Hans-Ulrich Grimm

Gummizoo macht Kinder froh, krank und dick dann sowieso

Kinderernährung – was gut ist und was schädlich

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Hans-Ulrich Grimm

Dr. Hans-Ulrich Grimm ist Journalist und Autor, er lebt in Stuttgart. Seine jahrelangen Recherchen in der Welt der industrialisierten Nahrungsmittel bewegten ihn, sämtliche Erzeugnisse von Nestlé, Knorr & Co aus den Küchenregalen zu verbannen, zugunsten frischer Ware von Märkten und Bauern. Seine Erkenntnis: Genuss und Gesundheit gehören zusammen.

Grimms Bücher sind Bestseller. Allein »Die Suppe lügt« ist in einer Gesamtauflage von über 250 000 Exemplaren erschienen und gilt mittlerweile als Klassiker der modernen Nahrungskritik.

Impressum

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2017 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Nadine Lipp

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic/shutterstock

ISBN 978-3-426-42596-1

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Am Sonnabend fraß sie sich durch

ein Stück Schokoladenkuchen,

eine Eiswaffel,

eine saure Gurke,

eine Scheibe Käse,

ein Stück Wurst,

einen Lolli,

ein Stück Früchtebrot,

ein Würstchen,

ein Törtchen

und ein Stück Melone.

An diesem Abend hatte sie Bauchschmerzen!

Eric Carle: Die kleine Raupe Nimmersatt

Warum Babys schon wissen, was gut für sie ist

Kapitel 1, in dem ein Kind der Chef ist, und die Erwachsenen müssen folgen

Warum bloß treten schon kleine Kinder in den Hungerstreik? / Die irren Tipps der tollen Berater: Gummibärchen zum Abnehmen! / Auch Opa González hat als Kind kein Gemüse gegessen / Die Löwenbabys und auch das kleine Nashorn: Alle Tiere wissen, was gut für sie ist / Vollkorn sollen Kinder essen – auch unter Schmerzen? / Bitte nicht stören! Kind isst!

Beim kleinen Abraham hat alles super geklappt mit dem Essen. Und das, obwohl ihm niemand dabei geholfen hat. Oder besser: weil ihn keiner gestört hat. Er hat ganz einfach selbst ausgesucht, was er essen wollte. Haferflocken. Ananas. Und vieles andere. Milch hatte er am liebsten. Und er hat sich wunderbar entwickelt.

Unglaublich, aber wahr: Der kleine Abraham hat im zarten Alter von kaum einem Jahr genau gewusst, was das Richtige für ihn ist. Und bei den anderen Kindern war es genauso.

Viele Eltern aber sind der Verzweiflung nah. Weil das Kind nicht das Richtige isst. Oder, noch schlimmer: weil es gar nichts essen mag. Weil es, sozusagen, in den Hungerstreik tritt. Internetforen sind voll von Elternrufen: »Hilfe, mein Kind isst nicht!« Manche dieser Eltern kommen in die Klinik oberhalb des bayerischen 70 000-Einwohner-Städtchens Landshut, schön gelegen zwischen einer Wohnsiedung mit properen Einfamilienhäuschen, Wiesen und dem Waldrand: das Kinderkrankenhaus St. Marien.

Hier hat sich sogar ein ganzes Team auf solche Fälle spezialisiert. Zuständiger Oberarzt ist Harald Engelhardt. Er ist Kindergastroenterologe, also für den Verdauungstrakt zuständig. Er sieht sportlich aus, trägt einen tadellos gebügelten weißen Kittel, spricht mit sympathischem bayerischen Akzent.

»Die wichtigsten Dinge im Leben«, sagt Oberarzt Engelhardt, »funktionieren letztlich intuitiv und instinktiv. Und dazu gehört das Essen.«

Und heutzutage? Anscheinend funktioniert plötzlich überhaupt nichts mehr intuitiv und instinktiv. Das Kind ist kaum auf der Welt, da hat es schon eine Krankheit mit Code-Nummer: ICD-10 F98.2. Fütterstörung im frühen Kindesalter. Nur selten gibt es körperliche Ursachen.

In Wahrheit hat das Kind keine echte Krankheit. Es ist nur so, dass sich einfach zu viele eingemischt haben. »Ich bin der Überzeugung«, sagt Oberarzt Engelhardt, »dass die Mutter sicher sein muss, vom Gefühl her, nicht nur vom Kopf, sondern vom Gefühl her, dass sie das kann, dass sie die Person ist, die das Kind am besten füttern kann. Und je mehr da reingeredet wird, von außen, desto schwieriger wird es.«

Und mittlerweile reden viele rein: »Da kommen gute Ratschläge, von den Schwiegereltern. Oder anderen Müttern. Auch vom Kinderarzt vielleicht.« Die ganzen Experten. Und nicht zu vergessen: die Werbung, etwa in den Elternzeitschriften. Der alte Herr Hipp, der sagt, die Mütter könnten keinen Brei kochen, das könnten nur er und seine Firma (siehe Kapitel 2).

Es kommt einiges zusammen und »das erzeugt eine Unsicherheit und greift Mütter in ihrer ureigensten mütterlichen Grundkompetenz an: Ich kann mein Kind ernähren, zum Gedeihen bringen. Was Schlimmeres kann man der Mutter wahrscheinlich gar nicht antun, als zu sagen, du bist nicht in der Lage, das zu machen.«

Die Fütterstörung ist ein Symptom für den Umgang mit unseren Kindern. Da ist, in einem ganz existenziellen Bereich, ein Störfall aufgetreten: bei der Ernährung. Bisher hat alles ganz zwanglos geklappt, intuitiv und natürlich.

Eigentlich ist ja alles darauf angelegt, dass es klappt. Essen macht Spaß, schon das Baby weiß genau, was zu tun ist. Es ist lustig und freut sich.

Und hinterher sind alle schön satt und zufrieden. Auch später, wenn sie schon größer sind. Das Essen steht im Zentrum des Lebens, und natürlich auch das Trinken. Mehrmals täglich. Das pure Vergnügen. Alles ist darauf angelegt, die Reflexe beim Baby, die Stimulierung der Hirnregionen, die fürs Vergnügen zuständig sind, die Glückshormone, die dort produziert werden, wo das Essen landet, im Verdauungstrakt. Also: eigentlich ein perfektes System, das auch dafür gesorgt hat, dass die Menschheit überlebt hat, über Jahrtausende. Jetzt werden schon Kinder chronisch krank.

Beim kleinen Abraham war das alles noch gar kein Problem. Beim ihm gab es auch keine Störelemente. Es gab genau genommen niemanden, der fürs Füttern zuständig gewesen wäre. Nicht einmal seine Mutter, auch keine Schwiegermutter oder irgendwelche Experten.

