Sonja Rüther
Hey June
Roman
Knaur e-books
Sonja Rüther, geboren am 9. September 1975 in Hamburg, schreibt Thriller, Liebesromane und Phantastisches.
2009 gründete sie ihren Verlag Briefgestöber; ein Jahr später eröffnete sie den Kreativhof Ideenreich in Buchholz in der Nordheide. Dort finden inzwischen jährlich Workshops und Seminare mit Sina Beerwald, Thomas Finn, Markus Heitz und Boris Koch zum Thema Professionelles Schreiben statt. Als Ausgleich zum Schreiben zeichnet sie gerne – am liebsten Zombies.
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Alexandra Dohse / grafikkiosk.de
Coverabbildung: Collage unter Verwendung verschiedener Motive von shutterstock.com und Portfolio Alexandra Dohse
ISBN 978-3-426-45710-8
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Für die Namenspaten Johnny und June
Es war merkwürdig, die Oper über den Bühnenaufzug zu betreten. Das leise Rattern und Quietschen auf der Fahrt nach oben war wie ein Moderator, der die Bittstellerin ankündigte. Leah wusste nicht, wer alles dort sein würde oder ob sie mit ihrem Anliegen auf offene Ohren stieß. Genau genommen wusste sie nicht einmal, ob sie das Richtige tat, weil das, was sich in ihrer Tasche befand, nicht ihr gehörte.
Zumindest eine Person war auf ihrer Seite. Die junge Dramaturgin Jana Kaufmann hatte sie am Empfang abgeholt und stand nun neben ihr im Fahrstuhl.
»Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«, fragte sie nun.
»Nein danke, ich behalte ihn lieber an«, lehnte Leah ab, weil es zu umständlich war, ihn im Rollstuhl sitzend an- und auszuziehen.
»Wie Sie möchten, es ist ja eine Besprechung und keine Probe.«
Leah wurde hellhörig. »Wäre das bei einer Probe ein Problem?«
»Eigentlich nicht«, sagte Jana Kaufmann bedächtig, »aber wir haben einen Sänger im Ensemble, der tatsächlich sehr abergläubisch ist. Das kommt jedoch eher bei Generalproben oder vor den Aufführungen zum Tragen. Es wird sicher niemanden stören, wenn Sie Ihren Mantel anbehalten.«
Leah sah auf ihren dünnen Trenchcoat hinab. »Es gibt einen Aberglauben, der Jacken auf der Bühne verbietet?«
Nun lachte Jana Kaufmann. »Es gibt einige. Und einer davon besagt, dass auf der Bühne nur Hüte und Mäntel getragen werden dürfen, wenn sie zum Kostüm gehören.« Ihr Lächeln unterstrich die Wertschätzung dieses und sicher auch anderer Aberglauben. Leah mochte den Zauber, der mit Theater- oder Opernhäusern verbunden war. In ihrer Welt war alles logisch und geradezu klinisch belegbar. Auf Baustellen gab es weder Zauber noch Rituale, die das Gelingen der Bauarbeiten begünstigen sollten.
Auch wenn Jana Kaufmann wahrscheinlich recht hatte und niemand es so streng sehen würde, wollte Leah lieber alles richtig machen, um dieser kreativen Welt mit Respekt zu begegnen.
Mühsam lehnte sie sich auf eine Seite, um den Stoff unter sich herauszuziehen. Die junge Dramaturgin ging ihr zur Hand.
»Ich weiß gar nicht, warum ich den überhaupt angezogen habe, es ist viel zu warm draußen«, sagte Leah, um den unangenehmen Augenblick zu überbrücken. Ihr Becken schmerzte bei den Bewegungen, aber die Ärzte hatten nicht zu viel versprochen, als sie sagten, ihre Mobilität würde sich schnell wieder verbessern.
Die Fahrt endete, und Leah setzte den Rollstuhl über die Räder in Bewegung. Ihr Mantel, den ihr Jana Kaufmann abgenommen hatte, landete auf einem Stuhl, der wahrscheinlich zu den Requisiten gehörte.
Die Bühne sah von dieser Seite noch viel beeindruckender aus als aus dem Zuschauerraum. Große Kulissen in Form hoher schwarzer Wände mit Türen und Vorhängen warteten auf den Nebenbühnen auf ihren Einsatz, nur um nach der Abendvorstellung wieder abtransportiert zu werden.
»Gibt es noch andere Dinge, die ich beachten sollte?«
Jana Kaufmann lachte erneut. »Je nach Künstler, ja, aber wenn Sie nichts zu essen auspacken, aufs Pfeifen verzichten und sich nirgendwo Pfauenfedern anstecken, sollten Sie auf der sicheren Seite sein.« Es war angenehm, dass sie keine Anstalten machte, den Rollstuhl zu schieben. Zu viele Leute taten das, als läge sie hilflos in einem Kinderwagen. »Es gibt uns Bühnenmenschen ein sicheres Gefühl, wenn sich alle daran halten. Bei den Vorstellungen kann einfach zu viel schiefgehen«, fügte sie hinzu.
Das war wie im wahren Leben, nur dass man das nicht proben oder wiederholen konnte. Was passierte, passierte, niemand wusste das besser als Leah. Der Trick bestand wohl darin, die Weichen so zu stellen, dass etwas Gutes dabei herauskommen würde – und genau dafür war sie jetzt hier. Sie, Jana Kaufmann und neunzehn andere Menschen, die in diesem Moment auf der Bühne vor dem Orchestergraben standen und auf sie warteten.
Alle waren gekommen, obwohl es ein Sonntag war. Bei der Terminfindung hatte Jana Kaufmann gesagt, dass sonntags nie Proben stattfänden, weswegen dieser Ort zu dieser Zeit sicher sei.
Leah lenkte ihren Rollstuhl zur Mitte der Bühne, atmete tief ein und hob dann ihren Blick zu den Anwesenden. »Guten Tag, ich bin Leah Mirana, es freut mich sehr, Sie alle hier zu sehen.«
Sie erkannte Sigmund Valentin, der ihr zunickte. Er war ihre größte Sorge gewesen, weil sie ohne ihn gar nicht erst anzufangen brauchten. Gleich würde sie alle um einen Gefallen bitten, der unbezahlbar war. Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz vor Aufregung schneller. Sie nahm an, dass jeder den Mann schätzte und respektierte, der gerettet werden musste, aber was würden sie tatsächlich auf sich nehmen, um dabei zu helfen? Das Gelingen dieser Rettungsaktion lag in vielen Händen.
»Wie Sie alle wissen, ist es sehr wichtig, dass dieses Treffen und alles, was folgt, im Geheimen geschieht. Ich kann Ihre Arbeit nicht bezahlen, Ihnen nicht versprechen, dass es funktionieren wird, aber ich will es versuchen, weil es das Einzige ist, was ich tun kann, um alles wiedergutzumachen.«
Sie griff in den Rucksack, der seitlich am Rollstuhl hing, und holte die Unterlagen hervor.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte sie und winkte Sigmund Valentin zu sich heran. »Sie wissen, was das ist?«
Der Choreograf nahm die Mappe entgegen und nickte. »Ist Ihnen bewusst, wie schwer es werden wird, zu verheimlichen, was wir hier tun?«, merkte er kritisch an.
