Ein Generalstabsoffizier aus der deutschen Stalingrad-Armee hat das Wort:
»Meine Herren!
Im Auftrage gleich gesinnter Offiziere aus dem Kriegsgefangenenlager Nr. 97 habe ich die Ehre, Ihnen die Einstellung dieser Offiziere, die ›Stalingrad‹ als erschütterndstes Geschehen miterlebt und als notwendige Folge einer gewissenlosen Kriegführung erkannt haben, darzulegen.
– ›Stalingrad‹ wird einmal in der Kriegsgeschichte als Musterbeispiel dafür dienen, wie militärischer Dilettantismus und schonungslose Gewaltherrschaft eine Schlacht zum entscheidenden Wendepunkt eines Krieges werden ließen und damit ein tapferes Volk dem sicheren Untergang zuführten. Ein ewig unbefriedigter Ehrgeiz hat Hitler dazu gebracht, die Kriegführung selbst in die Hand zu nehmen und den Personenkreis um sich dahin zu ändern, dass nur solche Generalstäbler um ihn sind, die nicht Zirkel und Rechenkunst als Grundlage der Kriegführung anerkennen, sondern hingeworfene Entscheidungen bevorzugen. Trotzdem aber musste auch der Feldherr Hitler eine Rechnung aufstellen. Und die Gleichung, die er sich ausrechnete, setzte er von vornherein auf Sieg und Vernichtung des Gegners. Nun weiß ja jeder, dass es in einer Gleichung konstante und veränderliche Größen gibt. In der Kriegführung sind die konstanten Größen die Fragen der Reserven, des Nachschubs an Waffen, Munition und Verpflegung, die vor Beginn einer Offensive mit Zirkel und Rechenschieber genau beantwortet werden müssen. Die Variablen aber sind Lage, Verfassung der Truppe, die Stärke des Gegners. Für die Beurteilung der veränderlichen Größen muss dem Feldherrn die Gabe gegeben sein. Die Konstanten jedoch liegen fest und dürfen nicht willkürlich und laienhaft erkannt sein, sonst kann die Gleichung nicht aufgehen und aus Sieg wird Niederlage.
– Gestatten Sie mir eine kurze Analyse der konstanten Größen vor und während der Stalingrader Katastrophe. Die Angriffswellen der deutschen Truppen waren in Stalingrad durch die Sowjetarmee zum Halten gebracht. Im Süden war die Wolga erreicht. Im Norden tobte der Kampf um die Fabrikviertel. Auf der großen Generalstabskarte im Hauptquartier führte nur eine eingleisige Bahn in Richtung Stalingrad und diese brach auch noch vorzeitig vor dem Don ab. Eine einzige Brücke ermöglichte den Übergang über den Don. Der ganze Nachschub war angewiesen auf den Transport mit Lkw und Pferdefuhrwerken. Die Wegstrecke betrug bis 110 Kilometer und verlangte von Motor und Pferd Außergewöhnliches. Bei den Divisions-Verpflegungsämtern war Verpflegung nur für 8 bis 10 Tage vorhanden (Munition in Höhe der Erstausstattung). Auch bei einer Einbeziehung der Eisenbahnstrecke Rostow–Abganerowo im Süden war eindeutig zu errechnen, dass eine ausreichende Versorgung zweier Armeen, besonders kurz vor Eintritt der kalten Witterung, nicht mehr zu erreichen war. Dazu kam noch, dass die Kfz-Lage denkbar schlecht war, meistens aus Beute-Kfz französischer Herkunft bestehend. Insgesamt konnte man nur mit einer Einsatzbereitschaft von 30 Prozent des vorhandenen Kfz-Parks rechnen. Zu erklären ist dies durch die Schwierigkeiten der Ersatzteilbeschaffung von den bis über 200 Kilometer entfernt liegenden Versorgungsbasen, und durch den außerordentlich großen Zylinderverschleiß der Motoren infolge der Sandeinwirkung während des Sommerfeldzuges. Die Versorgung durch Pferde war nicht ausreichend. Die angefüllten Lager lagen weit von der Front entfernt und es mangelte an Transportmöglichkeiten.
– Wir erinnern uns an den 8. November, als Hitler sagte: ›Alles das, was uns im vorigen Jahr passierte, passiert uns diesmal nicht mehr.‹ Die Wirklichkeit bewies aber, dass trotz ernstester Mahnung seitens der Kommandostellen Winterkleidung und Winterausrüstung nur in mangelhafter Menge, beziehungsweise überhaupt nicht, geliefert worden war.
– 19. November: die Sowjetarmee ging zum Angriff über. Resultat: die Einkesselung der 6. Armee. Was war geschehen? Die Versorgungsbasen waren abgeschnitten, die Lager der Divisionen im Südteil vernichtet. Der geringe Betriebsstoffvorrat schränkte die Versorgung durch Kfz auf ein Minimum ein. Frost und Schnee erschwerten den Transport durch Pferde.
– Vom Hauptquartier kam die Zusicherung, dass die Lufttransportflotte täglich 300 t Versorgungsgüter einfliegen würde, was 150 Einflügen am Tage gleichkäme. In Wirklichkeit belief sich die Lieferung pro Tag zuerst auf 120 t gleich 60 Einflügen als Maximum.
Nüchterne Zahlen stehen sich gegenüber.
Pro Tag notwendig:
Munition – 120 t; | angeliefert – 40 t |
Verpflegung – 100 t; | angeliefert – 35–40 t |
Betriebsstoff – 60 t; | angeliefert – 10–20 t |
Dies unter Zugrundelegung, dass Entsatz bevorstehe und der Fleischbedarf durch Schlachtung aus dem Pferdematerial gedeckt werde.
– 9. Januar: Der Tag des Ultimatums. Der Kessel war verengt worden. Kälte, Nebel und feindliche Abwehr erschwerten den Flugverkehr. Nur noch ein Drittel der bisher eingeflogenen Mengen konnte herbeigeschafft werden. Das bedeutete, dass statt 120 t nur 40 t pro Tag der Armee an Verpflegung, Munition, Betriebsstoff zur Verfügung standen, oder 12 Prozent der geforderten Mengen.
– 26. Januar: Der Ring schließt sich enger. Die letzten Anflugplätze sind in der Hand des Gegners. Die Versorgung kann nur noch durch Abwurf von Versorgungsbomben erfolgen. Das bedeutet, dass die Armee dem Hungertod ausgeliefert ist. Der Tag ist zu ersehen, wo wirklich die letzte Patrone verschossen sein wird. Diesen Tag genau zu errechnen, muss jedem Feldherrn möglich sein.
– Ich hoffe, durch Anführung der nüchternen Tatsachen und wahren Zahlen den Beweis erbracht zu haben, dass Hitler sich niemals die Mühe gemacht haben kann, die konstanten Größen in der Rechnung auch nur oberflächlich zu berechnen, und dass die Gleichung, die Hitler gleich Sieg gesetzt hat, niemals zu lösen war. Ist es nur Dilettantismus, ist es sträflicher Leichtsinn, ist es brutales Befriedigungsbedürfnis eines ehrgeizigen Mannes gewesen, was zur Vernichtung einer ganzen Armee geführt hat – die Tatsache bleibt: es war ein Verbrechen an der deutschen Nation!
