Hans-Ulrich Grimm

Die Suppe lügt

Die schöne neue Welt des Essens

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Hans-Ulrich Grimm

Dr. Hans-Ulrich Grimm ist Journalist und Autor, er lebt in Stuttgart. Seine jahrelangen Recherchen in der Welt der industrialisierten Nahrungsmittel bewegten ihn, sämtliche Erzeugnisse von Nestlé, Knorr & Co aus den Küchenregalen zu verbannen, zugunsten frischer Ware von Märkten und Bauern. Seine Erkenntnis:

Genuss und Gesundheit gehören zusammen.

Grimms Bücher sind Bestseller. Allein »Die Suppe lügt« ist in einer Gesamtauflage von über 250000 Exemplaren erschienen und gilt mittlerweile als Klassiker der modernen Nahrungskritik.

Impressum

»Die Suppe lügt« erschien erstmals 1997.

Für diese Neuausgabe wurde der Text komplett überarbeitet,

aktualisiert und erheblich erweitert.

 

Copyright © 2014 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Copyright © 2014 by Droemer Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

ISBN 978-3-426-42302-8

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1. Diskrete Weltmacht:
Die Geschmacksindustrie

Über einen erstaunlich bescheidenen Konzern in New York / Wozu Bäcker einen Geheimdienst brauchen / Sinnestäuschung von früh bis spät, von Müsli bis Spinat / Jeden Tag ein Pfund Essen mit Geschmack aus der Retorte / Wie man aus sieben Gramm Huhn eine leckere Suppe zaubert

Natürlich kann man einen Konzern nicht verstecken. Aber man kann es versuchen.

Zum Beispiel in New York, mitten in Manhattan. Die Gegend um den Central Park ist dafür ideal: Ein unauffälliger Ort, sehr belebt, tagsüber und auch abends. Musikfreunde gehen zur Carnegie Hall, um japanischen Philharmonikern zu lauschen oder dem New Yorker Schwulenchor. Junge Menschen steuern das Hard Rock Café an oder Niketown, das Turnschuhparadies. Und Betuchte suchen bei Tiffany’s, oben an der Ecke zur Fifth Avenue, nach edlem Geschmeide.

Das Hauptquartier des Konzerns liegt noch ein bisschen weiter abseits, zum Hudson River runter. Die Straße führt leicht bergab, immer weniger Menschen sind zu sehen. Neben schicken Apartmenthäusern stehen heruntergekommene Altbauten, Graffiti auf rotem Backstein, rostige Feuerleitern, glaslose Fensterhöhlen. Ein Chinarestaurant namens »Ocean Dragon« und »Jake’s Saloon«, eine landestypische Kneipe. Ein Reifenhändler, Niederlassungen von Nissan, Toyota. Eine BMW-Filiale auch und daneben das Hauptquartier des Konzerns.

521 West 57th Street, New York, NY 10019.

Eine Fassade aus rosa Granit und dunklem, undurchsichtigem Glas, ein kleiner Eingang rechts an der Seite, daneben drei Buchstaben aus glänzendem Messing: IFF. Nur die drei Buchstaben, mehr nicht. Sehr unauffällig. Es gibt nichts Pompöses, kein ehrfurchtheischendes Portal, keine Auffahrt für Limousinen, nur auf der Rückseite Laderampen für Lastwagen. IFF, das steht für International Flavors & Fragrances.

Hier wird der Geschmack gemacht. Fürs Eis, für die Pizza, für den Joghurt. Hier wird der Duft der großen weiten Welt komponiert, da werden die Gaumenfreuden für den ganzen Globus geplant, die Sinnesillusionen von morgen festgelegt. Doch zu sehen ist davon: nichts.

Auch in der Schweiz hat sich so ein Konzern versteckt. Sogar ein noch größerer. Sein Hauptquartier liegt nah am Genfer See. Eine kleine, verkehrsberuhigte Straße führt durch den Ort, Rue du Village heißt sie, Dorfstraße. Alles ist sehr sauber, Blumenkübel stehen an der Straße, kleine Bauernhöfe mitten im Ort, noch direkt beim Rathaus. Es ist ein bisschen ländlich, und auch ein bisschen mondän.

Ein paar Meter die Straße hügelabwärts liegen Wiesen, mit Aussicht auf die Berge, rechts stehen Wohnhäuser, eine Villa, ein Porsche steht davor, ein Motorrad. Schließlich ein Weinberg und unten am Fluss, die Zentrale des Konzerns.

»Givaudan« steht am Tor. Ein Konzern, den kaum jemand kennt, obwohl seine Produkte in aller Munde sind. Der größte Geschmackskonzern der Welt. Hier ist das Hauptquartier: ein paar flache, moderne Bürogebäude, ein parkartiges Gelände, weiter hinten die Fabrikanlage und ein riesiger, fensterloser Quader, vor dem ein paar Lastwagen an der Rampe stehen.

Der Quader ist auch von der anderen Seite aus zu sehen, von der Autobahn A1, die direkt daran vorbeiführt. Auch auf dieser Seite steht in großen Lettern der Firmenname: »Givaudan«. Sonst nichts. Kein Hinweis zur Geschäftstätigkeit. Kein Slogan. Kein Schild:

»Hier entsteht der Geschmack für Ihr Erdbeereis.«

Es ist das größte Unternehmen auf diesem Planeten, das sich der Herstellung von Geschmack widmet. Sie produzieren Geschmack für die ganz Großen, für Nestlé und Danone.

Der Geschmack. Das, was wir beim Essen am meisten schätzen. Der Geschmack einer Erdbeere. Einer Orange. Einer Hühnersuppe. Oder von Vanille. In der Welt der echten Nahrung kommt der Erdbeergeschmack von Erdbeeren. In der Welt der industriellen Nahrung, in der Welt von Nestlé, Danone, Dr. Oetker, ist das anders. Dort wird auch der Geschmack industriell produziert, und mit Natur hat das meist nichts zu tun. Der Geschmack ist jetzt so etwas wie ein Kunstwerk.

Die schöne neue Welt der Nahrung, das ist die Welt der Supermärkte, der Tankstellen und Flughäfen, Kantinen und Cafeterien. Eine Parallelwelt, die sich mittlerweile rund um den Globus ausgebreitet hat – und die echte Nahrung auf weiten Strecken verdrängt hat. Sie produziert den Geschmack, und der wird dann nachträglich der Nahrung beigefügt. Dem Vanilleeis. Dem Erdbeerjoghurt. Der Pizza.

Und es ist ein Geschäft, bei dem niemand zusehen darf. Es gibt keine Fotos aus der Produktion, keine Videos, keine Webcam. Keine Besucher sind zugelassen, keine Fernsehteams, keine Journalisten, wenn der Geschmack entsteht.