»Mir ist bewusst, dass ich Ihnen sehr viel abverlange, das für Sie vielleicht nicht im Verhältnis zum Ergebnis stehen wird.«
»Nicht im Verhältnis?«, wiederholte Jana Kaufmann. »Jeder von uns wird am Ende stolz sein, einen Teil dazu beigetragen zu haben. Ich war so frei, schon einmal einen Plan aufzustellen, was bis wann fertig sein muss, damit wir nicht zu viel Zeit verlieren, wenn wir etwa in andere Räume ausweichen müssen, um nicht aufzufallen. Und ich habe ebenfalls schon notiert, wen wir zusätzlich mit ins Boot holen müssen, um uns den Rücken freizuhalten.« Sie ging herum und verteilte die Zettel. »Wenn euch noch andere einfallen, die ebenfalls helfen könnten, dann sagt ihnen bitte, wie bedeutend die Geheimhaltung ist.«
Loyalität und Anerkennung stand diesen Menschen deutlich ins Gesicht geschrieben – dies war nicht nur der richtige Weg, es waren auch genau die richtigen Personen, um ihn gemeinsam zu gehen. Ein leises Gemurmel entstand, als erste Absprachen getroffen wurden, und Leah fiel ein tonnenschwerer Stein vom Herzen.
»Stimmt es, was wir gehört haben?«, fragte plötzlich eine Frau, die in der Mitte der Gruppe stand. »Sind Sie schuld an seinem Zustand?«
Leah senkte kurz den Blick und nickte. Dann hob sie den Kopf und sagte entschlossen: »Wahrscheinlich ist es nur fair, wenn ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle, bevor Sie sich entscheiden, mir zu helfen. Aber es ist eine lange Geschichte.«
Die Frau, die die Frage gestellt hatte, Jana Kaufmann, Sigmund Valentin und all die anderen setzten sich nach und nach in einem Halbkreis um Leah herum auf die dunklen Bretter der Bühne. Ein klares Zeichen, dass sie ja nichts auslassen sollte, egal, wie lange es dauern würde.
Nach allem, was Leah erlebt hatte, war sie sich nicht sicher, wie viel sie erzählen durfte, aber es schien ihr nicht der richtige Moment zu sein, etwas auszulassen.
»Nun, alles begann im Februar, und ich war ganz neu in der Stadt …«
Vorgeschichte
Zwei wohlhabende Städte, Ivelynn und Beverly, sind durch eine undurchdringbare Finsternis voneinander getrennt. Die Einwohner wissen nicht viel über die Menschen in der jeweils anderen Stadt. In Ivelynn lebt Indigo, ein junger Freigeist, der sich fragt, was sich hinter den Stadtgrenzen befindet, aber jeder Versuch, in die Finsternis herauszutreten, endet damit, dass die Finsternis auf ihn abfärbt und er sich schnell wieder ins Licht zurück retten muss. Er findet heraus, dass man von weit oben über die Finsternis hinwegsehen kann. Viele Tage sitzt er auf dem Dach des höchsten Gebäudes von Ivelynn und sieht hinüber, fasziniert von den ganz anderen Farben, die in Beverly vorherrschen. Dann, eines Tages, entdeckt er eine junge Frau, Karmesin, und von da an ist er besessen von dem Wunsch, sie kennenzulernen.
Indigo setzt sich zum Ziel, erst Ruhe zu geben, wenn er einen Weg zu ihr gefunden hat.
Manchmal kam Leah ihr Leben irreal vor. Eigentlich immer dann, wenn sie es schaffte, zwischen der vielen Arbeit den Kopf zu heben, um sich im Alltag umzusehen. So wie jetzt in ihrer neuen Wohnung auf Zeit. Es würde ihrer Beziehung guttun, dass sie nun zwischen Frankfurt, wo sie mit Peer lebte, und Leipzig pendeln musste. Auf diese Weise bekam Peer nicht mehr mit, wie viele Überstunden sie anhäufte – oder dass sie jede davon gerne machte. Als ihr Vorgänger alles hingeschmissen hatte und gegangen war, hatte ihr Boss, Diplom-Ingenieur und Architekt Ludger Leonhardt, ihr persönlich den Posten angeboten. Von der Fachplanung in Frankfurt zur Bauleitung nach Leipzig, das war genau das, was sie machen wollte. Es bedeutete, mehr Verantwortung und tatsächlich auch dabei zu sein, wenn ein Gebäude entstand.
Dass sie dafür nach Leipzig musste, war zwar nicht geplant gewesen, aber das eine Jahr war ein überschaubarer Zeitraum. Nach der Schlüsselübergabe für das siebenstöckige Bürogebäude würde sie sich ihr Gepäck schnappen und wieder nach Hause fahren. Leah sah zum cremefarbenen Koffer, den sie noch nicht geöffnet hatte. Die Firmenwohnung war klein, aber dafür lag sie sehr zentral in der Innenstadt, keine zwanzig Gehminuten vom Büro entfernt. Die Möbel waren akzeptabel, auch wenn Weiß nicht Leahs Farbe war.
Seit Nadine Fröhlich sie am Bahnhof eingesammelt und bei der Wohnung abgesetzt hatte, befand sich Leah in einer Art Vakuum. Alles, was von ihrer Arbeit noch nicht abgeschlossen gewesen war, hatte sie an Kollegen übergeben, und die neue Arbeit begann erst am Montag. Das heute war ihr erster richtig freier Tag seit Jahren. Ein Zustand, den sie zuletzt vor ihrem Architekturstudium erlebt hatte. Inzwischen war sie vierunddreißig und sehr ungeübt im Nichtstun.
Nadine Fröhlich hatte angeboten, sie im Auerbachs Keller zum Essen einzuladen, aber Leah hatte freundlich abgelehnt. Die Kollegin war sehr nett, Leah freute sich auf die Zusammenarbeit, aber sie wollte alle Kontakte lieber unverbindlich halten. Außer Arbeit sollte nichts Platz in diesem Leben finden, weil ihr Zuhause in Frankfurt war. Ihr Freund hatte mehrfach betont, dass er sie nur ungern gehen ließ, aber sie wusste, dass er kaum Gelegenheit haben würde, sie zu vermissen. Peer war Musiker und Produzent und nutzte die Zeit wahrscheinlich intensiv für die Studioarbeit mit irgendwelchen Branchengrößen. Dafür saß sie nun in dieser stillen Wohnung und vermisste ihn.
Leah fiel das Buch ein, das sich in ihrer Handtasche befand. Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman. Sie hatte es vor ein paar Tagen auf einer Parkbank gefunden. Auf der ersten Seite stand, man solle nach dem Lesen einen Kommentar auf den letzten Seiten hinterlassen und es wieder aussetzen.