– Die moralische Verfassung des deutschen Stalingrader Soldaten, ob Mann oder Offizier, erbringt einen weiteren und den schlüssigsten Beweis, der je für ein solches Verbrechen geliefert wurde. Der Sommerfeldzug 1942 war zu Ende, und mit bangem Herzen, aber treu und tapfer, marschierte der deutsche Soldat in das weite fremde Land, gegen Osten, dem Winter entgegen. Er marschierte in blindem Vertrauen auf Hitler. Er nahm auch noch das Letzte auf sich und kämpfte selbst noch, als die Einkesselung Tatsache geworden war. Das Vertrauen, der Gehorsam, der Glaube an den Feldherrn Hitler war voll und ganz vorhanden. Dieser Mann aber wagte es, der deutschen Armee in Stalingrad, obwohl er wusste, dass die Opfer sinnlos geworden waren, mit kaltem Herzen zuzurufen: ›Haltet aus, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um euch herauszuhauen!‹ Er wagte es, eine Armee in den sicheren Tod zu schicken. Und die Soldaten glaubten an Hitler, sie kämpften, sie froren, sie hungerten, sie rannten an, sie starben. – Ich hätte heute einen Wunsch: euch an der Front und euch in der Heimat die traurigen Augen der Stalingradkämpfer zeigen zu können, als sie erkannten, dass ihr Vertrauen in frevelhafter Weise missbraucht und zuschanden gemacht worden war.
– Ich wende mich an euch, Kriegsgefangene, an euch, Stalingradkämpfer, erinnert euch der letzten Stunden, erinnert euch an die Schwerverwundeten, die ihr zurückließt, erinnert euch an die verzweifelten Gesichter, an die Verzweifelnden am Wege, an die fragenden Blicke, die euch folgten! Kriegsgefangene, Stalingradkämpfer! Vergesst nicht, vergesst nicht …«
Und da war Gnotke.
Es war ein Tag vor dem 19. November und August Gnotke hatte einen Spaten in der Hand. Acht Meter lang war die Grube und zwei breit und anderthalb tief, an welche Gnotke, Aslang, Hubbe, Dinger und Gimpf die letzte Hand gelegt hatten. Unteroffizier Gnotke, Feldwebel Aslang, die Gefreiten Hubbe und Dinger und der Soldat Gimpf unterschieden sich in nichts voneinander; sie trugen keine Schulterklappen und keinerlei Abzeichen, und ihre Hände und Gesichter waren ebenso wie die Uniformen, es schienen vor langer Zeit einmal Hände und Gesichter und Uniformen gewesen zu sein. Der letzte Spatenstich war gemacht. Hubbe und Dinger, Gnotke und Gimpf ergriffen je ein Traggestell. Ihre Bewegungen waren langsam, aber eine folgte der andern, kein Aufblicken und keine Pause. Nachdem sie die Spaten in den aufgeworfenen Erdhaufen gesteckt und die Traggestelle aufgenommen hatten, trotteten sie davon und sie verschwanden im Dunst. Es war in der Gegend östlich Kletskaja und innerhalb der Schleife, die der Don zwischen Kletskaja und Wertjatschi bildet und im Bereich der 376. Infanterie-Division. Linker Hand, das heißt im Westen, wälzte der Don seine eisgraue erste Winterdecke abwärts, und zur Rechten, das heißt jenseits der Donschleife und weiter an zwei Tagemärsche ostwärts, lag die Wolga und lag Stalingrad. Hier befand man sich an der am Donbogen angelehnten nördlichen Flanke der Stalingrader Front. Voraus und im Rücken, rechts und links, unter den Füßen und in der Luft, hier war Front.
Und so verlangte es der Armeebefehl für die Feldstrafgefangenen-Abteilungen: ›Die Strafverbüßung erfolgt unmittelbar in der vorderen Linie. Der Strafvollzug besteht in der Ausführung beschwerlichster und gefahrvoller Arbeiten als Minenräumen, Leichenbestatten, Bauen von Knüppeldämmen, im Sumpf, usw. unter Feindwirkung, Artilleriefeuer etc. etc. …‹
In den Ausführungsbestimmungen heißt es:
›Wehrsold: wird gekürzt ausgezahlt. Anzug: zur Erschwerung der Fahnenflucht Uniform ohne Abzeichen. Hoheitszeichen, Spiegel, Schulterklappen sind zu entfernen. Unterbringung: soll schlechter sein als die der übrigen Truppe. Briefverkehr: unterliegt der Überwachung. Päckchen sind nicht auszuhändigen, sondern bei der abgebenden Einheit zu verwahren. Außerdienstlicher Verkehr: mit anderen Soldaten oder mit Zivilpersonen ist verboten. Beleuchtung: wird nicht zur Verfügung gestellt. Vergünstigungen: gewährt in besonderen Fällen der Führer der Abteilung.‹
Schon zehn Monate gehörte Gnotke dieser Truppe an, über deren Ursprung und Zusammensetzung es in einem Armeetagesbefehl heißt: ›Es ist bekannt, dass der Krieg die Soldaten verdirbt, und die unausbleibliche Folge jedes Einsatzes ist die Auflockerung der Disziplin; und je länger der Einsatz dauert und umso härter die Inanspruchnahme, umso mehr macht sich das bemerkbar‹ Den Unteroffizier Gnotke hatte der letzte Wintereinsatz und der Marsch auf Moskau ›verdorben‹, und ›Befehlsverweigerung vor versammelter Mannschaft‹, oder anders gesagt: sein früherer SA-Kamerad und Landsmann und derzeitiger Kompaniechef, Feldwebel Riederheim, hatte ihn hierher gebracht. Der Soldat Matthias Gimpf war auch eine ›unausbleibliche Folge‹ des letzten Winterfeldzuges. In einem Graben hinter der zugefrorenen Shisdra – es war ein Tag gewesen, an dem die Bäume vor Kälte krachten und der Wind feinen Pulverschnee ins Gesicht blies – hatte er mit zerrissenen Stiefeln und in dünnem Mantel gestanden, und wie alle andern hatte er, als der Regimentskommandeur vorn die Stellungen besichtigte, die Hände in den Taschen behalten; daraufhin vom Kommandeur angesprochen, war ein verständnisloses Lächeln seine Antwort gewesen; er hatte auch in diesem Moment die Hände noch nicht aus den Taschen genommen und nicht einmal ›die Hacken zusammengerissen‹, wie der Adjutant feststellen musste, und so hatte er geradezu ein Musterbeispiel für die ›sinkende Moral‹ der Truppe abgegeben und als solches hatte er dann auch zu dienen. Feldwebel Asmann war noch nicht lange bei der Abteilung, auch die beiden Gefreiten Hubbe und Dinger waren erst vor Kurzem mit einem großen Transport aus Graudenz zur Auffüllung angekommen.