Merkwürdig: Diese Konzerne beeinflussen, was Millionen von Menschen essen. Sie herrschen über den Geschmack von Fertigsuppen und Dosenfleisch, Mikrowellensnacks und Tiefkühlpizza. Diese Firmen sind enorm innovativ, erfinden ständig neue Aromen und Esserlebnisse. Sie hätten also durchaus Interessantes mitzuteilen. Das erfahren indessen nur jene Firmen, die die geheimnisvollen Geschmacksstoffe in ihren Produkten verwenden, nicht aber die Menschen, die sie essen.

So ist zum Beispiel jener Konzern aus New York traditionell sehr zurückhaltend, Schweigsamkeit ist offizielle Unternehmenspolitik. »Aus firmenpolitischen Gründen« könne sie leider »keine Einzelheiten« zu ihren »geschäftlichen Tätigkeiten preisgeben«, teilte etwa die Geschäftsleitung der International Flavors & Fragrances IFF (Deutschland) GmbH mit. Ein anderes Mal war die Firma »aufgrund der aktuellen Geschäftssituation und der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht in der Lage«, einen Besuchstermin zu arrangieren.

So ist das auch bei Givaudan, dem Geschmacksgiganten vom Genfer See. Auch hier kein Termin: Er »verzichte«, so wörtlich, »auf ein Gespräch«, teilt der zuständige Herr dort mit, ein Mann mit dem schönen Titel »Head Investor Relations«.

Die Investoren sind wichtig. Für Konsumenten herrscht Kontaktsperre. Ein Geheimnis soll bleiben, wie der Geschmack entsteht. Nie zeigen sich die Herren des Geschmacks in einer Talkshow.

Kein Geheimnis dagegen ist, wie gut die Geschäfte laufen. Die Internetseiten von Givaudan beginnen zum Beispiel gern mit Zahlen, ganz großen Zahlen. Das ist es, was die Investoren interessiert. Darum geht es. Das ist das Wichtigste bei der Geschmacksproduktion. Ganz oben steht: der Aktienkurs. Ganz groß auch: die Halbjahresergebnisse. Der Umsatz: plus 5,7 Prozent. Die Umsatzrendite: 22,9 Prozent. Das bedeutet: Es ist ein höchst profitables Geschäft.

Und die Wachstumsaussichten sind glänzend. Die Expansion in alle Welt schreitet voran. Und da gibt es auch stolze Zahlen: Der Umsatz in den aufstrebenden Ländern (Emerging Markets) auf diesem Globus steigt steil an: plus 9,4 Prozent im letzten Jahr, auf insgesamt schon 45 Prozent (2013).

Givaudan eröffnet ein neues »Kreationszentrum« in Singapur. Givaudan eröffnet eine neue Produktionsstätte in China. In mehr als 40 Ländern ist der Konzern vertreten. Der Milliardär Bill Gates hat sich mit zehn Prozent beteiligt. Nestlé ist ebenfalls mit etwa zehn Prozent dabei.

Die Geschmacksproduktion ist ein Geschäft mit Zukunft. Zehn Weltkonzerne dominieren das Geschäft. Konzerne, die kaum jemand kennt. Es ist eine neue, eine geheimnisvolle Weltmacht, eine Weltmacht des Geschmacks.

Menschen, die keine Not leiden, essen das, worauf sie Lust haben. Eine Pizza Salami. Spaghetti mit Tomatensauce. Ein Eis. Der Geschmack ist das, was für den Spaß am Essen sorgt. In der Welt der echten Nahrung gibt der Geschmack Auskunft über die Qualität der Waren, der Erdbeeren, Orangen, Karotten. Nur was gut und frisch ist, schmeckt auch gut. Bei den Produkten aus dem Supermarkt, mit den schönen bunten Packungen, ist aber gerade der Geschmack häufig nicht echt. Gerade der wird oft gefälscht. Und die Manipulationen sind schwerwiegend und folgenreich. Denn der Geschmack ist den Menschen nicht gegeben, damit sie mehr Spaß am Essen haben.

Für den Körper ist der Geschmack ein wichtiges Kriterium bei der Nahrungsauswahl. Der Geschmackssinn dient sozusagen der Qualitätskontrolle. Er entscheidet über das, was wir essen. Über unsere Vorlieben und unsere Abneigungen. Er regelt die Versorgung mit dem Wichtigsten, was es gibt im Leben: der Nahrung. Er ist das wichtigste Entscheidungskriterium.

Umso verhängnisvoller, wenn gerade er in die Irre führt, mit immer ausgefeilteren Methoden. In der industriellen Parallelwelt ist der Geschmack zum Blendwerk verkommen. Und unter den Geschmackskonzernen sind jene am erfolgreichsten, die dafür die billigsten Rohstoffe finden, die berühmten Sägespäne fürs Erdbeeraroma zählen dabei eher noch zu den appetitlicheren Substanzen.

In der industriellen Parallelwelt hat sich der Geschmack, der unmittelbare Sinneseindruck, von seinem Ursprung emanzipiert. So ist in der zeitgenössischen Nahrungsmittelproduktion der Geschmack so etwas wie die Heckklappe an einem neuen Mercedes-Coupé oder der Absatz am neuen Damenschuh eines italienischen Modeschöpfers: ein Design-Element, das in der nächsten Saison gegen ein neues Design-Element ausgetauscht wird. Wie bei Automodellen und Anzügen rollt alljährlich eine stetige Innovationswelle: Etwa 10000 neue Essprodukte kommen in Europa und Amerika jedes Jahr auf den Markt, in Japan sind es gar 20000. Allerdings: 50 Prozent von ihnen, so die Faustregel der Branche, werden alsbald wieder aus dem Regal genommen, weil die Leute offenbar nicht den rechten Appetit darauf haben. Mit gigantischem Reklameaufwand muss den Verbrauchern der Mund wässrig gemacht werden: Allein in Deutschland gibt die Branche mehr Geld für die Werbung aus als die Autoindustrie. Und das für etwas, was ohnehin jeder muss: essen.

Es ist eine merkwürdige Industrie: Eigentlich produziert sie die wichtigsten Waren – Lebensmittel. Eine Branche, die in der glücklichen Lage ist, dass ihre Erzeugnisse täglich restlos weggeputzt werden und morgen wieder aufs Neue gekauft werden müssen, könnte eigentlich sehr zufrieden sein. Ein T-Shirt-Hersteller, dessen Kleidungsstücke allabendlich vom Leib verschwinden, wäre sicher darüber ebenso erfreut wie ein Autohersteller, dessen Karossen vom Erdboden verschluckt werden würden.

Doch die Industrie, die eigentlich die nützlichsten Produkte erzeugt, hat ihren ganzen Ehrgeiz darauf verlegt, den Nutzen aus ihren Produkten zu entfernen: den Nährwert. Patente zuhauf werden eingereicht für Nahrungsmittel, die so überflüssig sind, dass der Körper mit ihnen nichts anzufangen weiß. Imitierte Nahrungsmittel, kalorienarm, ohne Fett und Eiweiß. »Die imitierten Nahrungsmittel dieser Art sollen keine Speisen mit Ernährungswert sein, sondern sollen lediglich das Essvergnügen in unbegrenzten Mengen befriedigen«, wie die Firma International Flavors & Fragrances in einer Patentschrift schreibt (DE 3638662). Der industriell hergestellte Geschmack spielt dabei eine zentrale Rolle, ermöglicht, dass etwas schmeckt – und dennoch nichts wert ist, nährstoffmäßig.

