Sein Name ist Bussi. Arno Bussi.
Jaja, immer dieselbe Leier. Denkt sich auch der Arno, wie er unverändert in Wien festsitzt, in der Statistikabteilung des Bundeskriminalamts, und den lieben langen Tag in seinen Computerbildschirm hineinstarrt – seit bald drei Jahren schon.
Aber wie hätte er denn auch ahnen sollen, worauf er sich da einlässt, als er sich für Wien beworben hat, um aus Tirol heraus- und in die Bundeshauptstadt hineinzukommen. Weil ihn die Sehnsucht geplagt hat nach der großen, weiten Welt. Weil ihm die Welt daheim, eingeklemmt zwischen all den hohen Bergen, viel zu klein geworden ist. Und weil er geträumt hat von heute Wien, morgen London, übermorgen Paris. Und wie er sich gefreut hat, als sie ihn tatsächlich genommen haben, im ehrwürdigen Bundeskriminalamt am Josef-Holaubek-Platz 1. Da ist’s ihm ganz egal gewesen, dass er erst einmal in der Kriminalstatistik hat anfangen müssen, Hauptsache, der Fuß war in der Tür …
Aber die Geschichte ist ja inzwischen ebenso bekannt wie der Arno selbst, der mit seinen knapp dreißig Lebensjahren schon auf Auszeichnungen verweisen kann, bei denen selbst die Kollegen vom Außendienst nur neidvoll mit den Ohren wackeln. Man stelle sich einmal das Potenzial vor, das sich hätte entfalten können, hätte der Arno nicht das riesige Pech gehabt, dass ausgerechnet die Frau vom Herrn Innenminister sich in diesen jungen, aufstrebenden, gut aussehenden Polizisten aus den Bergen hat verschauen müssen. Doch ehe noch eine richtige Affäre daraus hätte werden können, war selbige schon aufgeflogen und der Arno gleich mit. Klar, dass der Herr Innenminister Qualtinger seither alles tut, um dem Arno das Leben so schwer wie möglich zu machen. Und klar, dass der Arno alles tut, um die Sache irgendwie auszusitzen. Aber die Hoffnung, der Qualtinger würde sich schon irgendwann vertschüssen und ein neuer Innenminister eine neue Chance für den Arno bedeuten – die Chance auf den aktiven Ermittlerdienst nämlich –, hat sich bisher nicht erfüllt. Im Gegenteil: Heute sitzt der Herr Innenminister fester im Sattel denn je, die Bevölkerung liebt ihn für seine harte Hand. Und genau diese Hand macht auch mit dem Arno, was sie will. Wobei’s in den letzten Monaten ruhig um die sogenannten Spezialaufträge vom Qualtinger geworden ist. Verdächtig ruhig. So ruhig, dass man fast glauben könnt, der Herr Minister hätt den Arno ganz vergessen. Dabei weiß der schon, dass er so viel Glück nicht haben wird.
Aber der Mensch ist ja ein Wesen, das sich an die widrigsten Umstände anzupassen weiß. Wenn einen der Beruf zum Beispiel an den Rand des Wahnsinns bringt, gibt’s garantiert irgendwas, das man als Ausgleich im Privatleben unternehmen kann. Sich ins Wiener Nachtleben stürzen zum Beispiel. Oder, wie der Arno: den Triathleten in sich entdecken.
Wobei, eigentlich hat der Arno ja ganz etwas anderes entdeckt, beim Joggen an der Donau. Die Franzi nämlich, vom Triathlonverein Brigittenau. Wie das Leben so spielt, mussten ausgerechnet die beiden gleichzeitig in entgegengesetzten Richtungen ums selbe Eck biegen wollen und wenig später in der Notaufnahme des Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhauses sitzen, wo sich der Arno hingebungsvoll darum gekümmert hat, dass noch ein bissl Blut in der Franzi blieb, bis die Platzwunde an ihrem Kopf versorgt werden konnte, mit gleich sieben Stichen. Wenige Tage später hat der Triathlonverein Brigittenau ein Mitglied mehr gehabt, und zwar den Arno. Bestimmt hat’s auch schon triftigere Gründe gegeben, mit dem Ausdauersport zu beginnen. Aber ganz sicher keinen so attraktiven wie die Franzi, und das trotz Turban auf dem Kopf.
Aber das ist Schnee von gestern. Die Franzi hat sich längst erholt vom Zusammenprall und der Arno die Kurve ins Privatleben gekriegt, so halbwegs jedenfalls.
Apropos Schnee von gestern: Die Geschichte, die unseren Helden gleich ein drittes Mal nach Tirol entführt und dort beinahe Kopf und Kragen kostet, ist auch nicht ohne.