Gnotke und auch Gimpf gehörten vorher in den Bereich der 4. Panzerarmee und im Zuge dieser Armee waren sie über die Kursker Steppen gegangen, und während Pionierabteilungen Gassen in die Minenfelder brachen und den Weg frei machten, räumte diese ›Spreu‹ des vorangegangenen Winterfeldzuges, manchmal zusammengekoppelt mit örtlichen Einwohnern, Frauen und Halbwüchsigen, auch mit evakuierten Juden, aus Warschau, aus Budapest, aus Hamburg, die Minenfelder. Diese rechts und links der Durchbruchsstellen auf den Minenfeldern verbleibenden und vorwärtsgetriebenen und in die Lüfte gesprengten und immer wieder mit neuer ›Spreu‹, mit anderen Ortseinwohnern, anderen Juden angefüllten Abteilungen waren, ebenso wie die Panzerabteilungen und Voraustruppen und Grenadierregimenter, Teil der Armee und der nach Osten vordringenden Offensive.
Was Gnotke und Gimpf anbelangte, so waren sie mehr als einmal vom Luftdruck an den Boden geschmettert, die Knochen waren ihnen geprellt und die Haut zerschunden worden; es war vorgekommen, dass sie sich Fleischfetzen und Därme des Nachbarmannes, manchmal der Nachbarfrau, aus dem Gesicht hatten wischen müssen, aber sie selbst waren heil geblieben. Lag es nun daran, dass der Frontabschnitt, an dem sie sich befanden, von italienischen und ungarischen Truppen übernommen wurde, oder daran, dass die Südfront schon zu diesem Zeitpunkt den größeren Menschenhunger und auch größeren Bedarf an ›Menschenspreu‹ hatte, auf der Station Stary Oskol wurden beide, ein ganzer Waggon voll ihresgleichen, an ein auf dem Marsche befindliches Regiment angehängt, aber schon in Waluiki wieder ausgeladen. Wieder wurden sie einer Pionierabteilung zugeteilt und von Neuem begann der Lauf über Minenfelder und das Wegräumen von Stacheldrahthindernissen, während Artilleriegeschosse in ihren Reihen platzten, diesmal im Zuge der 6. Armee, auf der Donsteppe und tief in den Donbogen hinein. Matrosen aus Norwegen, Diebe an Heeresgut, nervenkranke Flieger, alte Trossfahrer, plötzlich in die Bresche geworfen und im Feuer der Schlacht moralisch zusammengebrochen, sie blieben hier auf der Strecke, die beiden Staubkörnchen Gnotke und Gimpf blieben auch dieses Mal heil.
Sie kamen zu einer andern Abteilung.
In der nördlichen Schleife des Donbogens lagen sie truppweise in Erdlöchern, und des Nachts bewegten sie sich gleich Gespenstern in der Flussniederung und fügten Knüppelteppiche aneinander. Wieder waren es Strapazierte und Entnervte des Krieges und Letzte zertrümmerter Regimenter, die hier – und nicht nur durch Artilleriebeschuss, auch durch Fieber, auch an Erschöpfung – zugrunde gingen. Es dauerte Wochen und hier zwischen Kletskaja und Wertjatschi hatte der deutsche Vormarsch sich festgelaufen. Bei Kletskaja hatte die Rote Armee einen Brückenkopf und eine Ausfallstellung für spätere Operationen herübergetrieben. Und während weiter südlich, bei Kalatsch über den Don hinüber, über die Don-Wolgasteppe hinweg die 6. Armee vorrückte, bis sie nach Stalingrad gelangte und sich in dem Trümmerlabyrinth festlief, wurde hier schon weit länger auf der Stelle getreten und auf der Stelle gekämpft und an der Stelle gestorben. Kletskaja und dem russischen Brückenkopf bei Kletskaja, dieser schweren Flankenbedrohung der Stalingrader Nordostfront war eine große Truppenmasse entgegengestellt. Das 4. und 5. rumänische Korps lag dort. Dahinter das 48. deutsche Panzerkorps, die 14. und 23. Panzerdivision, noch eine zur Hälfte aus deutschen und zur Hälfte aus französischen Panzerbeständen zusammengekratzte rumänische Panzerdivision. Diesem Pfropfen an massierten Truppen entsprachen auch die Massigkeit der Kämpfe und die Menge der hier fallenden Opfer, auch in den benachbarten deutschen Infanteriedivisionen. Die immer aufs Neue ausgelegten schwimmenden Knüppelteppiche und die von Pionieren gelegten Pontonbrücken wurden von der russischen Artillerie immer wieder zerhackt, und durch Wochen trieben die Leichen deutscher Soldaten den Don stromabwärts. Auch auf der Steppe und dem Hügelgelände östlich und nordöstlich Kletskaja gab es viele Tote, und Gnotke und Gimpf wurden Leichenbestatter.
Bis zum Oktober hatten sie (mit Ausnahme derjenigen, die über die Verwundetensammelstellen nach hinten abgegangen waren) fast das ganze Bataillon, dem sie zugeteilt waren, einschließlich drei Kompanieführer und den Bataillonskommandeur begraben. Bataillonskommandeure erhalten Särge aus Brettern, die Kompaniechefs werden in ihre Zeltbahnen eingehüllt, Mannschaftsgrade in ihre Decken, das sind Anweisungen für Gräberoffiziere und das gab es auch vielleicht einmal, hier gab es das nicht. Auch Ehrensalven wurden, selbst wenn die Beisetzungen große waren und wenn halbe Kompanien bestattet wurden, hier nicht mehr gehört. Von Divisionspfarrern wurden vor Sanitätern, Trossleuten, Kfz-Fahrern, die zufällig des Weges zogen und herangeholt wurden, Gedächtnisreden gehalten. Dieser feierliche Teil der Leichenbestattung ging schon ohne die Mitwirkung eines Gimpf und Gnotke vonstatten, nur aus der Entfernung, wo sie eine neue und wo sie Grube nach Grube aushoben, waren sie, wenn sie einmal aufblickten, Zeuge davon.
So war es Oktober geworden und auch der Oktober war vergangen.
Jetzt war es November.
Schneeluft, die Erdkruste war hart, Spalten und Löcher waren schneeverweht, manche von dünnem Eis überzogen, aus der Niederung und vom Don her brauten wie aus einer riesigen Waschküche dichte Dunstmassen auf und überzogen das Gelände. Manchmal zuckte es in den oberen Dunstschichten auf wie Wetterleuchten. Danach war das Bellen eines Geschützes zu vernehmen, und irgendwo stand dann im Dunst aus Dreck und gefrorenen Erdbrocken und weichem Schnee eine Fontäne auf. Die Bunker- und Grabenbesatzungen hockten unter der Erde. Die Munitionsholer brachten im Morgengrauen die Munition heran, und die Essenholer gingen erst abends los. Kaum einer steckte am Tage seinen Kopf heraus.
Nur die Totenmänner gingen frei herum.
