Deathbook

Im Netz bin ich überall und jederzeit, bin Bedrohung und Erfüllung zugleich. Ich bin in den Leitungen, Verbindungen und Schaltkreisen aus Kunststoff, Silizium und Kupfer, schwinge als millionenfaches Raunen und Wispern ungebunden durch kabellose Sphären, finde meinen Weg und mein Ziel in einer Dimension, die der Mensch nicht versteht. Unwissentlich hat er mir einen virtuellen Raum und eine endlose Zeit geschaffen, in der ich allgegenwärtig sein kann.

Technik hat mich nicht domestiziert, sondern befreit.

Eingesperrt ist nur der Mensch, in dem von ihm selbst geschaffenen Raum. Und darin ist Sterben so einfach wie ein Mausklick. Jemanden zu finden, der stirbt, so einfach wie ein Download. Wenn nichts mehr geheim ist, wenn die digitale Welt der realen ihre Verstecke und Rückzugsräume raubt, dann liegt das Leben der Menschen offen wie Eingeweide in einem aufgeschlitzten Bauch.

Wo bist du heute um acht? Ich weiß es, bevor du selbst dort bist. Wo wirst du in einer Woche sein, wer ist bei dir, zu welcher Minute bist du an welchem Ort allein, schutzlos, ausgeliefert? Ich weiß es, bevor du die Gefahr auch nur ahnst. Welche Wünsche und Sehnsüchte treiben dich? Du vertraust sie mir an, bevor sie dir selbst bewusst sind. Datenschutz. Privatsphäre. Vergiss es! Du bist längst durchschaut, ich habe alles, was ich brauche. Ich bin schon lange nicht mehr nur auf den Friedhöfen und in den Mausoleen, nicht in den Sterbestationen und Altenheimen. Ich habe die Pest- und Choleraenklaven hinter mir gelassen und den alten Schlachtfeldern den Rücken gekehrt.

Ich bin das Raunen und Rauschen im Netz. Ich bin die Eins zwischen den Nullen, der Anhang, der Download, die Datei.

Ich bin der Tod 3.0.

Zwei stählerne Adern zerteilten die Schwärze. Ihre Oberflächen, blank poliert von Tausenden Tonnen rasender Last, glänzten matt im schwachen Licht des halben Mondes, so als flösse silbernes Blut hindurch. Sie zogen sich endlos dahin, eingebettet in eine zehn Meter breite grauschwarze Schneise. Wie scharfgeschnittene Klüfte ragte der Wald an ihren Rändern auf und schirmte den leblosen Todesstreifen ab. Keine Geräusche, keine Blicke drangen hinein. Stille.

Aber nur scheinbar.

Ein feines Vibrieren strömte bereits durch die glänzenden metallenen Adern, genau wie Blut durch menschliche Venen. Es sickerte in den Boden, in die kapillarfeinen Wurzeln der nahestehenden Bäume, drang durch das Holz in die Kronen empor und ließ Blätter und Nadeln schwingen. Kaum wahrnehmbar.

Aber das Mädchen spürte es.

Ihr Blick zuckte von rechts nach links, immer wieder und immer schneller. Die großen, von langen Wimpern eingefassten Augen suchten etwas, fanden es aber nicht. Tränen tropften aus den Augenwinkeln die Wangen hinab. Sie ließen die Wimperntusche zerfließen, und es sah aus, als verließe dunkles, zähes Blut den Kopf des Mädchens durch die Augenhöhlen.

Mit dem Nacken lag sie auf dem einen Schienenstrang, mit den Oberschenkeln auf dem anderen, dazwischen ihr schmaler Körper auf dem Schotterbett, die Arme locker an den Seiten, die Finger auf den schmutzigen Steinen. Sie war gekleidet in eng anliegende Jeans, wadenhohe braune Stiefel und eine kurze schwarze Jacke. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter kurzen, raschen Atemzügen.