Er war Teil einer Versuchsanordnung. Und: Er war dabei sozusagen der Chef. Dabei hatte er bis dahin nicht viel Ahnung vom Essen oder vom Leben überhaupt. Er war erst acht Monate alt. Und dennoch konnte er offenbar schon klare Anweisungen geben.

Er bekam jeden Tag ein Tablett mit diversen Speisen vorgesetzt, und er konnte aussuchen, worauf er Lust hatte. Er musste nur auf ein Schälchen deuten, und schon erfüllte das Personal seinen Wunsch. Das war ausdrückliche Vorschrift in dieser Versuchsanordnung. Kein Erwachsener durfte den Kindern erklären, was sie sich aussuchen sollten: »Die Anweisung an die Krankenschwestern lautete, sie sollten ruhig sitzen, den Löffel in der Hand, und sich nicht bewegen«, berichtete die Studienleiterin.

Und, was soll man sagen: Es hat funktioniert. Abraham entwickelte sich völlig normal. Er hatte keinerlei Mangelerscheinungen, war weder zu dick noch zu dünn. Abraham ist ein Musterbeispiel, wie es ganz zwanglos funktionieren kann – wenn es ungestört läuft. Klingt sensationell, ist aber völlig logisch.

In der Natur läuft ja auch alles ganz zwanglos. Das Löwenbaby bekommt genau das, was es benötigt. Der kleine Adler genauso. Sie werden optimal versorgt. Sie kriegen alle Nährstoffe, die sie brauchen. Was sie nicht kriegen: Allergien. Oder ADHS, das Zappelphilipp-Syndrom. Oder eine Wampe. Ein dicker Löwe, der einer Antilope nicht mehr hinterherkommt, oder ein Adler, der nicht abheben kann, wegen überhöhten Startgewichts: undenkbar. Es gibt auch keine Fütterstörung mit Code-Nummer im Tierreich.

Es gibt allerdings auch keine Experten, die dem Vater Eisbär weismachen wollen, dass sein Sohn Blattsalat oder Spinat essen soll. Oder der Löwenmama, dass sie ganz schnell aufhören soll, dem Kleinen lecker Löwenmilch von Mamas Zitzen zu geben, weil es Zeit sei für ein Gläschen »Zartes Antilopenragout an Bio-Steppengras«. Vermutlich würde das Löwenbaby auch brüllen und die Annahme verweigern.

Wahrscheinlich ist es das, was den Störfall ausgelöst hat: dass die Nahrung für die kleinen Menschenkinder nicht mehr natürlich, nicht mehr artgerecht ist. Was die Störung noch verstärkt: Wenn nun Experten kommen und den Eltern klarmachen wollen, dass diese Nahrung das Allerbeste sei fürs Kind.

Dabei sind ihre Ratschläge oft wenig fundiert oder gar von fremden Interessen geleitet. Die Professoren haben ja heute ihre Sponsoren, die Babynahrungshersteller wie die Firma Hipp zum Beispiel (siehe Kapitel 6).

Bisher vertrauen viele Eltern merkwürdigerweise nicht ihrem eigenen Kind, sondern fremden Einflüsterungen von außen, von solchen Experten, und fast mehr noch den mit ihnen befreundeten Babynahrungskonzernen und deren Werbeversprechen, in denen es um eine blühende Zukunft der Kinder geht.

Das ist überraschend. Denn ansonsten sind moderne Eltern ja eher skeptisch und vertrauen niemandem so schnell.

Wenn es aber um die Zukunft ihrer Kinder geht und um deren Ernährung, ist ihr Vertrauen in die Konzerne ungebrochen. Zu einem Brei-Giganten wie Hipp etwa.

Ein verhängnisvolles Vertrauen. Denn gerade die Babygläschen, bisher der Inbegriff des Vertrauenswürdigen, zeigen sich nun als bislang völlig unterschätztes Problemnahrungsmittel. Denn gerade das, was bisher die Basis des Vertrauens war, die supersterile Sauberkeit, die absolute Freiheit von Schadstoffen, entpuppt sich jetzt, wie neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, als das zentrale Problem fürs kindliche Immunsystem. So steht das Gläschen plötzlich unter Verdacht: Fördert es Allergien? Macht es die Kinder anfälliger für Krankheiten? (Siehe Kapitel 2.)

Oder die Vitamine: Viele Eltern vertrauen darauf, ExtraVitamine seien besonders gesund fürs Kind – doch auch da wachsen die Zweifel. Vitamine sind offenbar ausgesprochen wirkungsvoll, aber gerade deswegen zeigen sich auch Risiken und Nebenwirkungen. Und sie behindern die Selbstheilungskräfte des Kindes (siehe Kapitel 11).

Selbst die hippen Smoothies oder modernen Quetschbeutel aus Plastik, bei denen ein Obstbrei wie Senf ausgequetscht wird, gelten als Zuckerbomben, die mit echten Früchten nicht mehr viel zu tun haben und zu ganz merkwürdigen Krankheiten führen, die es bei Kindern bisher nicht gab (siehe Kapitel 8).

Womöglich haben die Kinder auch einen eingebauten Sensor, der Alarm gibt, wenn das Angebot nicht artgerecht ist. Alle Babys mögen zum Beispiel lieber Muttermilch als die Milch aus dem Fläschchen (siehe Kapitel 5). Und wenn sie den Brei aus den Gläschen brüsk zurückweisen, kann das, im Lichte der neuen Erkenntnisse, auch ganz vernünftig sein.

Wahrscheinlich wäre es besser, wir würden eher auf unsere Kinder vertrauen und nicht auf die fremden Einflüsterungen von außen. Denn unsere Kinder wissen offenbar überraschend genau, was gut für sie ist. Und sie können instinktiv das Richtige auswählen.

Was aber ist das Richtige?

Das kommt ganz aufs Kind an, das ist bei jedem anders. Die Kinder sind ja völlig verschieden. Deshalb hat der kleine Abraham ganz andere Lebensmittel ausgewählt als Donald oder Earl, die ebenfalls an dem Versuch teilgenommen hatten, der zum Klassiker geworden ist. Das war auch so eine überraschende Erkenntnis damals: Weil die Kinder so verschieden sind, sind allgemeine Empfehlungen oder gar der Einheitsbrei für alle völliger Unsinn.

Dabei fand das epochale Experiment, bei dem Kinder wie der kleine Abraham die Hauptrolle spielten, vor einem Dreivierteljahrhundert statt, initiiert und gestaltet von einer Kinderärztin namens Clara Davis. Über die Ergebnisse berichtete sie in einem Vortrag, der zu einem der am meisten zitierten in der Fachwelt werden sollte.