Mehr als sonst glichen sie an diesem Tage durch den Dunst ziehenden Schemen. Einer vorn, einer hinten, verschmolzen sie mit der beladenen Bahre zu einem einzigen. Der Nebel verzerrte die Dinge. Ein plötzlich auftauchender Mann zu Pferd sah aus, als ob er auf einem Hund ritte. Und Hubbe und Dinger mit ihrer Last in der Mitte, und Gnotke und Gimpf mit ihrer Last in der Mitte erinnerten mehr als an alles andere sonst an langsam treibende beladene Barken.
Die Grube, die von russischen Frauen und Greisen ausgehoben und von Aslang, Hubbe, Dinger, Gnotke und Gimpf erweitert worden war, hatte ein Sammelgrab werden und die während der letzten Tage verstreut und provisorisch eingegrabenen Toten, die jetzt wieder ausgegraben wurden, in einem Gemeinschaftsgrab aufnehmen sollen als eines der Denkmäler, welche Hitler sich auf seinem Weg nach Osten setzte. Aber ein von 28 Panzern und einem Infanteriebataillon zwei Tage vorher gegen die russischen Stellungen vorgetragener und abgeschlagener Angriff hatte die Disposition des Gräberoffiziers geändert, und die Grube hatte neben den eigenen wochenalten Toten nun auch die Toten der Panzerabteilung und des Sturmbataillons aufzunehmen. Und alles deutete darauf hin, dass es hier eine eilige Bestattung geben und dass eines der ›vergessenen Gräber‹ entstehen würde; nicht das erste seiner Art, und ihrer Rang- und Ehrenzeichen entkleidete Totenmänner waren auch in andern Fällen schon die einzigen und zufälligen ›Ehrenzeugen‹ dabei gewesen, wo sie für einen Moment am andern Grubenrand den Gräberoffizier und den überlasteten Divisionspfarrer hatten auftauchen und unhörbare und unverständliche Worte in den Dunst hinaus sprechen, und mit dem Gräberoffizier so schnell wie sie gekommen, wieder verschwinden sehen, ehe sie ihre Arbeit fortgesetzt und die Grube mit Erde bedeckt hatten. Und was die Leichenhülle, Decke und Zeltbahn, anbetraf – wo sollten bei einer Armee, die Mitte November schon eine erste Periode scharfen Frostes hinter sich hatte, und der die Winterausrüstung nur in unzureichenden Mengen beziehungsweise überhaupt nicht geliefert war, Zeltbahnen und Decken auch noch für die Toten herkommen? –, eine Hülle war nur vonnöten, wo Stücke aufzulesen waren, und auch dann nur vom Fundort bis zur Grube. Die gleiche durchblutete Zeltbahn hatte immer wieder zu dienen und nachts gab sie auf dem feuchten Boden die Schlafunterlage für die Leichenbestatter ab.
Hubbe und Dinger kamen zu dem Loch zurück, einer hüben, der andre drüben, setzten sie das Traggestell ab, kanteten es um und die Last fiel herunter und schlug unten auf wie ein gefüllter Sack – es war eine der wieder ausgegrabenen, mit Decke und angefrorenem Lehm vermummten Gestalten. Hubbe und Dinger nahmen das Gestell wieder auf, ohne Pause und ohne Aufblicken ging es weiter, sie verschwanden wieder im Dunst. Und Gnotke und Gimpf kamen an und sie machten es ebenso. Und wenn es einer der toten Panzerfahrer oder Panzergrenadiere war, wurden Koppel und Lederzeug, auch der Inhalt aus den Taschen neben Feldwebel Aslang niedergelegt, der schweigend wie ein Pfahl an der Stelle stand und nach jedem Auftauchen Hubbes und Dingers oder Gnotkes und Gimpfs einen Strich auf ein Blatt Papier setzte und nach jedes Mal vier Strichen einen Querstrich zog. Sie sprachen nicht miteinander, auch hier im Dunst nicht, wo sie doch jeder Beobachtung entzogen waren, das war schon anderes als die strikte Bestimmung; sie waren des Sprechens ebenso entwöhnt wie der Wärme und auch wie des Lichtes (sei es auch aus noch so trüber Quelle) in dem Erdloch, in dem sie die Nächte zubrachten. Als Gnotke und Gimpf den dritten oder vierten Gang machten, schlug in der Nähe ein Artilleriegeschoss ein. Sprengstücke heulten durch die Luft und Erdbrocken schlugen dumpf wieder an den Boden zurück; und wenn der Luftdruck sie auch kaum berührte, so zogen doch die dicken Schwaden des Explosionsrauches wie ein warmer Hauch an ihren Köpfen vorbei, ehe sie sich mit der weißen Nebelluft vermischten, und auch das schienen die beiden nicht zu beachten. Einer vorn, der andere hinten, so gingen sie weiter, entledigten sich ihrer Last, gingen wieder weg und kehrten wieder zurück. 16 Kubikmeter erschlagenen Menschenfleisches erwartete die Grube von ihnen. Und nicht alle Toten konnten sie im Ganzen transportieren. Beispielsweise, wo der Gefechtsstand des Sturmbataillons sich befunden hatte, waren im Umkreis Teile und rosiges Geschlinge von dem bereiften Buschwerk abzupflücken.
Einmal, eine Reihe von Tagen hindurch, waren auf Gnotke jene ›besonderen Vergünstigungen, die der Führer der Abteilung gewährt‹, entfallen. Er hatte damals, wie heute Aslang, nicht zu schleppen brauchen, sondern von morgens bis abends an der Grube gestanden und gesehen, wie sie sich allmählich mit erdigen Gestalten mit verzerrten Gesichtern, mit sinnlos aufgerissenen Augen, mit losgetrennten Beinen, Armen, halbierten Körpern, unkenntlichen Fleischstücken anfüllte.
›Liebster Sepp …‹ ›Mein lieber armer Karl …‹ ›Geliebtes Goldschatzel …‹ ›Lieber Sohn …‹ ›Lieber Bruder und Schwager …‹ ›Mein Liebling …‹ ›Mein lieber goldner Hausemann …‹ ›Mein über alles geliebter Matz …‹ – so stand es in den Briefen, die er entgegennahm und abends mit den andern aufgelesenen Habseligkeiten zusammenlegte und eine dazugehörige Liste mit Namen für den Gräberoffizier anfertigte. ›Geliebter Goldschatzel!‹ … ›Mein lieber Mann und Pappi!‹ Das waren Stimmen von einem fernen versunkenen Ufer und einen Gnotke konnten sie nicht erreichen. Er wusste allenfalls, dass jene, an die sie gerichtet waren – damals war es noch September und die Sonne glühte und die Erde war trocken –, wie dürres Holz auf der Steppe gelegen hatten und wie dürres Holz zusammengetragen worden waren. Und er wusste, dass sie, als die Zeit weitergegangen war, wieder in ihrem Saft dagelegen hatten und um einiges schwerer gewesen waren; und dass sie später, als die Zeit noch weiter vorgeschritten war (es hatte schon Tage mit 25, auch mit 30 Grad Kälte gegeben), hart und schwer wie Steine auf dem Traggestell lagen und dass die zu auseinandergespreizten Andreaskreuzen oder in sitzenden Stellungen gefrorenen Figuren noch schwerer zu transportieren waren und auch unverhältnismäßig viel Raum im Erdloch beanspruchten.