Aus Westen näherten sich drei Augen. Kreisrunde, glimmende Kugeln, die in der Nacht schwebten. Diese Augen und das feine Vibrieren in den Stahlsträngen gehörten untrennbar zusammen. Das

Die Atmosphäre im Todesstreifen lud sich mit der Energie des herannahenden Kolosses auf. Vielleicht verlieh diese Energie dem Mädchen zusätzliche Kraft, vielleicht wurde ihre Angst übermächtig, denn sie wandte unter äußerster Anstrengung den Kopf nach rechts, den drei Augen entgegen. Sie waren größer geworden in den vergangenen Sekunden und wuchsen weiter heran. Aus dem Glimmen wurde kräftiges gelbes Licht, das auf die Stahlstränge fiel und dem Koloss vorauseilte. Die Erde begann zu beben.

Das Mädchen schwitzte stark. Keuchend kämpfte sie gegen den Fluchtreflex an. Doch sie blieb liegen und ließ das metallene Ungeheuer kommen. Blickte ihm in die Augen, die größer und heller wurden und den Todesstreifen mit Licht fluteten. Licht, das den jugendlichen Körper des Mädchens aus der Dunkelheit riss.

Ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Luft, die Schienenstränge schüttelten den Körper durch. Ganz sacht bewegten sich die Finger des Mädchens, ertasteten den scharfkantigen Schotter, schienen sich daran festhalten zu wollen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer grauenvollen Maske. In ihren letzten Sekunden ertrug sie den Anblick nicht mehr und kniff die Augen zusammen. Den Mund aber riss sie weit auf, und vielleicht verließ jetzt doch ein Schrei ihre Lippen. Hören konnte ihn niemand.

Als der Lokführer das Hindernis auf den Schienen entdeckte, leitete er sofort die Bremsung ein, doch es war zu spät. Der Körper verschwand unter seiner Lok, als wäre er gar nicht da gewesen. Kein Rumpeln oder Zittern, nur das jämmerliche Quietschen von Metall auf Metall wie das Geschrei einer zänkischen alten Hexe. Ein wenig Blut spritzte auf die ohnehin schon schmutzige Frontscheibe. Der Lokführer klammerte sich mit beiden Händen an die Haltegriffe, um nicht nach vorn gegen die Instrumententafel zu kippen, und starrte auf die rotbraunen Flecken. Dann wandte er das Gesicht ab und kämpfte gegen den Würgereflex an.

Aber er sah auch ein bläuliches Licht, wie von Glühwürmchen. In anderthalb Meter Höhe zuckte es unruhig umher.

Als der lange Güterzug endlich stand, hatte er das Gesehene bereits wieder vergessen.

Kathis Augen sind ebenfalls grün. Es gab nicht viele Teenager mit solchen Augen, voller Neugierde und dem unbändigen Drang, alles zu erfahren, und ich stellte mir nicht zum ersten Mal die Frage, ob an der hinduistischen These der Wiedergeburt etwas dran sein könnte – so viel Weisheit lag darin.

In diesem Moment wollte ich daran glauben.

Denn Kathi war tot.

Ich ließ das vor Lebendigkeit vibrierende Bild auf mich wirken und spürte, wie mir der Hals eng wurde. In meiner Familie haben die Männer nie viel geweint, und ich war da keine Ausnahme. Kathi war vor gerade mal drei Tagen gestorben, und noch hielten der Schock und die bohrenden Fragen nach dem Wie und Warum die Tränen zurück. Ich konnte vor lauter Grübelei nicht mehr schlafen – schon gar nicht schreiben. Warum, warum, warum? Keine Erklärung, von niemandem. Und was die Polizei zu berichten hatte, war absolut unglaubwürdig. Ich war zwar nur Kathis Onkel, aber ich wusste es besser. Nie und nimmer hatte es sich so zugetragen.

Sie war häufig bei mir gewesen, hatte sich mir anvertraut, wenn es in der Schule oder zu Hause mal wieder Ärger gegeben hatte. Zu behaupten, ich hätte sie besser gekannt als mein Bruder und seine Frau, wäre vermessen, aber ich konnte in vielen Dingen lockerer sein als Kathis Eltern, und Kathi vertraute mir. Ach,

Kathi war es nicht darum gegangen, diesen Praktikumstag möglichst bequem irgendwie herumzukriegen. Ich wusste ja schon länger von ihrer Leidenschaft für Bücher und ihrem Wunsch, selbst etwas zu schreiben. Vielleicht rührte auch daher unsere enge Verbundenheit.

