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Reis
Entgeistert starrte Jack ihn an.
»Wir können Euch bezahlen«, sagte der dritte und älteste der Männer, über dessen fast kahlen Schädel sich nur noch einige wenige Haarsträhnen zogen.
Jack zögerte. Geld konnte er dringend gebrauchen, doch ihrem heruntergekommenen Aussehen nach zu schließen, waren die Männer nicht in der Lage, ihn zu bezahlen. Und selbst wenn – Arbeit anzunehmen, war viel zu riskant. Er durfte ihnen nicht vertrauen. Sie würden entdecken, wer er war, und seine Reise würde sich verzögern. Außerdem war das Angebot wahrscheinlich sowieso eine Falle.
Er schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen.
»Bitte hört uns erst an«, beharrte der Alte. Sein runzliges, trauriges Gesicht hatte einen flehenden Ausdruck angenommen. »Leistet uns wenigstens beim Abendessen Gesellschaft. Wir haben frisch gekochten Reis.«
Als Jack das hörte, begann sein Magen zu knurren. Und die Verzweiflung des Alten schien echt. Was konnte er verlieren, wenn er ihm zuhörte? Schließlich siegte der Hunger über die Vernunft und er nickte. »Aber ich verspreche nichts.«
»Einverstanden.« Der Anführer machte eine Verbeugung. »Folgt uns.«
Jack ging hinter den dreien eine Gasse entlang bis zu einem baufälligen Speichergebäude am Ortsrand. Seine Sinne waren aufs Äußerste angespannt und er sah sich immer wieder nach verräterischen Anzeichen eines Hinterhalts um – Fußspuren, die in einer dunklen Gasse verschwanden, Schnee, der von einem Dach heruntergefallen war, oder Häusern, in denen sich Angreifer verstecken konnten. Doch wenn es hier Feinde gab, hatten sie sich gut versteckt.
Der Mann mit dem mürrischen Gesicht stieß eine windschiefe Tür auf und trat als Erster ein. Jack blieb auf der Schwelle des Speichers stehen und versuchte festzustellen, ob ihm von drinnen Gefahr drohte. Doch es war stockfinster und nur der Gestank von fauligem Stroh stieg ihm in die Nase.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Alte und bedeutete ihm mit einer demütigen Geste, einzutreten. »Aber wir können uns nur diese bescheidene Unterkunft leisten.«
Ein Kerzenstummel erwachte flackernd zum Leben und das Flämmchen erleuchtete einen spartanisch eingerichteten Raum mit einem Boden aus gestampfter Erde und einer hölzernen Plattform zum Schlafen.
Der junge Mann machte die Tür hinter ihnen zu und der Anführer lud Jack ein, sich auf die Plattform zu setzen. Jack nahm sein Bündel ab, zog seine Schwerter aus dem Gürtel und legte sie griffbereit neben sich. Die drei Männer knieten sich vor ihn auf die Erde.
»Ich heiße Toge«, erklärte der Anführer mit einer Verbeugung. »Wir sind Bauern aus dem Dorf Tamagashi. Das ist Sora …«, der Alte verbeugte sich, »… und der Junge heißt Kunio.«
Der Junge mit der Zahnlücke warf sich grinsend vor Jack auf den Boden. Jack schätzte, dass er kaum älter als er selbst war. Sechzehn, höchstens siebzehn.
Er nickte als Antwort, beschloss aber, seinen Namen noch nicht preiszugeben. Solange er die Absichten dieser Leute nicht kannte, musste er vorsichtig sein. Andererseits wollte er sie auch nicht anlügen. Ein unbehagliches Schweigen trat ein, denn den drei Bauern war in Gesellschaft des geheimnisvollen Samurai sichtlich unwohl.
»Da kommt Euer Reis«, verkündete Sora und zeigte auf den rückwärtigen Teil des Speichers.