Die Industrialisierung des Geschmacks machte einen alten Menschheitstraum wahr: die Emanzipation von der Natur. Und das gleich in doppelter Weise. Der synthetische Geschmack emanzipiert die Speisen von ihren natürlichen Zwecken im Körper: Sie können völlig folgenlos durchflutschen und hinterlassen nur einen Hauch von Eindruck, ein Aroma. Und sie sind, endlich, emanzipiert von natürlichen Rohstoffen. Der Erdbeerjoghurt simuliert Früchte, die nicht da sind, und umgibt sich dennoch mit jenem Hauch, der in der Natur war.

In dieser neuen Welt des Essens gelten völlig neue Maximen. Seit die geheimnisvollen Konzerne für den Geschmack zuständig sind, die sich nicht den Essern verpflichtet fühlen, sondern ihren Investoren, geht es nicht mehr darum, dass das Essen, zum Beispiel das Huhn, gut ist, sondern dass es billig ist. Und je weniger Huhn, desto billiger. Für den Geschmack sorgen dann die Konzerne. Sie brauchen dafür auch kein Huhn, sondern etwas ganz anderes, etwas, worüber sie am liebsten schweigen wollen.

Auf die Menschen wirken soll nur die Werbung. Sie zeigt ein strahlendes Bild von Natur und Idylle und Erdbeeren, die in den Joghurt ploppen. Das ist die äußere Erscheinung. Dahinter aber breitet sich, inmitten einer Welt voller lärmender Medien, mit Internet, Fernsehen, Radio, auch Printpresse rund um den Globus eine Industrie aus, die im Geheimen agiert. Sie bestimmt, was die Menschen lecker finden sollen. Sie wirkt auf das Unterbewusstsein, steuert die Entscheidungen in den Tiefenschichten des Gehirns.

Wie die Menschen zu manipulieren sind, das ist sozusagen die Kernkompetenz dieser Konzerne. Und die Methoden werden immer raffinierter. Sie produzieren nicht nur Geschmack, sie produzieren auch Gerüche, die seit jeher wunderbare Lockmittel waren im Liebeswerben, im verführerischen Spiel der Geschlechter, weil sie ganz direkt auf die wichtigsten Zentren im Gehirn wirken, wo die Lüste wohnen, die ganz im Unterbewussten agieren. Givaudan zum Beispiel produziert auch Gerüche für die Parfüms von Gucci und Boss. Bei IFF bietet die Geruchsabteilung Düfte an, die in Parfüms von Donna Karan, Calvin Klein, Ralph Lauren zum Einsatz kommen, um die Aura des Umsprühten zu veredeln.

IFF produziert, wie ihre Konkurrenten aus der Umnebelungsbranche, auch Gerüche, die in Geschäften als Lockstoff dienen und die Kunden zum Kauf animieren sollen. Der Duft, der in der Natur die Lebewesen ganz unterbewusst steuern kann, soll auch in der Welt der Wirtschaft Entscheidungen beeinflussen.

»Warum Duftmarketing?«, fragt die australische Firma Air Aroma, die Beduftungslösungen für eine Vielzahl von Branchen entwickelt hat. »Das Ergebnis sind glücklichere Kunden, welche sich an Ihre Marke erinnern und länger verweilen.« Das Unternehmen mit Vertretungen in über 80 Ländern auf der ganzen Welt hat schon »Duftmarketinglösungen« für Modefirmen wie Benetton und Zara entwickelt, für Hotelketten wie Hilton, Novotel, Sofitel, für die Muckibuden von Fitness First, die China Merchants Bank, Autofirmen wie Aston Martin und General Motors, Lexus und Nissan und Toyota und Mercedes. Der deutsche Aroma-Gigant Symrise hat den Innenduft für die neue Mercedes S-Klasse entwickelt. »Unsere Mission ist es, die Welt besser riechen zu lassen«, sagt Air Aroma.

»Duftverschmutzung«, giften hingegen die Gegner. Die Gerüche werden in solchen Mengen versprüht, dass Verbraucherschützer schon protestieren: Die »Kommission Innenraumlufthygiene« des deutschen Umweltbundesamtes warnte vor Allergierisiken. Die britische Universität Bristol wies auf Gefahren für Schwangere und ihre Babys hin: Diejenigen, die zu Hause einen »Luftverbesserer« hatten, litten häufiger unter Kopfschmerzen und Depressionen, ihre Babys öfter unter Ohrinfektionen und Durchfall.

Und der Arbeitsstress steigt auch, ganz unmerklich. Denn Firmen können per Beduftung von Büros und Fabriken den Arbeitseifer ihrer Beschäftigten ein bisschen heben. Für die Planung von Klimaanlagen mit bewusst nicht wahrnehmbaren, leicht manipulativen Beigaben hat IFF ein Merkblatt zusammengestellt, das über die Wirkungen der verschiedenen Gerüche auf die Psyche Auskunft gibt.

Gegen Ärger und Zorn, in vielen Firmen ja leider an der Tagesordnung, soll beispielsweise Melisse helfen, gegen Neid und Missgunst, die die Produktivität ganzer Büroetagen bremsen, wirkt Rosenduft Wunder. Depression und Melancholie verscheucht ein Hauch von Basilikum, den Kummer der Majoran. Gegen das Misstrauen, das heute Konsumenten oft hegen, sprühe man im Laden Lavendel, hypnotisch wirkt laut Merkblatt Kamille. Und im Falle von Apathie, die sowohl Kaufrausch als auch Arbeitseifer bremsen, rät IFF zu Wacholder.

Auch für die moderne Ernährung hat IFF einiges beigesteuert. Das US-Patent Nummer 4985261 sichert etwa eine Erfindung, mit der ein »Muskelfleischnahrungsmittel« in der Mikrowelle binnen weniger als 600 Sekunden bräunt und, dank eines speziellen Aromapuders, auch noch so schmeckt. Ein anderes Patent hat IFF für ein intelligentes Verfahren zur Aromaveränderung: Dank einer originellen Kombination von Chemikalien erzeugt es bei Nahrungsmitteln, Seifen und Waschpulvern eine schöne Erdbeernote, bei Zigaretten hingegen eine süß-fruchtige und zugleich holzige Note. Das Patent Nummer 4988532 schließlich schützt ein Verfahren, mit dem die Süßkraft von künstlichen Süßstoffen verstärkt, der »unangenehme Nachgeschmack« eliminiert und auch die unerwünschte Bitternis etwa bei Industriesuppen beseitigt werden kann.