Das letzte Buch, das sie gelesen hatte, war Stolz und Vorurteil von Jane Austen gewesen – gefühlt zum hundertsten Mal, weil es ihr Lieblingsbuch war. So sah es inzwischen auch aus, weswegen sie es in der Regel nur aus dem Koffer nahm, um es auf den Nachttisch zu legen. Die Erstausgabe begleitete sie seit achtzehn Jahren überallhin.
Sie nahm die Tasche, ihren Mantel, sperrte mit dem neuen Schlüssel ihre Wohnung ab, ging die Stufen der drei Stockwerke runter und trat wenig später auf die Straße. Die kurze Autofahrt vom Bahnhof hierher hatte Leahs Neugierde geweckt. Das alte Astoria-Gebäude direkt neben dem Hauptbahnhof, das einst ein prachtvolles Hotel gewesen sein musste, stand leer und war heruntergekommen. Sprayer hatten die Fassade verschandelt. Es sah aus wie eine Ruine, in der die Geschichte glomm wie die Restwärme nach einem Feuer. Für die Chance auf die Sanierung des Astoria würde Leah glatt ein weiteres Jahr dranhängen. Leider hatte ein Berliner Architekturbüro vor Kurzem den Zuschlag bekommen, angeblich sollten die Bauarbeiten bald beginnen; dann konnte sie wenigstens zusehen, wie es zu neuem Glanz erwachte.
Die Gegend um ihre neue Wohnung war schön. In der kleinen Kehre am Ende der Straße befand sich ein Hochbeet mit Skulpturen, die jetzt im Winter hinter Holzbrettern versteckt waren, um sie vor der Witterung zu schützen. Durch ein Tor ging es weiter zu einem kleinen Park. Leah entschied sich für die andere Richtung.
Jemand hatte auf dem Straßenschild zwei Pünktchen über das o der Bosestraße gemalt. Mit einem Grinsen zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und machte ein Foto davon. Dann schlenderte sie weiter Richtung Zentrum. Es war 19 Uhr und schon lange dunkel, auf den Straßen und in den Fußgängerzonen herrschte reges Treiben. Letzte Einkäufe wurden getätigt, die Lokale füllten sich, Touristengruppen pilgerten durch die vielen Passagen der Messestadt. Leah hatte viel über Leipzig gelesen und eine lange Liste zusammengestellt, was sie alles sehen wollte, während sie hier war. Dazu gehörte auch der Auerbachs Keller, in den Nadine sie hatte einladen wollen.
Vor der Thomaskirche blieb Leah kurz stehen und sah zur Turmspitze hinauf. Mit Religionen konnte sie nicht besonders viel anfangen, aber die Bauwerke faszinierten sie. Besonders wenn sie daran dachte, wie alt viele von ihnen waren und wie mühselig das Erbauen gewesen sein musste. Diese spätgotische Hallenkirche war imposant. Der Turm war bestimmt siebzig Meter hoch, und der ungewöhnlich steile Neigungswinkel des Daches war eine spannende Besonderheit. Leah freute sich darauf, die Kirche von innen zu sehen, und hoffte, dass sie im Lauf des Jahres dort ein Konzert besuchen konnte.
Auf dem großen Marktplatz kreuzten sich die Wege der Abendschwärmer. Leah passierte ihn und entdeckte vor sich die Mädlerpassage. Das alte Messehaus mit der hohen Glasdecke und den mit Säulen verzierten Fassaden ließ sie begeistert einen Augenblick innehalten. Sie liebte die historisch geprägte Präsenz jener Bauwerke, die feste Bestandteile der Stadtgeschichte waren und sich von Neubauten nicht unterkriegen ließen.
Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. Wie viele Generationen von Häusern hier in Leipzig zusammenwohnten! Eine große WG, in die Ludger sie kurzerhand hineingesteckt hatte. Bei diesem Gedanken musste sie grinsen.
Ihr Boss war mehr als nur ihr Arbeitgeber. Von Anfang an nahm er die Rolle eines Vaterersatzes ein. Ihr eigener Vater hatte sich immer im Schatten ihrer Mutter bewegt. Als Ludger sie unter seine Fittiche genommen hatte, stolz auf ihre Leistungen war und mit wohlwollender Strenge ihren Werdegang beeinflusste, hatte sie erstmals erfahren, wie beflügelnd Anerkennung sein konnte. Im Gegensatz zu ihren Eltern nahm Ludger auch Anteil an ihrem Leben. Er mochte Peer, sagte sogar, Peer sei das musische Gegengewicht zu ihrer verkopften Lebensweise. Damit hatte er wahrscheinlich sogar recht, aber Leah analysierte nicht so gern, warum das Leben mit Peer funktionierte.
Sie machte ein Foto von der Passage, sodass im Vordergrund die Bronzefiguren von Mephisto und Faust zu sehen waren, um es später Ludger zu schicken, und sah sich weiter um. Passanten eilten am Smartphone redend oder auf das Display schauend vorbei. Touristen rieben über die Füße von Faust, machten Fotos oder sahen die Steintreppen zum Auerbachs Keller hinunter. In solchen Momenten konnte Leah die Zeit förmlich fühlen. Wie relativ alles wurde, wenn man einen Ort betrat, der seit einer halben Ewigkeit existierte. In ihrer Vorstellung ließ sie eine Art Zeitraffer ablaufen, wie Menschen kamen und gingen, sich die Schaufenster der Läden änderten, aber die Passage blieb immer gleich.
Deswegen hatte Leah damals Architektin werden wollen. Um etwas zu erschaffen, das sie überdauern würde, das von Bedeutung war und ihr sagte, dass es etwas gab, auf das sie stolz sein konnte. Mit der Bauüberwachung des Jager-Projekts kam sie ihrem Ziel wieder einen Schritt näher.
Leah ging nun ebenfalls zu den Bronzefiguren von Faust und Mephisto und legte bei jeder eine Hand auf den Fuß. Im Internet hieß es, dass es Glück brächte, den Fuß von Faust zu reiben. Die Schuhspitze war von unzähligen Berührungen bereits ganz golden geworden. Leah rieb über beide Füße, als kleine Anerkennung, dass der Teufel an diesem Ort etwas Einzigartiges geschaffen hatte. Er musste die Finger im Spiel gehabt haben, weil Leipzig wie ein geschickter Verehrer war, der ihr ins Ohr flüsterte, dass sie in dieser Stadt auch Sanierungen alter, wundervoller Gebäude leiten könne. Etwas, das sie noch mehr reizte als das Großprojekt, das ihr anvertraut worden war.
Sie trat neben den Sockel, auf dem die Figuren standen, lehnte sich über das Steingeländer und sah die Kellertreppe hinunter. Wahrscheinlich würde gegen eine Verabredung mit Kollegen nichts sprechen, wenn sie es als Arbeitsessen deklarierte und es nicht zu persönlich wurde. Nadine Fröhlich hatte auf der kurzen Autofahrt mit ihr geredet, als würden sie sich schon ewig kennen und beste Freundinnen sein. Ungewöhnlich war, dass es Leah nicht gestört hatte, wie das sonst der Fall gewesen wäre. Die neue Kollegin hatte eine erfrischend positive Ausstrahlung.