Das war damals natürlich noch nicht abzusehen, als die zierliche Frau auf die Bühne stieg. Clara Davis kam aus dem kleinen Ort Winnetka, 35 Kilometer nördlich von Chicago. In vielen Berichten wird sie als kanadische Kinderärztin bezeichnet, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass sie diese Rede, mit der sie weltberühmt wurde, in Kanada hielt: am 21. Juni 1939 im Windsor Hotel in der kanadischen Stadt Montreal, beim 70. Jahrestreffen der kanadischen Ärztevereinigung (Canadian Medical Association, kurz CMA). Die Kernthese: Lasst die Kinder einfach selber machen.

Auch damals herrschte bei vielen Eltern tiefe Verunsicherung. Auch damals kamen 50 bis 90 Prozent der Patienten zu Kinderärzten und fragten, was sie tun sollten, wenn die Kinder nichts essen. Auch damals war das Thema Ernährung ein »Schlachtfeld«, wie der kanadische Journalist Stephen Strauss in der Zeitschrift der kanadischen Ärztevereinigung im nächsten Jahrhundert schrieb, in einem Artikel mit dem Titel: »Clara Davis und die Weisheit, die Kinder ihr Essen selbst aussuchen zu lassen«.

Die Ärzte, schreibt Strauss, waren damals »bewaffnet«, mit zunehmenden Erkenntnissen aus dem neu aufkommenden Bereich der Ernährung, und so begannen sie, »mit buchhalterischer Präzision vorzuschreiben, was, wann und wie viel ein Kind essen sollte, um gesund zu sein«.

Alan Brown zum Beispiel, Chefarzt am führenden Kinderkrankenhaus in Toronto (The Hospital for Sick Children), riet Müttern in seinem Bestseller über Kindererziehung (»Das normale Kind: Pflege und Fütterung«), die Kinder »buchstäblich auf eine Hunger-Diät zu setzen, bis sie schließlich die ärztlicherseits abgesegneten Mahlzeiten akzeptierten«.

Das ist die ganz harte Methode. Die wird heute so natürlich nicht mehr gepflegt. Die Frontstellung aber ist geblieben. Die Fachleute beharren auf ihren Vorschriften.

Und die Kinder? Sie reagieren, genau wie damals, bockig und mit Verweigerung.

Picky Eaters heißen die wählerischen Winzlinge im Fachjargon. Oder auch Fussy Eaters. Beides bedeutet etwa: wählerische, pingelige Esser. Das medizinische Fachwort: Fütterstörung.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) macht schon Seminare dazu. »Esstisch – Stresstisch? Umgang mit Essproblemen und Fütterstörungen.« Im Internet finden sich unzählige Hilferufe von betroffenen Eltern, ihre Erfahrungsberichte sowie Merkblätter von Ärzten und Kliniken. Mittlerweile gibt es schon überall spezialisierte Fütterzentren wie in Landshut. Auch in München, Maulbronn, Augsburg oder Graz. 25 Prozent aller gesunden Säuglinge hätten »Fütterprobleme«, und von denen mit Entwicklungsstörungen sogar 80 Prozent, behauptet die amerikanische Professorin Irene Chatoor von der George-Washington-Universität in der amerikanischen Hauptstadt, die als weltweit führende Expertin gilt, in ihrem Standardwerk über »Fütterstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern«.

»Fütterstörungen«, sagt sie, seien »mit späteren Defiziten« verbunden, in der geistigen Entwicklung, mit Verhaltensauffälligkeiten, Angststörungen und Essstörungen: »Folglich ist es extrem wichtig, früh auftretende Fütterschwierigkeiten zu identifizieren, zu verstehen und zu behandeln.«

Also wurde das Problem zu einer ordentlichen Krankheit erklärt, die Kassen springen ein.

Was aber, wenn die Kinder einfach recht haben? Vielleicht ist es auch eine – völlig berechtigte – Protesthaltung. Gegen Bevormundung. Für artgerechte Nahrung. Eins ist schon mal klar: Sie sind klüger als die anderen. Das jedenfalls kam bei einer Studie heraus, die 2015 in der Zeitschrift Appetite veröffentlicht wurde. Die Picky Eaters waren schlanker, ein bisschen kleiner – und intelligenter: um genau 2,726 IQ-Punkte.

Für die Eltern ist das in diesem Moment natürlich ein schwacher Trost. Wenn das Kind nicht essen will, dann ist das für sie einfach eine Katastrophe.

Sie neigen dazu, dem Kind lieber vorsichtshalber was reinzudrücken. Es wird »zwangsgefüttert«, wie der Landshuter Oberarzt Engelhardt sagt: »Beim Stillen gibt’s weniger Zwangsfütterung, bei der Flasche ist es natürlich leichter, sie reinzudrücken. Weil die Eltern denken, das Kind ist zu leicht. Die schauen auf die Uhr und sagen, das Kind hat schon vier Stunden geschlafen und muss geweckt werden. Weil, es muss ja was trinken. Dabei ist das Kind noch zu müde, hat natürlich überhaupt keinen richtigen Hunger.«

Und das geht auch so weiter. Dann soll das Kind Brei essen. Ab etwa vier Monaten, so lautet die Vorschrift. Auch wenn das Kind gar keine Lust hat, weil es genau spürt, dass es gar nicht gut ist für sein Immunsystem (siehe Kapitel 4). Und weil es auch in der Kunst des Kauens noch gar nicht so weit ist, es ist ja noch am Saugen.

Aber: Es geht ja um die Vorschriften. Vorschrift ist auch, dass das Kind Gemüse isst. Dabei will das Kind gar kein Gemüse, das weiß sogar Mathilde Kersting, Professorin am Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. »Die meisten Kinder mögen Gemüse nicht, das ist ganz normal.«

Hilft ihnen aber nichts! Das Gemüse muss rein ins Kind, auf Teufel komm raus. Auch wenn das nichts bringt, außer einer anhaltenden Abneigung gegen Gemüse.

Der Vater des spanischen Kinderarztes Carlos González zum Beispiel ist über 80 Jahre alt – und hat in seinem ganzen Leben noch nie gekochtes Gemüse gegessen. Als er eine Zeit lang berufsbedingt in Hotels leben musste, erzählte er der jeweiligen Köchin, er habe ein Magengeschwür und sein Arzt habe ihm verboten, Gemüse zu essen. Da ließen sie ihn in Ruhe und kochten ihm ein Rührei.

Woher die Abscheu, fragte Sohn Carlos seinen Vater? Und der sagte: »Weil sie mich zwingen wollten. Meine Mutter legte mir Gemüse auf, und je mehr ich sagte, dass ich es nicht wollte, desto mehr Druck übte sie aus. Das ging so weit, dass ich zur Strafe ohne Abendessen ins Bett musste.«

Und so ist das heute noch. Mit allen Tricks werden die Kinder überlistet, da wird geschnitzt und gebastelt, im Internet sind die Kunststücke zu bewundern: Auberginen-Pinguine und Möhren-Rennwagen, Gurkendrachen oder Paprikahäschen. Alberner geht’s nicht.