Die Konkurrenz ist ähnlich innovativ: Givaudan hat sogar eine ganze Reihe von Patenten entwickelt, die das »Mundgefühl« manipulieren können und damit »bedeutende Geschäftsabschlüsse« erzielen können, wie die Firma mitteilte.

Solch pfiffige Innovationen freuen die Hersteller von Säften und Suppen, Snacks und Süßigkeiten. Für die Menschen, die solches verzehren, ist es nicht unbedingt von Vorteil: Denn der Geschmackssinn dient eigentlich der Kontrolle der Speisen, und wenn er übertölpelt wird, dann bedeutet das nichts Gutes. Und es ist auch so ziemlich das Gegenteil dessen, was die Werbung verspricht, eine Welt voller Schönheit der Natur.

Aromaproduzenten wie Givaudan und IFF sind, vielleicht deswegen, nicht übermäßig an Publicity interessiert. Die bescheidenen Konzerne laborieren still im Winkel, bleiben inmitten einer schrillen Welt mit Fernsehwerbung, Leuchtreklame, Radiospots fast rumpelstilzchenhaft ruhig: »Ach, wie gut, dass niemand weiß …«

Wo die Branchenführer so bescheiden sind, da wollen sich die anderen Geschmacksindustriellen auch nicht in den Vordergrund drängen: Symrise zum Beispiel, der führende deutsche Aromakonzern aus dem niedersächsischen Holzminden. »Wir sind eine sehr zurückhaltende Branche«, sagte lächelnd einer der leitenden Herren des Unternehmens. Auch über ihre Abnehmer sagen die Aromaproduzenten ungern etwas oder gar zu den Produkten, denen sie Geschmack verleihen: »Da möchte ich keine Äußerung machen, wo wir vertreten sind«, sagte etwas gewunden ein US-Aromamanager. Sie dürfen das auch deshalb nicht, weil ihre Auftraggeber, die Food-Konzerne, das nicht wollen.

So kennt sie kaum einer, doch ihre Produkte sind in aller Munde:

Wer morgens Kaba trinkt, schluckt Geschmack aus dem Labor, wer lieber Jacobs Schoko Cappuccino mag, ebenfalls. Müllers Joghurt mit der Knusperecke Schokomüsli ist schmackhaft dank der Künste der Chemiker. Auch Pfannis Bauernfrühstück, Maggis La Pasta Penne Tomate-Mozzarella oder die 5-Minuten-Terrine Asia – alles Aroma. Der Cremespinat fix und fertig von Iglo, ja sogar der Gemüsefond der Feinschmeckerfirma Lacroix und die eigentlich puristisch anmutenden jungen Erbsen (Sehr fein) von Bonduelle – nichts schmeckt ohne die Zutat aus der Retorte. Wer abends gern knabbert, kommt auch kaum darum herum: Chio Chips Red Paprika, Gold-Fischli Maxi Mix – der Tag geht, Aroma bleibt.

Ein Entweichen ist schwer möglich: Die schöne neue Welt des Essens kennt kaum noch aromafreie Zonen. Auch die US-Backwarenfirma General Mills hat für ihre Knack& Back Croissants das Fabrikaroma in den Teig gemischt, Unilevers Tee-Tochter Lipton trimmt damit ihren »Ice-Tea«. Die simple Vollmilchschokolade des eidgenössischen Edelproduzenten Lindt, laut Packungsaufdruck nach »Original Schweizer Rezept« hergestellt, enthält die moderne Geschmackszutat. Die ganzen Schweizer Klassiker: eine einzige Geschmackstäuschung. Im Bircher Müsli von Emmi, bei der Toblerone, im Eis sowieso, etwa dem Modell Extreme von Nestlé Frisco – der Geschmack wird beigefügt, als »Aroma«.

In Österreich ist das auch nicht anders, in den Echten Salzburger Mozartkugeln von Mirabell etwa oder den Waffeln von Manner. Und sogar in Frankreich, dem Mutterland der feinen Küche: Das Knabbergebäck Les navettes de Provence – aromatisiert wie die Sauce à l’Echalote von Knorr (»Der Geschmack ist unsere Natur«), von Maggi die Sauce Hollandaise (»Saveur à l’Ancienne«) und die Milchprodukte von Danone, wie das Activia Muesli, und der Kindertrank Nesquik von Nestlé France. In Italien lieben sie die Bambini, aber traktieren sie schon mit Chemiearoma, im Kinder-Süßzeug von Ferrero, etwa den Kinder Pingui, oder den Babyprodukten wie Nestlés Mio Merenda al Latte Geschmacksrichtung »Banana«, dem Pudding Budino Cremoso von Cameo, wie Italiens Dr. Oetker genannt wird. Und im Familiengebäck von Mulino Bianco Molinetti aus dem Hause Barilla.

Der spanische Hersteller Gallina Blanca aromatisiert seine Instantsuppe Consomé al Jerez, Japans Nissin die Cup-Noodles mit Shrimps. Oder China: Auch im Reich der Acht Köstlichkeiten ist die industrielle Geschmacksrevolution ausgebrochen. Die Kelloggs Cacao Frosties, die Schinken Mais Suppe von Knorr aus der Tüte. Der Maggi West See Rindfleisch Suppen Mix: Die westlichen Invasoren sind die Aromaavantgarde, aber die Chinesen kopieren schnell: Bei den beliebten Instantnudeln Nudeln mit gebratenem Rindfleisch von Meister Kang. Den Bonbons Marke Großer Weißer Hase. Dem Suppenkonzentrat Dicke Suppe Schatz. Den Milchkügelchenbonbons Blühende Jugend. Alles aromatisierte Köstlichkeiten.

Und sogar die bei Kindern in der Südsee sehr beliebten Snacknudeln in Geschmacksrichtung »Rind« oder »Huhn«, von den Nestlé-Niederlassungen in Fidschi, Tahiti, Papua-Neuguinea und Neukaledonien. Alles Aroma.

Die industrielle Parallelwelt der Nahrung: Sie dominiert mittlerweile das Geschmacksempfinden überall auf dem Globus. Es gibt keine weißen Flecken mehr.

Sogar die Biolebensmittel sind oft aromatisiert, allen voran der Trend-Drink Bionade, aber auch die Alnatura-Schokolade Chili Kirsch. Die Bio-Verordnung der Europäischen Union erlaubt die Geschmackstricksereien ausdrücklich.

Aroma aus dem Labor ist die Leitsubstanz der modernen Lebensmittelproduktion. Ohne die geheimnisvollen Pülverchen und Säfte wären die Produkte der industriellen Parallelwelt zumeist ungenießbar und damit unverkäuflich.

Aroma ist nötig, um geschmacklose Rohstoffe aufzuwerten. Aroma ist wichtig, um den unangenehmen Beigeschmack der Lebensmitteltechnik zu übertünchen (»maskieren«, wie das in der Fachsprache der Chemieartisten heißt). Aroma soll Geschmack vortäuschen, der im Produktionsprozess längst verflogen ist.