Also aufgepasst …
Bitter kalt ist’s unten an der Donau, und dunkel noch dazu, als der Arno und die Franzi ihren abendlichen Zwanzig-Kilometer-Trainingslauf absolvieren, der zur Vorbereitung auf den ersten Triathlon der Saison gehört – für den Arno: den ersten Triathlon überhaupt.
Ein eisiger Hauch zieht vom Wasser aufs Land, und der Nebel ist so dicht, dass sie sich mit ihren Stirnlampen bloß selber blenden täten. Aber weil sie die Strecke mittlerweile eh schon im Schlaf kennen und sie noch dazu die einzigen sind, die sich bei so einer Witterung quälen, laufen sie im Dunkeln direkt auf den Schein der jeweils nächsten Straßenlaterne zu.
»Fünf-zwanzig«, japst die Franzi nach einem Blick auf ihre Sportuhr. Der Arno weiß, dass das ein ganz lausiger Schnitt ist, jedenfalls dann, wenn man beim Triathlonlauf nicht im Kehrwagen enden will, der die Dahinsiechenden am Ende des Felds aufliest. Er rennt schneller, die Franzi hält mühelos mit.
»Fünf-null-vier«, ruft sie einen Kilometer später und klingt schon zufriedener.
Der Arno lacht auf, ein bissl stolz auf die Durchgangszeit, aber noch viel mehr wegen der Franzi, die sich so schön über solche Kleinigkeiten freuen kann. Mit ihr ist’s irgendwie ganz leicht, den inneren Schweinehund zu überwinden. Wobei das Laufen an sich dem Arno überhaupt keine Sorgen macht. Im Laufen ist er ein echtes Naturtalent, und beim Radfahren stellt er sich auch halbwegs akzeptabel an. Dafür fällt er beim Schwimmen, das ja leider ebenfalls zum Triathlon dazugehört, glatt durch. Kein Wunder: Wasser gehört nicht gerade zu den Elementen, in denen sich ein gebürtiger Tiroler heimisch fühlt. Jedenfalls nicht in flüssiger Form. Man hat zwar Schwimmunterricht in der Schule, aber den allermeisten Tirolern reicht’s, sich halbwegs würdevoll vorm Ertrinken bewahren zu können, wenn’s nass wird. Der Arno war eh noch einer von den Fleißigen und hat das Fahrtenschwimmer-Abzeichen gemacht – aber wie die Franzi zum ersten Mal eine Bahnlänge neben ihm gekrault ist, wäre sie ihm vor Lachen bald abgesoffen. Und auch jetzt, Dutzende Trainingsstunden und noch mehr Schwimmkilometer später, reicht’s im besten Fall, um mit den Mini-Knirpsen im Triathlonklub mithalten zu können. Fazit: Das Schwimmen ist Arnos Achillesferse und wird es vermutlich immer bleiben.
Die vibrierende Sportuhr an seinem Handgelenk reißt ihn aus dem Trainingstrott. Ein Anruf von der Mama. Vorhin hat sie’s schon einmal versucht, und er hat sie weggedrückt, weil er ja beim Trainieren schlecht sein Handy hervorkramen kann. Er wollte sie später zurückrufen, wie er das immer macht, und eigentlich versteht sie das auch immer, eigentlich …
Eigentlich vibriert die Uhr gleich noch ein drittes Mal, und schon wieder zeigt sie einen Anruf von der Mama an.
Wird doch wohl nix passiert sein?, denkt er mit plötzlicher Unruhe, fischt das Smartphone aus der Hosentasche und geht dran. »Hallo, Mama?«, keucht er ins Gerät, »ich bin grad beim Trainieren mit der Franzi … Mama, hörst du mich?«
Weil er eben nix hört, bleibt er stehen, genau wie die Franzi, die im Stand weitertrippelt, um nicht auszukühlen. »Ma-ma!«, ruft er – da hört er erst, wie sie schluchzt. »Mama, was ist denn? Was hast du? Ist was passiert?«, fragt er aufgeregt.
»Ach, Bub!«
»Sag schon!«
»Jetzt bist du auch noch böse auf mich!«, klagt sie.
»Nein, Mama«, bemüht er sich um einen einfühlsameren Ton, was ihm aufgrund der körperlichen Anstrengung mehr schlecht als recht gelingt. Zu Mamas Wehklagen dröhnt der eigene Puls in den Ohren, schneller und schneller. »Ist wer gestorben?«, fragt er gleich nach dem Schlimmstmöglichen.
»Ja!«
»Um Gottes willen! Wer denn? … Mama?«
Die Mama sagt nix.
»Wer ist es? Wer ist gestorben? Ma-ma!«
»Der Lorrrenzo! Für mich! Und zwar für immer!«
Der Lorenzo. Für sie, und zwar für immer. Jaja. Während sich Arnos Aufregung so schnell wieder legt, wie sie gekommen ist, rollt das R aus Mamas Mund in Arnos Ohren immer weiter. Lorenzo. Mamas neuer Freund. Der Mann mit dem Ferrari. Ferrrrrari, wie sie sagt.
