Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2015
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Illustration Kai Pannen
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ISBN Printausgabe 978-3-499-26902-8 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-53111-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-53111-6
Der Luftzug, der dem philippinischen Seemann auf dem Achterdeck das Feuerzeug ausblies, war der Auftakt zu einem gigantischen Tanz. Erst kräuselte sich die Wasseroberfläche, dann kamen kurze Wellen mit winzigen weißen Schaumkronen an den Spitzen auf. Ab da ging die Party richtig los. Der Wind spielte die Musik, nach der der gesamte Nordatlantik zu tanzen begann. Die frische Brise wuchs zu einem wütenden Starkwind heran, der Tausende Riesenwellen aufbaute. Einige von ihnen erreichten vier, fünf Meter Höhe. Der Sturm peitschte ihre Gischt zu einer undurchdringlichen Wand hoch, um sie kurz danach wieder fallen zu lassen. Und das nur, um die wilde, zerklüftete Gebirgslandschaft zu zeigen, die er dahinter geschaffen hatte und die bis zum Horizont reichte. Die Berge änderten permanent ihre Form, kaum tauchte ein stolzer Gipfel auf, war er schon wieder verschwunden, und ein anderer schoss an seiner Stelle hoch. Am Himmel flohen die letzten Schönwetterwolken nach Osten und machten düsteren Ungeheuern aus Westen Platz. Je nach Licht erschien das Wasser grau oder grün, die vor Schaum blinden Wellen taumelten in alle Richtungen.
Der Tiefdruckwirbel wurde vom Hochdruckgebiet Isabell, das fett und rund über Russland lag, in nordöstliche Richtung gelenkt. Dort, wo die Luftdruckgegensätze immer größer wurden, fauchte der Südwest aus seinem dunklen Rachen. Kurz vor Schottland warfen die Wolken einen großen Teil ihrer Regenlast ab. Noch schneller als zuvor zog der Wind nun an den Shetlands vorbei in die Nordsee, in seinem Gefolge ein Randtief, in dem sich seine Verwandten versammelt hatten, um auf ihre Stunde zu warten: vom steifen Südwestwind über heftige Böen aus West bis zum Nordwest mit seinem langen Atem. Man stritt sofort heftig miteinander, wie es in den besten Familien vorkam. Plötzlich flogen die Wolken auseinander, die Sonne kam heraus, und ein kilometerhoher Regenbogen erstreckte sich über den gesamten Ozean. Die Winde setzten ihre Schaukämpfe unbeirrt fort, jagten einander in alle Richtungen und schlugen Haken. Aber Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, schließlich einigte man sich und zog gemeinsam Richtung Osten.
Laut Lehrbuch entsteht Wind durch Luftdruckgegensätze, physikalisch ist er eine Massenverschiebung, die nach Ausgleich drängt. Das hat nichts Persönliches. Wenn du aber, wie die zehnjährige Leevke Clausen, auf der Insel Föhr mit deinem Fahrrad kaum vorankommst, weil sich der Wind wie eine unsichtbare Wand vor dir aufbaut, hat das etwas sehr Persönliches. Leevke war der erste Widerstand, auf den der Sturm nach seiner tagelangen Reise über das Meer traf. Er pfiff ihr so laut um die Ohren wie ein Düsenjet. Sämtliche Gräser in der tellerflachen Marsch um sie herum wurden nach Osten gedrückt, jeder Protest wäre zwecklos gewesen.
Leider musste Leevke in die entgegengesetzte Richtung, nach Westen. Es war gemein: Die Reetdachhäuser ihres Heimatdorfes Oldsum lagen zum Greifen nahe und erschienen ihr dennoch unerreichbar. Mit aller Kraft stellte sie sich in die rechte Pedale und kam trotzdem nur eine knappe Raddrehung weiter. Jedes Mal verlor sie aufs Neue gegen die Böen, was demütigend war. Blöderweise hatte sie es eilig, sie hatte sich mit ihrer Freundin Alina verspielt und dabei die Zeit vergessen. Jetzt löste sich auch noch eine Strähne aus ihrem Zopf und wehte ihr vor den Lippen herum. Sie versuchte sie zu ignorieren und kämpfte weiter. Nach weiteren qualvollen hundert Metern war sie am Ende. Keuchend warf sie das Fahrrad zu Boden und schwor sich, wenn sie erst erwachsen wäre, würde sie nie wieder Rad fahren. Für jeden noch so kleinen Weg würde sie das Auto nehmen. Frustriert blickte sie zu dem uralten steinernen Kirchturm von Süderende, der, unbeeindruckt vom Wetter, in der flachen Landschaft stand und sich nicht einen Millimeter bewegte, während die gesamte Insel um ihn herumwirbelte. Etwas weiter entfernt wurde ihr vorgeführt, wie es war, wenn man in der Gegenrichtung unterwegs war: Ein Radfahrer flog ihr leicht und schnell wie ein Papierflieger entgegen. Neben ihm lief ein schwarzer Hund, der zwischendurch mit allen vieren einfach so in die Luft sprang, was eine liebenswerte Macke von ihm war: Es war Eyk, ihr Eyk! Ein Mischling mit starken Jagdhundanteilen, langen Beinen und dichtem Fell.
