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Für meinen guten Freund,
den real existierenden Polizeiinspektor Erwin Hannen,
dem ich dankbar dafür bin,
dass er seinem fiktiven belgischen Kollegen Marcel Langer
mehr durchgehen lässt, als sogar die belgische Polizei erlaubt.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
ISBN 978-3-492-96261-2
© Piper Verlag GmbH, München 2014
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: Kenneth Bengtsson/plainpicture (Naturbild),
Mark Payne/shutterstock
Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Hinter den finsteren Stämmen tauchen Gedanken auf,
dämmernde ahnungsbange Gedanken; tückisch brechen sie
hervor, wie Räuber aus dem Hinterhalt, und überfallen den
Harmlosen … Weltabgeschieden ist der gewaltige Wald.
Wer hier um Hilfe schreit, wird nicht gehört,
was man hier treibt, wird nicht gesehen,
wer etwas verbergen will, kann’s hier dreist –
ein Schutzdach wölbt sich über ihn und um ihn.
(Aus: »Das Weiberdorf«)
Indianertee mit Schuss
Keinen Fuß werde ich heute vor die Tür setzen. Warum sollte ich auch? Draußen führen Eifeler Winterdämonen ihren wüsten Tanz auf, und bei mir drinnen prasselt ein gemütliches Feuer im Kamin. Bei diesem Sturm wird niemand mein Restaurant ansteuern; jeden verirrten Wanderer würde unterwegs eine Schneewehe verschlucken. Falls es einer dennoch mit letzter Kraft bis zur Tür der Einkehr schaffen sollte, wird ihn Gudrun mit all der Liebe umsorgen, die sie seit vielen Monaten nirgendwo anders loswird.
David hat sie im Juni verlassen. Er brauche ein neues Leben, hatte er gesagt; eine recht unglückliche Bemerkung angesichts der fast neunmonatigen Scheinschwangerschaft, die Gudrun gerade durchgestanden hatte. Sie stürzte in eine tiefe Depression, schloss das Restaurant und igelte sich total ein.
All das erfuhr ich von Marcel, als er mich im Sommer zum ersten Mal in Berlin anrief. Dorthin war ich gleich nach den fürchterlichen Ereignissen vor einem Jahr geflüchtet. Nichts, hatte ich mir damals geschworen, würde mich je wieder auf die mörderische Kehr zurückbringen. Das Heimweh nach meinen dortigen Freunden bekämpfte ich mit gnadenloser Kontaktsperre und Ablenkungen der Großstadt.
»Gudrun putzt nicht mehr«, murmelte Marcel ins Telefon und legte auf, bevor ich mich von meiner Erschütterung erholen konnte.
Dieser Satz war eine Bombe. Wenn Gudrun nicht mehr putzt, geht es um mehr als nur um Leben und Tod; dann ist das ganze kleine Universum an der deutsch-belgischen Grenze vom Untergang bedroht. Da mussten meine persönlichen Befindlichkeiten hintanstehen. Marcels Anruf katapultierte mich also im vergangenen Sommer auf die Kehr zurück.
Inzwischen hat sich Gudrun einigermaßen stabilisiert. Das Haus, in dem sie früher mit David zusammengelebt hat, ist vermietet. Wie schon vor der Begegnung mit dem eifelstämmigen Texaner hat sie sich im Hinterzimmer des Restaurants wieder wohnlich eingerichtet. Die Einkehr steht zwar auf nordrhein-westfälischem Hoheitsgebiet, ist aber nur knapp fünfzig Schritte von meinem belgischen Bruchsteinhaus entfernt; also nah genug, dass ich über die Straße hasten kann, sollte Gudrun das heulende Elend packen.
Wie vielleicht gerade jetzt. Das Telefon läutet, und auf dem Display leuchtet die Nummer der Einkehr auf.
»Du musst sofort rüberkommen, Katja!«
»Was ist passiert?«
»Hier sitzt eine Frau …«
»Was? Bei dem Wetter? Ist sie von einem Raum- oder einem Räumfahrzeug gefallen?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Dafür ist sie viel zu elegant angezogen«, antwortet Gudrun, die immer alles ernst nimmt. »Total fein. Das wird ein superschickes Rendezvous. Sie hat genickt, als ich sie gefragt habe, ob sie noch auf jemanden wartet. Und dabei ganz geheimnisvoll gelächelt. Katja …«
»Schon gut, bin gleich da.«
Sie muss mir nichts erklären. Ich kann Gudrun unmöglich mit einem turtelnden Pärchen allein lassen. Ihre Tränen würden den Schampus versalzen.
»Du bleibst hier!«, weise ich meinen Hund Linus an, der mir in den Flur gefolgt ist, wo ich in meine Moonboots steige, meine Michelinweibchenjacke zuknöpfe und mir eine Wollmütze tief ins Gesicht ziehe. Viel zu elegant, wiederhole ich murmelnd Gudruns Worte. Was sind das für total feine Leute, die bei diesem Unwetter eine Verabredung in meinem abgelegenen Restaurant einhalten wollen? Und wie werden wir sie wieder los, wenn wir gänzlich einschneien? Soll ich ihnen dann etwa ein Liebeslager auf den Mehlsäcken in der Abstellkammer anbieten?
Eisige Luft schlägt mir ins Gesicht, als ich nun doch einen Fuß in den tiefen Schnee vor der Tür setze. Die fünfzig Schritte zum Restaurant sind eine sportliche Herausforderung.