»Was ist denn mit ihm?«, fragt der Arno. Das Jetzt schon wieder kann er sich gerade noch verkneifen.
»Versetzt hat er mich! Mit dem Urlaub!«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
»Pst!«, meldet sich die Franzi. Der Arno erahnt sie mehr, als dass er sie sehen könnte, wie sie immer noch ungeduldig auf einer Stelle von einem Bein aufs andere hüpft.
»Lauf nur«, sagt er schnell, »ich hol dich schon wieder ein.«
»Wetten nicht?«, gibt sie frech zurück und ist davon.
Auch der Arno beginnt zu hopsen, weil ihm die Kälte überall hineinkriecht. »Mama, das tut mir leid für dich. Können wir später telefonieren?«
»Wo ich mich doch so sehr auf Maria Schnee gefreut hab!«
»Ja, Mama, ich weiß. Echt schade.«
»Es klingt, als wär’s dir egal!«
»Nein, Mama, ist’s mir nicht. Hier ist’s nur grad arschkalt, und ich darf mich nicht verkühlen. Mein erster Wettkampf ist bald, hab ich dir ja erzählt. Ich ruf dich später an, okay?«
»Ich weiß nicht, ob ich später noch drangehen kann.«
Der Arno rümpft die Nase. Die Mama ist unüberhörbar gekränkt. Er weiß, wie knapp bei ihr die italienische Diva unter der Oberfläche wohnt. Er weiß auch, dass die Marina – eigentlich Marianne – seit Wochen von nix anderem redet als von diesem blöden Eisfestival in Maria Schnee, mit dem sie der Lorrrenzo, Großindustrieller in dritter Generation, zu Weihnachten überrascht hat. Samt standesgemäßer Anreise in seinem Ferrari. Gott allein weiß, was die Mama so plötzlich an dem Tamtam reizt. Aber versteh einer die Mama.
»Ich probier’s einfach. Und sonst reden wir morgen, gut? Du, ich muss jetzt aber echt.«
Sie sagt nix mehr. Schnieft nur. Und auch wenn’s dem Arno schwerfällt, drückt er sie weg, steckt das Handy ein und läuft der Franzi nach.
Was weiter an diesem Abend geschehen ist, kann man nur als eine ganz unglückliche Fügung des Schicksals bezeichnen. Jedenfalls dann, wenn man der Arno ist. Der will nämlich alles, aber nicht nach Tirol, in jenes Land der Berge, das er ursprünglich hinter sich gelassen hat, um seine Polizeikarriere in Wien fortzusetzen. Doch seit dieser blöden Geschichte mit dem Herrn Innenminister, besser gesagt mit dessen Gattin, sitzt er nicht nur in der Statistikabteilung des Bundeskriminalamts fest, sondern wird auch noch ein ums andere Mal in seine alte Heimat zurückgeschickt, um dort Strafarbeiten verschiedenster Art zu erledigen. Und was ihn dabei erwartet, hat er die letzten beiden Male gesehen. Kein Grund, auf Tirol scharf zu sein.
Aber leider bleibt ihm wohl schon wieder nix anderes übrig, als genau dorthin aufzubrechen. Weil …
das Zimmer im Vier-Sterne-plus-Hotel Bergkristall in Maria Schnee schon gebucht ist und nicht mehr storniert werden kann …
das auch für die beiden sündhaft teuren VIP-Eintrittskarten fürs Eisfestival gilt …
die Mama auf gar keinen Fall allein hinfährt …
es keine Geschwister, Freundinnen oder andere Notnägel gibt, die die Mama begleiten könnten …
die Mama todunglücklich wär, wenn sie nicht hinfahren könnt …
sie eh schon todunglücklich ist, dass der Lorenzo immer so wenig Zeit für sie hat …
sie ihren Buben schon so lang nicht mehr gesehen hat …
ihr Bub schon so oft versprochen hat, endlich einmal wieder etwas mit ihr zu unternehmen …
derselbe Bub als Statistiker im Bundeskriminalamt ja vieles ist, aber nicht unabkömmlich, und sich jederzeit so viel Urlaub nehmen darf, wie er will …
der Herr Major, sein Chef, ihn eh schon die ganze Zeit wegen seines unverbrauchten Urlaubs anraunzt …
die Franzi ein Riesenherz für alle Mamas dieser Welt hat, obwohl sie die vom Arno noch gar nicht kennt …
und weil, wie die Franzi im Internet herausgefunden hat, das Schwimmbad des Hotels Bergkristall über eine sage und schreibe fünfundzwanzig Meter lange, professionelle Trainingsbahn verfügt.
