Joachim Fest

Flüchtige Größe

Gesammelte Essays
über Literatur und Kunst

Inhaltsverzeichnis

I. LITERATUR

Goethes Fremdheit und Nähe. Eine Rede in Weimar

Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann

Vorwort

Thomas Mann. Politik als Selbstentfremdung

Heinrich Mann. Ein Unpolitischer wird besichtigt

Anmerkungen

In Münster und anderswo. Zu Friedrich Reck-Malleczewens «Bockelson»

Parabel von Macht und Moral. Über Arnold Zweigs «Der Streit um den Sergeanten Grischa»

Friedrich Sieburg. Ein Porträt ohne Anlaß

Würde auf engstem Raum. Chronist des Übergangs: Ernst Jünger

Anmerkungen

Kein Ende der Affäre mit Gott. Versuch über Graham Greene

Lyrikinterpretationen

Genieträume und Wirklichkeit. J. W. v. Goethe, Hoffnung

Flüchtige Größe. Friedrich von Schiller, Nänie

Musikstück für Worte. J. W. von Goethe, Nachtgesang

Mehr erhitzt als erleuchtet? Heinrich Heine, Die Grenadiere

Die hundertste Ghasele. August von Platen, Es liegt an eines Menschen Schmerz

Wozu das Theater? Zwischenruf über einen parasitären Anachronismus

Über Rainer Werner Fassbinders Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod»

Reicher Jude von links

Linke Schwierigkeiten mit «links»

Spiel mit der Angst

II. BILDENDE KUNST UND MUSIK

Alessandro Farneses Caprarola. Kastell und humanistisches Märchenschloß

Wunschbild eines neuen Arkadien. Ruhm und Nachruhm Palladios

Architekt einer Übergangsepoche. Karl Friedrich Schinkel

Die Gegenwart des Vergangenen. Cäsar Pinnau

Denkmal der Baugeschichte und verlorene Mitte Berlins. Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses

Das nie endende Menetekel der Geschichte. Betrachtung über Bernhard Heisig

Luxemburger Impromptu. Glocken für Horst Janssen

Mozart – das diskrete Genie

Über Richard Wagner. Eine biographische Skizze nach den Tagebüchern Cosimas

NACHWEIS DER ERSTVERÖFFENTLICHUNGEN

BIBLIOGRAPHIE JOACHIM FEST

PERSONENREGISTER

I. Literatur

Goethes Fremdheit und Nähe

Eine Rede in Weimar

 

Wer spräche über Goethe – wenn hier nicht Weimar wäre? Ein paar Philologen sicherlich und die wenigen unbeirrbaren Liebhaber seines Werkes auch. Aber wer sonst? Goethe ist, mitsamt der Klassik, während der zurückliegenden Jahrzehnte in mehrere Abgründe des Vergessens gefallen, Mal um Mal tiefer. Vermutlich ist auch jetzt nicht der Augenblick, von ihm zu reden. Zeiten politischer Erregung, der Vorherrschaft des Geschichtlichen, gehen immer mit einer Krise des Klassischen einher. Die Turbulenz der Ereignisse macht die Klassik als das In-Sich-Ruhende oder ruhend Scheinende geradezu zum Widerspruch des eigenen Erlebens, alle Gedanken sind auf Gegenwart und nahe Zukunft gerichtet. Das Vergangene gerät aus dem Blick und wird nicht, wie in Zeiten gesicherter Tradition, als Fluchtpunkt im Durcheinander der Erscheinungen empfunden. Es kommt einfach abhanden. Aber manchmal fragen wir uns doch, ob es mit Gegenwart und Zukunft nicht stärker zusammenhängt, als den meisten jeden Tag bewußt ist.

Zweifellos war Goethe das herausragende Ereignis unserer kulturellen Geschichte, es gibt kein größeres: ein langer Augenblick, in dem die Nation, mehr als je zuvor und irgendwann später, auf inspirierende Weise an der zivilisierten Weltgesellschaft teilhatte. Und dieses Ereignis kam wie aus dem Nichts. Den einen Lessing ausgenommen, der aber eine national begrenzte Erscheinung war, lag dieses Deutschland am unbeachteten Rande der Welt. Und auch das herzogliche Residenznest von damals, mit seinen paar tausend Einwohnern, war in seiner kulturellen Bedeutung ein Abbild des Reiches: seiner freundlichen Enge, seiner Verschlafenheit und paternalistischen Provinzialität. Zwar war Wieland da. Aber niemand anders als Goethe hat es aus seiner Anonymität in den Rang einer Metropole erhoben und zum Begriff der europäischen Geistesgeschichte gemacht. Wir leben bis heute davon.

Auch wenn das kaum noch im allgemeinen Bewußtsein ist. Man kann sogar fragen, wie stark es je darin war. Denn aufs Ganze gesehen ist Goethe, ganz anders als der schon von den Zeitgenossen und dann bis dicht an die Gegenwart heran enthusiastisch in Besitz genommene Schiller, dem eigenen Land immer seltsam fremd geblieben. Schon zu seinen Lebzeiten, an Goethes 74. Geburtstag, versammelten sich in Jena auf dem Marktplatz die Studenten, die auch damals dem Geist der Zeit den unverbildetsten Ausdruck gaben, und brachen in skandierende «Nieder»-Rufe und «Weg mit ihm!» gegen den Abwesenden aus. Sein Tod, 1832, blieb von der führenden literarischen Zeitschrift, dem Stuttgarter Literaturblatt, unbeachtet, obwohl sie im gleichen Verlag erschien wie die Werke des Dichters. Das Junge Deutschland überbot sich im Spott auf Goethe, und mit Heine, Börne und anderen als den Stichwortgebern blieb er lange Zeit den Philologen und kleinen Zirkeln der Gebildeten überlassen. Der Wilhelminischen Epoche, die ihr Glück und ihren Anschluß an die Welt im Maßlosen suchte, blieb er ohnehin fremd, trotz der Sophienausgabe, die alles je von ihm Geschriebene in 143 Bänden vereinte und an der sich von 1887 bis 1919 zwei Gelehrtengenerationen abmühten. Allenfalls im «Faust» oder doch in dem Bild, das sich die Zeit davon zurechtmachte, glaubte sie sich und ihr Getriebensein wiederzuerkennen. Für das ganze Jahrhundert galt, was Varnhagen schon am zehnten Todestag des Dichters ahnungsvoll in seinem Tagebuch vermerkt hatte: «Mich dünkt, die Zeit von Goethe ist schon weit von uns ab; die Welt hat seitdem eine andere Wendung genommen, sie sieht wenig zurück, sie kann nicht viel zurücksehen, sie hat so viel vor sich.»