Erst jetzt bemerkte Jack, dass sich eine vierte Person im Raum aufhielt. Offenbar hatte die Erschöpfung ihm die Sinne benebelt. Unwillkürlich griff er nach seinem Kurzschwert, hielt aber nach einem zweiten Blick inne. Denn im Halbschatten stand, über die Glut eines kleinen Feuers gebeugt, ein Mädchen. Sie füllte gerade eine Portion Reis aus einem zerbeulten Kessel in eine Schale und kam dann hastig näher.
Das schmächtige Mädchen in einem zerknitterten Kimono mochte vielleicht vierzehn Jahre alt sein und hatte einen wirren Schopf schwarzer Haare und ein rundes, blasses und trotz der vielen Schmutzschichten hübsches Gesicht. Als sie vor Jack stand, fiel ihm auf, dass ihre Katzenaugen ständig zwischen ihm und den Bauern hin- und herhuschten. Hinter dem ungepflegten Äußeren schien sich ein wacher Geist zu verbergen.
Auf eine ungeduldige Handbewegung Toges hin kehrte sie zu dem Kessel zurück, füllte wortlos Reis in drei weitere Schalen und brachte sie den Bauern.
»Lasst es Euch schmecken«, sagte Toge, ohne zu lächeln.
»Danke«, antwortete Jack. Er musste sich beherrschen, dass er den Reis nicht auf einmal verschlang. Zu hungrig durfte er nicht erscheinen. Da es offenbar keine Stäbchen gab, aß er mit den Fingern. Doch sobald er den ersten Reis im Mund hatte, entfuhr ihm ein dankbarer Seufzer und er fiel gierig über das Essen her.
»Es schmeckt Euch?«, fragte Sora, der sich darüber aufrichtig zu freuen schien.
Jack nickte. Unfähig, an sich zu halten, stopfte er den Reis in sich hinein und hatte die Schale mit wenigen heißhungrigen Bissen geleert. Wohltuend wärmte der nahrhafte Reis seinen Magen und belebte seine Geister ein wenig.
»Nehmt noch etwas«, drängte Sora ihn, ohne auf Toges gequälten Blick zu achten. Der Alte winkte dem Mädchen und sie füllte Jacks Schale erneut.
Mit der zweiten Portion ließ Jack sich, nachdem der erste Hunger gestillt war, Zeit. Er wollte nicht Gefahr laufen, alles wieder von sich zu geben.
»Warum braucht ihr die Dienste eines Samurai?«, fragte er schließlich, um auf seinen Teil der Abmachung zu sprechen zu kommen.
»Er soll unseren Reisspeicher bewachen«, erklärte Toge, der so sorgfältig kaute, als könnte jedes Reiskorn sein letztes sein.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dafür einen Samurai braucht.«
Toge schluckte rasch. »Oh doch, ganz gewiss.«
»Dieser Reis ist für uns sehr wertvoll«, fügte Sora hinzu. »Er ist für das Überleben unseres Dorfes unentbehrlich und wir können nicht vorsichtig genug sein, besonders im Winter.«
»Dann wird bei euch viel gestohlen?«, wollte Jack wissen.
»Nur zum Schwarzen Mond«, erwiderte Toge und stellte seine leere Schale auf den Boden.
Jack überlegte kurz. »Ist es weit bis zu eurem Dorf?«
Während Toge ihm die abgeschiedene Lage des Dorfes am Rand der Okayama-Ebene beschrieb, bemerkte er, dass die Bauern nur wenig Reis in ihren Schalen übrig gelassen hatten, während seine noch halb voll war. Verstohlen sah er zu dem Mädchen hinüber, das damit beschäftigt war, einige getrocknete Reste aus dem Topf zu kratzen. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen. Offenbar aß er die letzten Vorräte der Bauern auf.
Obwohl er noch mindestens fünf weitere Schalen Reis hätte essen können, stand er auf und hielt dem Mädchen seine Schale hin. Sie blickte besorgt auf und hob dann den Topf hoch, um ihm zu zeigen, dass er leer war. Mit einem Kopfschütteln bedeutete sie ihm, dass es nichts mehr zu essen gebe.
»Für dich«, sagte Jack und bot ihr erneut seinen Reis an.