Vielleicht nächste Woche.
Die Gewölbe des Auerbachs Keller waren geschichtsträchtig und hatten seinerzeit schon Goethe zum Verbleib angelockt und ihn zu seinem Faust inspiriert. Leider war der große Saal derzeit geschlossen, weil das Parkett nach einem Wasserschaden erneuert werden musste.
Ein paar Meter weiter befand sich die Bar Mephisto, die mit zum Auerbachs Keller gehörte und von außen ebenso geschichtsträchtig wirkte. Leah trat durch die Tür und lächelte. Das war, was sie gesucht hatte: eine helle, gemütliche Bar mit Fotografien an den Wänden, Büchern auf dem umlaufenden Regal, einem gemalten Teufel über dem Kronleuchter an der Decke und einer Mischung aus Art déco und Gangsterehre der Fünfzigerjahre. Zwei Stufen führten an einer Seite der Bar zu einem Podest, auf dem Leah einen freien Tisch an der Wand ansteuerte. Keine zehn Leute saßen an den Tischen oder am Tresen. Leah legte ihre Sachen neben sich auf die Bank, schlug die Karte auf und las sich das Cocktailangebot durch.
Die Tür ging auf, und eine Gruppe setzte sich laut redend an einen der unteren Tische, ein einzelner Mann besetzte den Tisch neben ihr und ein Pärchen den am Fenster. Als habe Leipzig ein Einsehen mit dem Wirt gehabt und eine Handvoll Menschen in die Bar getrieben.
»Was darf ich Ihnen bringen?« Die rote Krawatte zum weißen Hemd und den schwarzen Hosenträgern warf in Leah die irrwitzige Frage auf, ob der Kellner wohl Charleston tanzen konnte.
»Einen Cosmopolitan bitte.«
»Sehr wohl.« Geschäftig ging der Kellner zum Nachbartisch und nahm auch dort die Bestellung auf. Irish Coffee, das war mal was anderes zu später Stunde. Leah warf einen Blick auf den Gast.
Der Mann las eine Zeitung, was ihn in seinem guten Anzug und mit der akkuraten, leicht von Grau durchzogenen Frisur wie für die Bar hindrapiert aussehen ließ. Als wäre er ebenfalls aus einer anderen Zeit. Dagegen sah Leah in ihrem schwarzen Businesskostüm eher deplatziert aus. Wie eine Brokerin, die sich auf dem Weg zur After-Work-Party verlaufen hatte. Um ihr Outfit wenigstens etwas aufzulockern, zog sie das Haargummi aus ihren glatten schwarzen Haaren.
Plötzlich donnerte es, als zöge ein Gewitter durch die Bar. Das Licht flackerte, Kunstnebel kam aus der Decke und umwaberte Mephisto, während über der Bar ein Bild wackelte und irgendwo der Teufel erschreckend laut lachte.
Die Stammgäste quittierten die Show mit einem Lächeln, die anderen Gäste lachten begeistert und teils erschrocken auf und sahen sich genauso erstaunt um wie Leah.
Gut, ich habe mein neues Stammlokal gefunden.
Zufrieden zog sie ihr Buch aus der Tasche. Der Ozean am Ende der Straße.
Peer hatte vor der Abreise gesagt, dass er ihre Meinung zu dem Buch wissen wollte, was ungewöhnlich war, weil sie ihn, solange sie ihn kannte, nur sehr wenige Bücher lesen gesehen hatte. Als sie es nun aufschlug und eine Karte herausfiel, ahnte sie, woher sein Interesse kam. Er musste die Karte in das Buch hineingeschmuggelt haben.
Leah hob sie auf, öffnete sie und las.
Liebe Leah,
du hast gesagt, ich solle dich niemals mit einem Antrag überraschen, bei dem du dich spontan entscheiden müsstest. Ich weiß, dass du glaubst, ein Trauschein sei für unser Zusammenleben nicht erforderlich. Aber jetzt sehen wir uns ein Jahr lang nur an den Wochenenden, an denen ich jedoch nicht die ganze Arbeit wegdrücken kann. Ich weiß, dass wir das locker schaffen, weil ich dich liebe. Heute weiß ich mehr als je zuvor, dass ich mit dir alt werden will. Der Rocker und die Powerfrau. Also, was sagst du? Reicht dir die Zeit bis zum Wochenende, um darüber nachzudenken? Willst du meine Frau werden?
Darunter standen drei Kästchen mit den Beschriftungen: Ja, Nein, Vielleicht.
»Bitte sehr, Ihr Cosmopolitan.« Der Kellner stellte den Drink vor ihr ab, drehte sich um und nahm ein langstieliges Glas mit dem Irish Coffee für den anderen Gast vom Tablett.
Heiraten? Überfordert mit dieser unerwarteten Frage, lauschte sie dem kurzen Wortwechsel, der sich um die Wohltat eines Heißgetränks bei diesem miesen Wetter drehte. Der Februar brachte eine unangenehme Kälte mit, und am heutigen Abend schien er Leipzig einfrieren zu wollen. Leider war das nur eine kurze Ablenkung, die nicht ausreichte, den Antrag auf der Karte wegzuschieben.
Leah trank von ihrem Cocktail und ließ Peers Worte auf sich wirken, aber ihr Bauchgefühl zeigte keine eindeutige Tendenz. Sie liebte Peer, das stand außer Frage, aber mussten sie deshalb heiraten? Sie hatte ihm mehrfach gesagt, dass sie es hassen würde, sollte er sie je mit einem Antrag in Verlegenheit bringen. Jedes Mal, wenn im Freundeskreis mit einer großen Geste ein Ja erzwungen wurde, hatte sie sich darüber ausgelassen, wie schrecklich sie das fände.
Romantik war etwas für Gefühlsmenschen, die über spontane Entscheidungen nicht hinausdachten. Es gab alte Fotos ihrer Eltern, die davon zeugten, dass sie vor Leahs Geburt ein paar schöne Momente miteinander gehabt hatten. Aber schon als Kind hatte Leah die Ehe ihrer Eltern unbewusst mit einem Gefängnis verglichen. Und später hatte sich dieses Bild verfestigt: Die Ehe war ein Konstrukt, aus dem keiner mehr ausbrechen konnte und deshalb seine Unzufriedenheit als unmoralischen Kompass einsetzte. Jeglicher Spaß wurde attackiert und vernichtet. Was bei ihren Eltern wohl ohne Trauschein passiert wäre? Wäre ihr Vater dann einfach gegangen? Eine Scheidung war nie infrage gekommen – eine Einstellung, die sie bis heute nicht verstehen konnte.
Weitere Gäste kamen und besetzten die restlichen freien Tische. Anscheinend war eine Veranstaltung in der Nähe zu Ende gegangen und entließ die Besucher nun in das Leipziger Nachtleben.
Am liebsten hätte Leah eine Umfrage gestartet, ob die Mehrheit eher Ja oder Nein auf ihrer Karte ankreuzen würde, was bescheuert war, weil niemand sie oder Peer kannte, aber sie fühlte sich nicht in der Lage, die Entscheidung allein zu treffen.