Der fliegende Radfahrer war ihr Vater Jan. Seine mittellangen blonden Haare wurden ihm von hinten ins Kinn und vor die hellblauen Augen geweht. Vermutlich kam er gerade von der Arbeit, er trug noch seine schwarze Dachdeckerkluft, die Leevke nicht besonders mochte. Die groben schwarzen Zimmermannshosen mit den beiden silbernen Reißverschlüssen ließen ihren Papa viel breiter aussehen, als er war. Unter der schwarzen Cordweste trug er immer ein weißes T-Shirt. Selbst im kältesten Winter zog er höchstens eine Jeansjacke darüber, gegen Kälte war er abgehärtet. Trotz seiner robusten Kleidung wirkte er geschmeidig und leicht wie ein Tänzer.
«Rückenwind ist das größte Glück auf Erden», seufzte sie.
«Hier steckst du!», rief ihr Vater. Er sah leicht säuerlich aus. «Hast du mal auf die Uhr geguckt?»
Beide mussten sich richtig gegen den Wind stemmen, um einigermaßen gerade zu stehen. Eyk wedelte wild mit dem Schwanz und bleckte die Zähne, er schien vor Wiedersehensfreude zu lachen. Als sie ihn kräftig hinter den Ohren kraulte, sprang er an ihr hoch. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände.
«Ich war bei Alina, habe ich doch gesagt.»
«Wir hatten eine Vereinbarung.»
«Hatte ich vergessen.»
«Ich warte seit fast einer Stunde auf dich.»
«Raik hat mich die ganze Zeit am Lenker festgehalten und nicht lockergelassen.»
«Raik ist ein blöder Angeber», brummte ihr Vater. «Der bauscht sich immer wie wahnsinnig auf, aber da steckt nicht viel hinter. Du kennst ihn doch. Den kriegt man locker klein, wenn man Leevke Clausen heißt.»
Diesen Dialog verstanden nur zwei Menschen auf dieser Welt: sie und ihr Vater. Als kleines Kind hatte sie immer Angst vor Sturmfluten gehabt, die Föhr überspülen könnten. Ihr Vater hatte ihr zwar erklärt, dass das wegen der hohen Deiche nicht möglich war. Aber das beruhigte sie nicht. Was, wenn eine Flut kam, die höher war als alle anderen? Jan gab daraufhin allen Winden und Wasserständen friesische Namen, sodass Ebbe und Flut, Sturm und Windstille zu nahen Verwandten wurden. Den Blanken Hans gab es ja schon, der war grob und laut und tobte sich im Winter gerne mal über der Insel aus, zog sich aber immer nach ein paar Tagen zurück und war im Sommer ein ganz Lieber. Raik war ein Starkwind mit auffrischenden Böen, ein Angeber, der gerne der Blanke Hans gewesen wäre, aber nie an ihn herankam und maßlos überschätzt wurde, während Gunnar Svenson mit seinen schmalen Lippen schon ernster zu nehmen war. Wiebke Flut war harmlos, aber vor Silja Flut musste man sich in Acht nehmen, die war tückisch und falsch. Bei Frerk Ebbe konnte man gefahrlos im Priel vor Oldsum baden, während bei Greta Ebbe Gefahr im Verzug war. Durch die Namen wurden sie alle vertraut wie Tanten und Onkel, die man zwar manchmal komisch fand, aber vor denen man keine Angst haben musste.
«Hilfsmotor?», fragte Leevke.
«Zur Strafe sollte ich dich alleine fahren lassen», erwiderte Jan.
Leevke wusste, dass er das nicht so meinte. Ihr Papa konnte nie lange böse sein, spätestens nach zehn Minuten hatte er vergessen, weshalb er sich aufgeregt hatte. Er legte eine Hand um ihre Schulter und zog sie mit kräftigen Pedaltritten gegen den Wind zurück nach Oldsum. Er besaß locker Kraft für zwei, es sah nicht mal so aus, als wenn er sich dabei anstrengen musste. Eyk lief nebenher und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Er schien genauso unermüdlich wie ihr Vater zu sein. Es war herrlich, so nach Hause gezogen zu werden!
Eine halbe Stunde später standen sie vor dem knorrigen alten Reetdachhaus, das seit über zwei Jahrhunderten ihrer Familie gehörte. Der Sturm konnte dem Gebäude nichts anhaben, die knallroten Ziegel schienen in der Sonne zu glühen, als ob Hochsommer wäre, dabei war es schon Mitte September.
Drinnen war es wunderbar windstill. Das Haus war für Leevke wie eine warme, reetgedeckte Höhle. Sie huschte die schmale, knarzende Holztreppe hoch in ihr Kinderzimmer, das direkt unter dem Dach lag. Draußen pfiff und heulte Raik immer noch um sämtliche Ecken des Dorfes. Sie lächelte: Hier konnte er ihr nichts mehr anhaben.
Zwischen ihrem kleinen IKEA-Schreibtisch und dem weiß lackierten Bett stand das Terrarium, in dem ihre Rennmäuse Charlie und Louise lebten. Leevke nahm ein paar Körner in die Hand und hielt sie ihnen auf den Fingerspitzen entgegen.
«Was ist?», hörte sie ihren Vater meckern. Er war ihr zusammen mit Eyk ins Zimmer gefolgt. «Statt mit den Schularbeiten loszulegen, spielst du mit den Mäusen.»
