Inhaltsverzeichnis

Nicht nur, weil sie damals den blau-weißen Schal gestrickt hat.

Für meinen Vater.

Nicht nur, weil er mich damals ins Stadion mitgenommen hat.

Für Katrin.

Nicht nur, weil sie damals nach dem Spiel geblieben ist.

In keiner Sportart spielen die Zuschauer eine so wichtige Rolle wie im Fußball. Sie sind mehr als nur Kulisse. Denn sie schauen nicht allein zu, sondern gestalten das Ereignis mit. Nur ihre Anwesenheit macht das Spiel überhaupt zu einem Ereignis. Durch ihre Präsenz und Anteilnahme, ihre Begeisterung und Anfeuerungsrufe werden sie zum Teil des Spiels. Zum zwölften Mann.

An diesem einfachen Zusammenhang hat sich in der Geschichte des Fußballs wenig verändert. Geändert haben sich allerdings die Zuschauer auf den Rängen, ihr Verhalten und ihre Rituale. Es gibt eine Geschichte des Zuschauens beim Fußball. Und es gibt viele unterschiedliche Geschichten darüber, welche Rolle der Fußball im Leben seiner Fans spielt.

Ich bin einer dieser Fans. Deshalb habe ich versucht, die Veränderungen auf den Rängen aus eigener Erfahrung zu beschreiben. Und habe mich dann zu einer Reise aufgemacht, bei der ich die Stimmen derer gesammelt habe, für die Fußball mehr ist als ein flüchtiges Vergnügen oder schlichtes Geschäft. Weil es ihnen um die Leidenschaften und Besessenheiten, Fantasien, Träume, Sentimentalitäten und den Spaß geht, der mit dem Fußball verbunden ist. Und so ist dieses Buch ein Versuch, das Rätsel zu entschlüsseln, warum wir alle auch nächstes Wochenende wieder ins Stadion gehen werden.

Christoph Biermann

Köln, Juli 1995

Kurvengeschichte

Ich verliebte mich in Fußball, wie ich mich später in Frauen verliebte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an die Schmerzen oder Zerreißproben, die das mit sich bringen würde.

Nick Hornby, Fever Pitch

1. Das erste Mal

Der Tag, an dem mein Leben als Fußballfan begann, war ein warmer Oktobersonntag. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich an jenem Nachmittag nicht mit meinen Eltern und meinem Bruder auf dem Sofa hockte, Kaffee trank, Kuchen aß und im Fernsehen Mädchen mit kurzen Röcken zuschaute, die Pirouetten und Toe-Loops aufs Eis zauberten, oder Springreitern, die ihre Pferde auf Doppel-Oxer zutrieben. Stattdessen saß ich mit meinem Vater auf der Tribüne des Stadions am Schloss Strünkede, der Heimat des SC Westfalia Herne 04. Ich hatte bei ihm lange darum betteln müssen, denn alleine wollten meine Eltern ihren Zehnjährigen nicht zum Fußball gehen lassen. Zwar war mein Vater früher fast an jedem Wochenende bei irgendeinem Spiel der Oberliga West gewesen, aber er hatte im Laufe der Jahre das Interesse verloren. Außerdem hatte er Westfalia Ende der Fünfziger noch in Spielen um die

Die Umstände meines Debüts waren nicht besonders spektakulär. Das Stadion war viel zu groß für das Spiel zweier Mannschaften aus den Niederungen der Regionalliga West. Gerade einmal dreitausend Zuschauer ließen zehnmal so viele Plätze frei. Die Bänke auf der großen Haupttribüne waren schmutzig, das Holz splitterte, und an einigen Stellen schauten sogar rostige Nägel heraus. Manche der blau-weiß angestrichenen Wellenbrecher auf den Rängen waren stark angerostet. Auch wussten weder die Spieler von Westfalia Herne noch ihre Gegenüber in den schwarz-gelben Trikots des VfR Neuss irgendwelche Momente zu produzieren, die mir über die Jahre in Erinnerung geblieben wären.