Überhaupt hasste sie diese Frage. Willst du meine Frau werden?
Einmal gestellt, konnte man diese Worte nicht mehr zurücknehmen. Sagte sie Ja, würde sich alles nur noch um die Vorbereitungen der Hochzeit drehen. Sagte sie Nein, würde er enttäuscht sein, was sich sicherlich als fetter Schatten über ihr Zusammenleben legte. Und niemand kreuzte Vielleicht an, weil sie keine pickeligen Teenager mehr waren, die sich mit so etwas abspeisen ließen.
Dann eben Ja, dachte sie, holte einen Kugelschreiber aus der Tasche und setzte ihn in einer Ecke des Ja-Kästchens an. Diese Entscheidung musste sie jetzt treffen, weil Peer irgendwann danach fragen würde und sie ihn dann nicht mit Gestammel enttäuschen wollte. Sie waren seit zwei Jahren ein Paar, hatten Spaß miteinander und gaben einander den Freiraum, den jeder brauchte. So verschieden sie waren, das gemeinsame Leben fühlte sich schön und sicher an.
Aber als Leah das Kreuz ziehen wollte, kam keine Farbe aus der Mine. Die kleine Kugel an der Spitze drückte lediglich eine dünne Vertiefung in die Pappe, mehr passierte nicht.
Sie sah zur Seite, wo der Mann die Zeitung umblätterte.
»Verzeihung, haben Sie einen Kugelschreiber?«
Er sah nicht mal zu ihr hin. »Und was noch? Meine E-Mail-Adresse? Oder Telefonnummer?«
Perplex hob sie die Augenbrauen. Entweder wurde dieser Mann unverhältnismäßig oft gestört, oder er war einfach unfreundlich.
»Ein Kugelschreiber würde mir wirklich reichen.«
Er seufzte und sah sie endlich an. Als er die Karte auf ihrem Tisch bemerkte, entspannten sich seine Gesichtszüge. »Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie wären eine von den Musikstudenten.« Sie nahm es als Kompliment, dass er sie noch für so jung hielt; wenn sie sich die anderen Gäste ansah, war diese Annahme wahrscheinlich gar nicht so abwegig.
Er langte unter sein Jackett und zog einen Montblanc-Füller hervor. »Bitte sehr.«
Leah hob abwehrend die Hände. »Füller verleiht man nicht, das ist wie mit Büchern.«
»Tatsächlich? Warum? Es ist doch nur ein Füller.«
Leah hütete drei Dinge wie die wertvollsten Schätze auf der Welt. Das waren ihr Füller, der einen festen Platz in ihrer Aktentasche besaß, die besagte Erstausgabe von Stolz und Vorurteil und der schmale Brillantring ihrer Großmutter, den sie am rechten Ringfinger trug.
»Es ist ein Montblanc.«
»Ach, das ist auch nur Plastik mit etwas Edelstahl. Nehmen Sie schon.«
Sie nahm den Füller entgegen und drehte ihn zwischen ihren Fingern. »Das ist kein Plastik, sondern Edelharz. Er hat eine Goldfeder und eine individuelle Nummer, hier, sehen Sie?« Leah hielt dem Fremden seinen Füller hin und deutete auf den Goldring in der Mitte. »Wenn Sie viel damit geschrieben haben, ist die Feder auf Ihre eigene Stifthaltung und Schreibweise eingeschrieben. Es spricht für Sie, dass Sie anscheinend keinen Wert auf Statussymbole legen, aber etwas Wertschätzung für dieses gute Stück wäre angebracht.«
»Wie kommt es, dass Sie so viel über Montblanc-Füller wissen?« Er nahm den Füller wieder entgegen und steckte ihn ins Jackett zurück. Dabei fiel Leah der Ehering auf, den er am Finger trug.
»Ich habe als Jugendliche in den Ferien mein Taschengeld mit einem Handlangerjob in der Werbeagentur aufgebessert. Eine Woche lang habe ich Ausdrucke zurechtgeschnitten und Bristolkarton mit Montblanc-Anzeigen beklebt. Dabei habe ich ein bisschen was aufgeschnappt … Manches vergisst man eben nicht.«
Der Mann grinste. Er war älter als sie, wahrscheinlich Mitte vierzig. Er strahlte Selbstsicherheit und gleichzeitig Zurückhaltung aus. Seine Kleidung wirkte hochwertig, aber nicht extravagant. Im Grunde war von Schürzenjäger bis Philanthrop alles möglich. Nur dass er sich nicht wie ein Schürzenjäger benahm. Mit seinen wachen Augen sah er sie interessiert an – vielleicht hatte ihm gefallen, was sie gesagt hatte.
»Nun, dann tut es mir leid, dass ich Ihnen nicht behilflich sein kann«, sagte er bedächtig und widmete sich wieder der Zeitung.
Leah zuckte mit einer Schulter. »Ich sehe es als Zeichen, die Sache später zu erledigen.«
Sie legte die Karte in das Buch zurück. Manche Entscheidungen durften nicht mit dem Kopf gefällt werden. Bis zum Telefonat mit Peer würde sich das Bauchgefühl hoffentlich eindeutiger äußern. Nein, es sollte sich eher umorientieren, weil es sich im Grunde sehr deutlich gegen die Ehe aussprach.
Leah wollte Peer nicht heiraten, weil es das Richtige war oder weil sie schon so lange zusammenlebten, sondern weil sie aus tiefster Überzeugung den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte. Das Problem war, dass die Zukunft für sie ein schwammiges Nichts war. Privat dachte sie nie über die nächsten Wochen hinaus. Ihr Planungsgeschick setzte sie für Dinge ein, die auch tatsächlich planbar waren. Wie für ihre Arbeit, Finanzangelegenheiten oder Urlaube. Es war schwer genug, die Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu meistern und die eigenen Bedürfnisse irgendwie mit allem in Einklang zu bringen. Sie war nicht bereit, sich in ein Kleid zu zwängen und ein Versprechen zu geben, das sie vielleicht gar nicht halten konnte. Ähnliches galt auch für Peer. Er war Musiker, was mit Impulsivität, Leidenschaft und euphorischen Bekanntschaften einherging. Ihre Beziehung kam ihr wie ein gemeinsames Leben auf Zeit vor, das schöner kaum sein konnte.
Sie nahm das Buch zur Hand und schlug die erste Seite auf. Sie hoffte, dass die Geschichte sie genug ablenken würde, aber ihre Gedanken schweiften schon nach wenigen Sätzen immer wieder ab, sodass sie das meiste mehrfach lesen musste. Nach ein paar Minuten schob sie es frustriert von sich und widmete sich lieber voll und ganz dem Cocktail.
Dass sie nichts zu tun hatte, kam in ihrem Leben so gut wie nie vor, und so breitete sich Peers Antrag ungehindert in ihrem Kopf aus. Leah hatte nichts, was sie dagegen tun konnte. Selbst wenn sie in ihre kleine Wohnung zurückgehen und ihren Koffer auspacken würde, warteten danach noch Stunden des Gedankenkarussells, bis sie endlich einschlafen könnte.