Gewiß gab es Schwankungen in der Beziehung, und um die Jahrhundertwende oder einige Zeit danach war sogar die Wendung «Unser Goethe» verbreitet, jedenfalls war das der Titel eines populären Lesebuchs im Bücherschrank vieler Bürgerhäuser. Doch schwer zu sagen, worauf das zielte: mehr auf den Dichter selbst und die Aneignung seines Werkes, oder auf die patriotischen und womöglich sogar «faustischen» Empfindungen, die sich davon herleiten ließen. Auffallend jedenfalls war immer der große Abstand zwischen ihm und der Nation, als habe sie ihm das Wort von den Barbaren, unter denen er leben müsse, von der Achtbarkeit der Deutschen im einzelnen und ihrem miserablen Charakter im ganzen sowie anderes dieser Art, nie verziehen. «Sie lassen mich alle grüßen, und hassen mich bis in Tod», hat Goethe im «Westöstlichen Divan» über seine Landsleute bemerkt.

Sicherlich aber vereinfacht man das Problem, wenn man es, wie häufig, auf eine bloße Heimzahlungsgeschichte verkürzt. Vielfach und jedenfalls stärker, als es der Gegenwart bewußt ist, hat das bürgerliche Jahrhundert Anstoß genommen am Libertinismus des Dichters, den erotischen Eskapaden und Daueraffären mit den «Misels». Nicht ohne spitze Mißbilligung vermerkte Frau v. Stein, der Herr v. Goethe sei in Italien «sinnlich» geworden, und die bald darauf einsetzende Verbindung mit Christiane Vulpius, der «Vulpia», wie sie abfällig genannt wurde, sowie die unverheimlichte Menage im Gartenhaus an der Ilm waren in der bigotten Kleinstadt Gegenstand entrüsteten Klatsches. Als Goethe seine «dicke Hälfte» ausgerechnet in den Tagen der Schlacht von Jena und der Plünderung Weimars heimführte und der Gesellschaft als Frau Geheimrat v. Goethe vorstellte, war alle Welt außer sich. Auch in seinem Werk geriet man zu oft an Anstößiges, von den «Römischen Elegien» bis hin zu den Blocksberg- und Hexensabbatszenen des «Faust» mit dem Hohen Lied auf die Dreieinigkeit von Gold, Schwanz und Schoß. Zwar hatte er diese Stellen den Zeitgenossen nicht zugemutet und in den «infernalischen Walpurgissack» verstaut, aber ins Gerede war er damit und mit manchem anderen doch gekommen. Frau v. Stein nannte den Freund aus früheren Tagen unterdessen den «dickmürrischen Mann» mit den «dummen häuslichen Verhältnissen», Schiller, äußerte sie, nehme sich neben ihm «wie ein himmlischer Genius» aus, und ganz ähnlich war das Bild, das generationenlang vorherrschte. Ein bis in die dreißiger Jahre verbreiteter Zweizeiler, woher auch immer stammend, hat die Mischung aus Respekt und Befremden, auf die Goethe stieß, auf den Reim gebracht: «Reicht v. Goethens Gedankenflug auch höher,/​Steht v. Schillern uns doch sittlich näher.»

Doch gewiß mehr noch hatte die Fremdheit Goethes mit dem inkommensurablen Zug zu tun, der ihm eigen ist, mit seiner Größe und seinen Rätselhaftigkeiten. Auch sieht man sich immer wieder einer Neigung zu Parabel und Gleichnis gegenüber, die dem raschen Begreifen im Wege steht, und strenggenommen beginnen die Schwierigkeiten schon, bevor man sich dem Werk selber nähert. Es gibt ganze Bibliotheken gelehrter Deutungen über ihn, Generationen bewanderter Verehrer haben sich mit ihm beschäftigt, und vieles davon stammt aus genauer und vertrauter Kenntnis des Dichters. Zugleich aber hat die babylonische Goethe-Philologie immer auch ihre einschüchternden Wirkungen gehabt und nicht nur alle Annäherungen erschwert, sondern auch ein Empfinden ungeheurer Distanz und Unnahbarkeit erzeugt.

Diesem Empfinden hat das erratische, nicht nur im Sinn der «großen Konfession» aus zahlreichen Bruchstücken bestehende Werk weiter Vorschub geleistet. Ich erinnere mich eines Lehrers, der, sooft die Rede auf Goethe kam, auf einen der Widersprüche im Leben und Denken des Dichters oder auf ein neues, anderes Kapitel, seinen Stupor in einer richtigen Lehrer-Metapher ausdrückte: Goethe stehe da wie ein Berg, gewaltig und manchmal sogar entmutigend, mit Höhenzügen und Abstürzen, und von wo man sich ihm nähere, nähme er sich anders aus. Goethe selber hat in einem jener verräterisch glättenden Bilder, hinter denen er die mehrdeutigen Seiten seines Wesens zu verbergen liebte, ein ähnliches Motiv verwandt und von der Pyramide seines Daseins gesprochen, die er sich «so hoch als möglich in die Luft zu spitzen» bemüht habe.

Das alles hat den Zugang zu ihm leicht gemacht und zugleich verbaut. Einiges liegt ganz offen und einladend da, die frühe Lyrik vor allem, die in der Verbindung aus impulsiver Wärme und formaler Vollkommenheit, aus Naturlaut und Kunstschönheit, Wahrnehmung und Vergeistigung nie wieder ihresgleichen hatte. Einige Partien aus dem «Faust» kann man nennen, aus dem «Egmont» vor allem die ganz unklassische Figur des Klärchen, kaum noch den «Werther» oder den Geniestreich des «Reineke Fuchs» mit seinen leichten, nie wieder so frei dahinlaufend exerzierten Hexametern. Früher hätte man vielleicht noch den «Tasso» genannt, auch die «Iphigenie», obwohl sich die beiden Werke schon zu Lebzeiten des Dichters beim Publikum schwertaten. Immerhin versorgten sie die Zitierfreudigen mit einem reichen Vorrat gereimter Lebensregeln.