Charlie und Louise stellten sich auf die Hinterpfoten und starrten ihn mit aufmerksamen Augen an.
«Mache ich nach dem Abendbrot», kündigte sie an.
Ihr Vater schüttelte heftig den Kopf. «Wenn ich dir in Mathe helfen soll, dann jetzt. Nach dem Abendbrot muss ich zur Elternversammlung.»
«Geh doch einfach nicht hin.»
«Kommt gar nicht in die Tüte. Ich muss doch wissen, was bei dir in der Klasse los ist.»
«Da ist nichts los», behauptete Leevke. Es war ja gut, dass er sich um sie sorgte. Aber es gab handfeste Gründe, warum es besser war, dass ihr Vater diesmal nicht hinging.
Er trat zum Terrarium, um die Mäuse nun ebenfalls mit ein paar Körnern zu füttern. «Und was ist mit der neuen Lehrerin?»
Leevkes frühere, über alles geliebte Klassenlehrerin Frau Paitz war in den Sommerferien Richtung Festland verschwunden, ohne sich zu verabschieden, was Leevke tief enttäuscht hatte. Stattdessen musste sie sich nun mit dieser Frau Grigoleit rumschlagen, die frisch von der Uni kam, obwohl sie schon fast dreißig war und keine Ahnung von nichts hatte. Angeblich war sie nach Föhr gezogen, weil sie mit ihren Eltern mal auf Sylt Urlaub gemacht und sich dabei in die nordfriesischen Inseln verliebt hatte. Die würde sich umgucken! Föhr war eine ganz andere Welt als Sylt, und im Winter erst recht!
«Was soll mit der sein?», fragte Leevke.
«Die Mutter von Sabrina hat mir vorhin im Supermarkt erzählt, dass die Grigoleit dir heute alle Pausen gestrichen hat und du drinnen bleiben musstest.»
Leevke schaute ihn missmutig an, um sich dann wieder den Mäusen zuzuwenden. «Ja, das stimmt.»
«Wieso denn?»
«Wegen gar nichts.»
Ihr Vater richtete sich zu voller Größe auf. Das tat er immer, wenn er sich aufregte. «Wegen gar nichts bekommt man keine Strafe!»
«Bei der schon.»
«Glaube ich nicht.»
«Ich hab nur mit dem Stuhl gekippelt.»
«Das war alles?»
Sie ließ sich von Charly sanft den Zeigefinger anknabbern. «Ja.»
«Echt?»
«Echt.»
Jan wurde richtig sauer. «Der werde ich Bescheid geben. Du hast ein Recht auf deine Pause!»
«Jawohl!»
«Auf jeden Fall hörst du jetzt bitte auf, mit deinen Mäusen zu spielen, und fängst mit den Hausaufgaben an.»
Leevke setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl.
«Wieso hast du eigentlich noch keine neue Frau gefunden?», fragte sie unvermittelt. Ihre Mutter war vor neun Jahren mit dem Auto verunglückt, da war Leevke gerade mal ein Jahr alt. Seitdem lebte sie mit ihrem Vater alleine.
«Lenk nicht ab, darüber reden wir ein anderes Mal.»
Leevke lächelte. «Liegt es an dir oder an den Frauen?»
«Hausaufgaben!»
«Ich kapiere Mathe nicht.»
«Zeig her.»
Sie reichte ihm ihr Mathe-Heft mit dem Namen «Flex und Flo».
«Meinst du, es könnte an mir liegen?», fragte sie.
«Mathe kann jeder lernen.»
«Nein, das mit den Frauen.»
«Wieso das denn?»
«Vielleicht schreckt es die Frauen ab, dass du ein Kind hast.»
Ihr Vater winkte ab. «Wenn das so ist, sind sie die Falschen.» Er las die Aufgabe laut vor: «Der nächste Nachbartausender heißt 4000 und ist um 350 größer als die gesuchte Zahl.»
«3770?»
«Rechne noch mal nach.»
«4000 minus 350 ist 3770!»
«Nein, 3650. – Hast du eigentlich auch noch was in Deutsch auf?»
«Nein. Da lesen wir gerade ein Buch, das spielt im Internat. Es ist total lustig da, die haben zwanzig Pferde, und in jedem Zimmer schlafen vier Mädchen, die sich super verstehen.»
«Gut, dann zurück zu Mathe.»
«Ich habe mir überlegt, dass ich auch ins Internat will.»
Ihr Vater lachte.
«Ich meine es ernst», sagte sie.
«Wegen dieses blöden Buches?»
«Nein. – Ich habe mir im Internet schon ein paar Internate angeschaut.»
«Und warum?»
«Na, damit du leichter eine Frau findest!»
«Was?»
«Na ja, du bist oft so traurig, und ich denke, wenn du eine neue Frau findest, wird das besser. Das ist viel leichter, wenn ich nicht da bin.»
Ihr Papa schluckte. «Wie kommst du darauf?»
«Die Frauen wollen ja was von dir und nicht von mir.»
«Ich würde nie eine Frau wollen, die nichts mit dir anfangen kann.»