Sie sah zur Seite und betrachtete erneut den Mann mit dem Füller. Er hatte diese typischen Wangenfalten, die sich vertieften, wenn man lachte. Die dunkelbraunen, von Grau durchzogenen Haare waren recht kurz, mit einem Pony, der leicht zerzaust aussah, weil er sich wahrscheinlich öfter mit der Hand an die Stirn fasste. Ein sympathischer Mann, der wahrscheinlich Professor an der Uni war – warum sonst sollten Musikstudenten ihn in einer Bar ansprechen?
Bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie ihn in tiefen Gedanken störte, wandte sie sich erneut an ihn: »Dürfte ich Ihnen eine ungewöhnliche Frage stellen?«
»Sie meinen, noch eine? Die Bitte um Erlaubnis für eine ungewöhnliche Frage ist schon ungewöhnlich an sich.« Ja, Musikprofessor passte perfekt zu dem Mann.
Sie neigte amüsiert den Kopf als Andeutung einer Verbeugung. »Touché.«
»Bitte, fragen Sie«, forderte er sie auf.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich zu mir zu setzen und mit mir über Dinge wie Füller weiterzureden?« Diese Idee war so spontan, dass Leah sich beim Sprechen schrecklich albern vorkam. »Also nur über die einfachen Dinge des Lebens, mehr nicht.«
»Sie meinen: nicht darüber, wer ich bin oder wer Sie sind, warum Sie den Kellner nicht nach einem Kugelschreiber fragen oder andere persönliche Sachen?«
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Ja, genau das. Ein Gespräch, ohne etwas Persönliches von sich zu verraten«, antwortete sie und machte eine einladende Handbewegung.
Er nahm seinen Irish Coffee an der Untertasse, wechselte den Platz und hielt ihr eine Hand entgegen. »Ein sehr willkommener Vorschlag, etwas Zerstreuung wäre schön.«
»Finde ich auch«, sagte sie.
Seine Hand war angenehm warm und kräftig. Doch in dem Augenblick, als Leah ihn ansah, passierte etwas, das sie vollkommen sprachlos machte. Es hätte donnern oder der Teufel lachen müssen – auf einmal schlug ihr Herz rasend schnell. Sie hielt seine Hand ein paar Sekunden zu lange fest. Die Art, mit der er ihren Blick erwiderte, sagte ihr, dass auch er es gespürt hatte. Wie eine elektrische Entladung, die erst endete, als sie den Kopf senkte und ihre Hand zurückzog. So etwas hatte sie noch nie erlebt, was irritierend und aufregend zugleich war.
»Wie wäre es, wenn wir uns Namen geben, etwa Johnny und June?«, sagte sie schnell. »Ich mag es lieber, wenn mein Gegenüber einen Namen hat.«
»Das ist die beste Idee, die ich heute gehört habe – und glauben Sie mir, ich musste viele hören.« Er tippte auf die Untertasse und wiederholte die Namen. »Johnny und June.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass er die Namenswahl durchaus missverstehen könnte. »Damit meine ich selbstverständlich nicht, dass wir dieses berühmte Paar nachspielen sollen. Ich bin –«
Er hob bittend eine Hand, was sie mitten im Satz innehalten ließ. »Johnny Cash und June Carter waren herausragende Künstler, ich denke, das, was sie miteinander verband, kann man nicht nachspielen.« Er nahm sein Glas in die Hand wie zum Toast. »Ich kann mir vorstellen, was Sie mir gerade sagen wollten, aber das ist nicht notwendig … Auf unsere Namenspaten und die einfachen Dinge des Lebens.«
Sie nahm ihr Glas und nickte zustimmend, dann tranken sie je einen Schluck.
»Sie haben also den Film Walk the Line gesehen? Ich meine ja, Sie sind ein wenig zu jung für diese Musik.« Zwischen ihnen mochten gut zehn Jahre liegen, was reichte, um in einer gänzlich anderen Zeit groß geworden zu sein.
»In den letzten Jahren hat sich mein musikalischer Horizont sehr erweitert. Ich bin ein regelrechter Songtext-Junkie geworden. Meine Favoriten sind die Werke von Johnny Cash, und natürlich auch von Tom Petty und Bob Dylan. Es ist faszinierend, was für ein Kunstwerk ein Song sein kann. Angefangen bei der Komposition bis zum Text, der bestenfalls eine Geschichte erzählt oder Emotionen in Worte kleidet.«
Johnny fasste sich an die Stirn und strich über den Haaransatz. »Das ist mal eine angenehme Abwechslung. Die meisten Menschen hören gar nicht richtig hin.«
»Ich weiß. Sie singen Songs wie Horny oder Sweat lauthals mit, ohne zu wissen, was sie da gerade von sich geben. Ich meine, wären die Texte auf Deutsch, würde keiner singen: ›Mädchen, ich will dich zum Schwitzen bringen, schwitzen, bis du nicht mehr schwitzen kannst.‹« Songtexte waren eines ihrer Lieblingsthemen. Seit Peer sie durch seine Arbeit und Leidenschaft in die Welt des Songwritings eingeführt hatte, war sie regelrecht verliebt in einige Texte. »Oder Copacabana«, fuhr sie fort. »Jeder kennt den Refrain, singt ihn fröhlich mit, aber was für eine todtraurige Geschichte erzählt wird, wissen die wenigsten.«
Es war gar nicht so einfach, ein Gespräch zu führen, ohne etwas über sich zu verraten. Der typische Small Talk über »Was machen Sie hier in Leipzig?«, »Sind Sie öfter hier?« oder »Was arbeiten Sie?« fiel weg. Gleichzeitig kam es ihr so vor, als öffnete sich dadurch eine ganz andere Tür, hinter die sie noch nie geschaut hatte.
Johnny nickte begeistert. »Wie wahr. Ich bewundere Künstler, die komplexe Gedanken zu außergewöhnlichen Songtexten verdichten können. Mir hingegen fällt es schwer, einen Brief zu schreiben, der den Empfänger nicht schon nach der Begrüßung langweilt.«
Das konnte sich Leah nicht vorstellen, sie fand ihren kurzen Wortwechsel bereits unsagbar spannend. Verlegen sah sie zur Seite und entdeckte in der Mitte der Bar ein Klavier. »Es ist wirklich schade, dass heute keine Livemusik gespielt wird.«
Er sah kurz über die Schulter. »Doch, das geht immer erst um 21 Uhr los.«
Leahs Armbanduhr zeigte 20:39 Uhr an, so lange wollte sie auf jeden Fall noch bleiben.
»Warum eigentlich Das Mephisto?«, warf sie einen anderen Gedanken ins Gespräch. »Ich meine, bezieht sich der Artikel auf das Bar, das Teufel oder das Lokal?«
Nun lachte Johnny, was warm und sympathisch klang. »Die Mephisto ohne Bar würde sich wohl zu seltsam anhören. Ich habe mir noch nie Gedanken drüber gemacht, weil alle immer ins Mephisto gehen. So geht es also Leuten, die Songtexte nicht beachten, obwohl sie Teile davon mitsingen.«
Leah stimmte in sein Lachen ein. In Johnnys Gesellschaft empfand sie eine angenehme Gelassenheit, während gleichzeitig eine kitzelnde Aufregung in ihr loderte.