Anderes wiederum blieb immer nur den wenigen Eingeweihten bekannt, mythologisch verschlüsselt und schwer zugänglich: vom zweiten Teil des «Faust» bis zu den «Urworten orphisch». Entfremdend wirkte aber auch Goethes Neigung, sich nicht festzulegen, ein Leben lang mit seinen überwältigend reichen Möglichkeiten zu spielen und sich, wie er selber bemerkt hat, «hinter ein Bild» zu flüchten. Seine ganze Biographie wirkt wie eine Folge wechselnder Launen, er ist Dichter und Minister, malt, forscht und verwaltet, und erst in Italien erkennt er, daß er «eigentlich … zum Schriftsteller geboren» sei. Aber auch das stellt er sogleich wieder in Frage und wechselt unvermittelt und auf Jahre ins Naturwissenschaftliche, zu der bis zum Marottenhaften verteidigten Farbenlehre, mit der er gegen die modernen Naturwissenschaften ankämpfte, «damit die Sonne doch endlich einmal in das alte Ratten- und Eulennest hineinscheine». Daneben widmete er sich der Suche nach der Urpflanze, von wo er Begriff und Vorstellung der Entelechie herholte, der Selbstausbildung des Menschen durch die allmähliche Entwicklung zu dem, was ihm vorgegeben und was er im Verborgenen eigentlich ist. Auch das läßt sich als ein wissenschaftlich verbrämter Rückzug ins Unverbindliche deuten, in einen Zustand vor aller Prägung, sogar ins Vegetative.

Bezeichnenderweise stößt man in der Biographie des Dichters immer wieder auf Lebensentschlüsse, die wie eine Flucht aussehen, den Weg nach Weimar gleich zu Beginn, wo er sich, wie er selber bemerkt hat, «ernsten Dingen opferte», und den alle Erklärungen nur erklärungsbedürftiger machen. Dann der verheimlichte Weggang aus der «Seelenessig-Fabrick» Weimar nach Italien, und dazwischen die häufigen Hals-über-Kopf-Fluchten vor Liebesverhältnissen, sobald sie sich zu Bindungen verdichteten. Die ältere Goethe-Philologie hat ihn für die Freiheit, die er sich bewahrte, gefeiert – aber unterdessen haben wir ein geschärftes Ohr für das kaum wahrnehmbare, aber doch vernehmlich durchtönende «leise Klirren der Kette», das Goethe seinerseits bei Jean Paul herausgehört hat. Es gibt den Zug ins Grandiose, mit dem er sein Lebensschauspiel inszenierte – aber daneben dann die unverkennbar philiströsen Züge, die darin durchscheinen, das Verstimmte und dauernd Gereizte hinter der «sultanischen Arroganz», die ein Zeitgenosse an ihm ausmachte. Vielleicht hat Goethes fast ängstliche Abwehr alles Störenden auch mit dem Empfinden zu tun, daß etwas an der Grundrechnung seines Lebens nicht stimmte, und womöglich kam von daher auch das Bedürfnis nach Daseinsharmonie: «unser Ausgewogenheitsklassiker», wie Martin Walser in einer «Liebeserklärung» spottete, während Wieland und Herder sowie später noch Jacob Burckhardt bedauernd vermerkten, Goethe habe allzu vielen Nebensachen, die auch ohne ihn vorangekommen wären, einen Teil seines poetischen Genies geopfert. Widersprüche über Widersprüche. Es ließe sich lange so fortfahren.

Die Widersprüche in Leben und Werk haben die Widersprüche der Ausleger nach sich gezogen. Mal erscheint Goethe als Kulturrevolutionär, mal – nach Ludwig Börnes höhnischer Bemerkung – als «Stabilitätsnarr»; hier als selbstlos Liebender, dort als gefühlskalter Egoist, der die Tragödien um sich herum in die Luft spielte und alle Menschen, die ihm nahekamen, von Friederike bis hin zum unglücklichen Eckermann, nur seinen Zwecken, poetischen oder lebensgeschäftlichen, unterwarf. Die einen sehen in ihm den geschmeidigen Höfling, die anderen einen Dichterfürsten, der gerade nicht zu Hofe ging, sondern den Hof in seinem Haus am Frauenplan empfing und wie kein anderer vor oder nach ihm auf dem Vorrecht des Geistes gegenüber jedem anderen Anspruch beharrte. Als die deutschen Länder während der französischen Besatzung Kontributionen leisten mußten, machte Napoleon für Sachsen-Weimar eine Ausnahme, dort war gleichsam nicht die Politik, sondern die Literatur das Schicksal. Goethe selber begriff sich als repräsentative Erscheinung und zugleich als Fremdling im eigenen Land. Und das alles, wie vieles andere Gegensätzliche auch, ist mühelos belegbar. Mit Recht hat Reinhard Baumgart von dem «ungeheuerlichen Stimmengewirr namens Goethe» gesprochen. Der Streit kann noch geraume Zeit weitergehen.

Um so sonderbarer mutet an, daß das zwar immer auf den Kreis der Kenner beschränkte, doch schon zu Lebzeiten des Dichters begonnene, unendliche Goethe-Gespräch nahezu verstummt ist. Die letzten großen Darstellungen, Gundolf, Beutler, Staiger, liegen lange zurück, und von ihren akademischen Nachfahren ist unterdessen zu lesen, daß auf den Dichter im Grunde «niemand mehr ernsthaft Anspruch» erhebe. Albrecht Schöne in Göttingen und ein paar andere vielleicht doch. Aber im ganzen, so ließe sich trotz aller Neuausgaben, aller Anthologien und der Fülle an Kleingeschriebenem vermuten, könnte Goethe, nach annähernd zweihundert Jahren einer ohnehin nur partiellen Aneignung, das Schicksal aller Klassiker ereilen, ihn womöglich mehr noch als andere: in gipserner Blässe irgendwo im Entrückten zu stehen und nur noch anlaßweise herbeizitiert zu werden. Als eine Jubiläumsgröße, der nichts anderes obliegt, als hundert Jahre bei Hundertjahrfeiern zu werden, zweihundert Jahre bei Zweihundertjahrfeiern und so, die Zeit hindurch, immer weiter, damit die Nation mit Gedenktagen versorgt sei.