Jetzt kamen die Tränen. Sie taten weh, und ich schämte mich ihrer nicht. Die ersten tropften auf Kathis Bild. Ich wischte sie mit dem Ärmel meines Pullovers fort und sah genauer hin. Kathi strahlte nicht nur mit ihren Augen, sondern mit dem ganzen Gesicht. Sie hatte einen breiten Mund, fast wie Julia Roberts, mit zwei Reihen weißer, gerader Zähne. Einzig die beiden oberen Schneidezähne waren ein wenig länger, aber nicht viel, und diese kleine Unregelmäßigkeit machte sie nur noch hübscher. Aus diesem Mädchen wäre eine Schönheit geworden, die viele Jungs um den Verstand gebracht hätte.

Davon war nichts mehr übrig.

Ich sah zum Sarg hinüber. Er stand auf zwei Holzböcken im halbrunden Anbau der Kapelle zwischen den beiden bodentiefen Buntglasfenstern. Es fiel kaum Licht herein, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Ich war absichtlich so spät gekommen. Morgen würde Kathi beerdigt werden. Viele Menschen würden ihr letztes

Dort lag sie also, in dieser aufwendig gearbeiteten Holzkiste. Trotz all der schmückenden Messingbeschläge und Schnitzereien war es doch nichts weiter als eine Holzkiste, die irgendwann im Erdboden verrotten würde. Genau wie Kathis Körper.

Der lange schwere Güterzug hatte nicht viel von ihm übrig gelassen.

Einige Teile waren gar nicht gefunden worden. Tiere hatten sie wohl in den Wald getragen und gefressen. Manches war einfach zermalmt und vom Regen in den Boden gewaschen worden. Deshalb hatte ich das Foto mitgebracht. Ich kannte meine Phantasie, mir war klar gewesen, wenn ich den Sarg betrachtete, würde ich mir automatisch diesen zerstörten Körper vorstellen. Ich konnte das nicht abstellen, nicht einmal bei Kathi. Es war Teil meines Ichs. Fluch und Segen zugleich. Ich lebte gut davon. Und jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, ob das nicht schäbig war.

Kathi hatte bei mir stets elterliche Gefühle ausgelöst, und es hatte mir gutgetan, dass sie mich ab und an gebraucht hatte.

Aber war ich wirklich für sie da gewesen?

Ich erinnerte mich an ihren letzten Anruf, drei Tage vor dem Unglück. Wenn ich schrieb, befand ich mich oft «im Tunnel». Ich nannte diesen Zustand so, weil ich mich dann abkapselte und nichts von der Außenwelt mitbekam. Ich ging dann nicht einmal ans Telefon. Nur bei meinem Agenten, zwei guten Freunden und eben Kathi machte ich eine Ausnahme. Aber wenn ich im Tunnel war, war ich kein guter Zuhörer.

 

Bei ihrem letzten Anruf hatte mich Kathi gefragt, ob ich noch Kontakt zu diesem Hacker hätte. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder Probleme mit ihrem Computer. Ich hatte ihr versprochen, mich darum zu kümmern. Diesem Versprechen war ich bis heute nicht nachgekommen.

«Das kann nicht die Wahrheit sein», sagte ich leise. In der stillen engen Kapelle klangen meine Worte trotzdem laut.

«Niemals hättest du so etwas getan.»

Ich strich mit dem Daumen über das Foto, über ihr Gesicht.

«Wenn es etwas herauszufinden gibt, ich schwöre dir, ich finde es heraus. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.»

 

 

Die basslastige Musik klang über die neuen interaktiven Lautsprecher und den übergroßen Subwoofer besonders intensiv. Er hörte die Musik nicht nur, er spürte sie. In seinen Knochen, seinen Muskeln, seinem Kopf. Sie füllte ihn aus und ließ ihn sich lebendig fühlen. Alles in ihm vibrierte. Und genau das brauchte er jetzt.