›Geliebter Goldjunge …‹ und: ›Sieh dich nur recht vor …‹ und: ›Melde dich zu nichts, nirgends vordrängen …‹ und: ›Pass’ auf, dass du keine kalten Füße bekommst, Schuheinlagen mach aus Pappe …‹ und alles, was sonst da in den Briefen stand, konnte weder die ausgetrockneten Steppenleichen, noch die frischen Herbstleichen, noch die widerspenstigen Frostleichen betreffen, und war nichts als beziehungsloses und sinnloses und hilfloses Gestammel, und Gnotke wusste es wirklich besser. Was sonst noch in den Briefen stand, auch an Hoffnungen, an Perspektiven, an geografischen und kriegsgeografischen Randbemerkungen, an Gnotke ging es vorbei. Er befand sich an einem Punkt, wo es keine Hoffnung mehr gab.
›… warte mit Sehnsucht auf das Ende und mit noch größerer Sehnsucht auf den ersten Brief nach der Schlacht, damit ich Gewissheit habe, dass du …‹ usw. Was könnte es für ein Ende sein und was für eine Schlacht, der ein erster Tag und ein erster Brief folgen könnte!
›… in den Kämpfen um Stalingrad ist leider noch immer kein Ende abzusehen. Mit der Einnahme dieser Stadt werden die Angriffskämpfe dieses Jahres einen gewissen Abschluss finden. Höchstens werden die Unternehmungen im Kaukasus fortgesetzt werden, falls es uns gelingt, noch rechtzeitig den Kluchow-, Mammissow- und Kreuz-Pass zu nehmen, denn südlich des Kaukasus ist eine Kriegführung auch im Winter möglich, und so wäre es zu machen, wenigstens noch die Ölfelder bei Baku zu nehmen.‹
›Immer noch geht das Ringen um Stalingrad. Heute wurde es wieder in der Wochenschau gezeigt. In mir ist alles gespannt, wann wird es fallen? Vielleicht kommt morgen zum Sonntag die Meldung, dass es ganz in unserer Hand ist!‹
Immer wieder ›Stalingrad‹, doch Gnotke sagte auch dieser stehend gewordene Begriff nichts. Seine Vergangenheit (er gab sich keine Rechenschaft darüber) war vor zehn Monaten abgerissen, und seine Gegenwart war ohne Umkreis, auch ohne geografischen Umkreis.
Nässe, Kälte, Sand. Löcher. Auch in den Nächten tropfte es, auch in den Nächten rieselte Sand ins Gesicht. An jenem Novembertag war es schon bald nach 3 Uhr nachmittags finster geworden. Wie eine nasse graue Flut hatte der Nebel sich über das System von Bunkern und Gräben und Laufgräben und Stacheldrahtverhauen gelegt und alles unter sich zugedeckt; am düstersten war es in jenem nur notdürftig verdeckten Graben, in dem die Ausgestoßenen der Feldstrafgefangenen-Abteilung auf zusammengelesenem faulig gewordenem Schilf und auf leinenen Zeltbahnen und unter Bewachung aufgestellter Posten der Nacht und dem kommenden Tag entgegenstarrten.
Der kommende Tag war der 19. November.
Die Gegend war die bei Kletskaja mit der Front nach Norden. In der linken Flanke befand sich der russische Brückenkopf, dazwischen das sich weit ausdehnende Niemandsland, niedriges Gelände, bewachsen mit Gebüsch und bedeckt mit Tümpeln und kleinen Seen, versumpft und durchsetzt mit Treibsand. Und rechts entlang der Frontlinie bis zum östlichen Teil der Donschleife ein von Schluchten durchzogenes und von Hügeln bedecktes Gebiet, seit Wochen von der russischen Artillerie und von Infanterie umkämpft und mit teilweise gelungenen Einbrüchen, die seither von der deutschen Luftwaffe pausenlos bombardiert worden waren.
Als Gnotke anderntags aufwachte, hätte er die Tropfen zählen können, die von den Deckenbalken auf ihn herabfielen. Seine Nachbarn, durch die eingetretene Stille ebenfalls aus ihrem Dösen aufgefahren, auch der Posten mit Stahlhelm und aufgepflanztem Seitengewehr, der wie ein graues Monument den Eingang zur Höhle verstellte, taten es vielleicht. Gnotke zählte schon seit Langem keine Tropfen mehr, doch die eingebrochene Stille empfand er wie alle andern, er spürte sie wie einer, der plötzlich das Ticken der Uhr im Zimmer nicht mehr hört.
Die Stille blieb und war noch da, als er vor Tagesanbruch sich mit den andern auf dem Weg zum Arbeitsplatz befand. Aslang und auch Hubbe und Dinger blickten sich, und nicht nur einmal, befremdet um, nach Norden hin, wo sonst die russischen Batterien tätig waren, und auch über das Sumpfgelände und in der Richtung zum Don und dem russischen Brückenkopf in den wallenden Nebel hinein, wo durch Wochen Knattern und fernes Kampfgetöse zu hören gewesen waren und wo dieselbe Stille lauerte, die wie ein alles verschlingendes Loch war. Gnotke und Gimpf hatten schon das Traggestell aufgenommen und ihren gewöhnlichen Trott begonnen.
Und doch war alles ungewöhnlich.
Auch das, und es war wie ein Traum, es war sogar ein vollkommener, ein wirklicher Traum, der Gnotke, wie er da mit hängenden Armen in den milchigen Dunst hineinschritt, umspann. Aber was war das, wo kam das her, was brach da auf! Eine Hand, eine Frauenhand, schmale zerbrechliche Finger. Eine ruhende Gestalt, die Glieder, Gesicht, alles verhüllt, die Form nur zu ahnen wie bei einer halb verschütteten Soldatenleiche. Hier war die Hülle nicht Lehm und Erdreich, ein Gewölk aus weichen Decken. Und sie lag nicht allein da, sie lag bei einem andern. Und nur ihre Hand war nackt, diese Hand kannte er.
Aber was …
Die Erde zittert. Ein unterirdisches Beben. Das schlottert herauf. Die Hand, wo kommt das her … Die Erde, der Himmel! Der Himmel brennt, im Norden und auch über dem Don. Der Himmel über den Sümpfen und über der Donniederung ist nicht mehr weiße Milch, ist aufbrodelndes dickes Blut.
Artillerie.
Minenwerfer.
Brüllende Kanonen, Tausende Tonnen Pulver gehen in die Luft. Der Kalender zeigt den 19. November. Es dauert Stunden und sind nicht Stunden, es ist ein ausgespiener Brocken außerhalb der Zeit.