Oder kaum einmal das. Wir hatten, einige Jahre zurück, einen solchen Gedenktag, und was die Mehrzahl der zeitgenössischen Dichter oder Schriftsteller dabei an fröhlicher Ignoranz zum Besten gab, wäre anderswo, in Ländern, die sich auf ihre Zugehörigkeit zur kulturellen Gesellschaft etwas zugute halten, schwerlich denkbar gewesen. Eine Schriftstellerin machte sich mit der Formel «Goethe – Nein danke!» einen Slogan aus anderen Zusammenhängen zu eigen, als drohten von dem Dichter Verseuchung und Intoxikation. Und kaum weniger originell war Thomas Bernhard, als er das angeblich letzte Wort des sterbenden Dichters abwandelte: «Goethe – mehr nicht!» Die führenden Theater haben sich das schon lange gesagt sein lassen und zeigen seine Bühnenwerke kaum noch, es sei denn, sie eigneten sich als Vorlage für allerlei exzeßhaftes Regiespektakel. Auch wetteiferten viele darin, die Entmythologisierungen noch einmal aufzugreifen, die längst vorgenommen waren, und im einen wie im anderen schien jedermann bemüht, den Beweis für die Bemerkung aus den «Wahlverwandtschaften» nachliefern zu wollen, es gebe keinen größeren Trost für die Mittelmäßigkeit als den, daß das Genie nicht unsterblich sei.

Gewiß wird irgendwann fast jede Klassik zum leeren Besitz. Der Augenblick tritt ein, sobald diese verehrungswürdigen Erscheinungen nicht viel mehr als das Empfinden statuenhafter Starre erwecken und der Eindruck überhandnimmt, als hätten sie mit dem Leben, wie es ist, nichts mehr zu tun. Zwar bleibt auch dann noch einiges Bewahrenswerte, weil das Vergangene nie nur das Vergangene ist. Aber es wird zum Gegenstand der Pietät: Das ist der allgemeinste jener Abgründe, von denen die Rede war. Der Zusammenhang bricht ab, wo das Bewußtsein verbindender Fragen und Antworten verlorengeht und die Vorstellung um sich greift, als habe die Zeit unterdessen einen qualitativen Sprung gemacht.

Diese Vorstellung eines Sprunges gibt es tatsächlich, und ihr Motiv ist die Erfahrung der dreißiger Jahre. In einem Beitrag zum 150. Todestag Goethes hat Günter Kunert auf diesen Umstand verwiesen und einer eher beiläufigen Werkstelle aus der «Italienischen Reise», der Schilderung einer drohenden Schiffskatastrophe, entnommen, dem Dichter sei «so vieles Menschliche so fremd» gewesen, daß er den Überlebenden späterer, unheilvollerer Katastrophen nichts mehr zu sagen habe. Andere wenden ein, das deutsche Bildungsbürgertum, das die Klassik wie ein Reservat in Anspruch genommen hatte, habe die Bewährungsprobe der Hitlerjahre nicht bestanden und damit zugleich das Menschenbild von Weimar, seinen Humanitätsgedanken mitsamt der Formel vom «Wahren, Guten und Schönen», in seiner ganzen floskelhaften Unverbindlichkeit bloßgestellt.

Das ist vielleicht nicht ganz unzutreffend. Aber zugleich legt der Vorwurf die Frage nahe, wer oder was die Bewährungsprobe jener Jahre überhaupt bestanden habe. Die Gegner von links, die, anders als das Bürgertum, von den neuen Machthabern nicht umworben wurden und ihnen daher weit eher hätten widerstehen können und müssen, jedenfalls nicht. Und der große Geschichtsgedanke, den sie für sich reklamierten, die Idee einer durch die Völkersignale befreiten Welt, ist damals als mindestens ebenso floskelhafte Unverbindlichkeit enthüllt worden wie der Geist der Goethezeit, und das Letzte Gefecht, zu dem sie sich vorgeblich aufmachten, hat nirgendwo stattgefunden. Wo immer die Hitlerzeit Offenbarungseide verlangte, wurden sie ohne Zögern, kaum mit einem Gefühl der Selbstverleugnung, geleistet: von den Parteien und Gewerkschaften ebenso wie von den Kirchen und vom Militär. Als unfähig zum Widerstand erwiesen sich im Grunde alle Wertvorstellungen und humanen Traditionen, woher sie auch kamen und wie mächtig die Organisationen oder sozialen Gruppen waren, die sie gestern noch vertreten hatten. Wenn es in den Selbstgleichschaltungsräuschen jener Tage überhaupt ein Widerstehen gab, so war es nur bei einzelnen zu finden, die ihre Überzeugungen noch wörtlich nahmen, im Bürgertum so sehr wie in der Arbeiterschaft und anderswo, die Unterschiede sind einzig solche des Charakters, nicht der Ideen. Die Ideen haben, trotz der ihnen häufig zugeschriebenen Macht, allesamt versagt. Von den Klassikern könne man niemals lernen, wie man mit Canaillen umgeht, hat im Jahre 1949 der damalige Rektor der Frankfurter Universität, Franz Böhm, in einer Ansprache zum 200. Geburtstag Goethes bemerkt, sie könnten nicht einmal den Sinn für die Freiheit wecken, sondern allenfalls Menschen hervorbringen, die unter einer Schreckensherrschaft dazu bestimmt sind, in einem Konzentrationslager zu enden. Gerade Bildung, Gewissen und Humanität machten bis zu einem gewissen Grade waffenlos.

Die Frage ist, ob die Geringschätzung der Klassik, die in Deutschland derzeit so viel weiter geht als irgendwo sonst, tatsächlich mit den Bloßstellungen jener Jahre zu tun hat; ob die Verabschiedung von heute mit dem Versagen von damals erklärt werden kann. Oder ob die Erfahrungen des Hitlerreiches der jüngeren Generation nicht nur zum Vorwand dienen, die Geschichte, ihre Mühen und Maßstäbe, loszuwerden. Alle Spätzeiten kennen das «pereant qui ante nos nostra dixerunt», das Goethe in den «Maximen und Reflexionen» zitiert, das Empfinden, daß die Vermächtnisse so vieler Vergangenheiten eine Last zu werden beginnen, der man sich durch das Trugbild eines erinnerungslosen Neubeginns zu entledigen versucht. Dies viel eher als die Behauptung, daß die Klassik und ihr Menschenbild durch die Hitlerzeit entwertet worden seien, stand hinter den Lossagen seit den sechziger Jahren. Ihre Wortführer wollten gerade erst herbeiführen, was sie als schon eingetreten behaupteten. Verhielte es sich so, hätten wir weniger Anlaß zur Besorgnis. Denn irgendwann kehren sich, nach der Mechanik des Generationenkonflikts, die Frontstellungen wieder um.

