. Wie lang ist es her, dass du etwas gegessen hast, Ronald?«

»Zwei Tage.«

»Dann geht deine Fastenzeit jetzt zu Ende.«

Der Gentleman ließ fünf Münzen auf das Pflaster fallen. Das schwache Licht der Straßenlaterne machte es Ronald schwer, sie genau zu erkennen. Er rechnete mit Pennymünzen und war fassungslos, als er feststellte, dass es sich nicht um Pennys und nicht einmal um Shillings handelte, sondern um goldene Sovereigns. Er starrte die Münzen ungläubig an. Ein Goldsovereign war mehr, als die meisten Menschen in einer Woche harter Arbeit verdienen konnten, und hier lagen nun fünf davon.

»Würdest du dir gern noch mehr Sovereigns verdienen, Ronald?«

Er raffte die Münzen an sich. »Ja

»Garner Street Nummer fünfundzwanzig in Wapping.« Die Adresse lag im armseligen East End, so weit vom majestätischen Green Park entfernt, wie man es sich nur vorstellen konnte. »Wiederhole es.«

»Garner Street Nummer fünfundzwanzig in Wapping.«

»Sei morgen um vier Uhr am Nachmittag dort. Kauf dir warme Kleidung. Nichts Luxuriöses, nichts, das Aufmerksamkeit erregt. Du bist im Begriff, dich einer großen Sache anzuschließen, Ronald. Aber wenn du irgendjemandem von Garner Street Nummer fünfundzwanzig erzählst, dann wird es dir, um deine eigenen Worte zu verwenden, dreckig gehen. Wir werden sehen, ob du tatsächlich Charakterstärke besitzt oder ob du die größte Gelegenheit wegwirfst, die du in deinem ganzen Leben bekommen wirst.«

Schwere Schritte näherten sich.

»Der Constable. Geh«, warnte der bärtige Herr. »Und enttäusch mich nicht, Ronald.«

Mit noch heftiger knurrendem Magen und ungläubig angesichts der Glückssträhne umklammerte Ronald seine fünf kostbaren Sovereigns und stürzte davon in den Nebel.

 

Der Gentleman setzte seinen Weg entlang der Constitution Hill fort; seine Taschenuhr zeigte jetzt acht Minuten nach fünf. Die Uhren seiner Gefährten – auch sie auf die Uhrzeit des Royal Observatory in Greenwich eingestellt – würden die gleiche Zeit anzeigen. Alles war noch im Zeitplan.

An der Piccadilly wandte er sich nach rechts, wo einer der angesehensten Stadtteile Londons lag: Mayfair. Es kam ihm vor, als habe er eine Ewigkeit auf das erfreuliche Ereignis gewartet, das ihm jetzt bevorstand. Er hatte Unvorstellbares erduldet, um sich darauf vorzubereiten. Trotz des Aufruhrs in seinem Inneren behielt er sein gemessenes Tempo bei, entschlossen, die bevorstehende Befriedigung nicht durch Hast zu entwerten.

Selbst im Nebel hatte er keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Dies war eine Strecke, die er in seiner Erinnerung schon sehr oft zurückgelegt hatte. Es war die gleiche Strecke, die er fünfzehn Jahre zuvor gerannt war; als verzweifelter Junge war er nach rechts abgebogen und die Piccadilly entlanggestürzt, dann nach links in die Half Moon Street, wieder nach links in die Curzon Street, hierhin und dahin, hatte gefleht und gebettelt.

»Bitte, Sir, ich brauche Ihre Hilfe!«

»Halt dich von mir fern, du dreckiges Stück Ungeziefer!«

Das Echo der Stimmen an jenem verhassten Tag hallte in seiner Erinnerung wider, als er die Straße Chesterfield Hill erreichte. Er blieb an einer Stelle stehen, wo eine Gaslaterne ein eisernes Geländer und dahinter fünf Stufen beleuchtete, die zu einer Eichenholztür hinaufführten. Der Klopfer hatte die Form eines stilisierten Löwenkopfes.