Am Morgen des 19. November durchbrachen die Sowjettruppen südlich und nordwestlich von Stalingrad nach intensiver Artillerievorbereitung die deutsche Front. Gnotke befand sich an der am Donbogen angelehnten nördlichen Flanke der deutschen Front, er stand genau in der nördlichen Bruchstelle. Den Marsch auf Moskau – Gnotke hatte ihn mitgemacht und unter dem Feuer der russischen Artillerie war er mit seinem Regiment an 100 Kilometer zurückgefallen. Gnotke hatte den Lauf über die Kursker Steppen und die Minenräumarbeit auf der Donsteppe hinter sich. Und alles, was sich seinen Augen an Feuerüberfällen, an Bombenschlägen, an Minenexplosionen mitgeteilt, und was sein Trommelfell bis dahin aufgefangen hat, waren Stufen gewesen, und hier war die erstiegene Höhe oder – was dasselbe ist – der Absturz in die nicht mehr messbare Tiefe.
Aber Gnotke war zu einem Wesen ohne Vorstellung geworden. Was er davon einmal besessen hatte, war ihm lange entfallen. Und was seither gewesen und seither sich vor seinen Augen abgespielt hat, was sein Ohr an Schreien und Erschütterungen berührt hatte, sein Bewusstsein hat es nicht treffen können. Einen solchen Wesenskern, in dem Verlangen, Wollen, Gefühle, Mitfühlen, in dem Liebe, in dem auch Furcht ihren Ursprung haben, gab es bei ihm nicht; der war bei ihm nicht mehr zu erreichen, darüber lag Erde, lag Schnee, lag vieles. Aber er hatte seine genau blickenden Augen behalten und sein Gehör war scharf geblieben, und wenn er sich den Fuß verstauchte, spürte er Schmerz, seine Sinnesorgane funktionierten und nahmen auf, nur sie gaben die Erscheinungen nicht weiter. Gnotke stellte keine Vergleiche mehr an, und er bezog nichts von der Umwelt mehr auf sich.
Aber er sah und hörte!
Er sah und hörte auch, was in dieser Stunde am Erdboden und in der Luft geschah und was ihn umbrauste. Dass aber diese Stunde keine Stunde mehr war und sich dem Zeitmaß und überhaupt jedem gedachten Maß entzog, das galt auch für ihn. Wo das Traggestell geblieben und welche Macht es seinen Händen entrissen, das hätte er nicht angeben können, ebenso wenig wie er in eine Erdspalte zu liegen gekommen und wie und wann er zum Loch zurückgelangt war, um dort das Loch nicht mehr vorzufinden, sondern etwas anderes.
Er lag in der Erdspalte. Links begannen die sich zum Don hinziehenden Sümpfe und Treibsände, ein Gelände, das wegen des dicken Nebels, der wie blutiger Schaum aufwallte, nicht einzusehen war; aber unter der Nebel- und Schaumdecke heulte und pfiff es aus tausend aufgerissenen Mäulern. Voraus lagen die Linie der deutschen Bunker und die Batteriestellungen; darüber hinaus, unter Wolken und Rauchfetzen, waren russische Stellungen zu erkennen, aber nicht auf lange, sie hüllten sich in eine brodelnde Rauchbank, in der rostrote Flecken aufglühten. Die roten Flecken dehnten sich aus, sie fraßen den Rauch, sie fransten den Himmel aus, sie erhoben sich zu einer Steilküste aus rotem Feuer. Die deutschen Batterien kämpften, sie feuerten heraus, was sie konnten. Es war aber nicht anders, als ob glühende Kohlenstücke in einen himmelhohen Steppenbrand hineingeworfen würden, und sie kämpften nicht lange.
Jenseits der deutschen Linie das Mündungsfeuer, die explodierenden Pulverladungen, die das Metall – die Granaten in flacher, die Minen in steiler Bahn – herüberschickten, und man sah es kommen und einschlagen und die Erde zerreißen. Wäre ein Wald voraus gewesen, hätten die Bäume sich wie Gräser unter den Streichen einer riesigen Sense umgelegt. Voraus war aber kein Wald, war flaches, baumloses Land, und das sah aus wie die Fläche eines Sees, über den ein Regenschauer hingeht und wo dicke Regentropfen aufprasseln. Und hier war es nicht Regen und aufprasselnder Wasserstaub, es war glühendes, in die Erde hineinfahrendes, zerreißendes Metall, und was aufprasselte, waren Sand- und Lehmschichten, und was zurückblieb, waren gähnend tiefe Trichter; und wo Schnee gelegen hatte und unter heißem Hauch die Grasnarbe hervortaute, war unter dem um sich fressenden braunen Brand gleich danach auch die Grasnarbe und die Humusdecke des Bodens verschwunden.
Die Mondlandschaft kam näher und erfasste das Gelände, wo nicht nur Sand und Lehm war, wo unterirdische Gänge und Hohlräume und Bunker mit eingebauten Batterieständen und Granatwerfer- und Maschinengewehrnestern, wo Lager für die Munition, Gefechtsstände mit Kartentischen, wo Schlafräume und Wohnräume unter dicken Erdschichten eingebettet lagen und wo die zusammengepressten deutschen Besatzungen – Auge am Richtglas, Hände am Abzugshebel, am Räderwerk von Schwenkvorrichtungen, Granaten, Kartuschen heranschleppend – in ihren Stellungen ausharrten und kämpften.
Aus den Rohren schossen Feuerblitze. Aus den Werfern stieg Granate um Granate. Brauner Rauch trieb über die Erdwälle. Wo MGs und Schützen zu feuern begannen, war es schon beginnende Panik, denn für MG- und Schützenfeuer gab es keine erkennbaren Ziele.
In Frontbreite betrat der Tod die deutschen Stellungen.
Wehende Vorder- und Hintergründe von Qualm, von Staub, von Feuerschleim, himmelhoch aufquellend und wieder zusammenfallend. Ein Feuer speiender Berg, und man musste wissen, dass es die schwere Batteriestellung war, die in Form eines auseinandertreibenden Dreiecks in die Luft flog, und dass die dunklen Flecke Metallbrocken, Geschützteile, die Leiber der Bedienungen waren. Aufschlotterndes schwarzes Gewölk. Wirbel. Trichter. Feuerblitze. Rauchballen. Zurückfallendes Gebälk, Stücke von Bunkerdecken. Ein aus dem Himmel fallendes Pferd, Beine und Hufe aufwärts. Ein Stacheldrahtverhau mit daran hängenden Pfählen kommt nieder wie ein großes Netz. Es war ein ganzes Infanterieregiment mit der zugeteilten Divisionsartillerie und ihrem Waffen- und Mannschaftsbestand, das in die Luft flog und auf die Erde zurückfiel und wieder erfasst und abermals umgeschaufelt und zerpulvert wurde.
Und die aus einem verkohlten Kraterloch auffahrenden Gestalten, die wie dürre Blätter vor dem Wind über das Gelände fegten, übereinanderfielen, und liegen blieben oder wieder aufstanden und sich weiterschleppten, und wieder hinfielen und wieder weiterliefen, das war schon kein Teil eines Regiments mehr, das war ›Spreu‹. Und der lange Oberleutnant, der aus der Rauchzone herauskam und wie ein Betrunkener torkelte und gestikulierte und plötzlich in ein gellendes Gelächter ausbrach, war schon kein Zugführer einer Kompanie mehr, es war ein Wahnsinniger.