Aber so einfach liegen die Dinge offenbar nicht. In der Tat ist uns die Klassik ferngerückt, aus Gründen, die in ihr wie in uns selber liegen. Das naive oder doch fraglose Einvernehmen, das noch unsere Väter zu ihr hatten, ist weithin verlorengegangen. Thomas Mann erwähnt in seiner Schiller-Rede von 1949 den dänischen Dichter Herman Bang, der in der Schilderung einer bürgerlichen Abendgesellschaft von einem der Anwesenden sagt, er sei der einzige im Saal gewesen, der in der «Glocke» nicht ganz sicher war. Und obwohl Goethe zu keiner Zeit auch nur annähernd die Popularität Schillers erlangt hat, hätte es, ein oder zwei Generationen zurück, doch einiger Mühe bedurft, im gebildeten Bürgertum diejenigen ausfindig zu machen, die Gedichte wie «Willkommen und Abschied», «Wanderers Nachtlied», die Mignon-Lieder und manches andere nicht jederzeit abrufbereit im Gedächtnis hatten; auch Einzelheiten aus Eckermanns Gesprächen oder Episodisches aus den Biedermannschen Berichten. «Jeder Trost ist niederträchtig, und Verzweiflung nur ist Pflicht», hörte ich in jungen Jahren, unter Hinweis auf die politischen Ereignisse der Hitlerherrschaft, den Vater eines Freundes sagen. Der Gedanke taucht schon in den «Wahlverwandtschaften» auf, aber in dieser Form findet er sich an abgelegenem Ort, in einer der verworfenen Stellen aus dem zweiten Teil des «Faust». Man kannte sich aus.

Diese Vertrautheit mit dem Werk und mit der Person besteht nicht mehr. Zu den Gründen zählt offenbar, daß Goethe dem Zeitgeist, der herrschaftssüchtiger und unduldsamer ist denn je, auffallend entgegensteht. Schon der aristokratische, ins zeremoniell Hochmütige reichende Stil seines Auftretens schafft Befremden; desgleichen, daß er zur Strenge und Selbstnötigung fähig war und lebenslang allem auswich, was ihn hätte beirren, gefährden oder gar ruinieren können, während die Gegenwart diesen Ruin, als Voraussetzung für ihr Interesse, geradezu verlangt und die großen Zerbrochenen feiert: Lenz, Kleist, Hölderlin. Von Goethe dagegen stammt der schneidende Begriff der «Lazarettpoesie», der alles umfaßte, was nur Sentiment, nur Selbstliebe, «nur Genie» war und, wie er bemerkt hat, in einem fort «Brandraketen» in den Himmel steigen ließ, aber nichts wußte vom Ethos der Schreibtischmühsal sowie von der Moralität des Am-Leben-Bleibens und Altwerdens. Fast die ganze romantische Dichtung rechnete er dahin und meinte frostig, das Überflüssige solle man in der Literatur nicht befördern. Als ihm ein junger Lyriker 1830 einen Band mit Gedichten zuschickt, antwortet er steif: «Ihr Büchlein habe angeblättert. Da man sich aber bei eindringender Cholera vor störenden Unpotenzen hüten muß, so leg’ ich’s bei Seite.» Er hatte viel von sich fernzuhalten, Fremdes und mehr noch Eigenes.

Irritierend wirkt auf die Gegenwart auch, daß er gegen die demokratische Tendenz der Epoche lebte, Mehrheitsbeschlüsse sowie Mitspracherechte verachtete und über die «Verrücktheit» der Masse höhnte, die sich einbildete, aus «lauter Göttern der Selbständigkeit» zu bestehen. «Nichts ist widerwärtiger als die Majorität», setzte er dagegen, «denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.» Dabei trat er keineswegs auf die Seite des Bestehenden und der «Scheiskerle», wie er die Weimarer Hofgesellschaft schon früh charakterisierte. Er weigerte sich nur, den vom Tag ausgegebenen Parolen irgendein Gehör zu schenken. Als er einmal aufgefordert wurde, seine Feder in den Dienst einer politischen Sache zu stellen, das Land vor Anarchie zu bewahren, erwiderte er kühl, er halte es für unmöglich, die Schriftsteller und die Mächtigen zu gemeinsamen Zwecken zusammenzubringen. Anders als Schiller war er ganz und gar unfähig, irgendein Interesse für abstrakt-humanitäre Begriffe zu entwickeln. Den Brand eines Bauernhofs betrachtete er als wirkliches Unglück, wie er sagte, das Wort vom «Untergang des Vaterlandes» dagegen als betrügerische Phrase. «Es war nie meine Art, gegen Institute zu eifern», heißt es einmal, «und ich habe deshalb immer nur ein entferntes Ende der Stange leise berührt.»

Diese Distanz Goethes, sein Heraustreten aus dem ganzen Meinungswesen der Epoche, hat nicht erst die Gegenwart bemerkt. Sie ist schon von den Mitlebenden, meist mit Unmut, wahrgenommen worden und später, in den Zeiten verehrender Inbesitznahme, durch das Bild vom «Dichterfürsten» nur verdeckt gewesen. Der Kanzler v. Müller sprach, im Blick auf Goethes Geringschätzung aller Zeittendenzen, auf seinen Pessimismus und seinen Mangel an humanitärer Gesinnung, von der «ungläubigen Neutralität» des Dichters. Andere beklagten, daß er «immer seinen Panzer anhabe», und sosehr er in seinen frühen Jahren, wohin er auch kam, alle Welt verzauberte, so häufig sind schon bald die Hinweise auf seine Verdüsterungen und «bitteren Apathien». Als wolle er seine zahlreichen Kritiker ins Recht setzen, schrieb er 1778, noch keine dreißig Jahre alt, er sei nicht zu dieser Welt gemacht: «Wie man aus seinem Haus tritt, geht man auf lauter Kot.» Sogar vom «bösen alten Mann» ist im Weimar der letzten Lebensjahre die Rede. Was darin zum Vorschein kommt, hat natürlich auch mit den Bedrückungen zu tun, die, ohne irgendein Hinzutun, von allem majestätischen Alter ausgehen und deshalb von ihm auch nicht einfach hinweggetan werden können.

Aber viel häufiger und durch eine kaum benennbare Zahl von Äußerungen belegt, ist der Vorwurf der Menschenferne. Milde und nicht ohne einen Ton der Verehrung schreibt noch Frau v. Stein: «Es ist immer etwas um ihn, entweder eine Wolke, ein Nebel oder ein Glanz, wo man nicht in seine Atmosphäre kann.» Aber überaus schroff urteilt Schiller in dem Brief, den er bald nach dem ersten Zusammentreffen mit Goethe an seinen Freund Körner richtete: «Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen», heißt es da. «Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben.» Und dann folgt der erschreckende, aus Scheu, Bewunderung und eingestandenermaßen auch aus Eifersucht gemischte Satz: «Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen.» Zwar weiß man, daß Schiller sich bald anders besann, aber ähnlich beklommene Urteile halten, von vielen Seiten kommend, über die Jahre hin an. Zum Hausfreund jedenfalls und zum Mann der Kalendersprüche ist Goethe wenig oder allenfalls satzweise geeignet, auch wenn er lange dazu gemacht wurde. Er verstand zuviel, um nicht viel zu verachten. Vielleicht hat der Überdruß, den er häufig hervorruft, mehr mit dem pädagogisch verkürzten Bild zu tun als mit dem Werk oder gar der Person des Dichters.