Trotz der Bescheidenheit des Ereignisses amüsierte sich mein Vater ganz gut. Mit einer gewissen Begeisterung machte er mich immer wieder auf einen Spieler aufmerksam, der unter seinem Neusser Trikot einen kleinen Kugelbauch verbarg. Das sei Albert Brülls, erklärte er, der wäre früher in der Nationalmannschaft gewesen und hätte sogar bei einer Weltmeisterschaft mitgespielt. Auch nahm mein Vater trotz seines angeblichen Desinteresses durchaus am Spiel Anteil, wie die manchmal etwas lauteren »Aahs« und »Neins« verrieten, die ihm entschlüpften, wenn der Ball nur knapp am Tor vorbeiflog. Ich war ganz froh darüber, dass es ihm gefiel, denn dieser Ausflug versprach, dass wir etwas Gemeinsames hatten. Hier saßen wir nebeneinander – unter Männern – und schauten zusammen aufs Spielfeld. Das war viel besser als Spazierengehen oder Fernsehgucken. Und typische Vater-Sohn-Beschäftigungen wie das Basteln im Hobbykeller oder aufregende Operationen am Motor des Autos gab es bei uns sowieso keine. Mein Vater las nicht einmal Gebrauchsanleitungen.

Es war schön im Stadion. Die frische Luft, der Geruch des Rasens, die Reihe Pappeln hinter den Stehrängen, die kaputte Uhr mit der immergleichen Zeitangabe, die blecherne Stadionansage, die aufgeregten Zuschauer, die man aus dem Augenwinkel beobachten konnte, und das Spiel, das ich kannte und mochte. Doch weder diese Eindrücke noch die schöne Gemeinsamkeit, mit meinem Vater dort zu sein, waren für mich der größte Anreiz, um beim nächsten Wochenende wieder ins Stadion gehen zu wollen, beim nächsten wieder und wieder – für immer.

Fußball leert den Kopf. Radikal und komplett. Das war es, was mir damals so gut gefiel und heute immer noch. Für neunzig Minuten gibt es kein Grübeln und keine Gedanken, die über das Spiel hinausgehen. Neben der leichten, schwebenden Leere ist nur noch für ganz einfache Fragen Platz. Wird er seinen Gegenspieler umdribbeln? Wird die Flanke präzise genug sein? Wird der Kopfball im Tor landen? Wird dieser Vorsprung halten? Das Denken wird schlicht, und man gerät in eine wunderbare Balance von Gelöstheit und völliger Anspannung. Je mehr man sich dem Spiel ausliefert, der Hoffnung und Vorfreude auf einen Sieg und der Angst vor der Niederlage, desto größer wird die Anspannung. Und umso weiter wird man aus der Welt hinausgetragen. Teilt man diesen Zustand mit vielen Menschen, wird der Sog noch größer. In einem Fußballspiel kann ich versinken. Das unterscheidet Fußball von allen anderen kulturellen Veranstaltungen. In Musik, in Bildern oder Büchern versinke ich nie, eher fliegen die Gedanken davon. Nur im Fußball gehe ich verloren.

»Das ist doch nur ein Spiel!« gehört deshalb auch zum

Aber ich ging zufrieden nach Hause und werde diesen Tag nicht vergessen. Niemand, der im Fußball verloren gegangen ist, wird sein erstes Mal vergessen. Alle wissen danach, dass etwas Neues begonnen hat.