Ohne Respekt vor meinem Gewicht drückt mich eine Windbö auf die Bundesstraße. Stapfend und rutschend arbeite ich mich zur anderen Seite nach Deutschland durch. Aus Richtung Prüm nähert sich das orange Licht des Schneepflugs, und aus den Augenwinkeln sehe ich den fremden Jeep vor der Einkehr. Die Frontscheibe ist nur leicht mit frischem Schnee bedeckt, die Dame ist offensichtlich gerade erst angekommen.
Gudrun hat recht. Der mit Merinowolle gefütterte Burberry an der Garderobe ist viel zu elegant. Ein Einzelstück, dem ich die Nachbarschaft meiner alten wattierten Jacke nicht zumuten kann.
»Guten Abend.«
Die dunkelhaarige Frau in der hinteren Ecke des Restaurants blickt auf, ohne meinen Gruß zu erwidern. Sie lächelt. Nicht geheimnisvoll, wie Gudrun gesagt hat, aber auch nicht wirklich freundlich. Eher grimmig. Wahrscheinlich ist die feine Dame das Warten nicht gewohnt. Eine Verspätung aber darf man bei dieser entfesselten Naturgewalt in der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, niemandem als böse Absicht auslegen.
»Ihre Begleitung wird schon noch kommen«, springe ich für die unbekannte Verabredung in die Bresche, »wird nur was dauern. Die Straßen sind nahezu unbefahrbar.«
Da auch diese Bemerkung kommentarlos hingenommen wird, begebe ich mich in die Küche.
»Hast du das gesehen?«, begrüßt mich Gudrun aufgeregt, »die trägt bei Tisch sogar lange Handschuhe – ganz dünne glänzende, aus Seide, glaube ich.«
»Was hat sie bestellt?«
Gudrun deutet auf den Herd, wo etwas leise köchelt. Ich hebe den Deckel vom Topf und schüttele ratlos den Kopf.
»Genau«, sagt Gudrun. »Aber sie hat auf der Karte ausdrücklich auf den Lapacho getippt.«
»Was?! Hast du ihr gesagt, dass es ewig dauert, bis dieser Indianertee fertig ist?«
Gudrun nickt.
»Aufkochen, fünf Minuten köcheln und eine Viertelstunde lang ziehen lassen«, referiert sie.
»Und sonst hat sie nichts bestellt? Nicht einmal ein Wasser?«
Gudrun schüttelt den Kopf.
»Aber ich habe trotzdem schon mal den teuersten Champagner kalt gestellt. Für wenn der Mann kommt. Die meisten Männer mögen doch den Indianertee nicht. Wie David …« In ihren Augen quellen Tränen, wie immer, wenn sie den Namen ihres einstigen Geliebten ausspricht. David hat den gegen alle erdenklichen Gebrechen wirkenden Tee aus Lapachobaumrinde immer dankend abgelehnt. Und zwar aus gesundheitlichen Gründen, wie er behauptete. Bei Lapacho müsse er nämlich immer an all die vielen Krankheiten denken, die er noch kriegen könnte und durch die negative Kraft dieser Gedanken dann bestimmt auch kriegen würde.
»Hat die Frau irgendwas gesagt?«
»Nee. Sie sitzt nur da und wartet.«
»Dann werde ich mich mal mit ihr unterhalten.«
Ich arrangiere auf einem Tablett eine kleine Auswahl an Spirituosen, Cognac, Armagnac, Whisky und Rum und nähere mich damit dem ersten doppelfädigen Kaschmirkleid, das dieses Restaurant je gesehen hat. Mit meinem gewinnendsten Lächeln stelle ich das Tablett neben der leicht aufgeklappten Handtasche auf dem Tisch ab.
»Vielleicht möchten Sie Ihren Indianertee mit einem kleinen Schuss verfeinern?«
Die Frau lächelt weiter ihr unbestimmbar grimmiges Lächeln. Sie tut nicht einmal so, als nähme sie mich wahr. Doch so schnell lasse ich mich nicht abschütteln. »Ein Bourbon vom gleichen Kontinent wie der Tee? Armagnac kann ich durchaus auch empfehlen. Oder Rum, aber dann natürlich nur vom Feinsten, mindestens sieben Jahre im edlen Holzfass gereift. Nicht das billige Zeugs, womit sich die meisten Leute den Tee ruinieren.«
Mit den meisten Leuten hat diese perfekt geschminkte Frau nichts zu tun. Jedenfalls nicht mit denen, die im echten Leben herumlaufen.
Sie sieht genauso aus wie das Mädchen auf dem Cover der Fernsehzeitschrift, neben dem jede Woche erstaunlicherweise ein anderer Name steht. Den kann ich mir merken, das abgedruckte Gesicht dazu nicht, da sich nichts Bemerkenswertes aus der retuschierten Makellosigkeit hervorhebt. Selbst bekannten Schauspielerinnen fehlen auf diesen Fotos jegliche charakteristische, unverwechselbare Merkmale. Alles Markante ist gleichmäßig glatt gebügelt. Wie bei der konturlos schönen Frau, die da so seltsam lächelnd vor mir sitzt. Sie scheint einem 3-D-Bildprogramm entsprungen zu sein. Offensichtlich hat hier ein ehrgeiziger Schönheitschirurg sein Meisterstück in ästhetischer Vollkommenheit ablegen wollen. Herausgekommen ist dabei ein Gesicht, das man wie einen perfekten Kreis bestaunt; eine Demonstration großen inhaltsleeren Könnens. Da die Frau Handschuhe trägt und ihr Hals unter einem Seidenschal versteckt ist, kann ich ihr Alter nicht einmal annähernd schätzen. Vielleicht ist sie unter dreißig. Oder sechzig. Oder irgendetwas dazwischen.