Manchmal geht es auch zu wie bei der Pferde-Dressur. Nur dass beim Kind das Zuckerchen in Gestalt von Ketchup kommt. Damit wird das Gemüse versüßt. Ein super Trick: »Man nennt diese Methode Flavour-Flavour-Learning«, sagt stolz ein Mann namens Thomas Ellrott. Später mögen die Kinder das Gemüse dann auch ohne Klecks. Wenn die Dressur funktioniert hat.

Wenn nicht, dann mögen die Kinder später lieber den süßen Ketchup.

Privatdozent Dr. Thomas Ellrott, der Mann mit solch irren Ideen, ist einer von den ganz Wichtigen. Als Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie in Göttingen wird er häufig von den Medien befragt. Ellrott ist Schüler und Nachfolger des legendären Professors Volker Pudel. Der war ein ganz Großer in der deutschen Ernährungsberaterszene, zeitweilig Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), der einflussreichen Fachgesellschaft, und ein großer Freund des Zuckers und der Süßigkeiten. So verkündete er einmal bei einem Kongress in Freiburg, der »mit freundlicher Unterstützung des Lebensmittelchemischen Institutes des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie« veranstaltet wurde, es gebe »überhaupt keinen Hinweis, dass der Verzehr süßer Nahrungsmittel mit dem Übergewicht in Beziehung steht«.

Pudels Kernsatz aber war der von den Gummibärchen: »Wenn man sich nur von Gummibärchen ernähren will – no problem.« Oder, Variante vom Kernsatz: »Wer abnehmen will, kann so viel Gummibärchen essen, wie er will.« Das ist zwar hanebüchener Unsinn und war zu gar keiner Zeit wissenschaftlich haltbar, aber die Medien waren begeistert: »Wie süß!«, titelte damals zum Beispiel das Magazin der Süddeutschen Zeitung: »Die Sensation: Zucker macht nicht mehr dick.«

So ist das mit den Medien und ihren Gesprächspartnern. Der Wahrheitsfindung dienen solche Experten nicht unbedingt. Und dem Kindeswohl erst recht nicht.

Die Illustrierte Stern hat zusammen mit ihren Schwesterblättern Eltern family, Brigitte und Nido, der Zeitschrift für die modernen, coolen Eltern, eine Aktion für Gemüse unterstützt. Weil Kinder das nicht mögen, muss man es bekanntlich ins Kind hineinzwingen, mit aller Macht. Die Macht heißt in diesem Fall: Maggi. Maggi war der Partner von Stern und den anderen Blättern.

»So schmeckt Gemüse auch Kindern.« So stand es da, in Nido, auf einem stilisierten gelben Kochtopf, und auf dem Deckel: das Maggi-Logo. Im Internet führt ein Link dann gleich ins Maggi Kochstudio und damit in den ganzen Maggi-Kosmos. Das ist natürlich sehr die Frage, ob Fast Food, Fertigkost von Maggi, mit Chemie, künstlichen Zutaten und dem typischen Industriegeschmack wirklich so gut ist fürs Kind. Die Antwort: eher nicht.

Ganz ähnlich ist das bei dem Gemüse aus dem Gläschen. Obwohl Mareile, 31, aus Stuttgart in der Zeitschrift Eltern sagt: »Mit Gläschen fühle ich mich auf der sicheren Seite.« Denn: »Mein Gemüse vom Markt ist sicher nicht so kontrolliert und schonend gegart wie der gekaufte Brei im Gläschen.« Und von ihrem Kinderarzt wurde sie darin bestätigt: »Frischgemüse«, sagte er laut Eltern, »kann da nicht mithalten.«

So sehen das auch andere Kinderärzte. Der Körper des Kindes aber sieht das, wie sich jetzt herausstellt, ganz anders. Aber auch bei der sogenannten Qualitätspresse ist nicht das Kind der König, sondern der Anzeigenkunde.

Wenn das Kind der König wäre, wäre das natürlich besser. Dann müsste sich das Kind nicht solch fremden Mächten fügen. Oder den wechselnden Moden der Ernährungsratgeber.

Die Ernährungsexperten wissen leider auch nicht so genau, was ein Kind eigentlich braucht. Sie haben zwar ihre Wissenschaften, aber der Erkenntnisstand entwickelt sich nur nach und nach weiter. Das aktuelle Wissen, sagen Wissenschaftskenner, ist ja immer nur der jeweilige Stand des Irrtums. Das Baby aber muss ja heute schon gefüttert werden. Und so empfehlen die Experten eben auf der Basis des aktuellen Stands des Irrtums.

Beispiel: Kohlenhydrate. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), die maßgeblichste Instanz, hat von 1979 bis 1986 empfohlen, 45 bis 65 Prozent der Kalorien über Kohlenhydrate aufzunehmen, also über Zucker, Reis, Kartoffeln, Nudeln. Das war dann plötzlich viel zu viel, bei 45 Prozent lag ab 1986 die Obergrenze. Neun Jahre später aber war das wiederum viel zu wenig, sie erhöhten wieder auf 50 Prozent. Mindestens.

Wenn die aktuellen Irrtümer entlarvt sind, werden die Empfehlungen eben ersetzt – durch neue Irrtümer. Oder durch die Vorlieben der Expertinnen und Experten. Oder die mächtigste Mode. Siehe: die Sache mit dem Fett. Fett gilt ja seit Langem als böse. Das ist das Dogma. Deswegen sollen auch Kinder fettarme Milch trinken und fettarmes Fleisch essen. So steht es in den Büchern und Zeitschriften, im Internet.

Dabei ist das Quatsch. Völlig unbegründet. Jedenfalls hat es nichts gebracht. Nichts für die Gesundheit. Nichts fürs Gewicht. Überhaupt keine Vorteile, eigentlich eher Nachteile. »Es gibt keine einzige Untersuchung, die einen langfristigen Nutzen einer fettarmen Diät belegt«, sagt Professor Walter Willett, der einflussreichste Ernährungsforscher der Welt, der an der legendären Harvard-Universität in Boston lehrt. Es könnte sogar sein, dass die Empfehlungen die Leute erst recht dick gemacht haben, meint Science-Autor Gary Taubes: »Der Grund für die sich ausbreitende Epidemie des Übergewichts könnte sein, dass die Leute weniger Fett essen und mehr Kohlenhydrate.«

»Haben wir die falschen Ernährungsratschläge gegeben?« fragten sich britische Übergewichtsforscher schon im Jahr 2013.

Wenn aber die Ratschläge den Menschen offenbar mehr geschadet als genutzt haben, dann sind jene besser gefahren, die sich nicht an die Empfehlungen gehalten haben: »Womöglich machen permanente Ratschläge, sich gesünder zu ernähren, die Menschen nicht gesünder, sondern kränker«, sagt der Epidemiologe Paul Marantz vom Albert-Einstein-College in New York. »Viele Empfehlungen zur Gesundheitsvorsorge und gesunden Ernährung sind nicht wissenschaftlich fundiert«, kritisiert er. »Solange man keine Beweise hat, dass etwas schädlich oder nützlich ist, besteht der beste Ernährungsratschlag darin, keine Ernährungsratschläge zu befolgen.«

Glücklicherweise haben die Kinder da offenbar eine eingebaute Abwehrhaltung.