2. Am Fußball wachsen

Eine der größten und schrecklichsten Aufgaben, vor denen der Mensch in seinem Leben steht, ist es, erwachsen zu werden. Anstatt für immer Legosteine zusammenzustecken oder fünfstündige Fußballspiele auszutragen, dem Nachbarn Rhabarber aus dem Garten zu klauen oder Blutsbrüderschaft hinter dem Schulgebäude zu schließen, wird dem Kind bald nahegelegt, zu lernen und eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Das sind große Aufgaben, und Jungen machen es sich da – zumeist bis an ihr Lebensende – ziemlich einfach. Fast jeder Junge beginnt im Vorfeld der Pubertät irgendwelche Passionen oder Hobbys zu entwickeln. Er sammelt Briefmarken oder Bierdeckel, lernt

So baute ich also mein Fanleben kontinuierlich aus. Ich besuchte nicht allein die Spiele von Westfalia, sondern leitete auch meinen Etat für »Bessy«- und »Wastl«-Comics auf Sportzeitungen um. Außerdem sammelte ich jetzt noch entschlossener Fußballbilder, um die wir in den Schulpausen schnibbelten. Wessen Bild am nächsten an der Wand landete, der durfte den Rest behalten. Natürlich schnibbelten wir alle nur mit den Portraits, die wir doppelt hatten. Und da das durch geheimnisvolle Fügung die gleichen Bilder waren, konnte man dicke Stapel gewinnen, ohne seine Lücken im Sammelalbum zu schließen. Es ist mir bis

Die Besuche beim Fußball, mit meinem Vater oder ohne

Im Gelsenkirchener Parkstadion war es noch ungeheuerlicher. Nicht nur, dass die ganze Anlage überwältigend groß und die Zahl der Zuschauer dreimal so hoch wie in Bochum war, hier schienen alle vom Spiel besessen zu sein. Wir standen in der Nordkurve, direkt neben dem Fan-Block, und zum ersten Mal ahnte ich, was eine Masse im Stadion bewirken kann. Pure Energie und ungebremste Leidenschaft entwickeln, schön, stark und klar von einem Moment auf den nächsten. Hier gab es keine Zweifelsfälle. Pfiff der Schiedsrichter für Schalke, war es gut. Entscheidungen gegen Schalke machten ihn zum Verräter. Fouls an Schalker Spielern waren persönliche Attacken gegen die Zuschauer und Gegentore niederträchtige Anschläge. Andererseits ging es ziemlich rüpelig zu. An unserem Platz in der Nordkurve kamen ständig finstere, betrunkene Gestalten mit bestickten Jeanswesten vorbei und rempelten sich den Weg frei. Das mit der Masse schien zwei Seiten zu haben.

So war ich nicht entschlossen, ob ich Schalke nun für einen Abgrund oder den Höhepunkt des Fußballs halten sollte. Da kam Wolfhard Kuhlins und wies mir den Weg. Schalke 04, so erfuhr ich aus seinem Frankfurter Studio, hatte mich betrogen. Während aller Bestechungsvorwürfe im Rahmen des Bundesligaskandals war ich an ihrer Seite gewesen. Fichtel und Sobieray, Fischer und Rüssmann waren unschuldig! Ich war fest überzeugt, sie wären

Und Borussia Dortmund? Dort war die Atmosphäre am tollsten. Hysterisch zwar, aber nicht ganz so überdreht wie in Schalke. Das Westfalenstadion war gerade eröffnet worden, und selbst zu Spielen gegen Gütersloh kamen über vierzigtausend Zuschauer. Aber die Gegner der damals zweitklassigen Borussia hießen eben DJK Gütersloh und Union Solingen. Und das war nicht weit genug von Westfalia Herne entfernt. Die Dinge begannen sich zu ordnen, meine Welt wurde säuberlich aufgeteilt. Und vielleicht war es mein Faible für Verlierer, dass es neben Westfalia Herne am Sonntag für den Samstag und die Bundesliga nun den VfL Bochum gab.