»Keinen Schuss?«
Sie würdigt mich immer noch keines Wortes, sondern nur einer ungeduldigen Handbewegung. Fort, fort. Mit mir und dem Alkohol. Das Lächeln bleibt festgeklebt.
Auf dem Weg in die Küche halte ich das Tablett noch in der Hand, als die Tür aufgeht.
Ein Mann tritt ein. An der Tür stampft er Schnee von den Stiefeln, zieht die dicke Daunenjacke aus, hängt sie achtlos an den Haken neben den Burberry und stopft eine Wollmütze darüber. Der etwa Sechzigjährige ist sehr schlank und weist dichtes, drahtiges Grauhaar über einem zerfurchten, in früheren Jahren womöglich attraktiveren Gesicht auf. Allerdings keine Spur von Eleganz, wenn man mal von seiner sehr aufrechten Haltung absieht. Selbst aus ein paar Schritten Entfernung sehe ich den abgewetzten Hemdkragen unter einem ausgeleierten grauen Wollpulli. Eine blaue Skihose und Schneestiefel komplettieren eine Aufmachung, die eher den draußen tobenden Elementen Widerstand bietet, als dem lächelnden Element in meiner Gaststube entgegenkommt. Den Champagner können wir vergessen. Für ein Date hat sich dieser Herr nicht zurechtgemacht.
»Guten Abend«, sagt er freundlich zu mir und geht langsam auf die Frau zu. Die steht lächelnd auf. Der Grauhaarige lächelt nicht. Ich kombiniere rasch: Wenn die Frau fünfzig oder sechzig ist, könnte er ihr Exmann sein. Der mit seiner beklagenswerten Gewandung ein Statement abliefert: Schau her, wie du mich nach der Scheidung ausgenommen hast! Während du dich ständig rundum erneuern lässt, kann ich mir nicht mal einen neuen Pullover leisten.
Aber vielleicht ist die Frau erst dreißig und der Mann ihr Vater. Mit dem sich diese Dame in unserer Einödwirtschaft verabredet hat, weil sie sich mit ihm nicht in den feinen Etablissements der Großstadt sehen lassen will, die sie ansonsten frequentiert. Hier bei den bodenständigen Eifelern braucht sie keine unangenehmen Spekulationen über eine möglicherweise bescheidene Herkunft zu befürchten. Und die Grenzlage bringt es mit sich, dass Fremde hier schön anonym bleiben können.
Ich stelle das Tablett auf dem Buffet ab, ergreife ein anderes voller Teelichter und beginne diese langsam auf den Tischen zu verteilen. Von der Begrüßung dieses ungleichen Pärchens möchte ich nichts verpassen. Was für eine Stimme mag wohl aus dieser Larve kommen? Wie sehen die Zähne hinter diesen blutrot geschminkten, formvollendeten Lippen aus?
Doch die Frau sagt kein Wort. Immer noch lächelnd greift sie langsam in ihre offene Handtasche. Aha, kombiniere ich, das Portemonnaie. Sie wird die abgerissene Gestalt auszahlen, sich gar nicht erst lange mit diesem Mann abgeben.
Das tut sie auch nicht.
Sie zieht eine kleine silberne Pistole aus der Tasche, zielt auf den grauen Pullover und drückt ab. In aller Ruhe.
Ich registriere nicht, ob der Mann schwankt oder sofort zu Boden sackt; ich starre mit offenem Mund auf die Frau. Kann doch nicht sein, dass die soeben einen Schuss abgefeuert hat. Das ist unwirklich, ungeheuerlich. Mein Hirn erfasst gar nicht, was sich da vor meinen Augen abspielt.
Der scharfe helle Knall bleibt in der Luft hängen, hallt in meinen Ohren und im leiseren Klicken des Schnappschlosses nach. Die Frau hat die Pistole wieder in ihrer Handtasche verstaut. Jetzt geht alles ganz schnell. Sie wirft einen Geldschein auf den Tisch und eilt zur Garderobe. Ich sollte ihr ein Bein stellen, aber ich bin unfähig, mich zu rühren, bin wie in einem bösen Traum im Boden festgewurzelt. Das Tablett in meiner Hand zittert.
»Waas …!«
Gudruns Schrei löst mich aus meiner Erstarrung. Ich deute zur Haustür, die sperrangelweit offen steht. Mit dem Abseihsieb in der Hand sprintet Gudrun an mir vorbei. In ihrer Hast rutscht sie aus einer Birkenstocksandale, schleudert auch die andere ab und rennt in Strümpfen hinaus in den Schnee.
Mein Herz, das soeben mit der Arbeit ausgesetzt hat, holt dies jetzt mit umso heftigerem Pochen nach. Meine Knie beben, in meinem Kopf rauscht es; mir wird schwindlig. Ich sollte mich hinsetzen, aber ich muss nach dem Opfer auf dem Boden sehen. Draußen heult ein Motor auf.
Ich knie neben dem Mann nieder und sehe, wie sich der rote Fleck auf seinem Pullover ausbreitet. Was kann oder soll ich tun? Dem armen Kerl ist nicht mehr zu helfen. Der Schuss muss ihn mitten ins Herz getroffen haben. In seinen weit geöffneten leblosen Augen lese ich einen stummen Vorwurf.
Zu Recht. Ich hätte heute Abend nicht vor die Tür treten und Gudrun hätte die Frau nicht ins Restaurant lassen dürfen. Dann wäre alles gut gewesen. Jedenfalls für uns.