Vor ihm auf dem Bildschirm befand sich das Video-Rohmaterial. Es war eine äußerst filigrane und langwierige Arbeit, jeden einzelnen Frame zu bearbeiten, aber er würde sich niemals mit einem Ergebnis zufriedengeben, bei dem nicht jede Kleinigkeit seinen Vorstellungen entsprach.

Sobald er dieses Video öffentlich machte, würde alle Welt daran herummäkeln und im Nachhinein seinen Stolz und seine Freude zerstören. So war das eben heutzutage. Das Web war zu einer Müllhalde verkommen, in der schmierige Subjekte ohne eigenen Anspruch und ohne Kreativität es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, alles zu kritisieren, was andere erschufen. Beurteile, rezensiere, kritisiere, darauf reduzierte sich alles. Die in der

Er öffnete den nächsten Frame.

Er zeigte ihr Gesicht kurz vor dem Aufprall.

Wegen der schlechten Lichtverhältnisse war die Aufnahme nicht besonders gut, und er war auch nicht wirklich nah dran gewesen. Schon fragte er sich, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, es auf diese Art zu tun. Da war zu viel Schnelligkeit, zu viel Energie im Spiel gewesen. Er hatte nicht die volle Kontrolle gehabt, war nicht Herr der Situation gewesen. Aber wahrscheinlich spielte es für den Erfolg des Videos keine große Rolle. Die User würden sich darauf stürzen wie die Maden auf rohes Fleisch, das wusste er. Allein schon wegen des vielen Blutes und der abgetrennten Körperteile.

Doch er selbst hatte etwas anderes erhofft. Je länger er durch die Frames zappte, desto größer wurde seine Enttäuschung. Er fand Angst und Panik in ihrem Gesicht, sah Zerstörung und Tod – aber nicht das, wonach er suchte.

Bevor aus Enttäuschung Ärger werden konnte, öffnete sich auf dem zweiten Bildschirm ein Chat-Fenster, und eine Nachricht erschien.

Absender war ein gewisser TommyX5.

Wir hatten seit einigen Tagen gutes Wetter, und es hielt auch am Tag der Beerdigung an. Nur ein paar wenige weiße Wolken standen am freundlichen blauen Himmel. Ich fand das unpassend, denn in mir sah es so düster aus wie selten. Ich wünschte mir Hagel, Blitz und Donner – und einen pechschwarzen Himmel.

«Wie schön», sagte die alte Dame neben mir, als wir die Kapelle betraten.

Ich antwortete nicht und sah sie nur fragend an.

«Na, das Wetter», klärte sie mich auf und wies mit dem Finger nach oben. «Es ist so, wie Kathi war. Sonnig und verspielt. Das ist doch schön … nicht wahr.»

Das letzte Wort klang zittrig. Die alte Dame wandte ihr Gesicht ab, zog ein Taschentuch hervor, eines dieser unmöglichen Dinger aus Baumwolle, schnäuzte sich lautstark hinein und schluchzte auf.

Ich blieb im Eingang zur Kapelle stehen und sah ihr nach. Ich kannte die Frau nicht, hatte sie nie zuvor gesehen, und doch würde sie mir ewig in Erinnerung bleiben. Denn sie hatte recht mit dem Wetter. Es passte zu Kathi. Anders durfte es gar nicht sein.

Jemand stupste mich zaghaft von hinten an.

«Nur Mut, auch das geht vorbei», sagte eine warme weibliche Stimme. «Sie sind der Schriftsteller, oder?»

Ich nickte. Sie zog mich mit sich, und wir suchten uns zwei Plätze in der vierten Reihe. «Und wer sind Sie?», fragte ich.

«Astrid Pfeifenberger, Kathis Klassenlehrerin», erwiderte sie.

Sie war sicher nicht älter als vierzig, hatte schulterlanges braunes Haar und braune Augen. Wie ich – bis auf die Haarlänge natürlich.