Die Stufen waren frisch geschrubbt. Er bemerkte einen am Geländer befestigten Schuhabstreifer und zog die Sohlen über das Eisen, sodass er keine Spuren hinterlassen würde. Er umfasste den Spazierstock fester, öffnete das Tor und stieg die Stufen hinauf. Der Aufschlag des Türklopfers hallte im Inneren des Hauses wider.

Er hörte auf der anderen Seite der Tür jemanden näher kommen. Einen Augenblick lang suggerierte ihm seine Einbildungskraft, dass es die Welt außerhalb des Nebels nicht mehr gab, dass er in einer abgeschiedenen Kammer des Universums stand, in der die Zeit stehen geblieben war. Als ein Riegel zurückgeschoben wurde und die Tür sich öffnete, hielt er den Stock mit dem Silberknauf bereit.

Ein Butler musterte ihn verwundert. »Seine Lordschaft erwartet keinen Besuch.«

Der Herr schlug mit aller Kraft zu. Der Hieb traf den Kopf des Mannes und schleuderte ihn auf den Marmorboden. Der Herzschlag des Besuchers donnerte vor Befriedigung, als er eintrat und die Haustür wieder schloss. Ein paar schnelle Schritte, und er befand sich in einer weitläufigen Eingangshalle.

Ein Hausmädchen stand am Fuß einer reich verzierten Treppe und runzelte die Stirn, offenbar verwundert darüber, dass der Butler den Besucher nicht ins Haus hinein begleitet hatte. In rasender Wut schwang der Gentleman den Stock hoch und spürte, wie der Knauf dem Mädchen den Schädel zerschmetterte. Mit einem letzten Stöhnen sank sie zu Boden.

Der Gentleman war bereits mehrmals in diesem Haus zu Besuch gewesen, allerdings ohne den Bart, der ihm als Verkleidung diente. Er wusste, wie die Räume angeordnet waren; es würde nicht viel Zeit kosten, die übrigen Bediensteten auszuschalten. Dann konnte er mit dem befriedigenden Teil beginnen und seine Aufmerksamkeit der Herrschaft zuwenden. Den Stock fest in der Hand, machte er sich an sein großes Werk.

Es galt Erinnerungen heraufzubeschwören.

Es galt Strafen zu verhängen.

2

Die zugehängte Bank

Die St. James’s Church wirkte fast zu bescheiden für ihren Standort an der südöstlichen Grenze des reichen Stadtteils Mayfair. Kaum etwas an dem von Sir Christopher Wren entworfenen Bau ließ vermuten, dass derselbe große Architekt auch für die einschüchternde Pracht von St. Paul’s Cathedral verantwortlich zeichnete – der Kontrast war zu groß. Die Kirche war schmal und nur drei Stockwerke hoch; erbaut war sie aus schlichtem rotem Backstein. Die spitze Turmbekrönung war mit einer Uhr, einer Messingkugel und einer Wetterfahne ausgestattet, und damit begann und endete der Bauschmuck.

Während die Glocken den sonntäglichen Elf-Uhr-Gottesdienst ankündigten, setzte ein Strom von Kutschen die Reichen und Mächtigen des Viertels vor der Kirche ab. St. James’s füllte sich rasch, auch deshalb, weil ein ungewöhnlicher Besucher erwartet wurde, von dem man hoffte, er werde die kriegsbedingt trübe Stimmung heben. Das morgendliche Sonnenlicht drang schimmernd durch die zahlreichen hohen Fenster, strahlte von den weißen Wänden zurück und erfüllte den Innenraum mit einem prachtvollen Leuchten – ein Effekt, für den St. James’s berühmt war.

Unter den Besuchern, die die Kirche betraten, erregte eine Gruppe besondere Aufmerksamkeit. Die vier Menschen waren nicht nur Fremde in der Gemeinde; zwei der Männer waren zudem auffallend hochgewachsen, beinahe einen Meter achtzig, was in einer Zeit, in der die meisten Männer nur etwa hundertsiebzig Zentimeter maßen, bemerkenswert war. Im Gegensatz zu ihnen war der dritte Mann sehr klein: kaum über einen Meter fünfzig.