Ein eisiger Hauch weht durch den Raum; das Teelicht auf dem gerade verwaisten Tisch flackert und erlischt. Mit lautem Knall fällt die Haustür ins Schloss.
Wie in Trance zerre ich, immer noch kniend, an einem Zipfel des weißen Tuchs vom Nebentisch, reiße es runter und werfe es über die Leiche. Ich kann bestimmt klarer denken, wenn mich die toten Augen nicht länger anstarren.
»Konnte sie nicht aufhalten!«, keucht Gudrun und wirft achtlos das Abseihsieb gegen die Garderobe. Diese Handlung widerspricht so gründlich ihrer Natur, dass in mir ein kleiner Funke Hoffnung aufleuchtet. Vielleicht ist das Ganze wirklich nur ein böser Traum.
Gudrun streicht eine nasse blonde Strähne aus der Stirn, bückt sich, hebt die Tischdecke kurz an und fährt dem Mann mit der Hand übers Gesicht.
»Katja! Du hast ihm ja nicht einmal die Augen geschlossen! Geh nicht an den Tisch da ran, sonst zerstörst du noch Spuren. Komm, ab in die Küche!«
»Schnee«, murmele ich und deute vorwurfsvoll auf ihre bis zu den Waden weiß eingekleisterten Beine. Gott sei Dank, ich träume. Gudrun würde doch nie Schneematsch auf den von ihr frisch gewienerten Eichendielen verteilen. Jeder andere, aber nicht Gudrun. Nicht die Frau, die ich nur mühsam davon habe abhalten können, den Gästen der Einkehr Pantoffeln wie im Schloss Sanssouci aufzudrängen. Sie hatte die Dinger sogar schon im Internet bestellt.
»Katja!«
»Putzen«, bringe ich hervor und mache eine unbeholfene Schrubberbewegung. Gudrun soll endlich das tun, was sie am besten kann! Nichts scheint mir wichtiger zu sein, als alle Spuren zu beseitigen, um das Ungeheuerliche ungeschehen zu machen. Die Leiche muss weg!
Wir könnten sie im tiefen Schnee hinterm Haus einbuddeln. Dann kehre ich zu Linus und dem Kaminfeuer zurück, öffne eine Flasche Wein und schau mir einen Krimi im Fernsehen an. Der fürchterliche Vorfall wird morgen früh nur ein Film gewesen sein. Und wenn es in ein paar Wochen taut, dann ist hinter der Einkehr leider ein Landstreicher erfroren, der in einen Blizzard geraten ist und es nicht bis zur Tür des Restaurants geschafft hat. Allerdings gibt es da ein kleines Problem: das Loch in seiner Brust. Im Schneesturm ist kein Jäger unterwegs. Vor allem keiner, der Wildschweine mit einer Pistole erlegt.
»Katja!« Gudrun rüttelt mich an den Schultern. »Marcel. Du musst sofort Marcel anrufen. Der weiß, was zu tun ist. Marcel, Katja! Wach endlich auf! Wir müssen was tun! Ruf ihn an!«
Ach ja, Marcel, denke ich, als sie mich wie eine schwerbehinderte alte Frau in die Küche geleitet. Habe ich doch glatt vergessen, wie nützlich er als Polizist sein kann. Das war er als Liebhaber auch mal gewesen, mehr als nützlich. Zärtlich und herzerwärmend konnte er sein – sofern man ihm nicht in die Quere kam. Lang, lang ist’s her. Es ist überhaupt ziemlich lang her, dass er sich hier hat blicken lassen.
Ich kann aber auch nicht behaupten, dass ich ihn ermutigt hätte. Schließlich bin ich ja nicht für immer – und vor allem nicht seinetwegen – in die Eifel zurückgekehrt. Ich bleibe nur, bis Gudrun ihren Kummer endgültig verschmerzt hat und ich einen Käufer für mein altes belgisches Bruchsteinhaus gefunden habe. Und bis Linus das Zeitliche gesegnet hat. Ich darf den Hund nicht wieder verlassen, aber in die Großstadt kann ich ihn auch nicht mitnehmen. Es wäre unzumutbar für den sein Leben lang freilaufenden Labrador-Staffordshire-Terrier, an der Leine durch Straßenschluchten gezogen zu werden, und unzumutbar für mich, ihn mit einer Kehrschaufel zu begleiten, um seine Häufchen in zertifizierten Hundeklos zu deponieren. Linus würde in einer Berliner Dreizimmerwohnung vor Gram und Heimweh garantiert vorzeitig das Zeitliche segnen. Deshalb hatte ich das Tier im vergangenen Winter bei Gudrun und David zurückgelassen.
»Gut, wenn ein Kind mit Hund aufwächst«, hatte ich den beiden und mir selbst eingeredet. Wie hätte ich damals ahnen sollen, dass sich Gudruns verzweifelter Kinderwunsch in einer Scheinschwangerschaft manifestieren würde? Ihr Bauch hatte sich tatsächlich gerundet, und sie hatte dauernd davon gesprochen, wie der kleine Davidspross in ihr wachse. Zum Arzt war sie nie gegangen; sie vertraue auf die Hebamme in der Nachbarschaft, hat sie gesagt; das sei in der Eifel so üblich. Die Hebamme hat sie, wie mir Hein später berichtete, nie aufgesucht.