Leevke hatte sich tatsächlich im Netz ein paar Internate angesehen. Natürlich würde sie dort ihre Freundinnen vermissen, die ganze Insel würde ihr fehlen. Es würde hart werden, aber sie würde es auf sich nehmen. Für ihren Papa. Dem Mädchen in dem Buch war es genauso ergangen, am Schluss hatte sie aber das jährliche Reitturnier auf dem Internat gewonnen und war glücklich geworden. Trotzdem merkte Leevke, wie ihr jetzt die Tränen in die Augen stiegen. Schnell schluckte sie sie runter.
«Bin ich echt so oft traurig?», fragte ihr Vater leise.
Leevke nickte. «In letzter Zeit ja.» Das wusste er doch selber, oder nicht?
«Du musst dir aber wegen mir keine Sorgen machen, ich bin alt genug.»
Dann bückte er sich zu ihr runter, nahm sie in den Arm und drückte sie so fest an sich, dass es fast ein bisschen wehtat. Sie konnte ihn nicht sehen, weil ihre Nase tief in seiner Cordweste steckte, aber sie spürte trotzdem, dass auch er feuchte Augen bekommen hatte.
Hinter Föhr traf Raik aufs Festland und fegte nach über fünfzig Kilometern durch die sommerlichen Gassen der Stadt Flensburg, die an einem traumhaft schönen Ostseefjord lag. Jahrhundertealte dänische Giebelhäuser verteilten sich auf den Hügeln über der Stadt und am Wasser wie in einer Modelleisenbahnlandschaft. Raik presste ein paar Böen durch die Straßen, die es in sich hatten. Alles, was nicht befestigt war, tanzte durch die Luft: Papier, altes Laub und Sand. Die bogenförmigen Straßenlampen wurden in Schwingungen versetzt und nickten mit ihren Köpfen auf und ab.
Sina warf einen Blick auf die sonnenbeschienene tiefblaue Ostsee, die zwischen den alten Backsteinhäusern zu sehen war. Das Wasser wurde vom starken Westwind aus der Förde herausgepresst, im Hafen war gerade extremes Niedrigwasser. Sie drückte ihre Sporttasche fest an sich und legte ein schnelles Tempo vor, was gegen den Sturm einige Kraft kostete. Bei jedem Schritt zählte sie auf Französisch bis acht und begann dann wieder von vorne, so wie es beim Ballett üblich war: «Un-deux-trois-quatre …»
Den Gegenwind nahm sie als willkommenen Trainingspartner und legte sogar noch einen Zacken zu. Sie war seit über dreißig Jahren Balletttänzerin und liebte es, auf diese Weise einen Teil des Aufwärmens vorwegzunehmen. Als sie nach einer Viertelstunde vor dem Flensburger Landestheater stand, waren ihre Muskeln warm und gut durchblutet. Sie trat durch die schwere Eingangstür, und sofort war der Wind vergessen. Die meterdicken uralten Steinmauern trotzten jedem Wetter. In den letzten Jahren war dieser wuchtige Bau ihre feste Burg gewesen. Sie eilte nicht wie sonst zur Künstlergarderobe, sondern schlich sich zum Zuschauerraum, wo sie nur selten gesessen hatte. Dort war es komplett dunkel. Der typische Theatergeruch schlug ihr entgegen. Schwer zu beschreiben, was ihn ausmachte, die Polster der vielen Sitze vielleicht? Der Staub? Oder war es eher die Abwesenheit aller anderen Gerüche, die man sonst wahrnahm, Luft, Laub, Erde?
Vorsichtig tastete sie sich an den Sitzlehnen entlang nach vorne ins Parkett. In der zweiten Reihe wählte sie einen mittigen Stuhl und setzte sich. Normalerweise war das ein toller Platz mit bester Sicht auf die Bühne, aber jetzt sah sie trotz offener Augen gar nichts. So muss es sein, wenn man blind ist, dachte sie.
Plötzlich ging ein Punktschweinwerfer an und strahlte auf den schwarzen Vorhang. Die Helligkeit tat ihr richtig weh in den Augen. Normalerweise setzte jetzt das Orchester ein, aber die Musiker waren noch nicht da. Der Vorhang öffnete sich, und die Bühne strahlte wie an einem Tag im Hochsommer. Vorne an der Rampe blühte ein Feld mit Hunderten roter Nelken, an der Rückwand standen schlanke Birken mit dunkelgrünen Blättern, dahinter setzte eine Fototapete den nordischen Wald bis zur Unendlichkeit fort. Die Bäume auf der Bühne waren echt, sie waren samt Wurzelballen ins Bühnenbild eingepflanzt worden. Kein einziger Baum sollte für das Stück abgeholzt werden, so stand es im Programmheft, denn so etwas kam beim politisch korrekten Publikum gut an. Morgen würden die Bäume von der dänischen Baumschule abgeholt und wieder draußen eingepflanzt werden. Sie hatte das Stück neunzehn Mal getanzt, heute war die letzte Vorstellung.
Die Lichttechniker hinter dem Zuschauerraum spielten ein paar Lichtstimmungen durch: den frühen, zarten Morgen, den prächtigen Sonnenuntergang, die Blaue Stunde danach, die Nacht mit Halbmond. Es war eine wunderbare Reise durch alle Tageszeiten, ohne dass sonst etwas auf der Bühne passierte.