Der Artillerieangriff erreichte eine neue Phase.
Rechts und links, ringsumher fielen noch vereinzelte Streuschüsse und wühlten Trichter auf. Das massierte Feuer hatte sich erhoben. Es rauschte hoch oben in den Lüften – ein Katarakt, der über den Köpfen seinen Bogen schlug – und das aufwühlende, zerhackende, zermalmende Metall erfasste die rückwärtigen Stellungen. Und noch etwas war an der linken Flanke unter der sich ausbreitenden dichten Nebeldecke in Vorbereitung. Die Rumänen, die den russischen Brückenkopf flankierten und auf dem Sumpfgelände in Stellungen lagen, waren geschlagen worden, und jetzt waren Tausende russischer Hände daran, kilometerlange Knüppelteppiche aufzurollen und über den Strom weg und über die Sümpfe und Treibsände (die anders Mann und Ross verschlungen hätten) auszulegen. Das war die Lage, als Gnotke auftaumelte, den Weg zurückging und an die Stelle gelangte, wo die Grube ausgehoben und fast bis zum Rand angefüllt worden war.
Die Grube war nicht mehr da, unmittelbar daneben war ein Trichter gerissen worden, so tief, dass eine Bauernhütte samt Dach darin hätte Platz finden können. Die sechzehn Kubikmeter Leichenmasse war in die Höhe gehoben worden, war wieder zurückgefallen und hing jetzt auf der einen Seite an der Trichterböschung und ragte in einem Haufen darüber hinaus. Und da (zuerst war es eine bekannte Gestalt, die ihn anzog) setzte Gnotke sich hin. Er hätte sich an den Boden des Trichters legen können, dort war Platz genug und dort hätte er auch einige Deckung gefunden. Gimpf, der immer bei ihm gewesen war, tat es jedenfalls. Doch wenn Gnotke überhaupt etwas dachte, kann es nur gewesen sein, dass er nicht so tief in der Erde liegen und dass er dem Himmel näher begraben sein wollte. Er setzte sich neben den mit Erdbrocken bestreuten Leichenhaufen, und der neben ihm saß, war Feldwebel Aslang. Feldwebel Aslang hatte ein völlig schwarzes Gesicht und bleckte die Zähne, sodass es aussah, als lachte er. Gnotke bemerkte es oder bemerkte es nicht, und ein toter Aslang war ihm eigentlich weit natürlicher als ein lebender, er fragte sich auch nicht, wo Hubbe und Dinger geblieben sein konnten. Verdreckt und beschmiert wie er dasaß und ohne sich zu regen mit weit offenen Augen in die Luft starrte, sah er gestorbener aus als der grinsende Aslang und der Haufen der ihn übertürmenden und in dramatischen Verzerrungen erstarrten Leichen.
So blieb Gnotke sitzen.
Der Haufen in seinem Rücken schützte ihn vor dem eisigen Wind, der von Osten aufsprang. Der Körper Aslangs, an den er sich anlehnte, teilte nach einer Weile keine Wärme mehr mit. Und Gnotke rückte zur Seite und lehnte sich an den heißen Leib eines Pferdes, das neben ihm niedergebrochen und verendet war. Sonst bewegte er sich nicht. Rauch und Nebel trieb vorbei und verengten das Gesichtsfeld. Das Tageslicht nahm ab und die Stunden waren überhaupt im Zwielicht geblieben. Die deutsche Front war durchbrochen. Die Reste der Truppen aus der vordersten Linie waren zersprengt oder flüchtend niedergehauen oder gefangen genommen worden. Durch die gerissene Bresche brachen in unaufhaltsamem Strom russische Infanterie- und Panzer- und Sturmverbände. Was in der Blickrichtung Gnotkes war, das sah er. Was rechts und links vorging, das sah er nicht. Denn was auch geschah, und ob die Raupenbänder eines Panzers hart neben ihm vorbeirasselten, ob Gewehrschüsse aufpeitschten, ob Säbelhiebe durch die Luft schnitten und wilde Schreie aufheulten, er drehte den Kopf nicht. Er sah Panzerkolonnen sich in der Kraterlandschaft bewegen und unter den treibenden Rauch- und Dunstfetzen sah er sie auf- und abtauchen wie Boote in einer bewegten See, er sah auch das weiße Mündungsfeuer ihrer Geschütze. Und er sah aus den Sümpfen dunkle Haufen heraufsteigen. Das waren die Rumänen, sie liefen um ihr Leben. Und in die flüchtenden Haufen sprengten sich Pferdeköpfe und Reiter ein, die Pferde drehten sich auf den Hinterbeinen herum und die Reiter schlugen und hackten um sich.
Der an der Trichterböschung aufgetürmte Leichenhaufen schien die Wasserscheide auf dem Gelände der aufgerissenen Front zu sein. Immer wieder zogen neue Abteilungen von Panzern vorbei und schwenkten hier auf einen neuen Kurs, nach Süden gegen Kalatsch. Und die vom Don heraufkommenden flüchtenden Haufen gelangten kaum über dieses Todesmal hinaus; hier im nahen und weiteren Umkreis wurden sie niedergesäbelt, und auch die russische Kavallerie schwenkte nach Süden, gegen Kalatsch. Aber dieser mit Erde verkrustete und einen süßlichen Geruch ausströmende Haufen zog niemandes Aufmerksamkeit an; und wenn ein Panzerfahrer ihn plötzlich vor sich hatte, dann lenkte er die Raupenbänder seines Fahrzeugs daran vorbei und auch die Kosaken ritten darum herum. Indirekt und auf unsichtbare Ziele wurde nicht mehr gefeuert. Dieser Leichenhügel und der dazugehörige Gnotke aber waren kein Ziel, weder für ein Tankgeschoss noch für die Kugel aus einem Karabiner, noch für einen Säbelhieb.
So war es Abend geworden. Der aus Osten blasende Wind zerriss die Wolkendecke. Ein Stück frostigen Winterhimmels lag bloß und der Mond trat hervor. Es war wüstes Licht, das sich über das Land legte. Das Büschel eines halbmannshohen verholzten Steppenkrautes zog den Blick Gnotkes auf sich – das also war stehen geblieben. Ebenes Land, wieder eins dieser verholzten Steppenbüschel, ebenes weites Land, darüber weicher zerfahrener Schnee und das wüste Mondlicht, und es rauschte wie das Meer.
Aber es war die Leere, welche rauschte.
»Matthias!«
»Ja, August?«
Der auf der Pritsche ausgestreckt lag und die Bunkerdecke anstarrte, war Matthias Gimpf. Der vor ihm stand und eine Handvoll alter Tuchfetzen auf die Pritsche niederlegte, war August Gnotke. Gnotke zögerte noch einen Moment, als wollte er etwas sagen, dann wandte er sich von dem in Mütze, Mantel und Stiefel Daliegenden ab, knöpfte seinen Mantel zu, umwickelte sich Kopf, Ohren und Hals und verließ den Bunker.
Eine Stunde hatte er Posten zu stehen.