Denn die hochtechnisierte Produktion treibt der Nahrung den Geschmack aus: Die Agro-Industrie hat Tomaten, Kartoffeln, Blumenkohl so optimiert, dass sie den industriellen Bedürfnissen entsprechen, sie sind pflegeleicht, schnell wachsend, ertragsstark. Der Geschmack spielt dabei natürlich nicht die wichtigste Rolle, die Agro-Industrie will ihre Erzeugnisse ja nicht essen, sondern verkaufen.

Im Produktionsprozess verfliegt der Geschmack von Blumenkohl, Sellerie, Hühnchen weiter, bleibt dann irgendwo zwischen Fließbändern und Maschinenstraßen auf der Strecke. Die Lebensmittelindustrie bekommt diese Erzeugnisse schon ziemlich geschmacksneutral in getrocknetem, zerlegtem, vorbehandeltem Zustand. Den Hummer als Pulver, das Huhn, das in die Suppe soll, in Form von Kügelchen, die aussehen wie Nescafé. Die Rohstoffe müssen besondere Anforderungen erfüllen: Sie müssen möglichst lange halten. Sie müssen auch den härtesten Torturen in den Maschinen widerstehen. Und sie müssen, vor allem, billig sein.

Der letzte Rest verduftet dann während langer Wochen, Monate und Jahre im Supermarktregal.

Der Geschmack ist ein Opfer des Verfahrens, der Technik, des Produktionsprozesses, des Fortschritts in der industriellen Herstellung. Und auch des Kostendiktats. In der modernen arbeitsteiligen Produktion sind ja nicht nur Bauern, Gärtner und Köche tätig. Dazu haben sich ja Bataillone von Kostenfressern gesellt.

Für gute, geschmackvolle Rohstoffe hat die Lebensmittelindustrie fast kein Geld mehr übrig: Das haben längst die Ingenieure kassiert, die die Suppen und Saucen konstruiert haben. Die Patentanwälte, die das Essen in der jeweiligen Bauweise schützen ließen. Die Spediteure, die die Rohstoffe aus aller Welt herbeikarren. Und die Werbeagenturen, die im Fernsehen die Illusion erzeugen müssen, es handle sich dabei um echtes Essen, pure Natur, in der der bärtige Senn in postkartenschöner Bergwelt die rahmige Alpenmilch für die Schokolade eigenhändig in die Milchkanne kippt.

Ein Arbeiter mit dem Milchpulversack in der Fabrik oder eine stinkende Fischtrockenstätte würde sich im Fernsehen eben nicht so gut machen.

Das Problem ist: Die Illusion, es handle sich dann etwa bei einem Produkt namens »Hühnersuppe« um eine solche, muss glaubhaft aus der Tüte rieseln und nach Begießen mit Wasser sinnlich so erscheinen.

Das ist nicht ganz einfach. Eine Hühner-Suppe mit Nudeln aus dem Hause Knorr beispielsweise enthält nur zwei Gramm »Trockenhuhn« in Form von Kügelchen. Das entspricht gerade mal sieben Gramm vom Fleisch eines echten Federviehs (»Nasshuhn«). Damit kann natürlich kein Koch der Welt Hühnergeschmack in vier Teller Suppe zaubern. Knorr kann das – mit einem Gramm »Aroma«, dem Geschmack aus der Fabrik. Das gibt zwar keine echte Hühnersuppe, aber immerhin eine »vergleichbare Lösung«, wie ein Knorr-Chemiker diese Flüssigkeit nennt. Preis im Handel: 79 Cent.

Eigentlich ist es vermessen, das Erzeugnis nach jenen winzigen, im Milligrammbereich liegenden Spuren von Fleischextrakt zu taufen, wie zum Beispiel die Klare Rinds-Bouillon von Maggi. Eigentlich müsste das Erzeugnis nach seinen wesentlichen Zutaten benannt werden: »Jodsalz-pflanzliches-Fett-Geschmacksverstärker-Bouillon«.

Das klingt nicht sehr schön. Womöglich würden die Suppenfreunde ein solches Erzeugnis gar nicht kaufen wollen. Die Wahrheit würde, in der industriellen Parallelwelt der Nahrung, als Appetitbremse wirken. Also bleibt strengste Geheimniskrämerei und die Kosmetik am Etikett.

Die Suppe lügt.

Doch auch das Brot des Bäckers ist nicht immer ganz ehrlich, das Brötchen nicht, und selbst der Kuchen schwindelt. Auch Baguette, Brioches und Croissants von französischen Bäckern sind oft nur dank der Künste des Chemikers von Wohlgeschmack: Eine Firma mit dem etwas seltsamen Namen Phil Xn aus dem französischen Städtchen Pont de Veyle in der Nähe von Lyon verkauft unter der Marke Philibert Savours Aromen für solche Backwerke. Das Backtempo, sagt der Chef bei einer Präsentation auf einer Zusatzstoffmesse, sei heute so hoch, dass der Geschmack leider nicht mehr entstehen könne. Eine Prise seiner Pülverchen wirkt da Wunder. Wie das hergestellt wird? Das ist geheim.

Betroffen davon sind indessen nicht nur Franzosen: Die Produkte der Backwarenfälscher sind auf der ganzen Welt zu finden, praktisch in ganz Europa, in Südamerika, sogar in Japan.

Die schwedische Firma Aromatic mit Niederlassungen in Deutschland, England, Polen, Ungarn, in Serbien, der Türkei und den USA warb sogar mit fast konspirativer Verschwiegenheit für ihre Ingredienzen, die die Backwaren billiger, schmackhafter und haltbarer machen sollen: »Erzählen Sie uns von Ihrer Produktion, und wir werden sie gemeinsam verbessern. Niemand wird verstehen, wie Sie es gemacht haben. Das ist es, was wir ›Secret Service‹ nennen.« Der Geheimdienst des Bäckers arbeitet also konspirativ und professionell; wenn wir beim Kaffeekränzchen in den Plunder beißen, merken wir gar nichts.

Und wer abends, bei einem Gläschen Wein, den Tag ausklingen lässt, schluckt womöglich auch bloß Illusionen: Die belgische Firma Stiernon verkauft ein Erzeugnis namens »Oxylent«, das den Geschmack eines wertvollen, im Holzfass gereiften Weines vorgaukeln soll. Sehr attraktiv für Panscher, denn sie können ein Billiggesöff für teures Geld verkaufen. Vier Gramm reichen für 100 Liter. Ein Welterfolg: in Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, Australien, den USA, Chile, Südafrika, Neuseeland, Argentinien. Welche Winzer zu den Kunden zählen, das mag der Chef leider nicht verraten, »denn die wollen ihr Geheimnis für sich behalten«.

Immerhin wird das Herstellungsgeheimnis wenigstens ein bisschen gelüftet durch das amerikanische Patent mit der Nummer US 7396549 B2, das den Ablauf des Weinwunders beschreibt. Im Zentrum stehen »Sägespäne«, die in der geheimnisvollen neuen Welt des Geschmacks offenbar eine ganz zentrale Rolle spielen.