»War doch klar, dass sie zu alt ist, für zu werfen«, bemerkte er mit der ihm sehr eigenen Sensibilität. Diesen Spruch hieb ihm sein Lebenspartner Jupp, unser vierschrötiger Hand- und Waldwerker, dankenswerterweise sofort milde um die Ohren: »Ich bin noch ein ganzes Stück älter, Hein, und trotzdem würde ich gern mit dir ein Kind adoptieren. Vielleicht geht das ja bald.«
»Erst heiraten«, sagte Hein, aber dazu schüttelte Jupp den Kopf. Eine Ehe zwischen Männern war für diesen schwulen Eifeler undenkbar. »Ehe ist Ehe. Und eine Homo-Ehe ist keine richtige von Gott gesegnete Ehe zwischen Mann und Frau.«
»Du solltest in die CSU eintreten«, sagte ich.
»Würde ich, aber gibt es hier nicht«, antwortete er zu meinem Entsetzen.
»Das ist nicht dein Ernst! Da könntest du nie ein Kind adoptieren.«
»Wenn ich drin wäre, könnte ich denen das erklären. Dann wäre ich ja einer von ihnen.«
Stattdessen ist er einer von uns. Wir sind die, die es sich nicht aussuchen, in Mordfälle verwickelt zu werden, die aber diesem Schicksal offenbar nicht entkommen können.
In der Küche stellt mir Gudrun eine Tasse Indianertee hin.
»Trink!«, befiehlt sie. »Der heilt alles, auch deinen Schock.«
Gehorsam nehme ich einen Schluck des Getränks, das die Mörderin bestellt hat, und staune darüber, dass ich mir um Gudrun überhaupt je Sorgen gemacht habe. Nichts erinnert an das Häufchen Elend, zu dem sie augenblicklich zusammensackt, wenn der Name David fällt. Wie resolut sie doch ist und wie patent und vernünftig sie angesichts der Katastrophe jetzt reagiert. Ich wüsste gar nicht, was ich jetzt ohne sie tun sollte. Sie behält einen klaren Kopf und macht alles richtig.
Ruft zuerst Marcel an und informiert dann Hein und Jupp. Sagt zu denen einfach: »In der Einkehr hat gerade eine Frau einen Mann erschossen. Ja, Marcel kümmert sich um alles. Bleibt, wo ihr seid, zu gefährlich auf der Straße. Ich ruf euch später an.« Meinen Namen erwähnt sie auch. Was sie über mich ins Telefon nuschelt, kann ich zwar nicht verstehen, mir aber denken.
»Geht es dir besser?«, fragt sie sachlich, als sie aufgelegt hat und ihre angefrorenen Beine mit einem Frotteehandtuch warm rubbelt.
Mir ginge es erheblich besser, wenn ich jetzt etwas zu essen hätte. Es war schon immer so. Andere Leute müssen einen Mord erst mal verdauen; ich muss ihn verkauen. Darum deute ich zu den Schokokuchen unter der Plastikhaube auf der Anrichte.
Gudrun lässt das Handtuch fallen.
»Davids Brownies«, schluchzt sie und hebt die Haube an. »Ich habe sie heute zum ersten Mal wieder gebacken.«
»Das war sehr tapfer von dir.« Ich kann kaum erwarten, mir die köstliche Schokolade im Mund zergehen zu lassen.
»Ja«, sagt sie nur und zelebriert den Transport zweier Brownies auf einen Teller für meinen Geschmack viel zu langsam. Um wieder ganz zur Besinnung zu kommen, benötige ich dringend Nervennahrung.
»Vor allem, weil ich dabei die ganze Zeit daran gedacht habe, was das für ein Mann ist, der eine schwangere Frau sitzen lässt«, setzt sie hinzu.
»Du warst nicht schwanger, Gudrun.« Ich atme tief durch. Wir bewegen uns wieder auf sehr dünnem Eis.
»Hat sich aber so angefühlt.«
»Du gehst doch noch zur Psychologin?«
Sie schüttelt den Kopf und knallt mir den Teller hin.
»Bringt doch nichts, die kann mir mein Baby auch nicht wiedergeben.«
Aber deinen Verstand, will ich sagen, kann die Worte jedoch gerade noch rechtzeitig mit dem ersten Browniebissen runterschlucken. Wie schnell man bekloppt werden kann, habe ich ja eben erst am eigenen Leib erlebt. Zum Glück beginne ich wieder, klar zu denken.
Nach Gudruns Anruf hat der belgische Polizeiinspektor Marcel Langer die Meldung sofort an die zuständigen Kollegen in Euskirchen weitergegeben. Schließlich steht mein Restaurant auf nordrhein-westfälischem Hoheitsgebiet. Aber als Spezialist für unpassierbare Schneifeler Winterstraßen und für Morde auf der Kehr trifft Marcel als Erster bei uns ein. Ich traue meinen Augen nicht: Er trägt nicht nur nicht Uniform, sondern eine Soutane.
»Don Camillo«, begrüßt er mich knapp, »komme gerade von der Generalprobe. Was genau ist hier passiert?«
Hätte man in seinem Dorftheater den Polizisten nicht als Peppone casten sollen? Nein, bei seinem so wenig ordnungshüterhaftem Aussehen wäre selbst der schräge Bürgermeister noch eine Fehlbesetzung gewesen. Marcels inzwischen fast grauer Schnurrbart ist schräg gestutzt, sein immer noch volles dunkles Haupthaar hängt ihm wirr ins Gesicht und steht am Hinterkopf ab. Als er beim Hinsetzen die Soutane rafft, sehe ich einen blauen Kniestrumpf und eine schwarze Socke. Sein Gesicht wirkt viel schmaler, als ich es in Erinnerung habe. Wahrscheinlich ist er grausamer Fehlernährung ausgesetzt. Ich zurre die Kette fester, die ich um mein Herz gelegt habe und die gerade bedenklich auseinanderzugehen droht. Gut, Marcel sieht ziemlich verwahrlost aus. Nicht mein Problem. Ich habe ein ganz anderes. In meinem Restaurant ist vor meinen Augen soeben ein Mord verübt worden, und ich bin die einzige Zeugin.