Genauer sicherlich hat Lavater ihn gesehen, als er in einem Kupferstich dem teuflischen Versucher die Züge Goethes geben ließ, und ähnliches meinte Frau v. Stein, als sie schrieb, Goethe arbeite unaufhörlich «an seinen Prometheusschen Menschen», die, ob gut oder böse, sämtlich «seine Lieblinge sind». Alle diese Einwände haben ihren kürzesten Ausdruck in dem Satz eines Besuchers gefunden, der davon sprach, daß Goethe «tolerant (sei), ohne milde zu sein». Was ist das aber anderes als eine Fremdheit, die von Gleichgültigkeit kaum zu unterscheiden ist, ganz als sei, was andere behelligt, nicht der Rede wert? Er lebe wie die unsterblichen Götter, sagt er einmal über sich, und habe weder Freud noch Leid. Mitunter hat man denn auch den Eindruck, Goethe habe ein immerwährendes, ganz in die eigenen Sachen verlorenes Selbstgespräch geführt. Das Politische, die Aufregungen der Zeit und der Menschen, ihre Hoffnungen und Befürchtungen, versanken davor im Wesenlosen oder traten nur störend in Erscheinung. Er beklage nicht Zustände, sagte er zu Sulpiz Boisserée, sondern Ottilie, die junge Frau aus den «Wahlverwandtschaften», die er geliebt und die ihn unglücklich gemacht habe.

Ein beiläufiges, aber bezeichnendes Beispiel für Goethes Fremdheit gegenüber der eigenen Zeit ist sein Verhältnis zur Geschichte. Die zahlreichen Äußerungen dazu ergeben am Ende wiederum nur ein orakelndes Stimmengewirr. «Das Wahre kann bloß durch seine Geschichte erheben und erhalten, das Falsche bloß durch seine Geschichte erniedrigt und zerstreut werden», heißt es in einem Brief an Zelter. Aber dann auch, zum Beispiel im «Werther», die Geschichte sei «ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer» oder, im geplanten Vorwort zum dritten Teil von «Dichtung und Wahrheit», ebenso entschieden: «Die Geschichte, selbst die beste, (hat) immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft», und drohe, alles Lebendige in sich hineinzuziehen. Man kann lange fortfahren, zu jedem Satz wäre mühelos der Gegensatz ausfindig zu machen, als habe Goethe sich zeitlebens an die Erinnerung aus dem Arbeitsprogramm zum «Faust» gehalten: «Widersprüche, statt sie zu vereinigen, disparater machen.»

So souverän Beliebiges, einander Ausschließendes deutet, neben vielem anderen, auch ein Unverhältnis zu allem Geschichtlichen an, das um so sonderbarer anmutet, als Goethes Lebenszeit in die Epoche des sich entfaltenden historischen Denkens fällt. Damals gewann die Erkenntnis an Boden, daß die Zeiten und die Gesellschaften nicht nach einer idealen Modellvorstellung, sondern nach ihren eigenen Voraussetzungen und Bewegungsgesetzen zu beurteilen seien; daß jede Epoche eine unverwechselbare Lebenseinheit darstelle, deren Wesen sich in allen Erscheinungsformen, von der Politik bis zur Kunst, von der materiellen Kultur bis hin zu den Lebensformen spiegelt. Von solchen Einsichten blieb Goethe jedoch unberührt, und das neue Interesse beeinflußte weder sein Werk noch sein Denken. Die Deutschen des späten 18. und dann des 19. Jahrhunderts waren aber geradezu von einem historischen Fieber erfaßt, die Geschichte hatte lange eine Art Kronrecht unter den Wissenschaften – auch da trennten sich die Wege und führten zu wachsender Fremdheit.

Kaum anders verhielt es sich mit der Gegenwartsgeschichte: die Französische Revolution mit ihren Erschütterungen und vielfältigen Impulsen, das Entstehen neuer gesellschaftlicher Strukturen, die napoleonischen Ereignisse samt der erwachenden deutschen Nationalbewegung – das alles hat bei ihm nicht viel mehr als ein von Abwehr und Unwillen gespeistes Echo gefunden. Er provozierte seine Umgebung gern, indem er von Napoleon als «meinem Kaiser» sprach und noch nach dessen Niederlage das Kreuz der Ehrenlegion trug.

Einmal, im Kreis einer national ereiferten Gesellschaft, verließ er den Raum und kam etwas später mit ein paar Versen zurück, die mit der Zeile begannen: «Ich hab mein Sach’ auf nichts gestellt.» Sosehr er den Kaiser als den einzigen Pair empfand, fürchtete er, daß seine Eroberungen einen patriotischen Egoismus aufrühren müßten, der den Völkern keine Ruhe lassen werde, wie er ein Jahr vor seinem Ende zu Eckermann sagte, «als bis wieder ein großer Despot unter ihnen aufsteht, in welchem sie das auf der höchsten Stufe sehen, was sie selber zu sein wünschen». Aus der Gegenposition notierte Achim v. Arnim während der Napoleonzeit, er sei «fast niemals ohne eine Art Verzweiflung von ihm gegangen». Immer wieder schien es, als wolle Goethe seinen Abstand von allen politischen Überzeugungssachen geradezu demonstrativ hervorkehren. Er hatte jedenfalls keinen Teil daran. Statt dessen wich er in ein Griechentum aus, das er nicht, wie die Arbeiten der gleichzeitigen Historiker, als geschichtliche Welt, sondern als zeitlose Norm begriff. Es war das Dauernde im ständigen Wandel, was sein Interesse anzog, das naturhaft Menschliche. Die Geschichte gab nur das Theater ab, in dem es sich darbot, sie lieferte die Kulisse und die Kostüme dazu, aber gespielt wurde stets das gleiche: Komödie oder Tragödie, auf eines von beiden lief es immer hinaus.