Die Lüge wirkt. Die Wahrnehmung täuscht. Unsere Sinneswahrnehmungen sind geblendet. Und alles mit ultrawirksamen Mitteln, die in minimalsten Mengen eingesetzt werden. Die diskreten Helfer der Lebensmittelindustrie operieren in einem Bereich, der Undercover-Einsätze sehr erleichtert, denn die Geschmacksmanipulationen sind gleichsam unsichtbar, mit den menschlichen Sinnen kaum zu erfassen. Für Geschmacksveränderungen genügen oft unvorstellbar kleine Mengen chemischer Substanzen. Das 2-Acetyl-1-Pyrrolin, das für den Geschmack der Weißbrotkruste verantwortlich ist, wirkt schon in einer Dosis von 70  Millionstel Gramm pro Kilo. Ein Stoff namens Menthenthiol löst mit nur 0,2 Milliardstel (0,0000000002) Gramm pro Liter den Geschmackseindruck von frischem Grapefruitsaft aus. Und von Filberton, jenem Stoff, der Joghurt beispielsweise nach Haselnüssen schmecken lässt, genügen winzige 5 Milligramm, um eine Million Liter Wasser zu aromatisieren.

Von den ultrawirksamen Substanzen werden erstaunliche Mengen verkauft: In der Europäischen Union stehen nach einer österreichischen Regierungsstudie die Geschmacksstoffe an der Spitze aller Zusatzstoffe, mit geschätzten 2,6 Millionen Tonnen (2013). Tendenz: steigend, um vier Prozent im Jahr.

Mehr als die Hälfte dessen, was die Menschen hierzulande verzehren, ist industriell aromatisiert. Wenn also jemand ein Kilo Essen am Tag verspeist, stammt bei einem Pfund davon der Geschmack aus der Retorte. Die Menschen mögen offenbar das Essen, das vom Fließband kommt, immer lieber. Und sie wollen sich immer seltener selbst an den Herd stellen. Dabei haben sie noch nie so viel Freizeit gehabt wie heute, manche arbeiten nur noch 35 Stunden in der Woche oder auch, zumeist zwangsweise, gar nicht. Doch die vielen Mußestunden verbringen sie lieber mit Computerspielen oder im Kino, vor dem Fernseher oder im Fußballstadion. Das Wichtigste, Überlebensnotwendige, tagtäglich Unausweichliche, die Zubereitung ihres Essens, überlassen sie lieber Ingenieuren, Technikern und Chemikern.

»In den Niederungen der deutschen Alltagskochkunst macht sich Verfall breit«, klagte schon die Süddeutsche Zeitung: »Ein ganzes Volk läuft Gefahr, sein Wissen über Fertigkeiten preiszugeben, das ihm von seinen Müttern und Vätern seit Urzeiten überliefert worden ist.« Anlass für die küchenkulturpessimistische Klage waren Umfragen, wonach die Kompetenz am heimischen Herd rapide schwindet: Fast 40 Prozent aller Deutschen, so hatte die Deutsche Presse Agentur gemeldet, können kaum noch kochen. Eine andere Umfrage führte zu dem erschreckenden Ergebnis, dass von den Deutschen zwischen 20 und 30 Jahren nur noch jeder vierte in der Lage ist, einen Schokoladenpudding ohne Päckchen zuzubereiten.

In Österreich, so ergab eine Studie aus dem Jahr 2013, kochen schon 30 Prozent der Eltern nie mit ihren Kindern. »Diese Kinder können von gesunder Ernährung gar nichts mitbekommen«, sagt Meinungsforscherin Sophie Karmasin. Mehrmals die Woche kochen nur 24 Prozent mit ihren Kindern, so die Untersuchung ihrer Firma Karmasin Motivforschung im Auftrag des Rewe-Konzerns.

In Großbritannien scheint schon der Esstisch vom Aussterben bedroht: Dort machte eine Online-Umfrage Furore, nach der die meisten nur noch im Gehen oder vor dem Fernseher essen. Fast 30 Prozent sagten, sie benutzten den Esstisch lediglich »ein paar Mal im Jahr«. Vier Prozent niemals. Und für drei Prozent ist das ohnehin kein Thema: Sie haben gar keinen Esstisch. »Wird Essen am traditionellen Esstisch obsolet?«, fragte kulturpessimistisch das Massenblatt The Telegraph.

In Deutschland stammen 75 Prozent alles Verzehrten aus industrieller Produktion, in den USA, dem Pionierland des modernen Lebens, sind es schon 95 Prozent. In der Mehrzahl der amerikanischen Mittelstandshaushalte wird bereits überhaupt nicht mehr gekocht. Speisen, die am heimischen Herd gekocht werden, hätten in den USA schon einen Platz auf der »Liste vom Aussterben bedrohter Arten«, jubelte das Fachblatt Food Technology, das Zentralorgan der US-Lebensmittelingenieure. Die meistverzehrte Speise in den USA ist die Pizza, sie genössen die Amerikaner, wie Food Technology ermittelte, doppelt so oft wie Sex.

Und selbst in der Pizza kommt der Geschmack oft aus dem Labor.

Im Geschmack aber liegt die Seele der Speisen. Wer den Geschmack manipuliert, verändert nicht bloß Äußerlichkeiten, sondern macht sich am Wesen der Lebensmittel zu schaffen, täuscht nicht vorhandene Qualitäten vor, führt die Esser hinters Licht. Wer Essen nachmacht oder verfälscht, wer die Nahrung verändert mit den Mitteln der Technologie, greift tief ein ins Leben der Menschen, beeinflusst ihren Körperbau, ihre Hirnfunktionen, ja sogar Gedanken und Gefühle. So wie Alkohol und andere Drogen die Befindlichkeit beeinflussen, so wirken die ganz normalen und auch die künstlichen Essensbestandteile auf das Gehirn. Und können dort Schaden anrichten. Glutamat beispielsweise, der Geschmacksverstärker. Oder Aspartam, der Cola Light-Süßstoff.

Die Menschen wissen all das nicht. Sie vertrauen auf die Versicherungen der Hersteller, dass alles in Ordnung sei. Und darauf, dass der Staat sie schützt. Zu Unrecht: Der Staat hat längst kapituliert, er kann in der schönen neuen Welt des industrialisierten Essens nicht mehr für Unbedenklichkeit sorgen – und will das auch gar nicht. Die Menschen sind auf sich selbst gestellt, selbst dafür verantwortlich, was sie zu sich nehmen, ob es ihnen schadet oder guttut. Dabei spüren sie gar nicht, was der manipulierte Geschmack mit ihrem Körper macht. Wenn sie etwas essen, weil sie Lust darauf haben, und die Lust dann ins Leere läuft.