Wir ließen uns nebeneinander auf der kalten Holzbank nieder. Ihre Schulter berührte meine. Normalerweise meide ich

Nur das Rascheln von Kleidung und das Schaben von Sohlen auf dem Betonboden war zu hören, hie und da murmelte jemand etwas. Die Kapelle füllte sich, die Trauergäste suchten sich still ihre Plätze. Die Stimmung war bedrückend, einengend, sie nahm mir den Atem.

«Kannten Sie Kathi gut?», fragte ich die Lehrerin.

Sie sah mich von der Seite an und zuckte mit den Schultern.

«Ich dachte schon, ja, aber … na ja, vielleicht war das auch ein Trugschluss. Mädchen in dem Alter können sehr verschlossen sein.»

«Kathi war aber kein verschlossenes Mädchen», entgegnete ich etwas zu laut und zog damit Blicke auf mich. Ich beugte mich zu Frau Pfeifenberger hinüber. Sie roch dezent nach einem teuren Parfum. «Eher im Gegenteil, aber das müssten Sie als ihre Klassenlehrerin doch wissen.»

Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und nickte. War ich ihr zu nahe getreten, hatte sie vielleicht sogar verletzt? Es tat mir auf der Stelle leid. Diese verdammte Wut. Sie machte mich ungenießbar.

«Glauben Sie denn, dass Kathi Selbstmord begangen hat?», raunte ich der Lehrerin zu. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Mein ganzes Denken drehte sich seit Tagen nur um diese eine Frage.

Frau Pfeifenberger musterte mich. Es war ein wenig unangenehm, so direkt angesehen zu werden, aber ich hielt ihrem Blick stand. Schließlich schüttelte sie mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung den Kopf.

«Nein», sagte sie leise. Ihre Stimme klang jetzt tränenerstickt. «Ich bilde mir ein, über eine gute Menschenkenntnis zu verfügen, und ich kann das einfach nicht glauben.»

Zwei weitere Personen schoben sich in unsere Bankreihe, wir

«Sie … Ihnen stand Kathi doch nahe», sagte Frau Pfeifenberger und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. «Das habe ich gespürt, als Kathi wegen des Zukunftstages gefragt hat.»

Sie sprach es nicht aus, aber es war auch so klar, was sie wissen wollte: Haben Sie nichts bemerkt?

Ich schüttelte den Kopf. «Schon … ja … aber da war nichts … ich habe keine Veränderung bemerkt. Zwar hatte ich sie zwei oder drei Wochen nicht gesehen, aber so etwas kommt ja nicht über Nacht, nicht einmal bei Teenagern, oder?»

Die Lehrerin schüttelte den Kopf.

«Nein, nicht einmal bei Teenagern. Ich … wir sind alle fassungslos … das ist so … so unbegreiflich.»

«Und Kathis Freundinnen? Was sagen die dazu?», wollte ich wissen.

«Nichts bisher. Ich habe in der Klasse versucht, ein Gespräch darüber zu führen, aber der Schock ist einfach zu groß. Nur Theresa, Kathis beste Freundin, hat da so eine Bemerkung fallenlassen.»

«Was für eine Bemerkung?», fragte ich viel zu laut und fing mir den bösen Blick eines Mannes in der Bankreihe vor mir ein. Viel fehlte nicht, und ich hätte ihm den Stinkefinger gezeigt.

Astrid Pfeifenberger wollte antworten, doch in diesem Moment begannen die Glocken zu läuten, und der Pastor betrat die Kapelle. Ihm folgten Iris und Heiko, Kathis Eltern. Sie stützten sich gegenseitig, fanden aber beide nicht die Kraft aufzusehen. Zusammen mit Kathis Großeltern nahmen sie in der ersten Bankreihe Platz. Auch für mich war dort ein Platz reserviert, doch hier hinten

Die Trauerandacht begann.

 

 

«Angeblich hat Kathi sich in ihren letzten Monaten für den Tod interessiert.»