Sina stand auf und ging über eine kleine Treppe zur Rampe. Die künstlichen Nelken steckten in einer Weichmatte, die unter ihren Füßen etwas nachgab. Sie trat zwischen den Birken auf die Hinterbühne und war dann verschwunden. Heute war ihre letzte Vorstellung als Tänzerin, morgen würde alles vorbei sein. Doch das fühlte sich seltsamerweise noch ganz weit weg an.
«Buenos dias, mi amiga Sina!», rief ihre argentinische Mittänzerin Maria. Sie stand in dickem Pullover und Woll-Leggings im Probenraum und legte gerade die Fingerspitzen unter ihre Fußsohlen, die Beine durchgestreckt. Maria war Anfang zwanzig und kam frisch von der Folkwang-Schule in Essen, auf der auch Sina studiert hatte – vor über dreißig Jahren.
«Buenos dias, Maria.»
Sie gaben sich einen Kuss auf die Wange.
«Na, wie fühlt sich das an, so kurz vor der Rente?»
Sina spürte einen Stich. Sie wollte ihr schon spitz antworten, da trat sie schnell auf die Bremse. In Marias Alter hätte ihr das genauso rausrutschen können, sie hatte es bestimmt nicht böse gemeint. Neunundvierzig erschien einem halt mit zwanzig unendlich alt, sie könnte locker Marias Mutter sein.
«Och, ich tanze heute mit Rollator, dann geht’s schon», erklärte sie.
Maria lachte. «Was hast du hinterher vor?»
«Ich mache eine Tanzschule auf.»
«Ballett?»
«Auch, aber in erster Linie Salsa.»
Pause.
«Klingt gut.»
Marias entsetzter Gesichtsausdruck sprach Bände: Am Anfang einer Ballettkarriere wirkte eine Tanzschule für Laien wie der größtmögliche Abstieg. Die meisten Balletttänzer versuchten zu verdrängen, dass in ihrem Beruf ziemlich früh Schluss war. Sina war mit neunundvierzig ohnehin schon eine Ausnahme. Professionelles Tanzen war nun mal alles andere als gesund, es gab die übelsten Geschichten über abgenutzte Gelenke, künstliche Hüften und Ähnliches. Das war ihr zum Glück erspart geblieben. Es war allerdings immer anstrengender geworden, mit den Jüngeren mitzuhalten, und sie wollte nicht irgendwann halbtot von der Bühne getragen werden.
«Und was hast du hinterher vor?», fragte sie ihre junge Kollegin.
«Ich tanze bis achtzig und werde dann Choreographin am Bolschoitheater.»
Sina nickte. «Und mit hundert heiratest du einen reichen russischen Oligarchen?»
«Das ist der Plan», lachte Maria.
Sina verschwand in Richtung Garderobe. Der Meereswind hatte ihr Blut mit Sauerstoff aufgeladen, in ihrem Körper steckte jede Menge überschüssiger Energie, die jetzt rauswollte. Nachdem sie sich umgezogen hatte, stellte sie sich an die Ballettstange und legte ihr gestrecktes linkes Bein vorsichtig darauf. Prompt wurde ihr Optimismus wieder gedämpft. Schon bei dieser harmlosen Übung spürte sie den Schmerz im linken Knie. Sie war vorletzte Woche beim Putzen in ihrer kleinen Wohnung auf einer Fußmatte ausgerutscht und hatte sich dabei leicht das Bein verdreht. Aber rührte der Schmerz wirklich daher, oder war er doch die Folge des jahrzehntelangen Tanzens? Wenn sie ehrlich war, ging es mit dem Knie schon seit drei Spielzeiten so, mal mehr, mal weniger. Nur dank der harten Disziplin, die sie als Balletttänzerin von früh an gelernt hatte, hatte sie die letzten Aufführungen überstanden.
Sie schaute sich in der Spiegelwand hinter der Stange an. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf zusammengebunden, sodass ihr Gesicht deutlich zu sehen war. Sie konnte zufrieden mit sich sein, fand sie, bis auf ein paar Fältchen hier und da. Die wenigen grauen Haare hatte sie übertönt – geschenkt. Sah sie aus wie neunundvierzig? Nicht, oder? Aber wie sah man denn normalerweise mit neunundvierzig aus? Hinter ihr trippelten ein paar junge Kolleginnen herein, eine jünger und schöner als die andere.
«Ciao, Sina.»
«Ciao, meine Grazien.»
Sie werden alle irgendwann an genau denselben Punkt kommen wie ich, sagte sie sich. Ein schwacher Trost zwar, aber besser als gar nichts. Nach ein paar weiteren Dehnübungen protestierte ihr Knie erneut mit stechendem Schmerz. «Bitte!», bat sie ihr Gelenk. «Nur noch heute!» Die letzte Vorstellung ihrer Karriere wollte sie unter gar keinen Umständen sausen lassen! Abgesehen davon, dass es in der Flensburger Compagnie so schnell keinen Ersatz für sie gegeben hätte.
Sie mochte das Stück sehr, es war wie für sie geschrieben. «Remember Schwanensee» war die Fortsetzung der Schwanensee-Geschichte in der heutigen Zeit: Prinz Siegfried und Schwanenkönigin Odette haben sich irgendwann getrennt und treffen sich zwanzig Jahre nach ihrem ersten Tanz im Schloss zufällig in einem Nelkenfeld wieder. Im Hintergrund werden ihre gemeinsamen Erinnerungen getanzt: die erste Begegnung, der große Ball, die Versuchung der falschen Odette. Im Vordergrund nähern sie sich vorsichtig wieder an, bis sie schließlich erneut zusammen tanzen, im Nelkenfeld und zwischen ihren Erinnerungen weiter hinten. Ob sie wieder zusammenkommen, bleibt am Ende offen, aber es sieht sehr danach aus.