Die Geschichtsverachtung Goethes macht es denn auch nahezu unmöglich, den zeitlichen Hintergrund etwa der «Wahlverwandtschaften» oder des «Wilhelm Meister» zu bestimmen: in unhistorischer Ruhe entwickelt sich das Panorama einer bürgerlichen Ordnung, in der die Zeit durch nicht viel mehr als den Wechsel der Generationen in Erscheinung tritt. Wo, wie in «Hermann und Dorothea» oder in den «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten», die politischen Ereignisse gleichwohl ins Bild treten, zeichnet er den Vordergrund zwar anschaulich und detailgenau bis zum Genrehaften; die historischen Prozesse dagegen bleiben ganz im Abstrakten, Schicksalhaften, das der Dichter mit einer Wendung ins Magistrale, manchmal auch mit dem Sarkasmus des heiter-verdrossenen Weltweisen abtut. «Einem tätigen, produktiven Geist», schreibt er 1793, «wird man es zugute halten, wenn ihn der Umsturz alles Vorhandenen schreckt, ohne daß die mindeste Ahnung zu ihm spräche, was denn besseres, ja nur anderes daraus erfolgen solle.»

Solche Äußerungen machen es auch so falsch, in Goethe, wie es die marxistische Germanistik getan hat, einen Dichter des bürgerlichen Klassenkampfes oder gar, mit einem Frankfurter Kulturdezernenten, einen «konservativen Kryptomarxisten» zu sehen. Denn zu den wenigen, das gesamte Werk durchziehenden Motiven gehört der Gedanke von Ausgleich und Versöhnung, er verabscheute geradezu alle politische Gewalttätigkeit, sie war «Vulkanismus», das heißt Schrecken, Willkür, unkontrollierbare Eruption, die nur zu Schlimmerem führte. Mit einigen Zuspitzungen kann man sogar die These bestreiten, daß Goethe der Aufklärung hinzuzurechnen sei. Natürlich ist der «Sturm und Drang» eine Früh- oder Nebenform davon, auch «Egmont», auch der «Tasso» lassen sich dazu zählen. Aber zugleich stand Goethe immer über solchen Zurechenbarkeiten, das «große Zeitablehnungsgenie», wie Heine ihn genannt hat, und schon die «Iphigenie» drückt allenfalls insoweit den Geist des neuen Zeitalters aus, als sie daran erinnert, daß der Mensch, vor aller Zugehörigkeit zu einem Stand oder einem Volk, als Mensch zu sehen sei. Und der «Reineke Fuchs» sollte in einer Epoche utopischer Glückserwartung und der Hoffnung, daß die Revolution alles neu mache, dem Leser vor Augen rufen, daß der alte Mensch immer der alte Mensch bleibe und das schlaue und ruchlose Wesen wie eh und je triumphiere: die Anthropologie war zuletzt stärker als alle Modelle einer besseren und gerechteren Ordnung.

Auf der anderen Seite ist es ebenso verfehlt, in Goethe, wie es im Zuge der wissenschaftlichen Klassik-Abwertung behauptet worden ist, den Repräsentanten der «Weimarer Hofklassik» zu sehen, er ist, nicht anders als Schiller, Herder oder Wieland, kaum ohne den bürgerlichen Hintergrund zu denken, aus dem er stammte, und die Art, in der er zusammen mit dem jungen Herzog die höfischen Verhältnisse von Weimar durcheinanderwirbelte, zeigt, wie weit er von der Rokokowelt der Etikette und des förmlichen Staatsschauspiels entfernt war. Es war gerade die Verbindung von bürgerlichem Wirklichkeitssinn und feudaler Kultur, die das besondere Wesen der deutschen Klassik ausmacht und ihr die anhaltende Wirkung ins 19. Jahrhundert hinein und darüber hinaus gesichert hat.

Aber mitunter erfaßt uns doch eine Ahnung, wieviel Nähe, bei aller Fremdheit, in so viel Ideologieverachtung und so viel radikalem Skeptizismus stecken könnte; und was es mit einer Nüchternheit auf sich hat, die keinem Glauben oder parteiischem Prinzip anhängt und sich von keiner sogenannten großen Idee beirren läßt, sondern in allem nur ein durchgängiges Ordnungsgesetz entdeckt und behauptet. Goethes kritischer Sensualismus hielt sich stets an die Erscheinungen selber und verharrte außerhalb jener Nebelzonen des Denkens, in denen die Deutschen sich, zu ihrem Glück und ihrem Unglück, bis heute so heimisch fühlen. Man solle nicht hinter den Phänomenen suchen, lautete seine lakonische Lebensregel, sie selber seien die Lehre oder: «Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.» In einem Brief aus der Zeit des noch tastenden Beginns ihrer Freundschaft hat Schiller an Goethe den Blick gerühmt, der nie Gefahr laufe, «auf den Abweg zu geraten, in den sowohl die Spekulation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt». Und: «Da sucht man lieber Kräuter und treibt Mineralogie, als daß man sich in leeren Demonstrationen verfinge.»

Zu solchen Demonstrationen gehörte alles Denken in großen Formeln und Projekten für eine neue Welt, zu deren Heraufkunft sich das Jahrhundert beglückwünschte. Der anschaulichste Beleg dafür ist der Schluß des «Faust», der von den progressiven Ausdeutern des Werkes bis in die jüngste Zeit als Apotheose jener Utopie verstanden worden ist, deren Demaskierung er gerade betreibt. Die Weltbeglückungsträume sind nichts anderes als Chimären, die aus der Blindheit kommen und in Gewalt enden. Philemon und Baucis gehen daran zugrunde und ungezählte andere: «Menschenopfer mußten bluten, nachts erscholl des Jammers Qual.» Es war eine erkältende Absage an die ausschweifenden Entwürfe zur Neuerschaffung aller Verhältnisse nach den Gesetzen der Vernunft und ohne die Fehlgriffe des biblischen Schöpfers, die darin zum Ausdruck kam, sowie eine hochmütige Geringschätzung des Verbesserungsfurors, der das Zeitalter soeben zu erfüllen begann und bis in unsere Tage umtrieb. Und welches höhnische, das Pathos aufklärerischer Erwartungen desavouierende Bild lieferte die Figur des erblindeten Faust, der in den klirrenden Spaten ringsum auf freiem Grund ein freies Volk zu vernehmen glaubte und doch nur das Werken der Zwangsarbeiter hörte, die ihm das Grab schaufelten.