Auch die Kleidung der Gruppe wirkte auffällig. Die beiden großen Männer trugen formlose Alltagskleidung – nicht eben das, was man unter all den Gehröcken in St. James’s zu sehen erwartete. Der kleine Mann, der zudem sehr viel älter war, hatte zumindest versucht, sich dem Anlass entsprechend zu kleiden, aber die zerfransten Hosenbeine und glänzend geriebenen Ellenbogen seines Anzugs legten nahe, dass er in einem anderen Viertel zu Hause war.

Die vierte Person in der Gruppe, eine attraktive junge Frau von vielleicht zweiundzwanzig Jahren … was um alles in der Welt sollte man von ihr halten? Statt eines modischen Kleides mit üppigen Satinvolants über einem aufwendigen Reifrock trug sie einen locker herabhängenden Rock mit Damenhose darunter – ein Kleidungsstil, den die Presse abschätzig als »Bloomers« bezeichnete. Umriss und Bewegung ihrer Beine waren deutlich zu erkennen, und so drehten sich die Köpfe nach ihr herum, und Geflüster breitete sich in der Kirche aus.

Das Flüstern wurde lauter, als einer der beiden hochgewachsenen Männer etwas abnahm, das sehr nach einer Zeitungsjungenkappe aussah, woraufhin leuchtend rotes Haar zum Vorschein kam.

»Ire«, murmelten mehrere Leute.

Der zweite große Mann hatte eine Narbe am Kinn, was vermuten ließ, dass sein gesellschaftlicher Hintergrund nicht viel besser war.

Jedermann erwartete, dass die zweifelhaften Besucher hinter den Sitzbänken stehen bleiben würden, dort, wo Dienstboten und andere Angehörige der unteren Schichten ihre Andacht verrichteten. Stattdessen überraschte die attraktive junge Frau in dem Bloomerkleid – sie hatte Augen von auffallend leuchtendem Blau und glänzende hellbraune Locken, die im Nacken unter ihrem Schutenhut hervorquollen – die ganze Gemeinde, indem sie sich an die oberste Bankschließerin wandte, eine Frau namens Agnes Barrett.

Agnes war sechzig Jahre alt, bebrillt und weißhaarig. Sie war unter den Bankschließerinnen im Lauf von Jahrzehnten immer weiter aufgestiegen, und mittlerweile hatte sie die Schlüssel der wichtigsten privaten Bänke der Kirche in Verwahrung. Es gab Gerüchte, die besagten, dass die Zuwendungen von den Mietern ihrer Bänke sich über die Jahre hinweg zu einem respektablen Vermögen von dreitausend Pfund angesammelt hatten. Es wäre wohlverdientes Geld gewesen, denn eine gute Bankschließerin wusste sich nützlich zu machen, polierte das Eichenholz des Gestühls, staubte die Sitzbänke ab, klopfte die Kissen auf und so weiter.

Agnes wartete etwas verwundert darauf, dass die junge Frau in dem skandalösen Bloomerkleid ihr Anliegen kundtat. Vielleicht hatte das arme Geschöpf sich ja hierher verirrt. Vielleicht wollte sie den Weg zu einer ihrem Stand angemessenen Kirche erfragen.

»Bitte führen Sie uns doch zu Lord Palmerstons Bank«, sagte die junge Frau stattdessen.

Agnes blieb der Mund offen stehen. Hatte das merkwürdige Wesen gerade eben »Lord Palmerstons Bank« gesagt? Agnes musste sie missverstanden haben. Lord Palmerston war einer der einflussreichsten Politiker des Landes.

»Verzeihung?«

»Lord Palmerstons Bank, bitte.« Die lästige Besucherin händigte Agnes eine Mitteilung aus.

Agnes las sie in wachsender Verwunderung. Die Handschrift war ihr vertraut; es war unzweifelhaft diejenige Lord Palmerstons. Und die Nachricht gestattete den vier seltsam aussehenden Fremden ganz unmissverständlich, seine Kirchenbank zu nutzen. Aber was um alles in der Welt konnte Seine Lordschaft dazu veranlasst haben, sich so tief herabzulassen?