«Remember Schwanensee» war eine gelungene Mischung aus Tanztheater und klassischem Ballett. Für Sina schloss sich damit ein Kreis. Als kleines Mädchen hatte sie nur aus einem Grund vom Ballett geträumt: einmal im Leben die Schwanenkönigin Odette tanzen! Stattdessen war sie nach ihrer Ausbildung am Oldenburger Staatstheater gelandet. Dort ging es um Beziehungsdramen und Politisches, Schwäne waren da verpönt. Auch an den anderen Häusern, in Barcelona, Turin und Stuttgart, tanzte sie später alles Mögliche, doch niemals «Schwanensee». «Remember Schwanensee» erschien ihr wie ein Abschiedsgeschenk. Die Premiere war umjubelt gewesen, heute fand die letzte Vorstellung statt.
Sie schaute sich um, wo steckte nur ihr Tanzpartner?
Sie und Jesper hatten sich nicht auf Anhieb gemocht, was anfangs ein echtes Problem gewesen war. Aber sie hatten daran gearbeitet. Jesper hatte sie eines Nachmittags zu einer Segelpartie auf seinem Katamaran mitgenommen. Bei Windstärke sieben waren sie auf einer Kufe über die Flensburger Förde Richtung Dänemark gerast. Um nicht zu kentern, mussten sie sich mit getreckten Körpern voll ins Trapez hängen. Solche Risikosportarten waren für Tänzer laut Vertrag wegen der hohen Verletzungsgefahr streng verboten, aber das war es wert gewesen. Der Segeltörn hatte sie auf der Bühne zusammenwachsen lassen. Privat interessierte sich Jesper nicht so sehr für Frauen, er war mit dem Hausmeister des Landestheaters liiert.
Statt Jesper stürmte nun der koreanische Choreograph Kim Miung in den Proberaum, der inzwischen mit Tänzerinnen und Tänzern gefüllt war. Alle waren mit ihren Aufwärmübungen beschäftigt. Kim war fast zwanzig Jahre jünger als Sina, Anfang dreißig, und trug seine blond gefärbten Haare raspelkurz. Eigentlich war er selbst Tänzer, «Remember Schwanensee» war seine erste Arbeit als Choreograph, wofür er zu Recht überschwängliche Kritiken bekommen hatte.
«Eine Katastrophe!», rief er laut in den Raum. «Jesper hatte einen Unfall mit dem Rad.»
«Nein», entfuhr es Sina.
«Er hat sich den Oberschenkel angebrochen. Es ist aber nichts Kompliziertes, sagen die Ärzte.»
«Oh mein Gott, der Arme! Und jetzt?»
Kim sah Sina entschuldigend an und zuckte mit den Achseln. «Wir müssen das Publikum nach Hause schicken.»
«Niemals!», rief Sina. «Heute ist mein Abschied.»
Es wurde totenstill im Raum.
«Gut. Dann tanze ich Jespers Part», sagte Kim kurze Zeit später.
«Was?» Sina schluckte.
«Ich kenne die Rolle am besten.»
Das stimmte zwar, er hatte sich ja die Choreographie ausgedacht und alle Figuren bei den Proben wer weiß wie oft vorgetanzt. Es gab aber noch ein ganz anderes Problem.
«Wie sollen die Zuschauer das Stück dann noch verstehen?», fragte Sina. «Jörgen, der den jungen Siegfried tanzt, mit dem ich früher zusammen war, ist blonder Däne. Dann treffen wir uns nach Jahren wieder, und aus dem blonden Siegfried ist ein junger blonder Asiat geworden, der zwanzig Jahre jünger ist als ich. Die Leute werden denken, dass ich einen neuen, jungen Lover aus Asien habe, was ja auch naheliegt.» Zudem war Kim etwas kleiner als sie – das zusammen genommen war ein bisschen viel an Irritation.
«So oder absagen, ich sehe keine andere Möglichkeit.»
Kim hatte recht. Es war alles andere als optimal, aber deswegen sollte ihre letzte Vorstellung nicht ausfallen.
«Also gut.» Immerhin hatte sie in der vorletzten Spielzeit schon mal mit Kim getanzt, sie kannten sich also.
In den anderthalb Stunden bis zur Vorstellung konnten sie die einzelnen Tänze des Stücks nur andeutungsweise durchgehen. Erleichtert stellte sie fest, dass Kim seine Choreographie wirklich gut kannte. Trotzdem blieb es ein Risiko, denn sie mussten sich auf der Bühne blind aufeinander verlassen können, und das ging eigentlich nur mit viel Übung. An manchen Stellen stand ihr Partner mit dem Rücken zu ihr, dann musste er sich genau im richtigen Moment umdrehen, um sie zu heben. Es konnte eigentlich nur schiefgehen.