Gegen Vollkornbrot, zum Beispiel. Vollkornbrot ist Teil eines seltsamen nationalen Sonderweges in Deutschland, wo schon Kleinkinder Vollkornbrot essen sollen. Tun sie aber nicht.

»Tatsächlich ernähren sich die meisten Kinder nicht entsprechend den Empfehlungen«, tadelte zum Beispiel das Magazin Geo in einem Sonderheft. So würden »Vollkornprodukte zu selten konsumiert«.

In Deutschland gibt es unter den Experten eine rätselhafte Vorliebe für den harten Kanten Brot. Schon zum Frühstück: Vollkornbrot mit Frischkäse und Gurkenscheiben. Gern auch lustig belegt, dass es wie eine Eule aussieht.

Die Vorliebe der deutschen Ernährungsberaterkaste fürs Vollkornbrot, es entspricht einem deutschen Sonderweg, der in dunkelbraunsten Zeiten begann. Der Vollkornwahn stammt aus der Nazi-Zeit. Damals wurde sogar eigens ein »Reichsvollkornbrotausschuss« installiert, im Jahre 1939. Der Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti erklärte: »Der Kampf um das Vollkornbrot ist ein Kampf für die Volksgesundheit.«

Hitler ging, das Vollkornbrot blieb. Sogar im 21. Jahrhundert.

Für Erwachsene mag das okay sein, viele essen ja auch gern Vollkornbrot. Das Kind aber ist davon nicht so begeistert. Sogar wenn die Mutter stillt und Vollkorn isst, kann das Kind Blähungen bekommen. Im Internet gibt’s dazu viele Leidensberichte. »Isasmom79« ging es so: »Als ich dann gestillt habe, hat Isa oft Blähungen gehabt; meine Hebi meinte damals, ich soll mal das Vollkorn weglassen. Und die Blähungen waren weg.«

Dann aber hat sie doch versucht, ihr Töchterlein vorschriftsgemäß zu befüttern. »Vor ein paar Tagen hab ich ihr dann doch mal bissle Dinkelvollkornbrot gegeben, war nicht mehr wie ein Bissen, trotzdem hat sies danach fast zerrissen! Also wie gewöhne ich sie an Vollkorn, wenn sie davon solche Schmerzen bekommt???«

Soll das Kind unter Schmerzen essen? Mag ja sein, dass der Reichsvollkornführer das mal so befohlen hat, aber heute? Wenn das Kind König wäre, würde das Vollkornbrot sofort auf den Müllhaufen der Geschichte wandern. Damit der deutsche Sonderweg ein Ende findet. Und gesünder fürs Kind wäre es womöglich auch.

Anderswo stößt das Vollkornbrot daher eher auf Skepsis, ja Widerstand. Die Neue Zürcher Zeitung aus der neutralen Schweiz warnt sogar vor Spätschäden: Vollkorn enthält einen Stoff namens Phytat, und Phytat kann die Aufnahme von Mineralstoffen wie Eisen oder Zink im Körper blockieren.

»Manche Experten sehen deshalb einen erhöhten Phytatkonsum, der vor allem bei einer vollkornreichen Ernährung vorliegt, zumindest als eine der Ursachen für den bei vielen Frauen, aber auch bei Kindern beobachteten Eisenmangel.«

Unter anderem deshalb rät das britische Gesundheitsministerium da eher zur Mäßigung: »Verwenden Sie nicht nur Vollkornprodukte, bevor Ihr Kind fünf Jahre alt ist.« Begründung: Lebensmittel mit hohem Ballaststoffgehalt wie Vollkornbrot und Pasta, brauner Reis und auf Kleie basierende Frühstückszerealien »können kleine Bäuchlein so ausfüllen, dass wenig Platz bleibt für andere Nahrungsmittel. Das bedeutet, dass Ihr Kind satt wird, bevor es die nötigen Kalorien aufgenommen hat, die es braucht.«

Womöglich sind die Kleinen also ganz vernünftig, wenn sie hier die Aufnahme verweigern. Und die Eltern, wenn sie die Schmerzen beim Kind ernst nehmen. Und überhaupt: die Bedürfnisse des Kindes ernst nehmen. Zum Beispiel bei der Frage, wann es Zeit ist für den Brei.

Da gibt es natürlich auch wieder einen Interessenkonflikt: Die Gläschenkonzerne möchten möglichst früh ans Kind. Ein Kind an der Mutterbrust bringt ja keinen Gewinn. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, das Kind mindestens sechs Monate lang zu stillen, mittlerweile haben sich viele Experten auf vier runterhandeln lassen.

Dabei wäre es besser, das Kind länger zu stillen: jedenfalls fürs Kind und auf lange Sicht. Je länger das Kind die Brust bekommt, desto mehr Obst und Gemüse isst es später. Das kam bei einer Studie des französischen Zentrums für epidemiologische Forschung und Volksgesundheit heraus, die 2013 im American Journal of Clinical Nutrition veröffentlicht wurde.

Der spanische Arzt Carlos González (»Mein Kind will nicht essen«) plädiert deshalb dafür, das Kind so lange zu stillen, wie es will. Er berichtet von Patienten, wie etwa die Mutter Maribel mit einem sechsmonatigen Baby, die »der Verzweiflung nah« war. »Als es fünf Monate alt war, riet mir der Kinderarzt, neue Nahrungsmittel einzuführen: glutenfreies Getreide, Obstbrei etc. Meine Tochter weigert sich entschlossen, den Obstbrei zu essen. Obwohl ich es jeden Tag versuche, gelingt es mir nicht, ihr auch nur einen Teelöffel Obstbrei einzuflößen. Der Versuch endet fast immer mit Tränen.«

Kind gegen Kinderarzt. Der klassische Konflikt. Dr. González stellt sich auf die Seite des Kindes, verweist darauf, dass Anfang des 20. Jahrhunderts in Spanien die Kinder in der Regel zwölf Monate lang gestillt wurden. Breiverweigerer habe es damals nicht gegeben. Erst als die Stillzeit verkürzt wurde, opponierten die Kinder – weil sie (noch) keinen Brei wollten, sondern viel lieber weiter an der Brust nuckeln. »Ihr Kind weiß, was es braucht«, sagt González. »Wir Erwachsenen essen auch genug, ohne dass uns jemand dazu auffordern muss.«

Für Ängstliche, die sich gern an die offiziellen Vorgaben halten, hat González aufgelistet, dass selbst nach den geltenden Bedarfsmengen die Muttermilch völlig ausreiche, sogar bei einem Baby im Alter zwischen neun und zwölf Monaten.