Agnes versuchte sich die Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Sie richtete den verstörten Blick auf den ungewöhnlich kleinen Mann; seine Augen waren ebenso leuchtend blau wie die der jungen Frau, und sein Haar war vom gleichen hellen Braun. Vater und Tochter, schlussfolgerte Agnes. Der kleine Mann rang angespannt die Hände und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als gehe er auf der Stelle. Trotz des kalten Februarmorgens glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Vielleicht war er krank?

»Folgen Sie mir«, sagte Agnes widerwillig.

Sie ging den Mittelgang entlang, vorbei an einem Gestühl, das in einzelne Logen aufgeteilt war. Statt durchgehender Bänke zwischen den Gängen gab es hier quadratische Abteile, etwa zweieinhalb Meter lang und breit und auf allen Seiten von halbhohen Wänden umgeben. Die Sitzbänke im Inneren boten genug Platz für eine Familie. Die Ausstattung vieler dieser Logen erinnerte an eine Sitzgruppe in einem Privathaus, mit Kissen auf den Bänken und Teppichen auf dem Fußboden. In einigen gab es sogar Tische, auf denen man Zylinder, Handschuhe und Mäntel ablegen konnte.

Lord Palmerstons Loge befand sich ganz vorn, auf der rechten Seite des Mittelgangs. Agnes war der Weg dorthin noch nie so lang vorgekommen. Obwohl sie den Blick starr geradeaus gerichtet hielt, konnte sie nicht umhin, die Aufmerksamkeit mitzubekommen, die sie und die Gruppe zweifelhafter Gestalten in ihrem Kielwasser erregten. Als sie die Altarschranke aus weißem Marmor fast erreicht hatte, musste sie sich umdrehen und der Gemeinde das Gesicht zuwenden. Sie spürte, dass jeder Blick im Raum auf sie gerichtet war, als sie einen Schlüssel an ihrem Schlüsselring auswählte und die Tür zu Lord Palmerstons Kirchenbank aufschloss.

»Hätte Seine Lordschaft mich wissen lassen, dass er Gästen seine Bank zur Verfügung stellen will, hätte ich sie für Sie vorbereiten können«, erklärte sie. »Der Kohlenheizer ist nicht angezündet.«

»Vielen Dank«, beruhigte die junge Frau, »aber es ist wirklich nicht nötig, für uns zu heizen. Dies ist schon viel behaglicher, als wir es aus unserer Kirche in Edinburgh her gewöhnt sind. Dort können wir uns nicht leisten, eine Loge zu mieten. Wir stehen hinten.«

Sie ist also aus Schottland, dachte Agnes. Und einer der Männer ist Ire. Das erklärt dann wohl einiges.

Lord Palmerstons Loge verfügte über drei Bankreihen mit Lehnen. Die beiden großen Männer setzten sich auf die mittlere Bank, die Frau und ihr Vater nahmen die vordere. Selbst im Sitzen bewegten sich die Beine des kleinen Mannes noch auf und ab.

Agnes rang sich ein höfliches Kopfnicken ab, ließ die Schlüssel klirren und kehrte wieder zum Eingang zurück, wo ein Kirchenpfleger an sie herantrat; der Mann sah so verwirrt aus, wie Agnes sich fühlte.

»Sie wissen, wer der kleine Mann da ist, oder nicht?«, flüsterte der Kirchenpfleger in einem Versuch, sich die eigene Verwunderung nicht anmerken zu lassen.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nur, seine Kleider müssten dringend geflickt werden«, antwortete Agnes.

»Der Opiumesser.«

Wieder war sie sich im ersten Augenblick sicher, nicht richtig gehört zu haben. »Der Opiumesser? Thomas De Quincey?«

»Im Dezember, als diese ganzen Morde passiert sind, hab ich ein Bild von ihm in den Illustrated London News gesehen. Ich war so neugierig, dass ich in eine von den Buchhandlungen gegangen bin, von denen es in der Zeitung hieß, er würde dort Bücher signieren für jeden, der sie kauft. Ziemlich würdelose Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn Sie mich fragen.«

»Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass er das Buch signiert hat.« Auch Agnes senkte jetzt die Stimme, als sie auf die berüchtigten Bekenntnisse eines englischen Opiumessers zu sprechen kam.