Doch das Mädchen schien sein Japanisch nicht zu verstehen und er musste ihr die Schale in die Hände drücken. Erst jetzt begriff sie, was er wollte. Sie warf Toge einen raschen Blick zu, wartete aber nicht auf seine Erlaubnis. Mit einem Lächeln bedankte sie sich bei Jack und zog sich hastig in ihre Ecke zurück. Die Bauern wechselten überraschte Blicke. Sie hatten nicht mit dieser großzügigen Geste gerechnet.
»Siehst du, ich wusste gleich, dass er für einen Samurai ein gutes Herz hat«, flüsterte Sora hinter vorgehaltener Hand dem erstaunten Kunio zu.
»Aber er hätte den Reis auch uns geben können«, brummte Kunio leise.
Jack verstand jedes Wort, tat aber so, als habe er nichts gehört. Er setzte sich wieder und überlegte, was er tun sollte. Die Bauern waren ehrlich zu ihm gewesen und hatten ihm ihr ganzes Essen gegeben in der ungewissen Hoffnung, er könnte ihnen helfen. Als Samurai, der an den Verhaltenskodex des Bushido gebunden war, fühlte er sich deshalb zumindest verpflichtet, ernsthaft über ihre Bitte nachzudenken.
Die Aufgabe klang einfach und er war gewiss imstande, mit einigen Dieben fertigzuwerden. Außerdem war es sowieso aussichtslos, die Reise nach Nagasaki mitten im Winter und ohne jeden Proviant fortsetzen zu wollen. Zuerst musste er wieder zu Kräften kommen. Gleichwohl musste er diesen Vorteil gegen das Risiko einer weiteren Verzögerung abwägen. Womöglich holten die Samurai des Shoguns ihn ein. Und Kazuki und seine Bande waren ihm bestimmt auch bald wieder auf den Fersen.
»Ich befinde mich auf einer wichtigen Pilgerreise«, erklärte er. »Ich könnte nicht lange bleiben.«
»Aber das macht nichts!«, rief Toge hoffnungsvoll. »Ein Monat reicht vollkommen aus – bis zum nächsten Neumond.«
Jack dachte nach. Das Dorf lag abgelegen von der belebten Hauptstraße, seine Feinde würden ihn also während seines Aufenthalts dort kaum finden. Und wenn das Wetter sich besserte und die Straßen wieder frei waren, konnte er jederzeit aufbrechen.
»Was zahlt ihr mir?«
Die Bauern wechselten verlegene Blicke. Toge hüstelte und murmelte dann: »Wir sind Bauern und können Euch nur mit Reis bezahlen. Zwei Mahlzeiten am Tag und die Unterkunft.«
Er würde sich zwar erholen, dachte Jack, aber Proviant konnte er von diesem kärglichen Lohn nicht kaufen.
Als Toge merkte, dass ihr Kandidat schwankte, fügte er rasch hinzu: »Drei Mahlzeiten am Tag. Und den Proviant, den Ihr für Eure weitere Reise braucht.«
»Seht Euch unser Dorf doch erst einmal an«, schlug Sora vor. »Dann könnt Ihr Euch immer noch entscheiden.«
Das Angebot klang immer verlockender. Jack wusste zwar, dass es am vernünftigsten gewesen wäre, sich überhaupt nicht darauf einzulassen, andererseits war Arbeit genau das, was er in seiner Lage brauchte. Die Frage war nur, ob die Bauern wissen durften, wer er war. Aber das konnte er immer noch überlegen. Wenn sie sich gegen ihn wandten, konnte er aus einem abgelegenen Dorf zumindest leichter fliehen als aus einer belebten Stadt. Und hatte er wirklich die Wahl? Die einzige Alternative zum Angebot der Bauern war es, in Okayama ums Überleben zu kämpfen, einem feindseligen Ort, in dem es vor Samurai nur so wimmelte und er früher oder später auf jeden Fall entdeckt und gemeldet würde.
Er wandte sich an die Bauern. »Ich nehme euer Angebot an.«