Ohnehin sind die Empfehlungen dazu, wie viel ein Baby benötigt, meist zu hoch. Sie beruhen beispielsweise auf Durchschnittsmengen, die Kinder essen. Dann wird noch ein Sicherheitszuschlag draufgeschlagen – was natürlich automatisch über dem tatsächlichen Bedarf liegt. Zumal viele Richtwerte gar von Kranken stammen und zeigen, wie viel sie brauchen, um wieder gesund zu werden. Das kann natürlich erst recht kein Maßstab sein für kerngesunde Babys.

Besser also, der Maßstab ist das Baby selbst. Nicht irgendein Durchschnittsbaby. Unser Baby. Das ist ja schließlich einzigartig. Also: Das Baby soll selbst entscheiden. Wann es, zum Beispiel, genug hat von Mamas Brust.

Mittlerweile gibt es immer mehr Menschen, die auf die Bedürfnisse des Kindes vertrauen. Es gibt sogar eine ganze Bewegung: Baby-led Weaning (»Vom Säugling gesteuerte Entwöhnung«). Das Kind soll selbst entscheiden, wann es normales Essen essen will. Der Trend kommt aus Großbritannien, die Methode wurde entwickelt von der Hebamme und Stillberaterin Gill Rapley, einer Mutter von drei erwachsenen Kindern, die in der britischen Grafschaft Kent lebt.

Das Prinzip: Mit einem halben Jahr kriegt das Kind die gleichen Lebensmittel angeboten wie die Eltern, in kindgerechten Häppchen. Denn, so sagt Hebamme Gill: »Alle gesunden Babys können ab dem vollendeten sechsten Monat anfangen, selbst zu essen. Man muss ihnen nur die Gelegenheit dazu geben.« Ganz wichtig: »Das Baby bestimmt den Rhythmus.« Und natürlich kann es weiter die Brust kriegen. Das Prinzip: »Das Tempo gibt Ihr Baby an.«

Für die Kinder scheint das Vorteile zu haben – zum Beispiel für ihre Figur. Die Psychologieprofessorinnen Ellen Townsend und Nicola J. Pitchford von der Universität im englischen Nottingham hatten in einer 2012 veröffentlichten Studie festgestellt, dass Kinder, die früh selbst entscheiden dürfen, was sie essen mögen, später seltener zu Übergewicht und ungesundem Ernährungsverhalten neigen. Jedenfalls war das unter den 155 Testkindern im Alter von eineinhalb bis über sechs Jahren so.

Die Erkenntnis: »Das Baby weiß es am besten.«

Für die Beraterbranche ist das natürlich eher eine Bedrohung. Wenn jetzt schon Babys entscheiden, was gut für sie ist! Die können ja noch nicht mal rechnen! Woher sollen die denn wissen, wie hoch ihr Nährstoffbedarf ist! Jod! Oder Zink! Eisen!

Das Kind könne womöglich zu wenig Nährstoffe abbekommen, monieren die Marktführer auf diesem Feld, die Expertinnen vom Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE). Kalzium, Magnesium. Auch »vergleichende Studien zum Versorgungsstatus von Eisen oder anderen möglicherweise kritischen Nährstoffen« lägen nicht vor, »wie Jod oder Zink«, bemängeln sie in der Monatsschrift Kinderheilkunde. Also: Da fehlt ganz einfach »ein durchkalkuliertes Konzept«. Und damit »der Nachweis der Sicherheit«.

Das ist ja überhaupt ziemlich waghalsig, draußen in der Natur, auch bei Löwenkindern, Adlerjungen, kleinen Bären, den Nachwuchs einfach so zu ernähren ohne durchkalkuliertes Konzept! Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) sieht den Trend »grundsätzlich problematisch«. Wegen der Nährstoffe. Und: Das Kind könnte sich verschlucken.

Und noch eins stellen die Expertinnen vom Dortmunder FKE klar: »Eine wesentliche Voraussetzung für Beikost ›nach Bedarf‹ ist, dass dem Baby tatsächlich ›gesunde‹ und altersgerechte Speisen angeboten werden.«

Das stimmt allerdings. Darauf hatte damals auch Clara Davis geachtet, die kühne Kinderärztin, die so sehr auf die eingebaute Weisheit bei den Kleinen vertraut hatte. Sie können natürlich nur eine passende Wahl treffen, wenn sie auch ein artgerechtes Angebot erhalten.

Damals durften die Kinder wählen aus insgesamt 34 Nahrungsmitteln. Neben dem kleinen Abraham, der acht Monate alt war, nahmen Earl und Donald teil, neun und siebeneinhalb Monate. Das Experiment fand statt im Jahre 1926 am Mount Sinai Hospital in Cleveland, Ohio, und erstreckte sich über mehrere Monate. Die ersten Resultate veröffentlichte Davis im Oktober 1928 im American Journal of Diseases of Children unter dem Titel: »Self Selection of Diet by newly weaned Infants. An Experimental Study« (»Eigenständige Nahrungsauswahl bei frisch entwöhnten Kindern. Eine experimentelle Untersuchung«).

Den Kindern wurde eine breite Auswahl von Nahrungsmitteln angeboten, teils roh, teils gekocht, jeweils in einer separaten Schüssel, präsentiert auf einem Tablett:

 

Das Spektakuläre an den Versuchen: Die Kinder durften nicht beeinflusst werden. Sie mussten sich allein nach ihren eigenen Bedürfnissen entscheiden. Wie das geht, dafür hatten sie nicht einmal ein Vorbild: Earl hatte noch nie einen Erwachsenen essen gesehen.

»Die Anweisung an die Krankenschwestern« lautete, so Clara Davis, »sie sollten sich ruhig hinsetzen, Löffel in der Hand und keine Bewegung machen. Wenn, und nur wenn das Kind nach einem Tellerchen greift oder darauf zeigt, sollte sie einen Löffel davon nehmen und, wenn er seinen Mund geöffnet hat, ihn reinschieben. Sie sollte nicht kommentieren, was das Kind genommen hatte, oder nicht genommen hatte, sollte nicht auf etwas zeigen oder auf andere Weise seine Aufmerksamkeit auf irgendein Nahrungsmittel lenken. Oder ihm etwas verweigern, auf das es gezeigt hatte. Es sollte mit seinen Fingern essen oder auf sonst irgendeine Art, auf die es konnte, ohne dass sein Verhalten in irgendeiner Weise zu kommentieren oder zu korrigieren seien. Das Tablett sollte weggenommen werden, wenn es definitiv zu essen aufgehört hatte, was üblicherweise nach 20 bis 25 Minuten der Fall war.«

Natürlich hat Earl erst mal die ganze Hand in die Schale gesteckt. Nach drei Tagen hatte er begriffen, dass er hier eine Servierkraft hatte, er zeigte nur auf seine Wahl und blickte auffordernd zu ihr. Nach drei Monaten nahm er die Sachen selbst in die Hand.