Solange die Leiche in meinem Gastraum liegt, möchte ich die Küche eigentlich nicht verlassen. Aber Marcel besteht darauf. Gudrun hat ihm am Tatort zwar erzählt, was sie weiß, aber schließlich hat sie in der Küche den Tee zubereitet, als der Schuss gefallen ist. Nur ich kann genau aussagen, was sich in meinem Gastraum abgespielt hat.
»Komm mal mit«, sagt Marcel und streckt mir seine Hand entgegen.
Es wäre aus vielen Gründen verlockend, sie zu ergreifen. Aber aus genauso vielen widerstrebt es mir.
»Möchtest du ein Brownie?«, frage ich, die Hand ignorierend. Ich halte ihm den Teller hin.
»Nein danke, aber bitte einen Kaffee, Gudrun. Und jetzt komm mal, Katja.«
»Vielleicht warte ich doch lieber auf die zuständige Polizei«, weiche ich aus. »Die deutsche. Dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.«
»Ich fürchte, du wirst es noch sehr viel öfter erzählen müssen. Da kann eine Generalprobe nicht schaden.«
»Na, damit bist du ja gerade in Übung.« Ich wuchte mich aus dem Stuhl und folge ihm.
Wir setzen uns an den Tisch, dessen Tuch zu unseren Füßen Anderweitiges bedeckt.
»Ich fasse zusammen«, sagt Marcel. »Die Frau sitzt hier am Nebentisch, der Mann kommt rein und geht zu ihr hin. Sie steht auf, zieht eine Pistole aus der Handtasche und schießt ihm in die Brust. Einfach so?«
Ich nicke. »Einfach so. Und sie hat dabei die ganze Zeit gelächelt.«
»Gelächelt? Auch als sie geschossen hat?«
Ich zögere. »Wahrscheinlich, aber beschwören könnte ich das nicht.«
»Klar, da warst du zu geschockt, für drauf zu achten.«
»Um«, murmele ich.
»Wie bitte?«
»Nichts.«
Er zieht einen Zigarillo aus der Tasche und schenkt mir ein maliziöses Lächeln.
»Holst du es mir übel, wenn ich jetzt eine rauche? Das Restaurant ist ja geschlossen.«
Das macht er mit Absicht. Er hat mich genau verstanden. Er hat nicht vergessen, was ich ihm in den vielen Jahren unseres Zusammenseins über die missverständlichen Eifeler Derivate der deutschen Sprache vorgetragen habe. Ich tue ihm nicht den Gefallen, die Korrektur zu wiederholen, um mir dann einen Vortrag über die Eigenständigkeit des Dialekts der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens anzuhören. Ich kehre zum wirklich Wichtigen zurück:
»Kaum bin ich hier, geht das elende Morden schon wieder los.«
»So würde ich das nicht sagen. Du bist schon ziemlich lange wieder hier.«
»Aber diesmal kannst du mich nicht verdächtigen.«
»Ich habe dir nie etwas Böses gewollt, Katja, das weißt du.«
»Ich weiß, dass du mich einmal eingesperrt hast.«
»Zu deinem eigenen Schutz, wenn ich dich daran erinnern darf. Und wieso eigentlich sollte ich dich diesmal nicht verdächtigen?«
Ich starre ihn fassungslos an.
»Du bist die einzige Zeugin«, sagt er ruhig. »Schon das ist prinzipiell immer verdächtig. Du behauptest, gesehen zu haben, dass die Frau geschossen hat. Das ist noch lange kein Fakt. Genauso gut könnte es sein, dass du den Mann erschossen hast und die fremde Frau vor Schreck abgehauen ist.«
»Warum sollte ich so etwas tun?«
»Das weiß ich doch nicht! Ich weiß ja überhaupt nichts mehr von dir. Vielleicht ist dir ein unbequemer Lover aus Berlin gefolgt. Wäre ja auch nicht das erste Mal.«
Verletzungen über Verletzungen, und zwischen uns liegt ein toter Mann.
Ich greife nach jener Hand von Marcel, die den unangezündeten Zigarillo nicht hält.
»Du kannst gerne rauchen«, sage ich. »Das Restaurant ist geschlossen. Aber bitte glaube mir: Ich kenne den Mann überhaupt nicht. Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen …«
Meine Stimme ebbt ab. Ich habe ein Déjà-vu. Genau diese Worte habe ich Marcel bei unserer allerersten Begegnung entgegengeschleudert. Und damals waren sie gelogen.
Marcel rennt die offene Tür nicht ein. Seine hochgezogene Augenbraue verrät mir, dass er bereit ist, Gnade walten zu lassen, zumindest vorerst.
»Jedenfalls habe nicht ich ihn erschossen, sondern diese Frau. Das musst du mir einfach glauben«, beende ich mein Plädoyer.
Er zieht seine Hand fort, um sie auf meine zu legen und sanft zu streicheln. Richtig unangenehm ist mir das nicht.