»Wenn sein Name drin gestanden hat und jemand bereit war, es zu kaufen, dann war er bereit, es zu signieren. Diese Frau in dem skandalösen Kleid ist seine Tochter. Damals in der Buchhandlung … immer, wenn er versucht hat, sein Fläschchen aus der Tasche zu ziehen, hat sie ihm zur Ablenkung eine Tasse Tee gebracht.«

»Himmel«, sagte Agnes. »Glauben Sie denn, in dem Fläschchen war Laudanum?«

»Was sonst? Er muss fünf Tassen Tee getrunken haben, während ich da war. Stellen Sie sich vor, wie viel Laudanum er genommen hätte, wenn die Tochter nicht dabei gewesen wäre. Ich hoffe, ich brauche nicht eigens zu erwähnen, dass ich keins von seinen Büchern gekauft habe.«

»Ganz und gar nicht. Wer würde das armselige Geschmier lesen wollen, von kaufen gar nicht zu reden? Thomas De Quincey. Der Opiumesser in der St. James’s Church. Der Himmel beschütze uns.«

»Das ist noch gar nicht alles.«

Agnes lauschte in wachsender Bestürzung.

»Diese beiden Männer, die der Opiumesser dabeihat. Einer davon ist ein Ermittler von Scotland Yard.«

»Das kann doch gar nicht sein.«

»Ich kenne ihn von dem Spaziergang, den ich jeden Morgen die Piccadilly entlang unternehme. Dabei komme ich an Lord Palmerstons Stadtpalais vorbei, und der jüngere von den Männern da vorn macht jeden Morgen um neun einen Besuch dort. Ich habe gehört, wie ein Pförtner von ihm als ›Detective Sergeant‹ gesprochen hat.«

»Ein Sergeant der Detektiveinheit? Das ist ja allerhand.«

»Ich habe auch mitbekommen, dass der Pförtner und der Ermittler über einen anderen Polizeidetektiv geredet haben, der bei den Morden im Dezember verletzt worden war. Dieser andere Detektiv durfte sich seither in Lord Palmerstons Haus erholen. Auch der Opiumesser und seine Tochter wohnen zurzeit dort.«

Agnes spürte, wie sie bleich wurde. »In was für Zeiten leben wir eigentlich?«

Aber sie durfte sich nicht von ihren Pflichten ablenken lassen. Der erwartete Besucher würde bald eintreffen. Und mittlerweile warfen andere Kirchgänger ungeduldige Blicke in ihre Richtung, während sie darauf warteten, dass man ihre Logen aufschloss. Sie umklammerte ihren Schlüsselring und ging zu der nächststehenden Gruppe hinüber, aber als habe der Morgen nicht schon genug Überraschungen mit sich gebracht, sah sie in diesem Augenblick, wie der Tod zur Kirchentür hereinkam.

 

Die Vorschriften für Hinterbliebene waren streng in den mittleren Jahren des Viktorianischen Zeitalters. Von der trauernden Witwe, ihren Kindern und den nächsten Verwandten wurde erwartet, dass sie sich zu Hause von der Öffentlichkeit abschotteten und monatelang Trauer trugen – im Fall der Witwe mindestens ein Jahr und einen Tag lang.

Und so konnte Agnes nur starren angesichts dessen, was sie sah. Erstaunte Kirchgänger traten zurück, um einen streng aussehenden Mann mit verkniffenem Gesichtsausdruck durchzulassen, dessen Gehrock, Weste und Hose so schwarz waren, wie man sie nur färben konnte. Die Königin und Prinz Albert hielten nichts davon, wenn ein Mann andere Farben trug als Schwarz, Grau oder Dunkelblau, und so wäre es schwierig gewesen, düsterer auszusehen als die männlichen Besucher der St. James’s Church. Aber der Fremde ließ die dunkel gekleideten Kirchgänger vergleichsweise geradezu wie eine Festgesellschaft wirken. Zusätzlich trug er noch nachtschwarze Handschuhe und hielt einen Zylinder in der Hand, dessen Trauerflor über die Krempe herabhing.