Abraham fütterte sich gleich selbst, mit Ausnahme des Trinkglases, bei dem ihm die Schwester half, es zu halten. Er steckte gleich mal sein ganzes Gesicht ins Essen, um davon zu nehmen. Laut Protokoll »mit mäßigem Erfolg«. Dann nahm er die ganze Schale und versuchte, daraus zu essen, »mit unwesentlich besserem Erfolg«. Dann schließlich nahm er die Finger, »mit promptem Erfolg«.

Erstaunlich: Die Kinder versorgten sich völlig angemessen mit Energie und Nährstoffen. Sie nahmen etwa 1500 Kalorien am Tag zu sich. Ansonsten aber unterschieden sich die Vorlieben deutlich. Es gab Kinder, die vier Bananen nacheinander verdrückten oder sieben Eier. Einen dreijährigen Jungen filmte Davis, wie er abends ein Pfund Lammfleisch verschlang.

Abraham trank gern Milch, Rohmilch, 31 Prozent seiner Kalorien in den ersten sechs Monaten des Experiments bezog er daraus. An zweiter Stelle lag Obst, mit 28,6 Prozent: Bananen, Äpfel, Orangen, Tomaten, Ananas, Pfirsich. Schließlich Haferflocken und dann Eier. Vom Gemüse, der bekannten Problemnahrungsmittelgruppe bei Kindern, nahm er 5,7 Prozent, eine überraschende Neigung aber hatte er zu Innereien. Hirn, Kalbsbries, Leber, Nieren. Sie lieferten 5 Prozent seiner Kalorien.

So etwas gibt’s bei Hipp und Alete ja leider gar nicht. So gesehen hatte Abraham Glück mit dem vielseitigen Angebot. Und die Kinder nutzten das vielseitige Angebot zu individuellen Kombinationen. So konnte das Frühstück schon mal aus einem halben Liter Orangensaft und etwas Leber bestehen.

Das war das Auffällige: Jedes Kind hatte seine ganz eigene Diät, sie unterschied sich von den anderen Kindern, änderte sich aber auch im Lauf der Zeit. Die Favoriten unterscheiden sich: Auch bei Earl stand Milch an erster Stelle mit 54 Prozent der Kalorien. Donalds Favorit hingegen war Obst. Anteil: 50,3 Prozent. Danach Milch mit 26,2 Prozent. Abraham hatte nach sechs Monaten dann genug von der vielen Milch, setzte Obst an die erste Stelle.

Für Ernährungsexperten mit ihren Standardempfehlungen geht so etwas natürlich gar nicht. »Die Kombinationen von Speisen, die die Kinder zu sich nahmen«, sagte Studienleiterin Davis, waren »der Albtraum jedes Ernährungswissenschaftlers«.

Was aussah wie ein ernährungswissenschaftliches Chaos, stellte sich bei näherer Betrachtung allerdings als sinnvolles Konzept heraus: Die Mengen an Protein, Kohlenhydraten, Fett lagen im Rahmen der üblichen Werte.

Da staunte selbst die Versuchsleiterin Davis: »Ein solch erfolgreiches Jonglieren und Balancieren mit den mehr als 30 unterschiedlichen Nährstoffen, die in unterschiedlichen Mengen und Mischungsverhältnissen in den jeweiligen Lebensmitteln vorhanden sind, aus denen sie wählen mussten, deutet zwingend auf die Existenz eines angeborenen, automatischen Mechanismus hin, der die angemessene Versorgung gewährleistet.«

Und die Kinder wussten es instinktiv sogar besser als die Ärzte mit ihren Empfehlungen: So nahmen sie allesamt viel mehr Früchte, Fleisch, Eier und Fett zu sich, als damals empfohlen wurde. Und weniger Getreide sowie Milchprodukte – ganz anders, als es die offizielle Lehre der Ernährungswissenschaft und ihrer sogenannten »Ernährungspyramide« mit den jeweils vorgeschriebenen Mengen vorsieht.

Und wie hielten sie’s mit Gemüse? Wie alle Kinder. Ein Mädchen aß während des Experiments innerhalb von drei Jahren nur etwas mehr als ein Kilo Gemüse. Spinat wurde von fast allen Kindern verschmäht, ebenso Kohl und Kopfsalat.

Doch den Kindern ging’s super. Die Nahrungswahl war optimal für Wachstum, Gewichts- und Knochenentwicklung, Muskulatur, Vitalität und Wohlbefinden. Die Kinder waren weder zu dick noch zu dünn, Muskeln, Knochen, alles in Ordnung. Sogar die Kinder, die zuvor an der gefürchteten Knochenschwäche Rachitis gelitten hatten, waren nach Abschluss des Experiments absolut gesund.

Und das ganz ohne Pillen mit Vitamin D, die heute üblich sind – samt unerwünschter Nebenwirkungen in vielen Fällen (siehe Kapitel 11).

Die Kinder wählten instinktiv das, was für sie gesund war, und sie glichen sogar automatisch Defizite aus. Ein Kind mit wenig Magensäure aß vorzugsweise Saures, eines mit Rachitis nahm sogar freiwillig Lebertran – jedenfalls so lange, bis die Krankheit abklang.

Clara Davis schloss daraus, dass »normierte Diäten kaum eine optimale Ernährung sind«. Das war eine der wichtigsten Erkenntnisse aus ihren Untersuchungen: Die Kinder sind verschieden. Und deswegen haben sie verschiedene Vorlieben.

Und die Vorlieben deuten darauf hin, dass sie ganz bestimmte Bedürfnisse haben – physiologische Bedürfnisse. Weil ihr Körper etwas ganz Bestimmtes braucht, ganz individuell, etwas ganz anderes als das Nachbarkind im Babybettchen nebenan. Weil die Menschen verschieden sind, haben sie für ihre unterschiedlichen Vorlieben auch unterschiedliche Verdauungsenzyme.

So ist es ganz logisch und sinnvoll, dass viele Kinder keinen Brokkoli mögen. Manche aber schon. Wahrscheinlich brauchen sie das, was in Brokkoli enthalten ist, und andere brauchen es nicht.

Was aber praktisch alle Kinder gern mögen: Pizza. Pommes. Pasta. Oder auch: puren Reis. Auch das hat womöglich einen Grund: Alle Kinder brauchen Power, Kraft, Energie. Gemüse liefert das nicht. Gemüse kann das Kind gar nicht in so großen Mengen essen, wie es nötig wäre, um sich mit genügend Energie zu versorgen. Denn das Kind, zumal das Baby, hat noch einen kleinen Magen und braucht deshalb nahrhaftes, kraftspendendes Essen.