Als Sina hörte, dass im Orchester bereits die Instrumente gestimmt wurden, setzte das Lampenfieber ein. Sie eilte in die Maske und zog sich in Windeseile ihr Kostüm an, die Stretchjeans und den ärmellosen Pullover, der ihre langen schlanken Arme besonders hervorhob. Jetzt betrat Kim den Raum, er hatte sich die kurzen Haare grau pudern lassen, um älter auszusehen, fürs Färben hatte die Zeit nicht gereicht. Es sah gar nicht schlecht aus. Sie umarmten sich und spuckten sich nach altem Brauch gegenseitig über die linke Schulter.
«Toi, toi, toi.»
Dann war der große Moment gekommen.
Sina stellte sich mit rasendem Puls hinter den schwarzen Vorhang an der Seitenbühne. Auf der anderen Seite stand Kim in dunkelblauem Kapuzenshirt und roter Sporthose und versuchte ein Lächeln. Aber seine Augen sahen aus wie die eines gehetzten Tieres.
Manchen Künstlern schlug Lampenfieber auf den Magen, ihr wurden immer die Arme und Füße schwer. Was für eine Tänzerin der größtmögliche Albtraum war. Es war ein Fehler gewesen, die Vorstellung durchzuziehen, aber nun gab es kein Zurück mehr. Das Orchester spielte bereits die Ouvertüre.
Der Inspizient gab Sina das Zeichen. Ihr Adrenalinpegel schoss auf Maximum, ihre Finger zitterten. Sie gab sich einen Ruck, richtete sich auf, reckte den Hals und tanzte beherrscht und grazil hinaus auf das sommerliche Nelkenfeld.
Gut zwanzig Mütter und Väter saßen im Klassenraum der 4b in der Süderender Grundschule. Ihre Köpfe hippelten vor Jan unruhig auf und ab wie Bojen bei kurzer Dünung, niemand konnte auf den viel zu kleinen Stühlen lange still sitzen. Auch er nicht. Er träumte sich weg ins ewige Eis, nach Grönland, wo man auf Hundeschlitten das zugefrorene Nordmeer überquerte. Das tat er gerne, wenn er irgendwo warten musste. Er war noch nie auf Grönland gewesen – dafür aber seine Vorfahren, die Walfänger gewesen waren. Wobei man einwenden mochte, dass viele Föhrer behaupteten, von den Walfängern abzustammen. Bei ihm stimmte es aber tatsächlich, wenn auch nur um ein paar Ecken. Ein Vorfahre von ihm war ein Cousin von Matthias dem Glücklichen gewesen, der im 17. Jahrhundert in Oldsum lebte und berühmt dafür geworden war, dass er 373 Wale gefangen hatte. Jan grinste in sich hinein: Wie sich die Zeiten doch gewandelt hatten. Heute würde sich der Mann zum Feindbild von Greenpeace machen, man würde ihn wohl eher «Matthias den Schrecklichen» nennen.
Die Luft roch nach Kreide und Kinderschweiß, von draußen klopfte Raik immer wieder mit einem dünnen Zweig des Rhododendronbusches gegen die Scheibe. Er sollte sich mehr auf das konzentrieren, was die Lehrerin erzählte, immerhin betraf es seine Tochter. Aber Schulräume machten ihn einfach schläfrig, das war schon in seiner eigenen Kindheit so gewesen. Hannes vom Fischimbiss, Hauke, der glatzköpfige Masseur von der Kurklinik, und er waren die einzigen Männer, ansonsten saßen hier nur Mütter. Über ein paar Ecken war er mit fast allen hier im Raum verwandt. Was die Veranstaltung kaum erträglicher machte.
Vorne am Pult hockte Leevkes neue Klassenlehrerin Frau Grigoleit und redete und redete. Sie war um die dreißig, trug ihre braunen glatten Haare schulterlang und kleidete sich so, wie er es schon lange nicht mehr bei einer Frau gesehen hatte: dunkelblauer Rock und hellblauer Pullover, unter dem ein weißer Blusenkragen mit Spitze hervorlugte. Die helle Perlenkette an ihrem Hals erinnerte Jan an seine Oma. Aus welchem Universum war die bloß gefallen? Ihr Äußeres hätte ihm egal sein können, wenn da nicht die angestrengte hohe Stimme gewesen wäre. Arme Leevke, sie musste diese schrille Tonlage den ganzen Vormittag anhören.
Um sich abzulenken, schaute er sich die bunten Kinderzeichnungen an der Seitenwand an. Es wimmelte von Löwen, Schlangen und Zebras in großen und kleinen Zoogehegen. Nur Leevke fiel mit ihren frei laufenden Flamingos aus dem Rahmen. Die Schule kam ihm vor wie dieser Zoo: Die Kinder wurden in kleine Klassengehege gesperrt und von ihren Lehrerinnen dressiert. Zugegeben, das war ungerecht und übertrieben, sie gaben sich ja alle Mühe. Wahrscheinlich hatte er nur schlechte Laune. Und trotzdem …
«… ich achte sehr auf die Form, die den Inhalt transportiert», dozierte Frau Grigoleit gerade. «Wie zum Beispiel die Rechtschreibung. Wir sind ja nun schon in der vierten Klasse, und auf den weiterführenden Schulen wird viel Wert darauf gelegt, nicht nur im Fach Deutsch. Auch in Erdkunde oder Religion gibt es bei Rechtschreibfehlern Abzugspunkte. Deswegen werde ich ab jetzt jede Woche ein kleines Diktat mit den Kindern schreiben, um sie gut vorzubereiten.»