3. Gold in Herne

Ich hatte es also gut. Binnen dreier Jahre hatte ich mir das Spezialgebiet Fußball erobert und zwei Vereine, die ich unterstützen konnte. Unseren Mathelehrer, der auch zum VfL ging, lenkte ich in der Montagsstunde mit Rückschauen aufs Fußballwochenende ab. Durch ausgiebige Lektüre der Sportseiten konnte ich auf dem Schulhof jeder Fachdiskussion standhalten und war dabei wahrscheinlich ein Klugscheißer. Ich war jetzt vierzehn Jahre alt und fürs Leben gewappnet. Außerdem begann Westfalia plötzlich zu siegen, und das fast an jedem Wochenende. Die Gegner hießen in der Drittklassigkeit zwar nur noch TuS Neuenrade und SC Neheim-Hüsten, die Ergebnisse dafür 7:1 und 5:2.

Unser Mäzen hieß Erhard Goldbach und besaß eine Tankstellenkette, deren Erfolgskonzept darin bestand, billig zu sein. Den Hauptsitz hatte die Firma in Wanne-Eickel, fünf Kilometer von unserem Stadion entfernt. Wahrscheinlich war Goldbach auf dem Weg zur Arbeit daran vorbeigekommen und hatte befunden, dass dies ein guter Ort sei, über den er seine Bekanntheit mehren könne. Vielleicht wollte er auch nur geliebt werden. Weil er viel Geld mitbrachte, wurde er von heute auf morgen Vereinsvorsitzender. Als solcher sorgte er dafür, dass die Spieler nicht mehr nur aus Herne-Baukau oder Recklinghausen-Suderwich kamen, sondern von weither. Manch einer von ihnen hatte sogar schon in der Bundesliga gespielt. Sie kamen allerdings nicht nach Herne, weil sie meine Einschätzung teilten, dass Westfalia ein unterstützungswürdiger Verein wäre, sondern weil der Mäzen sie mit Geld überzeugte.

Bislang hatte ich mir nicht viel Gedanken darum gemacht, dass Spieler Geld bekamen, obwohl man bei Bayern München damals von nichts anderem zu reden schien (eine Tradition, der man treu geblieben ist). Aber jetzt wurde der Zusammenhang zwischen Fußball und Geld offensichtlich, und das nicht nur in Herne. Der Bundesligaskandal, in dem sich besessene Kleinkrämer gegenseitig mit miesen Tricks überboten hatten, war der schmutzige Abschluss der ersten Phase des deutschen Profifußballs gewesen. Begonnen hatte die Professionalisierung erst 1963, als in der

Als Horst-Gregorio Canellas, der Präsident der Offenbacher Kickers, auf seiner Geburtstagsfeier im Juni 1971 auf den Abspielknopf seines Tonbandgerätes drückte, war alle Unschuld der Liga dahin. Dass Fußball ein Geschäft geworden war, hatten die Kritiker schon längst geraunt. Nun bewiesen Canellas’ Aufzeichnungen von Telefongesprächen, dass es ein faules war. Spieler pokerten um Bestechungssummen, Vereinspräsidenten überboten sich um zu kaufende Siege, dunkle Mittelsmänner waren mit Geldkoffern unterwegs, und der Glaube der Fans daran, einen fairen Wettkampf zu sehen, war dahin.

Der gesamte Abstiegskampf der Saison 1970/71 war manipuliert worden, und Canellas’ Offenbarungen waren die des betrogenen Betrügers, denn auch er hatte die Rettung vor dem Abstieg zu kaufen versucht. Nur war die Konkurrenz aus Bielefeld erfolgreicher gewesen. Sechzig Spieler, Trainer und Funktionäre von Kickers Offenbach, Arminia Bielefeld, Schalke 04, Hertha BSC, VfB Stuttgart, Eintracht Braunschweig, MSV Duisburg und dem 1. FC Köln waren in die Manipulationen verwickelt, eine halbe Million Mark wechselte auf dunklen Wegen die Besitzer. Es dauerte Jahre, bis alles (oder auch nicht) aufgeklärt war.