Einen Mann, dessen Kleidung so extreme Trauer verriet, bekam man in der Öffentlichkeit nur sehr selten zu sehen außer vielleicht bei der Beisetzung des Menschen, dem die Trauer galt. Bei einem Sonntagsgottesdienst in dieser Kleidung zu erscheinen, erregte die ungeteilte Aufmerksamkeit der Gemeinde.

Aber er war nicht allein. Mit einem Arm stützte er eine zerbrechlich wirkende Frau, deren gebeugte Haltung vermuten ließ, dass sie nicht mehr jung war. Auch sie trug Kleidung, die tiefste Trauer verriet. Ihr Kleid bestand aus nachtschwarzem Crêpe, dessen strukturierte Oberfläche keinerlei Licht reflektierte. Ein schwarzer Schleier hing vor ihrem schwarzen Schutenhut. Mit einer schwarz behandschuhten Hand betupfte sie sich unter dem Schleier die Augen mit einem schwarzen Taschentuch.

»Bitte schließen Sie Lady Cosgroves Kirchenbank auf«, sagte der streng aussehende Mann zu Agnes.

»Lady Cosgrove?« Erst jetzt ging Agnes auf, wer die Frau war. »Himmel, was ist passiert?«

»Bitte«, wiederholte der Mann.

»Aber Lady Cosgrove hat uns eine Nachricht geschickt, dass sie am Morgengottesdienst nicht teilnehmen würde. Ich habe ihre Bank nicht vorbereitet.«

»Lady Cosgrove hat andere Sorgen als die Frage, ob ihre Bank abgestaubt wurde.«

Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, geleitete der Mann die taumelnde Frau das Kirchenschiff entlang. Wieder hörte Agnes das Flüstern, das ihr verriet, dass aller Augen auf sie gerichtet waren. Sie erreichte das vordere Ende des Mittelgangs und wandte sich nach rechts, vorbei an dem Opiumesser und seinen seltsam gekleideten Begleitern in Lord Palmerstons Loge. Der kleine Mann bewegte nach wie vor die Füße auf und ab.

Die nächste Loge war diejenige Lady Cosgroves. Sie befand sich an der rechten Seitenwand der Kirche und war die prachtvollste von allen. Im Lauf der Jahrhunderte hatte man sie mit zwei Pfosten an den vorderen Ecken ergänzt, die einen Baldachin trugen. An den Pfosten waren Vorhänge festgebunden; wenn es in der Kirche zog, konnten Lady Cosgroves Angehörige die Vorhänge schließen, sodass sie auf drei Seiten geschützt waren, während sie das Geschehen am Altar verfolgten. Allerdings hatte man die Insassen der Loge auch an warmen Tagen schon die Vorhänge zuziehen sehen – vielleicht weil sie ihrer Andacht nachgehen wollten, ohne von anderen Gemeindemitgliedern beobachtet zu werden, möglicherweise aber auch, weil sie in Frieden ein Schläfchen machen wollten.

Während Agnes die Tür der Loge aufschloss, ließ Lady Cosgrove das schwarze Taschentuch unter dem Schleier sinken.

»Danke«, sagte sie zu dem verkniffen aussehenden Mann.

»Was immer ich für Sie tun kann, Lady Cosgrove. Es tut mir entsetzlich leid.«

Er reichte ihr einen schwarzen Umschlag.

Lady Cosgrove nickte gemessen, betrat die Loge und sank auf die vorderste der drei Sitzbänke.

Agnes hörte ein diskretes Hüsteln und stellte fest, dass der Pfarrer in der Tür zum Altarraum stand und darauf wartete, mit dem Gottesdienst beginnen zu können. Zugleich setzte die Orgel mit der Melodie von »The Son of God goes forth to war« ein, und die Stimmen des Chores hallten von der gewölbten Decke wider. Mit einem rumpelnden Geräusch erhob sich die Gemeinde von den Bänken. Gefolgt von Lady Cosgroves begräbnisschwarzem Begleiter kehrte Agnes wieder zum Eingang zurück, und dort angekommen, drehte sie sich um, um sich nach Lady Cosgroves Trauer zu erkundigen. Aber zu ihrer Überraschung war der düster gekleidete Mann nirgends mehr zu sehen, wohin sie auch blickte.