Astrid Pfeifenberger stand mit mir auf der anderen Seite der Friedhofsmauer im Schatten einer großen Rotbuche. Der Strom der Trauergäste zog in mehr als zwanzig Meter Entfernung in Richtung Parkplatz. Ein Wagen nach dem anderen fädelte sich auf die Bundesstraße ein und verschwand. Die meisten würden sich im Gasthaus wiedertreffen, zum Leichenschmaus. Ich fand die Tradition, nach einer Beerdigung Kaffee und Butterkuchen zu sich zu nehmen, einfach geschmacklos und würde mich dort nicht blicken lassen.

«Für den Tod», wiederholte ich. «Wer sagt das?»

«Ihre beste Freundin, Theresa.»

«Und wie soll ich mir das vorstellen?»

Astrid Pfeifenberger schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Theresa wollte sich nicht weiter dazu äußern. Sie war vollkommen aufgelöst. Ich hatte den Eindruck, sie fürchte sich vor etwas. Aber ich kann mich auch getäuscht haben. Mir ging es ja selbst nicht besonders gut.»

Ich nickte. Ja, das konnte ich gut verstehen. Seit ich von Kathis Tod erfahren hatte, lebte ich in einem Kokon, der die beschissen banalen Dinge des Alltags von mir fernhielt und mein Denken beträchtlich einschränkte. Es war fast so, als wäre eine Hälfte meines Ichs abgeschaltet worden. Ich lief sozusagen im Notfallmodus. Und wenn es Frau Pfeifenberger ähnlich ging, konnte sie sich sehr wohl getäuscht haben.

«Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich in die Schule käme und mit ein paar von Kathis Klassenkameradinnen spräche?»

Die Lehrerin zog die Augenbrauen zusammen. Mir fiel auf, dass ihre Wimperntusche verlaufen war. Sie musste während der Zeremonie am Grab geweint haben.

«Wozu?»

«Weil ich wissen will, was passiert ist. Kein Mensch kann mir erzählen, dass Kathi den Freitod gewählt hat. Das stimmt einfach nicht.»

Da lag schon wieder Wut in meiner Stimme, und ich befürchtete, die Lehrerin damit zu verschrecken. Aber sie schaute mich intensiv an und nickte dann.

«Okay. Aber nur wenn die Mädchen freiwillig mit Ihnen reden. Außerdem gibt es in der Schule etwas, das Sie sehen sollten.»

Anima Moribunda

Was suchst du, TommyX5?

 

TommyX5

Wer bist du denn?

 

Anima Moribunda

Jemand, der dir helfen kann.

 

TommyX5

Was ist das für ein bescheuerter Nickname? Anima … was?

 

Das kannst du später herausfinden. Das Internet hat auf alles eine Antwort. Ich hätte auch eine für dich.

 

TommyX5

Wüsste nicht, dass ich dich etwas gefragt hätte. Wie kommst du überhaupt in diesen Chat?

 

Anima Moribunda

Bin Member, und deine Posts sind öffentlich.

 

TommyX5

Echt! Scheiße, Mann, das wusste ich nicht.

 

Anima Moribunda

Du langweilst mich, TommyX5. Sag mir, was du suchst, oder ich bin weg.

 

TommyX5

Was ich suche … ich hab von diesem Video gehört.

 

Anima Moribunda

Aha.

 

TommyX5

Da soll man alles sehen können, ich meine, wirklich alles, ohne Schnitt oder Verpixelung oder so ’n Scheiß, ich find’s nur nicht.

 

Anima Moribunda

Ich weiß, ich habe es gesehen. Ich kann dir versprechen, es ist echt krass. Mehr geht nicht.

 

Verdammt, Alter, wo finde ich das Teil?

 

Anima Moribunda

Ist nicht für jeden gedacht.

 

TommyX5

Was willst du dafür?

 

Anima Moribunda

Was ich will? Das verrate ich dir vielleicht später. Aber willst du das wirklich sehen?

 

TommyX5

Klar, Alter, zeig her das Gemetzel, ich will jemanden krepieren sehen.

 

Anima Moribunda

Dann sieh mal hier nach. Aber beeil dich. Ist nicht lange online.