An den Kassen der Liga bedeutete der Skandal eine Katastrophe. Die Zuschauerzahlen stürzten in der folgenden

In dieser Zeit, nachdem die Erinnerung an den Bundesligaskandal vom Weltmeisterschaftsgewinn 1974 verwischt worden war, formierte sich zaghaft das goldene Dreieck aus Vereinen, Industrie und Fernsehen. Die Summen waren noch bescheiden, aber sie stiegen. Noch gab es kleinliche Streits über die Live-Übertragung von Europapokalspielen im Fernsehen, die oft erst in letzter Minute entschieden wurden. Aufrechte TV-Macher feilschten um jede Mark Übertragungshonorar, die Größe von Werbebanden am

Die Zuschauer spürten die Veränderungen. Das Geld versprach ihnen damals nicht mehr Glamour, Aufregung und Spaß, sondern störte sie. Besonders die Bayern, die sich am deutlichsten vom Fußball der Vergangenheit verabschiedeten und beharrlich kühle Professionalität in den Vordergrund stellten (der HSV wirkte daneben eher lustig aufgedreht), zogen die Abneigung vieler Fans auf sich. Wo immer sie spielten, wurden sie wütend ausgepfiffen und forderten teilweise sogar puren Hass heraus. In Wuppertal wurde ihr Bus mit Steinen beworfen, und in Essen warf ein Fan sogar ein Messer nach Sepp Maier.

In England entwickelten in jener Zeit Soziologen erstmals eine Theorie zu den Veränderungen des Fußballs und seines Publikums. Ian Taylor stellte bereits 1971 die Behauptung auf, dass das Spiel eine »Bourgeoisierung« erlebt hätte. Dabei ging er davon aus, dass in den 50er-Jahren und zuvor Spieler und Zuschauer hauptsächlich Mitglieder der Arbeiterklasse gewesen waren. Dies hat sich im Laufe der Zeit zunächst auf Spielerseite verändert, als Anfang der Sechzigerjahre das (sehr niedrige) Höchstgehalt abgeschafft worden war und viele Spieler dadurch einen

Polizeischutz für die Reichen. Bayern-Stars 1974 in Wuppertal

Trotz vieler Unterschiede zwischen der englischen und deutschen Situation und obwohl Taylors Ansatz sicherlich in vielerlei Hinsicht ein eher romantisches denn historisch unbedingt korrektes Bild des Publikums zeichnet, trägt er doch zum Verständnis der Entwicklung des Profifußballs sehr viel bei. Bereits in den Fünfzigerjahren, als die DFB-Funktionäre noch mit Argusaugen über jede Überweisung auf Spielerkonten wachten, hatten wirtschaftliche Faktoren die Entwicklung des Spiels bestimmt. Das galt nicht nur für spektakuläre Spielertransfers, wie etwa beim »100.000-Mark-Sturm« von Preußen Münster, mit dem sich der westfälische Klub bereits 1951 nach vorne kaufen wollte, oder der »Texas-Elf« von Werder Bremen, die mit den Geldern eines örtlichen Tabak-Unternehmens, dessen bekannteste Marke »Texas« hieß, zusammengeholt wurde. Zum Ende der Oberligen gab es bereits erste Konzentrationen im Fußballgeschäft, das doch angeblich noch keines war. Ab Mitte der 50er-Jahre wurden einige Klubs zu »städtischen Repräsentationsvereinen«, wie der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling sie nennt, andere mussten zurücktreten. Was man auch daran erkennen kann, dass das Zeitalter der einstmals sehr populären Städtevergleiche, bei denen in einer Stadtmannschaft Spieler der verschiedenen Vereine der Stadt spielten, vorüber war. Die Vereine, die ihre Kraft nur aus dem Stadtteil schöpften, konnten finanziell und sportlich nicht mehr mithalten und wurden verdrängt. Namen wie Altona 93 in Hamburg, die Sportfreunde Katernberg in Essen oder Hamborn 07 in Duisburg sind Beispiele dafür. Die Repräsentation der Städte übernahmen nun vornehmlich der Hamburger SV, Rot-Weiß Essen oder der MSV Duisburg. Letztere etwa besetzten die Rolle als »der« Duisburger Verein erst 1965, als sie sich von