»Natürlich glaube ich dir, Katja. Ich wollte dich nur darauf hinweisen, wie fragwürdig eine Hauptzeugin sein kann. Manchmal füllt man Erinnerungslücken mit der eigenen Phantasie aus. Und es soll auch schon passiert sein, dass man einen belgischen Polizeiinspektor einfach dreist anlügt, n’est-ce pas?«
Klar, an offenen Türen kann er also doch ebenso wenig vorbeigehen wie ich damals bei meiner ersten Ankunft in der Eifel. Er hört auf, meine Hand zu streicheln, nimmt sich eine Streichholzschachtel vom Tisch und zündet sich sehr umständlich den Zigarillo an.
»Und jetzt«, fährt er freundlich fort, während er mich in eine blaue Wolke einhüllt, »gibst du mir bitte eine möglichst genaue Beschreibung der Täterin.«
Ich schüttele den Kopf.
»Das ist schwer.«
Marcel blickt mich intensiv an. Mir wird sehr unbehaglich.
»Die Beleuchtung hier ist zwar etwas schummrig, aber gut genug, für zu sehen, was du für schöne graue Augen hast. Und wie breit deine weiße Haarsträhne geworden ist. Tja, an dir sind die Jahre eben auch nicht spurlos vorbeigegangen, vor allem die vergangenen Monate nicht. Also, Katja, wie sah die Frau aus?«
Ich hebe die Schultern. Zu seinem Kompliment, seiner Beleidigung und seiner Frage nach dem Äußeren der Täterin.
»Tut mir leid, Marcel, da muss ich passen.«
»Ihr habt sie doch bedient und mit ihr geredet?«
»Sie hat kein Wort gesagt.«
»Wie hat sie dann die Bestellung aufgegeben?«
»Sie hat auf die Getränkekarte getippt«, meldet sich Gudrun. Sie stellt Marcel den Kaffee so eilig hin, dass er überschwappt, sprintet zum Buffet, holt einen Aschenbecher und murmelt verärgert: »Wie sollen wir bei dem Wetter lüften?«
Marcel blickt auf den Nebentisch.
»Das Glas ist doch nicht etwa in der Spülmaschine?«
»Sie hat Tee bestellt, und der war noch nicht fertig«, sage ich. »Nichts hat sie zu sich genommen. Und nichts mit bloßen Händen angefasst. Sie trug nämlich die ganze Zeit Handschuhe.«
»Aus sehr feiner Seide«, setzt Gudrun hinzu.
»Und wie sah die Frau sonst noch aus?«
»Sag du es ihm«, fordert mich Gudrun auf.
Ich schüttele wieder den Kopf.
»Mensch, Katja, du hast sie doch angeschaut!«
»Ja.«
»Und?«
»Und nichts.«
»Wie nichts? Irgendwie muss die Frau ja wohl ausgesehen haben.«
»Dunkel. Glatt. Unbeschreiblich.«
»Etepetete«, seufzt Marcel. »Das hat Gudrun schon zu Protokoll gegeben.« Er nickt ihr freundlich zu.
»Du darfst hier gar kein Protokoll aufnehmen!«
»Die Kollegen aus Euskirchen sind gleich da. Die freuen sich, wenn ich ihnen die erste Arbeit abhole.«
Wieder korrigiere ich ihn nicht. Ich finde mich damit ab, zurück in der Eifel zu sein. Wo gemordet wird, was das Zeug hält, und sich sprachlich kein Mensch das nimmt, was er sich holen kann. Widerstand zwecklos. Ich bin dabei.
»Hol mir doch bitte ab«, sage ich also, »dass diese Frau ein Kunstprodukt ist, das jeder Beschreibung spottet.«
»Versuch es. Du warst mal Modejournalistin, musst doch einen Blick dafür haben.«
»Ja, für die Klamotten schon. Edel gekleidet, alles vom Feinsten, graues doppelfädiges Kaschmirkleid, heller Seidenschal, der Mantel: ein vermutlich merinogefütterter Burberry …«
»Was ist das, und wie schreibt man das?«
»Kein Parfüm«, sage ich plötzlich. »Das ist komisch.«
»Wieso?«
»Wer sich so stylt, vergisst doch nicht das Parfüm.«
»Enfin, geht doch. Hatte sie eine große oder eine kleine Nase?«
»Eine schön modellierte Nase.«
»Welche Augenfarbe?«
»War zu schummrig, für das zu sehen.«
»Dunkel oder hell?
»Eher dunkel. Alles an ihr war irgendwie verdunkelt. Außer ihrer Haut. Die war sehr hell geschminkt.«
»Na, geht doch«, wiederholt er. »Wenn der Schock nachgelassen hat, wirst du in Euskirchen beim Erstellen eines Phantombilds assistieren können.«
»Nicht nötig.«
»Wie meinst du das?«
»Nimm einfach meine Fernsehzeitschrift«, sage ich, »die Frau auf dem Cover.«
»Welche Ausgabe?«
»Jede.«
»Sehr hilfreich.«
Er deutet auf den Nebentisch, lässt sich sagen, wo die Täterin gesessen hat, steht auf und hebt den Geldschein mit einer Pinzette an. Jetzt erst sehe ich, dass uns die Frau zweihundert Euro gespendet hat. Gäste, deren Bestellung von der Speisekarte abweicht, werden in keinem Restaurant gern gesehen und müssen dafür meist extra zahlen, aber das, was diese Frau selbst angerichtet hat, ist nicht mit Geld aufzuwiegen.
»Sind die von ihr?«
Ich nicke.
»Für was, wenn sie nichts konsumiert hat?«
»Für Indianertee«, meldet sich Gudrun.