Leah war schon öfter in jemanden verliebt gewesen, aber diese Begegnung fühlte sich anders an. Irgendwie gesetzter, als säße sie mit jemandem am Tisch, mit dem sie schon ihr Leben lang verbunden war. Deswegen würde sie ihm auch nicht ihre Nummer geben. Verlieben ging schnell, dafür setzte man nicht gleich seine Beziehung aufs Spiel. Vor allem, da der Auslöser für diese irritierenden Gefühle eine dämliche Karte war. Sie war sich sicher, dass ihr Herz nur deshalb in der Nähe des Fremden so klopfte, weil der Antrag Fluchtgedanken in ihr ausgelöst hatte. Als müsste sie sich selbst beweisen, dass sie sich auf keinen Fall fest binden dürfe.
Leah mochte dieses Kribbeln und das Gefühl, für andere interessant zu sein, ohne es darauf anzulegen. Es waren kleine Begegnungen, die ihr ein Lächeln schenkten – mehr nicht.
Sie redeten weiter über kleine Alltagskuriositäten und unnützes Wissen, wie zum Beispiel, dass die Angst vor der Hölle Stygiophobie hieß.
Dann kamen ein Pianist und ein Geiger und begannen zu musizieren. Als Erstes spielten sie Mack the Knife, was Leah an ihre Kindheit denken ließ. Das war eine der wenigen Melodien, die sie neben Mary hat ein kleines Schaf und Bruder Jakob auf dem Klavier spielen konnte. Für ihre Mutter war Leah eine riesige Enttäuschung gewesen, weil sie absolut kein Talent fürs Musizieren besaß. Ebenso wenig fürs Ballett oder diverse Sportarten. In ihrem Elternhaus standen keine Pokale, und keine Urkunden oder Medaillen hingen an den Wänden. Eine Siegerurkunde in dreizehn Schuljahren – Leah selbst hatte außer der Liebe und Anerkennung ihrer Mutter niemals etwas vermisst.
»Was hören Sie noch für Musik?«, sagte Johnny und holte sie mit seiner Frage zurück in die Gegenwart.
»Nun, alles, würde ich sagen. Allerdings mit Einschränkungen. Und Sie?« Seinem Aussehen nach tippte sie auf Klassik, vielleicht noch Jazz oder Funk. Anscheinend deutete er ihren Blick genau richtig.
»Was denken Sie denn, was ich am liebsten höre?«, forderte er sie amüsiert heraus.
Verlegen zog sie die Schultern an. »Keine Ahnung, Klassik vielleicht?«
Mit einem Grinsen breitete er die Arme aus und sah an sich hinab. »Was das betrifft, laufe ich wohl herum wie ein offenes Buch.«
Leah winkte ab. »Sie haben vorhin von Musikstudenten gesprochen. Ich habe nur eins und eins zusammengezählt.«
Er nickte anerkennend. »Sie sind eine gute Zuhörerin. Aber es wird Sie überraschen, dass ich auch gern Metal und Rock höre. Mit den Radiocharts kann ich nicht so viel anfangen.«
Es war schwer vorstellbar, dass dieser vornehm gekleidete Mann irgendwo saß und Metal hörte. »Welche ist Ihre Lieblings-Metalband?« Diese Frage musste sie einfach stellen, obwohl es nicht sehr nett war, dass sie ihn testete. Wenn er Metallica sagte, sprach es dafür, dass er einen bekannten Namen heranzog.
Einen solchen Schwindel, selbst wenn er sich damit interessanter machen wollte, würde sie ihm durchgehen lassen. In einer Stunde musste sie eh spätestens gehen.
»Blind Guardian«, sagte er, ohne lange zu überlegen. »Ich finde die Idee sehr interessant, Stücke zu bekannten Romanen zu komponieren. Übergreifende Kunst begeistert mich.«
Übergreifende Kunst. Das war nun auch etwas Neues, auf das sie zukünftig mehr achten würde. Sosehr sie es sich gewünscht hatte: Dieser Mann war keine Mogelpackung, was die Unverbindlichkeit langsam beiseitedrückte.
Wenn das Jahr um war, wollte sie in Leipzig die Zelte abbrechen können, ohne leere Versprechungen zurückzulassen. Nun saß dieser Mann vor ihr und weckte in ihr den Wunsch, dieses Gespräch möge nicht das letzte sein. Selbst wenn sie nur Freunde blieben, würde dadurch vieles komplizierter werden. Deshalb musste sie eisern bleiben, bis sie gegangen war.
»Oje, habe ich Sie aus dem Konzept gebracht?« Er trank den letzten Schluck seines Irish Coffee.
»Tut mir leid, ich schätze, ich bringe mich selbst ständig aus dem Konzept«, antwortete sie ausweichend.
»Also gehören Sie zu den Menschen, deren Kopf niemals Ruhe gibt?« Mit einer Hand schob er das leere Glas zur Seite und stützte sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab.
»Ja, das kann ich wohl nicht leugnen. Die Assoziationen kommen ganz von allein, und am Ende muss ich meine Gedanken ganz woanders einsammeln.«
Leah sah auf seine Finger und fragte sich, ob sie bei der Verabschiedung noch einmal dieses Kribbeln verursachen würden. Solange nichts Schlimmeres passierte und Peer nichts davon wusste, war es nur ein kleiner Energieschub für ihr Ego.
»Oh, ist das nicht Steuermann?«, sagte sie, als sie das nächste Stück hörte.
»Das stimmt. Steuermann, lass die Wacht aus Der fliegende Holländer. Die wenigsten Menschen erkennen dieses Stück an den ersten Noten. Gehen Sie gern in die Oper?«
Es wunderte sie nicht, dass er den Titel des Stücks komplettierte und den Namen der Oper anfügte. Ihr letzter Opernbesuch war nur einen Monat her. »Eigentlich schon, aber ich mag nicht, was die meisten Intendanten aus den alten Stücken machen. Ich meine, da hat man den schönen, klassischen Gesang und dann ein Bühnenbild, das innovativ und interpretationskreativ sein soll, aber am Ende doch alles ruiniert.« Das war etwas, das Leah tatsächlich ärgerte. »In der Regel sitze ich mittig auf dem Rang und habe die meiste Zeit die Augen geschlossen. Also wenn ich nicht gerade die Übersetzungen über der Bühne mitlesen muss.«
»Dann verpassen Sie aber das Beste«, sagte er gespielt entrüstet.