Wohin um alles in der Welt kann er denn verschwunden sein?, fragte sie sich. Aber dann sah sie etwas anderes, nämlich den scharlachroten Uniformrock des Mannes, der im Vorraum wartete, und plötzlich war sie so aufgeregt, dass sie ihr Herz zur Ruhe zwingen musste.

 

»The Son of God goes forth to war, a kingly crown to gain …«

Unter den aufsteigenden Akkorden der majestätischen Hymne begab sich Reverend Samuel Hardesty zum Altar, verneigte sich vor ihm und drehte sich zu seiner Gemeinde um.

Stolz überblickte er von dort aus sein Reich: die Dienstboten und einfachen Leute weiter hinten, die Wohlhabenden und Blaublütigen auf den Kirchenbänken. Jeden Augenblick musste der Ehrengast erscheinen. Der Pfarrer lächelte, um seine Verwirrung zu verbergen, als er vier schäbig gekleidete Besucher bemerkte, ganz offenkundig keine Bewohner von Mayfair, die aus irgendeinem Grund Lord Palmerstons Loge nutzten.

Zu seiner Linken befand sich Lady Cosgroves Loge. Der Pfarrer war entsetzt, als er sie in tiefschwarzer Trauerkleidung dort sitzen sah. Sie war dabei, einen schwarzen Umschlag zu öffnen, und begann danach, durch den Schleier hindurch die Mitteilung zu lesen. Dann plötzlich erhob sie sich, band den Vorhang an der Rückwand der Loge los und zog ihn zu. Auch die beiden anderen Vorhänge wurden geschlossen.

Jetzt war ihr Kummer nur noch für den Pfarrer zu sehen, und er sah, wie sie vorn in der Loge niederkniete und die Stirn an die halbhohe Trennwand lehnte.

Ein Aufblitzen von Scharlachrot lenkte die Aufmerksamkeit des Pfarrers wieder zum Eingang der Kirche hinüber.

Der rote Fleck wurde größer und leuchtender. Ein gut aussehender blonder Mann trat aus der Menge dort hervor. Er trug die Uniform eines Infanterieoffiziers; die Messingknöpfe blinkten. Seine aufrechte Haltung verriet Disziplin und Entschlossenheit, aber die noblen Gesichtszüge waren nachdenklich und die Augen schmerzerfüllt. Er musste einen hohen Preis für seine Entschlossenheit bezahlt haben; das deutlichste Anzeichen dafür war der verletzte rechte Arm, den er in einer Schlinge trug. Eine bildschöne junge Frau und ihre Eltern begleiteten ihn.

Der Ehrengast war Colonel Anthony Trask. Ganz London sprach aufgeregt von der Tapferkeit, die er im Krimkrieg bewiesen hatte. Bei der Belagerung von Sewastopol hatte er allein dreißig Feinde getötet. Nachdem seine Muskete leer geschossen war, setzte er das Bajonett ein, um einen siegreichen Angriff einen blutgetränkten Hang hinauf anzuführen. Er machte den erschöpften Soldaten Mut und wehrte ein halbes Dutzend feindlicher Angriffe ab, und als ob all das noch nicht außergewöhnlich genug gewesen wäre, rettete er dem Vetter der Königin, dem Herzog von Cambridge, das Leben, als der Feind die Einheit des Herzogs umzingelt hatte.