Trotzdem gab es auch Anfang der Siebzigerjahre noch in vielen Städten ein selbstverständliches Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Verein, Spielern und Zuschauern. Das galt auch – und vielleicht länger als überall anders – in Bochum. Im Kader des VfL standen noch 1974 zehn Spieler, die in Bochum geboren und aufgewachsen waren, und nur zwei kamen von außerhalb des Ruhrgebiets. Trainer Höher hatte beim VfL gespielt, und Präsident war Ottokar Wüst, der Besitzer eines traditionsreichen Geschäfts für Herrenoberbekleidung. Selbst die Bayern hatten in den Sechzigerjahren ihren Aufstieg mit Münchnern wie Beckenbauer, Schwarzenbeck und Maier geschafft. Doch solche lokalen Anbindungen spielten immer weniger eine Rolle. Die Spieler fühlten sich inzwischen kaum noch als »Ritter des Vereins«, die für den Klub, die Stadt und ihre Bewohner einen fußballerischen Stellvertreterkrieg austrugen. Wie sollten sie auch, wenn sie aus ganz anderen Gegenden oder gar anderen Ländern herbeigekauft wurden. Folglich waren sie mehr ihrer beruflichen Karriere als Profispieler verpflichtet, als sich für lokale Identitäten zuständig zu fühlen.

Neben dem rein sportlichen Wettkampf begannen die Vereine ein neues Rennen um Werbeeinnahmen, Mäzene und Trikotsponsoren. Mit den dort erwirtschafteten Geldern sowie Schenkungen, Krediten und Bürgschaften versuchten die Klubs, sich die besten Spieler abzujagen. Nicht die Kunst des Trainers, eine Mannschaft aufzubauen, Talente zu entdecken und zu fördern, stand mehr allein im Vordergrund, sondern die Wirtschaftskraft im Kampf um bessere Spieler. An der Spitze der Klubs begann ein

Taylors These von der Übernahme des Spiels durch die Mittelschicht wurde in Deutschland eifrig aufgegriffen. Sie ist deshalb so interessant, weil sie zugleich subjektiv richtig und objektiv falsch war. Der vermeintliche Arbeitersport Fußball hatte wahrscheinlich nie denen gehört, die ihn betrieben oder ihm zusahen. Eher war er Teil einer patriarchalischen Welt, in der Fabrikbesitzer, Leiter von Handelshäusern oder Zechendirektoren durch ihr Engagement beim lokalen Sportverein ihr Verständnis von sozialer Verantwortung einlösten. Als Vereine, Industrie und Fernsehen das Fußballgeschäft Mitte der Siebzigerjahre neu zu ordnen begannen, änderte sich das. Und so entwickelten die Anhänger, die vielleicht nie wirklich die Vereinspolitik mitbestimmt und nach dem Spiel schon längst nicht mehr mit den Spielern in der Vereinskneipe ein Gespräch unter Gleichen geführt hatten, jetzt ein Gefühl des Verlustes.

Streng genommen ging ein Riss durch die Fußballwelt. Fußball war zur Ware geworden, die Vereine zu Anbietern dieser Ware, die Fußballer stellten das Produkt her, und die Zuschauer waren die Abnehmer. Von Teilhabern waren sie zu Konsumenten geworden. Doch ganz war die Illusion noch nicht zerstört und ist es bis heute nicht. Hinter dieser so klar scheinenden Trennung und deutlichen Rollenverteilung entstand in Wirklichkeit ein undurchdringliches Gewusel. Geschäft und Gefühl, Loyalität und Profit, Karriere und Anhänglichkeit, Unterhaltung und Herzensblut, lokale Bindung und Internationalität überlagern sich allenthalben. Auch wenn Vereine sich mitunter so gebärden, sind sie noch immer keine Unternehmen, die Überschüsse erwirtschaften müssen. Vereinspräsidenten sind keine Konzernmanager, sondern mitunter sentimentale Männer in den

4. Mit einem Helden gegen »Die«