«Wie lang ist denn ein ‹kleines Diktat›?», erkundigte sich die blond gefärbte Petra, die Mutter von Leevkes Freundin Bella. Sie war eine Cousine zweiten Grades von ihm.
Jan war geborener Insulaner und hatte Föhr nach dem Abi nicht verlassen wie die meisten seiner Schulkameraden, sondern bei seinem Vater auf der Insel Reetdachdecker gelernt. Was in erster Linie daran gelegen hatte, dass sein Vater krank geworden war und jemand aus der Familie den Betrieb weiterführen musste, damit seine Eltern ihre Rente bekamen. Sein zehn Jahre älterer Bruder Tjaard war längst aus dem Haus gewesen, um Jura in Kiel zu studieren. Also war er dran. Vor fast dreizehn Jahren hatte er dann Britta aus Husum kennengelernt, die in Wyk eine Pension von ihrer Großtante übernommen hatte. Er verliebte sich sofort in die rotblonde quirlige Frau. Und sie sich in ihn. Als sie heirateten, waren sie beide achtundzwanzig, Leevke wurde geboren, und sie waren die glücklichsten Eltern der Welt. Bis zu jenem Samstagmorgen, als zwei Polizisten vor seiner Tür standen, ihre Mützen betreten in den Händen drehten und ihm die Nachricht überbrachten, dass Britta bei einem Verkehrsunfall in Alkersum ums Leben gekommen war. Da war Leevke ein Jahr alt.
Nach dem ersten Schock blieb ihm nicht viel Zeit, um zu trauern. Leevke brauchte ihn, und er war voll und ganz für sie da. Das gesamte Dorf unterstützte ihn nach Kräften, er musste ja weiter Geld verdienen. Die Oldsumer passten auf Leevke auf und machten mit ihr Schularbeiten, wenn er nicht da war. Nie hatte er ein Betreuungsproblem gehabt oder musste sich sonst um seine Tochter Sorgen machen. Oldsum war noch ein richtiges Dorf, in dem die Leute zusammenhielten. Er selbst klinkte sich allerdings aus allen Vereinen und Aktivitäten weitgehend aus. Einzige Ausnahme war die freiwillige Feuerwehr, die für ihn als Reetdachdecker eine moralische Pflicht war: Wenn es brannte, mussten sie sich auf der Insel selbst helfen. Bis Hilfe vom Festland kam, konnte ein Tag vergehen.
Dieses Jahr wurde er achtunddreißig, das kam der vierzig schon bedrohlich nahe. Es war nur eine Zahl, aber irgendetwas fühlte sich seltsam daran an. Ihm fiel immer deutlicher auf, dass er sein Beziehungsleben vollständig für seine Tochter geopfert hatte. Was nicht nur an seiner Trauer lag – Britta hatte ihren ganz eigenen Platz in seinem Leben, den konnte ihr ohnehin niemand nehmen. Nein, er hatte sich einfach an das Leben mit Leevke gewöhnt, sie hatten sich in ihrem Haus eingebuddelt. Seit Brittas Tod waren aber bald neun Jahre vergangen, und in spätestens acht Jahren würde Leevke vermutlich die Insel verlassen, wie es die meisten Insulanerkinder taten. Wenn sie studieren wollte, gab es gar keine andere Möglichkeit. Was wurde dann aus ihm, allein in dem großen Haus? Ein verschrobener Junggeselle, von dem die Leute sagten, dass er früher mal bessere Zeiten erlebt hatte?
Dass Leevke nun ins Internat wollte, damit seine Traurigkeit verschwand und er eine Frau fand, war ein schlimmes Warnzeichen, das er nicht übersehen konnte. Das Beschämende daran war, dass Leevke seine Unzufriedenheit deutlicher wahrnahm als er selbst. Dabei war sie erst zehn Jahre alt! Es musste dringend etwas passieren. Niemals sollte Leevke auf ein Internat gehen, und schon gar nicht seinetwegen!
«Kommen wir zur Befüllung der Federtaschen», schnarrte Frau Grigoleit. «Da sind mir einige Dinge aufgefallen, die wir gemeinsam ändern müssten. Wir brauchen immer, und das heißt: jeden Tag, wenigstens die vier Grundfarben, dazu einen Bleistift, Anspitzer, Lineal und Radiergummi. Fehlt eines davon, kann Ihr Kind nicht vernünftig arbeiten.»
Es war absurd, er rang mit seiner Tochter um alles oder nichts, und diese Frau faselte von der Befüllung von Federtaschen! Sie war dabei so engagiert, als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt.
«Es ist eine Zumutung, welchen Mist wir uns hier anhören müssen!», rief er unvermittelt in die Versammlung hinein. «Wenn ich mich beruflich mit solchen Kleinigkeiten beschäftigen würde, müsste ich Insolvenz anmelden.»
Natürlich sagte er das nicht, sondern hielt schön die Klappe – wie alle anderen auch. Aber innerlich kochte er. Was wäre, wenn er es wirklich einmal aussprechen würde? Doch Vorsicht, es gab auch Mütter, die das ganz anders sahen und ernsthaft auf Frau Grigoleits Federtaschendiskurs einstiegen.