Bei seiner Rückkehr nach London hatte Queen Victoria Trask den Ritterschlag erteilt. Die Times berichtete, der Oberst habe, als die Königin ihn mit seinem neuen Titel »Sir« anredete, darum gebeten, sie möge ihn auch weiterhin mit seinem militärischen Rang ansprechen – »zu Ehren all der tapferen Soldaten, mit denen zusammen ich gekämpft habe, und vor allem derjenigen, die in diesem gottverdammten Krieg gefallen sind«. Als er sie angesichts des vulgären Ausdrucks erbleichen sah, hatte er schnell hinzugefügt: »Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Euer Majestät. Eine üble Angewohnheit aus den Jahren, in denen ich noch Eisenbahnen gebaut habe.« Tatsächlich hatte Trask Eisenbahnen nicht nur mit eigenen Händen gebaut, er und sein Vater besaßen sie auch und hatten ein Vermögen mit ihnen verdient. Reich, gut aussehend und ein Held – hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, dass junge Herren aus dem Adelsstand ihn seiner Vollkommenheit wegen hassten.

Unter dem Klang der Hymne erreichte die Gruppe die vordersten Sitzbänke. Agnes beeilte sich, die Loge aufzuschließen, und Colonel Trask folgte seiner schönen Begleiterin und ihren Eltern ins Innere.

Die Orgel ließ den letzten Akkord ausklingen, und ein feierliches Schweigen breitete sich in St. James’s aus.

Reverend Samuel Hardesty lächelte breit. »Seien Sie mir alle von Herzen willkommen, und ein ganz besonderes Willkommen möchte ich Colonel Trask aussprechen, dessen Tapferkeit uns alle inspiriert.«

Einige Mitglieder der Gemeinde hoben die Hände, als wollten sie applaudieren, aber noch rechtzeitig fiel ihnen ein, wo sie sich befanden.

Der Pfarrer ließ den Blick nach links zu Lady Cosgrove hinübergleiten. »Wann immer unsere Bürden uns zu schwer werden, lasst uns bedenken, was unsere tapferen Soldaten erdulden müssen. Wenn sie stark sein können, dann können wir es ebenso.«

Gerahmt von den Vorhängen ihrer Loge, blieb Lady Cosgrove auf den Knien liegen, die Stirn an die Brüstung der Loge gelehnt.

»Gott würde uns keine Prüfung auferlegen, die wir nicht tragen könnten. Haben wir den Herrn auf unserer Seite …«

Ein Aufleuchten von Rot ließ den Pfarrer innehalten. Aber dieses Mal war es nicht das Scharlach von Colonel Trasks Uniformrock. Es war eine Flüssigkeit auf dem Fußboden vor Lady Cosgroves Kirchenbank.

Das Zögern des Pfarrers löste ein verwundertes Flüstern im Kirchenraum aus.

»Ja, in der Tat, wenn wir den Herrn an unserer Seite haben …«

Die rote Flüssigkeit breitete sich aus. Ihr Ausgangspunkt war die untere Kante der Tür zu Lady Cosgroves Loge. Ob Mylady etwas verschüttet hat?, überlegte der Pfarrer. Vielleicht hat sie einen Behälter mit Medizin mitgebracht und ihn versehentlich fallen lassen?

Lady Cosgrove bewegte sich, und auf unerklärliche Weise schien sie sich in zwei Richtungen zugleich zu bewegen.

Ihr schwarz verschleiertes Gesicht hob sich, während der Rest ihres Körpers abwärts glitt.

»Mein Gott!«, rief der Pfarrer aus.

Weiter und weiter kippte Lady Cosgroves Kopf nach hinten, und jetzt sah der Pfarrer ihren Mund, aber der Mund schien ihm breiter und größer zu werden, und – der Himmel sei uns gnädig – es war nicht Lady Cosgroves Mund. Kein Mund auf der Welt konnte so breit und so rot sein.

Ihre Kehle war von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt, und ihr verschleiertes Gesicht war jetzt so weit nach hinten gefallen, dass es in einem unmöglichen Winkel zur Decke hinaufzustarren schien, während der Rest ihres Körpers weiter nach unten glitt.

»Nein!«

Der Pfarrer taumelte vom Altar zurück. Fassungslos wies er auf die Stelle, an der sich die scharlachrote Pfütze weiter und weiter ausbreitete.

Der klaffende Schnitt in Lady Cosgroves Kehle weitete sich ebenfalls, während ihr Kopf nach hinten sank, bis er von ihrem Körper zu fallen drohte.

Reverend Samuel Hardesty begann zu schreien.