Um die gleiche Menge an Kalorien wie über 100 Milliliter Muttermilch mit Karotten aufzunehmen, müsste das Kind fast 400 Gramm davon essen, hat der spanische Kinderarzt González ausgerechnet.

Und natürlich will das Kind sich auch mit Energie und Nährstoffen versorgen. Und braucht dafür keine Appelle. Dr. González’ oberster Grundsatz lautet daher: »Zwingen Sie Ihr Kind nicht zum Essen. Zwingen Sie es nie.« Der Körper des Kindes sollte schließlich bekommen, was er braucht – und die Kinder sollen selbst erkennen, welche Signale ihr Körper dafür sendet.

Neueste Forschungen zeigen: Genau das ist das Essverhalten, das zur persönlichen Gen-Ausstattung passt. Jedes Kind muss genau das essen, was es persönlich braucht. Die »Selbst-Regulation« der Nahrungsaufnahme ist das Ergebnis eines komplexen Wechselspiels zwischen Genen und Nahrungsangebot.

Deshalb ist es verhängnisvoll, wenn den Kindern etwas aufgezwungen wird, was für ihre individuellen Bedürfnisse nicht gut ist. Denn dann lernen sie erst gar nicht, was für sie gut ist. Und sie müssen ja nicht nur lernen, sich mit den Nährstoffen zu versorgen, die sie persönlich brauchen. Sie müssen zudem entscheiden, wie viel sie brauchen, welche Mengen sie essen müssen, bis sie satt sind.

Und wenn sie dabei gestört werden, führt das nicht nur zu »schlechterer kindlicher Ess-Selbstregulation«, sondern auch zu einem »höheren Gewicht«. So die US-Forscherinnen Sheryl O. Hughes und Alexis Frazier-Wood vom Forschungszentrum für Kinderernährung im texanischen Houston in einer Studie, die im Februar 2016 im Magazin Current Obesity Reports veröffentlicht wurde. Denn auch das funktioniert eigentlich ganz zwanglos: dass der kindliche Körper lernt, wie er sein Gewicht hält.

Die Kinder haben offenbar einen eingebauten Kompass, der sie zur richtigen Nahrung führt. Der Kompass wirkt aber nur dann, wenn wir den Kindern die Freiheit lassen, das zu nehmen, was sie brauchen.

Je lässiger die Eltern mit dem Essen umgehen, desto eher lernen die Kinder, sich selbst zu regulieren. Eltern sollten deshalb nicht Sachen ins Kind hineinzwingen, die es nicht will. Denn das zeigte sich ebenfalls: Die wählerischen Kinder entwickeln häufiger Angststörungen und Depressionen, wie eine 2015 veröffentlichte Studie zeigte, von Forschern am Zentrum für Essstörungen an der amerikanischen Duke Universität um die Professorin Nancy Zucker.

Apropos Zucker: Wenn es auf dem Tablett vom kleinen Abraham bloß eine Packung Milch-Schnitten gegeben hätte, und Happy Hippo Snacks und Fruchtzwerge, dazu Paula, den Pudding im Plastikpack, plus die modernen Milchprodukte Marke Monsterbacke, dazu noch eine Monsterpackung Gummibärchen und zum Trinken wahlweise Cola oder Fanta, dann hätte das Ergebnis wohl ganz anders ausgesehen. Und wahrscheinlich wären die Kinder auch nicht so wohlgenährt aus dem Versuch hervorgegangen, sondern moppelig und mangelversorgt.

Also: Ob es klappt mit der ganz zwanglosen Versorgung mit den genetisch angemessenen Nährstoffen, das hängt sehr vom Angebot ab.

 

»Wenn Kids heute selbst auswählen könnten aus gesunden Nahrungsmitteln, aber auch Kartoffelchips, Coca-Cola, Cheeseburger, Schokoriegel, bin ich skeptisch, ob sie so ausgewogen wählen würden wie in der Studie von Clara Davis«, meint der Kinderarzt Sydney Z. Spiesel von der renommierten amerikanischen Yale-Universität im Medical Examiner.

Stimmt. Zwar haben neue Studien, viele Jahrzehnte nach den bahnbrechenden Arbeiten von Clara Davis, deren Erkenntnisse bestätigt: Selbst jene Picky Eaters, jene wählerischen Kinder also, die ihre Eltern zur Verzweiflung bringen, weil sie nicht das essen, was sie sollen, versorgen sich mit allem, was sie brauchen. Im Prinzip jedenfalls, wie der Mediziner Anthony J. Mascola und sein Team von der Stanford School of Medicine im kalifornischen Palo Alto in einer schon 2010 veröffentlichten Untersuchung herausgefunden haben. Die Picky Eaters, die sie damals bis ins Alter von elf Jahren beobachtet hatten, waren schließlich genauso gut genährt wie die anderen.

Allerdings: Es besteht in der Tat die Gefahr, dass sie mehr Süßes essen. Und dafür weniger Nährstoffe. Das zeigte eine Studie, die im Dezember 2016 im American Journal of Clinical Nutrition (AJCN) erschienen ist. Im Alter von drei Jahren hatten viele Picky Eaters erheblich mehr Zucker aufgenommen und weniger Karotin, Eisen und Zink als ihre Altersgenossen. Die Autorengruppe um Caroline M. Taylor von der Universität Bristol meinte daher, Eltern sollten darauf achten, dass ihre Sprösslinge »weniger nährstoffarme zuckrige Nahrungsmittel essen«.

So sieht das auch der spanische Kinderarzt Carlos González: »Die Verantwortung der Eltern beschränkt sich darauf, eine Auswahl gesunder Nahrungsmittel anzubieten. Die Verantwortung, von diesen Lebensmitteln zu wählen und die Menge zu bestimmen, die von jedem gegessen wird, haben nicht die Eltern, sondern das Kind.«

Das ist dann spannend zu beobachten, was das Kind so wählt. Und da kann es überraschenderweise am wichtigsten sein, zu entscheiden, was wegzulassen ist.

Auch das wiederum bestätigt Clara Davis, die Pionierin. Das sei der »Trick«, sagt sie. Die Nahrungsmittel, die sie anbot, waren vielfältig, aber alle waren solche, die gemeinhin als gesund gelten. Und das einzig Süße war das Obst – davon aber nahmen die Kinder nicht so übermäßig viel. Was wiederum zeigt, dass sie von sich aus gar nicht so wild auf Süßes sind.

Das ist womöglich die wichtigste Erkenntnis aus den Versuchen der Clara Davis: Es funktioniert nur, wenn alles weggelassen wird, was den kindlichen Körper an den nötigen Lernprozessen hindert.

»Zucker wurde nicht zugelassen«, sagte die Kinderärztin zu ihrem Publikum am 21. Juni 1939, in ihrer berühmten Rede im Windsor Hotel in Montreal. Das war die Vorgabe: »Die Liste sollte nur natürliche Lebensmittel enthalten«, keine »eingedoste Nahrung«.