Beispiel Erdbeere. Erdbeeren sind ja gesund. Vitamin C, Mineralstoffe. Deshalb mögen ja alle Erdbeeren. Die weltweit überbordende Lust auf Erdbeereis aber, auf Erdbeerjoghurt, Erdbeerdessert ist durch echte Beeren längst nicht mehr zu befriedigen. Die gesamte Welterdbeerernte würde, klassisches Beispiel, gerade reichen, um fünf Prozent des US-amerikanischen Bedarfs für Erdbeerprodukte zu decken.

Wenn es nur die echten Früchte gäbe, könnte also nur jeder zwanzigste US-Erdbeerfan befriedigt werden. Für italienische Erdbeerdessertfreunde, französische Erdbeermoussefans bliebe nichts, und auch in Deutschland könnte man, so sagt ein Qualitätskontrolleur der bayerischen Großmolkerei Müller, ohne den Einsatz von Ersatz-Aroma »den Erdbeerjoghurt glatt vergessen«.

Das ist dann allerdings mehr als eine Geschmacksfrage. Erdbeeren sind ja gesund, nicht aber das »Aroma« aus dem Labor. Aroma hat ja keinen Nutzen, sein Nährwert ist gleich null. Doch der Mensch lebt ja von der Nahrung, weil sie ihn nährt. Die Lebensmittel sind für den Menschen gewissermaßen das, was das Benzin fürs Auto ist.

Nun würde niemand mit seinem Auto Experimente wagen, zum Beispiel etwas in den Tank kippen, was nur wie Benzin riecht, in Wahrheit aber, sagen wir, Wasser mit Benzin-Aroma ist. Selbst wenn es »natürliches« Benzin-Aroma ist: Das Auto fährt, würden wir empört sagen, ja schließlich mit der Energie aus dem Benzin. Ganz sicher ginge das Auto kaputt, wenn man Wasser einfüllen würde, auch wenn das röche wie Benzin.

Geschmack und Geruch informieren uns darüber, wie etwas beschaffen ist. Der Geschmack kommt ja gemeinhin aus den einzelnen Substanzen, bei einer Bouillon beispielsweise, die auch »Kraftbrühe« genannt wird, aus dem Fleisch, aus Sellerie, Möhren, Zwiebeln, Lauch. Wenn der Mensch nun, mit den Mitteln der Chemie, nur vorgespiegelt bekommt, er äße Bouillon, in Wahrheit aber isst er eigentlich nur Wasser mit chemisch erzeugten Geschmacksillusionen, dann fehlt ihm etwas, nämlich all das, was Kraft macht. Und sein Körper nimmt, langfristig, Schaden.

Erdbeerjoghurt, bei dem die Erdbeeren durch Aroma ersetzt werden. Frucht-Zwerge, bei denen die Früchte tatsächlich nur in zwergenhafter Dosis enthalten sind: Das ist ja eigentlich Beschiss. Auf jeden Fall für den Körper. Denn er bekommt nicht das, was ihm versprochen wird. Oder Vanilleeis ohne Vanille.

Oder Vanille. Vanille ist der wichtigste Geschmack. Auf der Welt. Im Eis. In der Babynahrung. Nur echt ist er meist nicht. Er ist meist nur: Aroma. Erfunden wurde er in Deutschland. Da wachsen natürlich keine Vanillesträucher. Aber Bäume. Und dann braucht es nur noch einen findigen Chemiker, und ein Geschmack ist geboren, der zum Welterfolg wird. Sein Name: Vanillin. Klingt wie Vanille, schmeckt wie Vanille, ist aber ein »Betrugsmolekül«, wie das die Lebensmittelkontrolleure nennen.

2. Übler Geruch:
Die Emanzipation des Geschmacks
von der Natur

Vom Segen der Natur: Über das Kunststück, australischen Sägespänen das »natürliche« Aroma von Erdbeeren zu entlocken / Toll: Ein vegetarisches Aroma »Typ Rinderbraten« / Die Kollateralschäden der Geschmacksproduktion / Ein Patent, um Früchte vorzutäuschen

Für ein Huhn ist das eigentlich keine schöne Umgebung. Keine Körner, keine Leiter, kein Auslauf, stattdessen Fässer, ein Labyrinth von Röhren, Säcke voller Chemikalien. Doch Tierschützer können beruhigt sein. Kein Gockel hat hier je gekräht, keine Henne je gegackert. Gleichwohl hat die Firma »Hunderte Hühner« im Angebot, sagt ein leitender Angestellter.

Er meint das nicht so. Der Mann könnte mit flatterndem Federvieh gar nicht viel anfangen: Er ist Chemiker von Beruf und hat ein eingeschränktes Bild von so einem Tier.

Er produziert, um genau zu sein, nur den Geschmack von Huhn, seine Firma versorgt damit Kunden wie Maggi und Knorr. Und das geht heutzutage ganz ohne Gockel, einfach mit einer gewissen Menge Chemikalien.

Seine Firma ist global aktiv, gehört zu den führenden Größen in diesem Geschäft und war Pionier bei der industriellen Herstellung von Geschmack.

Es begann mit: Vanille.

Auch Vanille gibt es hier nicht. Es ist ja nicht Madagaskar, sondern das Weserbergland im deutschen Norden. Und es wachsen auch keine Vanillesträucher hier, sondern Fichten.

Macht nichts.

Der Ort, an dem die Firma noch heute produziert, ist von großem Symbolwert. Sie ist umgeben von Wäldern. Buchen. Eichen und eben Fichten. Schon der Name der Stadt deutet auf den Rohstoff hin, der hier am Anfang der Entwicklung stand: Holzminden. Mit den Hölzern aus den heimischen Wäldern hat alles begonnen, hier in dieser Stadt, die die Sinne reizt. Ein dominanter Duft liegt in der Luft, mal nach Himbeeren, mal nach Erdbeeren. Und manchmal hängt auch ein heftiger Hauch von Kaugummi über den Häusern.

Genau genommen handelt es sich um Emissionen. Der Duft entweicht den Fabriken, die hier Aroma produzieren. Tonnenweise, industriell genormt und von immer gleicher Güte. Manchmal gibt es, so räumt die Firma ein, auch »Geruchsbeschwerden«, denen mit »massiven Investitionen« begegnet werden muss. Das ist leider so üblich, wenn der Geschmack industriell produziert wird. Beim weltgrößten Geschmackskonzern Givaudan riecht es manchmal nach fettiger Pizza. Zum Beispiel.