»Das Beste ist für mich das Klangerlebnis, das entsteht, wenn Profis mit ihren außergewöhnlichen Talenten zusammenarbeiten. Manchmal gucke ich auch nur den Musikern zu, wenn mich das Bühnenbild aufregt.«
Johnny verlagerte das Gewicht auf einen Unterarm und zeigte mit seinem Grinsen, dass es ihm Vergnügen bereitete, dieses Thema zu vertiefen. »Vielleicht haben Sie die Intention des Bühnenbildes nur nicht verstanden?«, hielt er provokant dagegen.
»Meine Eltern haben nur Klassik und besonders ihre Lieblingsopern gehört. Ich bin mit Verdi, Wagner und Puccini aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, haben sie mich erstmals mit in die Oper genommen. Es war Rheingold gewesen. Schwere Kost für ein kleines Mädchen, aber da ich die Stücke in- und auswendig kannte, war das Geschehen auf der Bühne das Eindrucksvollste, was ich in meiner gesamten Kindheit gesehen hatte.« Ihr fiel auf, dass sie nun doch etwas Persönliches über sich erzählte, aber das sagte ja noch lange nichts darüber aus, wer sie war.
»Meine Familie wohnt im Norden, wenn ich sie besuche, gehen wir an einem Abend immer in die Staatsoper. Aber was soll ich sagen? Dort wurde Othello von einem weißen Sänger gespielt, der darüber sang, wie es sei, schwarz zu sein, bis er dann endlich auf einem Baukran verendet ist. Madame Butterfly soll sich ihr Kind nur eingebildet haben, das von einer Puppe dargestellt wurde. Am Ende wurde die Puppe umgestoßen, und der Kopf rollte über die Bühne. Sorry, aber der Gesang war so fantastisch, das Orchester zum Niederknien – da ist es besser, die Augen zu schließen. Von der Muse im Rollstuhl rede ich gar nicht erst.«
Johnny dachte nach, was wieder zu dem Tippen gegen die Untertasse führte.
»Ich verstehe nur nicht, warum man keine neuen Opern wählt, wenn man unbedingt was Modernes inszenieren will«, ergänzte sie, um ihre Aussage etwas zu mildern.
»Eine Freundin würde jetzt ein berühmtes Zitat wiederholen: ›Es geht nicht um die Anbetung der Asche, sondern um die Weitergabe des Feuers.‹ Neue Interpretationen sind der respektvolle Umgang mit großen Werken, die eben nicht in Stein gemeißelt wurden, um immer gleich auszusehen.«
Das Zitat war gut. »Aber trotzdem verbindet man mit den bekannten Opern gewisse Erwartungshaltungen.«
»Das stimmt«, sagte er. Und so wie er sie dabei ansah, genoss er dieses Gespräch genauso sehr wie sie. »Das Problem sind die Klischees, die diesen Erwartungshaltungen zugrunde liegen. Die Themen sind zeitlos, weil es um Liebe, Macht oder Verrat geht. Weswegen sollten die Inszenierungen diese Zeitlosigkeit nicht nutzen, um sie dem Heute etwas anzupassen?«
»Nun, weil die Zuschauer sich auf romantische oder pompöse Bühnenbilder freuen und enttäuscht sind, wenn da plötzlich nur ein Baukran steht? Die Themen mögen zeitlos sein, aber die Opern sind alt und wurden nun mal so geprägt«, hielt Leah dagegen.
»Sie meinen, so wie nur alte, reiche Snobs die Oper besuchen?«
Nun musste sie grinsen. »Wissen Sie was? Ich werde bei meinem nächsten Opernbesuch versuchen, meinen Kopf gänzlich von Erwartungshaltungen frei zu machen, um mich unvoreingenommen auf die Inszenierung einzulassen. Sollten wir uns danach noch einmal wiedersehen, dann sage ich Ihnen, ob es für mich einen Unterschied gemacht hat.«
»Sie sollten hier in Leipzig in die Oper gehen, nächste Woche läuft Nabucco, die Inszenierung ist wundervoll.«
Sie betrachtete ihn und musste grinsen. Vielleicht arbeitete er auch in der Oper, möglicherweise als Musiker. Für einen Sänger war er zu introvertiert. Sie hatte schon viele Kreative in ihrem Leben kennengelernt. Es gab da diese unsichtbare Anziehungskraft, die auch jetzt wieder funktionierte.
»Das klingt gut, ich liebe Nabucco. Vielleicht schaffe ich es ja in eine Vorstellung. Ganz unvoreingenommen und offen für alles, was kommen mag.«
»Dann erzählen Sie mir, wie Ihnen die Oper gefallen hat, ja?«, sagte er und winkte den Kellner an den Tisch. »Möchten Sie noch etwas?«
Leah sah auf ihren Drink, den sie erst zur Hälfte getrunken hatte. »Nein, danke, nach diesem hier muss ich los.«
Er bestellte einen Whiskey Sour. »Glauben Sie an Schicksal?«, fragte er unvermittelt, als sie wieder alleine waren.
»Keine Ahnung. Ich denke, Dinge werden dann zur Tatsache, wenn sie passieren, weswegen es keine Rolle spielt, ob eine höhere Macht sie geplant hat.«
Johnny musste lachen. »Ich würde Ihnen gerne etwas vorspielen, aber mir ist bewusst, wie plump dieser Wunsch im gängigen sozialen Kontext erscheinen muss. Also, wie kann ich Ihnen beweisen, dass meine Absichten rein musikalischer Natur sind?«
Es war schwer, in seinen Augen zu ergründen, ob sich die Situation langsam in einen Flirt verwandelte. Wenn Männer beteuerten, keinerlei Hintergedanken zu haben, ging es meistens doch in eine unerwünschte Richtung.
»Die Musiker machen gerade Pause, zeigen Sie es mir hier, wenn es tatsächlich musikalischer Natur ist.« Bestimmt würde Johnny niemals auf diese Herausforderung eingehen. Bis jetzt war ihr Zusammentreffen geistreich gewesen; mit diesem guten Gefühl wollte sie zeitnah gehen.
Johnny drehte sich zum Klavier um. »Ich habe lange nicht vor Publikum gespielt, aber warum nicht.«
Zu ihrer Überraschung stand er auf, ging zum Barkeeper hinüber, der nach wenigen Worten die Musik ausschaltete, die er gerade erst angemacht hatte. Er freute sich offensichtlich über die spontane Einlage und kündigte stolz die Livemusik an, ohne jedoch Johnnys Namen zu nennen.
Leah nahm an, dass er ausdrücklich darum gebeten hatte. Eine Stimme in ihr fing an, Fragen über ihn zu stellen, die immer zahlreicher wurden. Wie ein großes Geschwisterkind, das so lange am Kinderwagen spielte, bis das Baby wach wurde und Hunger bekam.
Johnny setzte sich routiniert an das Klavier, legte seine Finger auf die Tasten und schloss die Augen. Die Musiker, die an der Bar etwas tranken, machten es sich gemütlich und sahen interessiert zu.
Dann spielte er.
Was leise begann, mündete in Höhen und Tiefen einer Geschichte, die gänzlich ohne Worte erzählt wurde. Wie durch einen Sog wurde etwas tief in Leah in Bewegung versetzt. Sie fühlte Sehnsucht, Leidenschaft und Fernweh.