Zwei Stunden im Bunker, eine Stunde vorn im Graben, so war die Wacheinteilung, und Unteroffiziere standen auch mit. Gnotke hatte Spiegel und Achselklappen wieder, das war nicht so sehr bedeutungsvoll, sonst lief er verlumpt herum wie die andern, auch die Stiefel hatte er mit Lumpen umwickelt wie die andern; da machte eine Litze am Kragenaufschlag (er hatte die Litzen wieder annähen müssen) kaum einen Unterschied aus, auch der Dienst war für Unteroffiziere der gleiche wie für Mannschaften.
Nachdem Gnotke sich in jener Nacht nach Osten gewendet und zu andern versprengten deutschen Truppen gelangt war, hatte er wieder Waffen in die Hände bekommen. Und mit den Trümmern der 376., der 44., der 384. Infanteriedivision, der 14. Panzerdivision, die sich in der Schleife zwischen Don und Don, das heißt zwischen Kletskaja und Wertjatschi, hinter Tage und manchmal auch nur Stunden haltenden Riegelstellungen absetzten und bei Wertjatschi in östlicher Richtung über den Don hinübergingen, gelangte auch Gnotke auf das andere Donufer, und in der Gegend von Wertjatschi mit einem neu aufgestellten Regiment (aus Kanonieren, deren Kanonen, und Panzerfahrern, deren Panzer auf der andern Seite liegen geblieben waren, aufgestellt und zusammengewürfelt aus Westfalen und Süddeutschen, auch Sudetendeutsche und Österreicher waren da) hatte er zum ersten Mal wieder mit anderen Soldaten in einem Bunker Stellung bezogen. Darüber war der November und auch der Dezember vergangen. Auch jenes Regiment existierte nicht mehr; jene Bunkerbesatzung jedenfalls existierte nicht mehr, und die ganze Reihe der Bunker und eilends errichteten Befestigungen von Psokorewka, Peskowatka, Wertjatschi hatten aufgegeben werden müssen. Der Kessel hatte sich noch mehr verengt und Gnotke war noch weiter nach Osten gelangt.
Es war Januar geworden und der eisgraue Dunst kam jetzt nicht mehr vom Don, sondern von der Wolga her. Wenn aber der Wind sein Spiel mit den Wolkenfetzen aufgab und sich flach an die Erde legte, dann kam er nicht nur aus Osten, dann kam er von allen Seiten und fegte den Steppenboden blank und trieb körniggefrorenen Schnee ins Gesicht. Auch an diesem Tage war der Boden bloßgefegt und grau von Frost. Aller Schnee, der gelegen hatte, war in der Luft und zog in schnurgerader Bahn vorbei. Und im Schneetreiben hing ein matter, weißer Ball – der einzig sichtbare feste Punkt in der unaufhaltsamen strömenden Bewegung – das war die Sonne.
Neben Gnotke tauchte ein Gesicht auf. Bläuliche Lippen, eine große Nase, über der Nase zwei Brillengläser. Es war der Posten vom andern Ende des Grabens.
»Ach, ein Hunger, die Suppe heute wieder …«
Gnotke suchte die Augen hinter den Brillengläsern. Und an den Augen sah er, was kommen musste und dass es unabänderlich war, wenn nicht in dieser Stunde, würde es in der nächsten geschehen. Der vor ihm mit krumm zusammengezogenen Schultern stand, war einmal Zeichenlehrer und wird niemals mehr Zeichenlehrer sein.
»Ich habe die Erbsen in der Suppe gezählt, vierzehn Stück, das andere reines Wasser. Haben sie denn keine Pferde mehr?«
Gnotke blickte ihm gerade in die Augen.
»Und die verdammten Läuse, hier draußen geht’s. Nur in die Wärme darf man nicht kommen.« Eigentlich wollte er etwas anderes sagen.
»Bist du auch so müde?«
»Ja«, sagte Gnotke.
Sie standen nebeneinander und blickten in den vorbeiziehenden grauen Luftstrom hinaus, der Schnee zog flach über den Boden hin. Gesicht und Augen hatten beide in Erdhöhe, und der Ausblick, der sich ihnen bot, war von einem Gitterwerk vereister, in die Erdlücke gesteckter Zweige zerteilt.
»Das ist noch besser als nachts. Dabei kann kein Mensch die Augen offen halten, heute muss es glücken!« Das war ein Vorschlag und der Lehrer erwartete eine Antwort. Aber Gnotke starrte weiter in das Schneetreiben hinaus. Nach einer Weile spürte er, dass der andere sich umdrehte und an seinen Platz zurückging.
Der Leichenaugust (so nannten sie Gnotke in der Kompanie) wollte also nicht mitmachen! Der Lehrer starrte jetzt durch sein eigenes Guckloch. Nicht mehr mit aufmerksamem Blick wie noch vor Tagen, als er noch die Ruhe aufgebracht hatte, mit einem langen ebenen Strich und einem Vordergrundgekritzel das Vorfeld auf ein Stück Papier zu zeichnen –: dieses wüste Feld mit dem hochaufgetriebenen Pferdekadaver in der Mitte, den jetzt sein ganzes Denken umkreiste.
Nach einer Weile bemerkte Gnotke, dass der Lehrer seinen Posten verlassen hatte. Er erblickte ihn außerhalb des Grabens, den Leib an den Boden gepresst und sich Zoll um Zoll vorschiebend.
Gnotke wusste, was kommen würde.
Vor vierzehn Tagen hatten die in der Nachbarschaft liegenden Pioniere einen mageren Gaul aufgejagt. Unglücklicherweise war das flüchtende Tier zwischen beide Linien gelaufen, wo es durch einen Schuss von der andern Seite tot hingestreckt worden war. Da lag der Kadaver noch, hoch aufgetrieben und grau bereift, wie ein Berg lag er da. Neben diesem grauen Hügel, bei klarem Wetter war es zu sehen, gab es jetzt noch drei dunkle Flecke. Es waren zwei von den Pionieren, die ihre Beute nicht hatten fahren lassen wollen, und der dritte war ein Mann der eigenen Kompanie, der sich hinausgewagt und den ebenfalls die Kugel eines russischen Scharfschützen dort erreicht hatte.
Jetzt war der Lehrer unterwegs.
Gnotke hatte ihm in die Augen gesehen und gewusst, dass es heute oder morgen um ihn getan sein würde. Er hatte auch damals, als er im November in der Gegend von Wertjatschi zum ersten Mal wieder in einem richtigen Bunker mit Soldaten zusammengelegen und in Gesichter geblickt und Augen gesehen und Reden gehört hatte, die Unabänderlichkeit eines Schicksals vorausgespürt. Damals hätte er – und anders, als man annehmen sollte –, wenn es angegangen wäre, die Ausgestoßenheit eines Erdloches wieder aufgesucht. Der tägliche Umgang mit Leichen war ihm erträglicher erschienen. Die zeigten ihre klaffenden Wunden, ihre verglasten Augen, ihre Eingeweide, einer grinste auch mal wie Feldwebel Aslang, aber sie redeten nicht und sie erhofften nichts mehr.
Jene im Bunker aber …
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