In der Schweiz gibt es sogar eine Bürgerinitiative dagegen, die »IG Stinkfabrik«. Sie wenden sich an ihre Mitbürger mit Aufrufen. Überschrift: »HIER STINKT’S! Nach Kohl? Nach Vergorenem? Nach Aas? NACH GIVAUDAN!« Der Aufruf richtete sich an alle Einwohner von Dübendorf, das ist in der Nähe von Zürich, »deren Wohnqualität durch die Geruchsemissionen der Givaudan AG beeinträchtigt wird«. Und er fragt: »Wie oft erleben Sie folgende Situationen? Sie öffnen die Fenster, um Ihre Wohnung zu durchlüften: Statt der erhofften frischen Luft überflutet ein übler, undefinierbarer Geruch Ihre Räumlichkeiten. Sie genießen einen lauen Sommerabend – möglicherweise mit Gästen – auf Ihrem Balkon, in Ihrem Garten und werden von einer widerlich riechenden Geruchswolke überfallen. Sie schlafen bei offenem Fenster und erwachen um drei Uhr nachts, geweckt von einem penetranten Geruch … Von wo? … Von Givaudan! Givaudans erfolgreiche Produktion von Aromen und Duftnoten in Ehren, doch halten wir es für unangemessen, ja für unzumutbar, dass die Anwohner der Givaudan den Preis dafür mit dem Verlust von frischer Atemluft zu bezahlen haben.«

Deshalb haben sich die Betroffenen zur »Interessengemeinschaft (IG) Stinkfabrik« zusammengetan. Sogar die Stadtverwaltung hat reagiert – und ein Beschwerdeformular ins Internet gestellt.

Das sind sozusagen die Kollateralschäden der Intensivproduktion von Geschmack. Und nur die sinnfälligste Folge der Entwicklung. Wenn gekocht wird, duftet es. Wenn Aroma produziert wird, stinkt es. Denn Geschmack und Geruch haben sich von ihrem Ursprung gelöst, sie werden aus völlig neuen Quellen gewonnen, hoch konzentriert – und dabei mitunter in Gestank verwandelt.

Dass der Geschmack sich von der Natur emanzipiert hat, das ist vielleicht die folgenreichste Leistung der industriellen Parallelwelt der Nahrung. Es ist eine Welt ohne Grenzen, in der es keine Jahreszeiten gibt, keine Schwankungen in Qualität, Menge, Geschmack. Kurz: keine Lieferprobleme. Aber auch: keinen Nährwert.

Der Geschmack bleibt rein äußerlich, erzeugt von einer Substanz, die ein Geheimnis bleibt, von Chemikalien, die den Geschmack hervorrufen, mitunter dubiosen Rohstoffen. Holz haben sie in Holzminden reichlich, und so stand das Holz auch am Anfang in der Geschichte der Geschmacksnachahmung, die hier begann, mitten im Wald.

Eigentlich liegt die 22000-Einwohner-Gemeinde im Kosmos der Kulinarik eher am Rande. Die Gegend zwischen Göttingen und Bielefeld, zwischen Harz und Teutoburger Wald, das Weserbergland ist für Feinschmecker eine tote Zone. Sogar das beste Restaurant am Platze, »Hellers Krug«, gilt, gemessen an den herkömmlichen kulinarischen Koordinaten, bloß als Mittelklasse. Über Champagnersenfsuppe und einen Fisch namens Hoki rümpfte der Guide Michelin, in der alten Welt des Wohlgeschmacks ein anerkannter Wegweiser, die Nase, entzog ihm schon 1997 den Stern, der das untere Ende der Oberklasse markiert, und behielt ihn fortan ein. Dem Ruf des Ortes in der neuen Welt des Geschmacks hat das nicht geschadet.

Die Stadt ist sehr stolz auf ihre Geschmacksindustrie, »Stadt der Düfte und Aromen« nennt sie sich, verweist in ihrer Selbstdarstellung stolz auf den Ursprung der wichtigsten Firma. Symrise heißt das Unternehmen, ein Gigant des Geschmacks, es zählt mit einem Marktanteil von über zehn Prozent und Niederlassungen in 35 Ländern zu den vier größten Produzenten von Duft- und Aromaillusionen auf der Welt. 5700 Leute produzieren in den Holzmindener Fabriken und den Produktionsstätten rund um den Globus 7000 verschiedene Geschmackskomponenten und setzen damit über 1,7 Milliarden Euro um. Symrise gehört, so verkündet die Firma stolz, weltweit »zu den profitabelsten Unternehmen der Branche«, mit einem Gewinn vor Steuern von knapp 20 Prozent des Umsatzes – ganz ähnlich wie beim Marktführer aus der Schweiz.

Geschmacksfälschung ist ein lohnendes Geschäft. Und hier haben sie damit die längste Erfahrung. Der Geschmacksriese aus dem Holzmindener Hügelland ist einer der Pioniere bei der globalen Umwandlung des sinnlichen Empfindens.

Dem Chemiker Dr. Wilhelm Haarmann gelang 1874 ein folgenschweres Kunststück: Er fand einen synthetischen Ersatz für Vanille, nannte es Vanillin, gründete auch gleich eine Fabrik und hob damit, so die Firmenchronik, »einen völlig neuen Industriezweig aus der Taufe«.

Der neue Industriezweig widmete sich einem Geschäft, das es bis dahin gar nicht gab: der Geschmacksfälschung. Das war nicht verboten, weil ja gar niemand wusste, dass das überhaupt möglich war. Vanille wuchs ja schließlich in Madagaskar, und wer hätte sich jemals vorstellen können, dass der Vanillegeschmack nun plötzlich aus Holzminden kommen sollte. Bis der Chemiker Haarmann kam mit seiner Idee.

Sein Rohstoff: Holz. Genauer: Die Rinde von Fichten. Haarmann gründete nach erfolgreicher Verwandlung heimischer Hölzer in edlen Geschmack »Haarmann’s Vanillinfabrik«. Durch das Upgrading wurde Haarmann zum »Vanille-König«, so das Westfalen-Blatt: »Wilhelm Haarmann wurde in nur wenigen Jahren ein reicher Mann. Die Fabrik in Holzminden expandierte.« Sein »Anwesen« galt als »gesellschaftliche Topadresse«. »Es gab viel Personal, man hielt Hof und ritt mit edlen Pferden im eigenen Park aus. Die exklusive Villa war damals eine Schau.« Später trat dann ein anderer Geschmackstüftler namens Karl Ludwig Reimer in die Firma ein, die fortan »Haarmann & Reimer« hieß.

Im gleichen Ort zu jener Zeit wirkte auch ein Friseur namens Carl Wilhelm Gerberding, auch er ein Mann mit innovativen Neigungen. Er erwarb sich Unsterblichkeit mit einer Tinktur zu doppeltem Nutzen: Er mischte verschiedene Substanzen zusammen und verkaufte sie als Haarwasser. Das brachte nicht nur die Haartolle in Form, sondern auch tolle Gefühle bei inwendigem Gebrauch. Denn: »Das Gemisch konnte man trinken«, so erzählte Gründer-Enkel Horst-Otto Gerberding einem Reporter der Süddeutschen Zeitung.

Auch Friseur Gerberding stieg ins aufstrebende Geschmacksgeschäft ein; 1919 entstand, als »kleiner Hinterhofbetrieb« (Süddeutsche Zeitung) die »Dragon Company«, ein Name, der späterhin bei der Expansion in Asien noch wertvolle Dienste leisten sollte.