Zähneknirschend setze ich hinzu: »Mit Schuss. Aber den hat sie nicht bestellt, sondern selbst dazugegeben.«
Marcel steht auf und lässt den Schein an der Garderobe in die Tasche seines Wintermantels gleiten.
»Damit er nicht …«
»… wegkommt«, vervollständige ich seinen Satz, während Marcel sein schrillendes Handy aus der Tasche fischt. »Das Geld steht uns zu!«, übertöne ich den immer noch gleichen überlauten Klingelton, der mich schon früher so genervt hat.
Marcel schreit auch. Ins Telefon.
»Ja! Ich verstehe euch. Was? Schon wieder? Das ist ja schrecklich! Keine Sorge, ich habe hier alles unter Kontrolle. Natürlich leiste ich Amtshilfe. Der Tatort ist schon abgesichert.«
Ganz toll abgesichert: Die Tischdecke habe ich über die Leiche gelegt. Wahrscheinlich wird er gleich belgisches Absperrband aus dem Auto holen. Geht die Amtshilfe so weit, dass er das in Deutschland aufspannen darf? Und wie lange wird es mein Restaurant verunstalten? Wann wird die Leiche abtransportiert? Wird er sich jetzt etwa um all das kümmern, was die deutsche Polizei tun sollte?
»Was ist denn so Schreckliches passiert?«, will ich wissen.
»Verkehrsunfall auf der Autobahnabfahrt in Blankenheim. Ein osteuropäischer Schwertransporter ist umgekippt und mehrere Autos sind da reingefahren. Jetzt sind dort alle verfügbaren Einsatzkräfte gefragt. Wird also noch was dauern, bis die Kollegen aus Euskirchen zur Einkehr kommen können.«
Gudrun stellt ihm eine zweite Tasse Kaffee hin.
»Richtig so. Hier ist ja schon Schlimmes passiert, und da kann die Polizei noch Schlimmeres verhindern.«
»Genau so ist es.« Marcel schenkt Gudrun einen freundlichen Blick. »Du denkst mit. Und passt auf. Du hast also gesehen, dass die Frau die Bundesstraße verlassen hat und nach rechts Richtung Krewinkel gefahren ist?«
Gudrun zögert.
»Ich habe nicht deutlich sehen können, ob sie da wirklich abgebogen ist, aber ihr Blinker war an.«
»Die Plaquennummer hast du nicht lesen können?«
»Nein, dafür war sie zu flott unterwegs.«
Marcel hebt eine Augenbraue.
»Bei den Straßenverhältnissen?«
»War frisch geräumt. So was Blödes. Der Schneepflug kommt immer dann, wenn man ihn nicht braucht! Bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es war eine rote belgische Nummer.«
Da es zur Täterin nichts mehr zu sagen gibt und ihn die Euskirchener Kollegen um Amtshilfe gebeten haben, kümmert sich Marcel jetzt um das Opfer. Außer einem Ein-Euro-Stück und einem Kamm fördert er aus den Taschen der Skihose nichts hervor.
Ich deute zur Garderobe. »Da hängt noch seine Jacke. Vielleicht ist da ein Ausweis drin.«
Marcel springt auf.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Hast du etwa geglaubt, der Mann ist bei diesem Wetter ohne Jacke hergekommen?«
»Ich dachte, es ist deine Jacke. Du hast doch genauso ein Ding.«
Er hat recht. Eine ähnlich unförmige schlammfarbene Jacke hängt über dem Stuhl in der Küche. Wie bizarr, dass mich, die frühere Moderedakteurin, ausgerechnet ein so unelegantes Kleidungsstück mit dem toten Mann auf dem Boden verbindet.
Marcel durchsucht mit geübtem Griff die Jackentaschen. Er kehrt mit einer einstmals edlen, inzwischen aber ziemlich abgegriffenen schwarzen Lederbrieftasche an den Tisch zurück, setzt sich, zieht einen Ausweis hervor und springt sofort wieder auf.
»No di pipp!«
»Was ist los?«, frage ich gespannt.
Er strahlt.
»Womit ein Fall geklärt ist.«
»Der Fall ist schon geklärt?«, frage ich verwirrt. »So schnell geht das?«
»Nicht dieser. Ein anderer. Ein Vermisstenfall, den wir zu den Akten gelegt haben. Jean-Marie Lambert. Der ist vor fünf Jahren plötzlich verschwunden.«
»Ein Belgier?«
Marcel nickt.
»Und wer war er?«
Der belgische Polizeiinspektor schweigt einen Moment und zupft an seiner Soutane herum.
»Früher hatte ich bei dir zu Hause immer was für umzuziehen«, murmelt er.
»Früher warst du ja auch öfter hier.«
»Weil ich mich willkommen fühlte. Das hat sich allerdings deutlich geändert.«
»Dann geh doch, wenn es dir hier zu ungemütlich ist.«
»Bitte nicht streiten!«, fleht Gudrun. »Und bleib, Marcel. Es ist hier doch nie gemütlich, wenn jemand ermordet wird. Der arme Mann.«
Betroffen nicken wir alle zum Tischtuch hin.
»Sag schon, Marcel, wer war er?«, frage ich. »Vielleicht der Vater der Täterin?«
Der belgische Polizeiinspektor befingert immer noch seine Soutane.
»Eher nicht«, antwortet er. »Wäre bei seinem Beruf nicht sehr opportun gewesen.«
»Was für ein Beruf?«, frage ich verständnislos.
Gudrun begreift schneller.
»Ein Priester!«, ruft sie entgeistert. Sie schlägt die Hand vor den Mund und bekreuzigt sich rasch. »Die Frau hat einen Pfarrer erschossen!«