Goethes Geschichtsferne war geprägt von seiner Herkunft aus dem «Reich», dem weder zu Preußen noch zu Habsburg zählenden Kerngebiet des Landes, das spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg nur noch Objekt der Mächte gewesen war und gleichsam der Balg, um den sie stritten. Die von den umliegenden Staaten herbeigeführte und über alle Wechselfälle aufrechterhaltene Ohnmacht eines Systems parzellierter Kleinherrschaften hat im Fortgang der Geschichte sowohl der lokalen Blickverengung als auch dem Höhenflug in philosophische Weltentwürfe Vorschub geleistet und im Denken des Landes eine lange nachwirkende Tradition begründet. Unter ihrem Einfluß tat man sich schwer mit der Erfassung der Wirklichkeit sowie der bestehenden Machtverhältnisse. Nie hat der politische Gedanke in Deutschland die Lebensferne ganz vergessen machen können, die sein Erbteil war, und sich dafür durch den Stolz schadlos zu halten versucht, in einer Welt der Halbheiten und der falschen Kompromisse das reine Prinzip zu verkörpern. Es ist eine alte, über allen historischen Wandel bis heute bewahrte Geschichte, an die man damit gerät, Wirklichkeitsfremdheit und Weltungeschick, die sich eine Berufung daraus machen, einer trägen und selbstzufriedenen Menschheit moralisch lästig zu fallen.

Goethe hat sich damit ein Feld praktischer Erfahrung und Lebenskenntnis erschlossen wie kaum ein Dichter vor oder nach ihm. Zwar häuften sich nach den ersten Jahren, als trotz der Zugehörigkeit zum Geheimen Conseil noch alles Laune und Verrücktheit war, die Klagen über die Last der politischen Tätigkeit, die er keineswegs als bloßes Ehrenamt auffaßte. Verhandlungen, Aktenstudium und Eingaben füllten den Tag, er war nacheinander Mitglied der Wege- und Wasserbaukommission, der Kriegskommission, der Bergwerkskommission, Direktor der Kammer, das heißt Finanzminister, auch verantwortlich für den Neubau des Weimarer Schlosses und die Gartenarchitektur in Tiefurt, Dornburg, Belvedere und Ettersburg sowie anderes mehr: Direktor des Hoftheaters, Regisseur, Bühnengestalter und Schauspieler, Übersetzer sowie Bearbeiter von Stücken und italienischen Opern, dazu Arrangeur von Maskenzügen, Feuerwerken, höfischen Aufzügen und Repräsentationsspektakeln. Aber trotz der tausend Mühen und Lästigkeiten, die mit alledem einhergingen, und den ständigen Abhaltungen hat er die Isolation in der Buchstabenwelt des Literaten für weit bedrohlicher gehalten. Als er an der «Iphigenie» arbeitete, schrieb er an Frau v. Stein: «Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolda hungerte.» Aber er gab, ein Leben lang, das eine nicht für das andere auf, erst beides zusammen machte das Ganze, die Wirklichkeit und der Gedanke, der immer in Gefahr war, die Bodenhaftung zu verlieren und ins Luftige zu entschwinden, wo der Denkende nicht nur die Welt aus den Augen verlor, sondern auch sich selber.

Niemand hat je ohne Bewegung den berühmten letzten Brief Goethes gelesen, wenige Tage vor seinem Tod an Wilhelm v. Humboldt geschrieben, in dem er von «diesen sehr ernsten Scherzen» spricht, die sein Lebenswerk ausmachen, und das Ergebnis so lang verfolgter, seltsamer Bemühungen «an den Strand getrieben» sieht, «wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet». Da ist alles, was er noch an Hoffnung besitzt, auf das eine Wort «zunächst» vermindert. Doch zugleich kommt noch einmal das depressive Wesen unter seinem Olympiertum zum Vorschein, jener am Ende doch alles in den Sturz zerrende Vergeblichkeitsgedanke, der ihn sein Leben lang begleitet hat und dessen Vorechos zunehmend lauter wurden. Um sich herum sah er eine Generation hochkommen, in deren Augen sein Werk «für nichts geachtet wird, eben weil ich verschmäht habe, mich in politische Parteiungen zu mengen», wie er im März 1832, wenige Tage vor seinem Tod, zu Eckermann sagte. «Um diesen Leuten recht zu sein, hätte ich müssen Mitglied eines Jakobinerklubs werden und Mord und Blutvergießen predigen!»

Dieser Absicht dient aber gerade die Fremdheit eines Klassikers mehr und besser als jedes, oft dazu noch täuschende Bewußtsein problemloser Übereinstimmung. Ich erinnere mich eines italienischen Gelehrten, mit dem ich vor Jahren wie über vieles auch über Goethe sprach, und er meinte, die Literaturgeschichte habe sich da einen grandiosen Irrtum erlaubt. Die Deutschen hielten zwar den Faust für die Figur, die ihr Wesen am treffendsten zum Ausdruck bringe, und die Idee des Teufelspakts habe, zumal nach der Erfahrung der Hitlerjahre, diesem Mißverständnis noch Vorschub geleistet. Auch Thomas Mann sei von dem Schauder vor der eigenen Dämonie nicht losgekommen. Aber viel eher seien die Deutschen das Volk des «Don Quichote». Jedenfalls deute darauf ihre Eigenart, im Gedanken ebensooft recht zu haben wie im Leben auf nicht selten verrückte und absurde Weise unrecht. Sie seien außerstande, das eine mit dem anderen zu versöhnen. Und gerade weil Goethe dies auf so exemplarische Weise vermocht habe, frage er sich, wie er überhaupt unter dieses Volk geraten sei. Die Lust des Dichters am Lebendigen und an dessen Erscheinungen, sein Wirklichkeitssinn und die Idee des Maßes, der er sich im Leben wie im Werk oft unter Schmerzen gebeugt habe, empfinde er als widerdeutsch bis zum Grotesken.

Friedrich Meinecke hat unmittelbar nach dem Krieg, im tiefen Erschrecken über «die deutsche Katastrophe», angeregt, in jeder Stadt «Goethegemeinden» ins Leben zu rufen, die das Werk des Dichters pflegen und dessen verlorengegangene oder nie übernommene Maßstäbe zurückbringen sollten. Man kann den Hinweis nicht ohne eine Art von Rührung aufnehmen, weil er auf seine Weise teilhat an der Wirklichkeitsfremdheit, die er zu überwinden sucht. In einer gleichsam vorweggenommenen Antwort hat Karl Löwith während der Emigration geschrieben, es sei nicht möglich, zu Goethe zurückzukehren, aber auch nicht, über ihn hinauszukommen.