»Schau, die wär doch perfekt für dich! Und bestimmt nix los während des Eisfestivals. Zwei Fliegen mit einer Klappe!«, sprudeln die Argumente geradezu aus der Franzi hervor, als sie gemeinsam am Esstisch in Franzis Wohnung sitzen, vor einem Riesenberg dampfender Vollkornnudeln, weil man als Triathlet ja gar nie genug langkettige Kohlenhydrate in sich hineinbringen kann.
»Jaja, ich muss schwimmen trainieren, ich weiß schon«, sagt er schuldbewusst.
»Mhm«, macht sie und steckt sich eine Riesengabel Nudeln in den Mund.
Der Arno bläst die Luft aus. Schon ein bissl viele Argumente, die für die paar Tage Urlaub in Tirol sprechen. Und tatsächlich ließe sich das Unangenehme wenigstens mit dem Nützlichen verbinden, mit einem ausgiebigen Schwimmtraining im leeren Hotelschwimmbad nämlich, wo ihn keiner kennt.
»Aber nur, wenn du mitfährst«, wird der Arno plötzlich mutig.
Die Franzi schaut auf, ein bissl verdattert und überrascht, sagt dann aber schnell: »Du weißt, dass das nicht geht.«
Ja, weiß er leider. Die Franzi ist Arzthelferin, und der Arzt, der sich von ihr helfen lässt, verteilt die Urlaubstage am liebsten schon ein Jahr im Voraus. Spontan geht bei dem gar nix. Außerdem verbraucht die Franzi mit ihren Triathlons schon so viel von ihrem Kontingent, dass sie die restliche Zeit quasi mit ihrer Wohnung in Nussdorf am nördlichen Stadtrand Wiens verheiratet ist.
»Wann geht das Festival los?«, fragt sie, als die zwei mit dem Essen fertig sind und noch schnell gemeinsam abspülen.
Eigentlich würde der Arno ja lieber über etwas anderes mit ihr reden. Wie’s mit ihr und ihm jetzt weitergeht zum Beispiel. Denn gefallen würde sie ihm schon, die Franzi, und der Arno ist reif für eine Beziehung, um nicht zu sagen überreif. Aber viel weiter als bis zum gemeinsamen Trainieren und anschließenden Nudelfuttern sind sie bisher noch nicht gekommen vor lauter fix und fertig immer.
»Morgen Abend«, sagt er missmutig. »Bis Sonntag.«
»Dann sehen wir uns nächste Woche wieder!«
»Hm.« Eigentlich will er ja überhaupt nicht weg, allen Argumenten zum Trotz.
»Wird bestimmt ganz lustig«, ermuntert ihn die Franzi und stößt neckisch mit ihrer Hüfte gegen seine.
»Aua!«, klagt er und überspielt es mit einem Lachen, weil er sich nicht anmerken lassen will, dass Franzis Hüftknochen schon ziemlich knochig sind. »Also lustig wird das ganz bestimmt nicht«, brummt er noch.
»Soll ich dich heimfahren?«
»Nein, nein … Ich geh noch ein Stückerl zu Fuß. Muskulatur auslockern, weißt eh. Kopf freikriegen«, schiebt er noch eine Floskel hinterher.
»Dann bis kommende Woche.«
»Von mir aus.«
»Und viel Spaß!«
»Mhm.«
Der Arno und Tirol, das ist nach wie vor keine richtige Liebesgeschichte. Ja, er ist dort aufgewachsen, hat seine Polizeiausbildung dort gemacht, sich seine ersten Sporen in einer Inspektion am Achensee verdient und anschließend den Aufbaulehrgang zum dienstführenden Beamten im Ausbildungszentrum Absam-Wiesenhof absolviert. Als Jahrgangsbester hätte er sogar zwischen mehreren Tiroler Ortschaften wählen können, in denen er die Wache zukünftig geleitet hätte. Aber was tut er? Bleibt zuerst der Liebe wegen als einfacher Polizist am Achensee – und lässt sich dann nach Wien versetzen, als aus der Liebe doch nix wird. Seit damals spielt sein Schicksal verrückt. Und irgendwie schaut’s so aus, als hätte dieses Schicksal einen Spaß daran, ihn immer wieder nach Tirol zu führen.
Klar, daheim ist daheim, aber wenn man in diesem Daheim nur noch Negatives erlebt – Strafarbeiten, Mord und Totschlag und enttäuschte Lieben obendrein –, dann kann man auch an seinem alten Zuhause die Lust verlieren. Zumal er mit der Weltstadt Wien eine gute, nein: die beste Alternative hat, jedenfalls was die Lebensqualität betrifft. Außerdem eignet sich die Umgebung von Wien viel besser fürs Triathlontraining als die zerklüfteten Alpen. Und es tut ihm ja selber leid, dass er sich so wenig bei der Mama und den anderen Verwandten und Bekannten blicken lässt – eher noch besuchen sie ihn hier in Wien als umgekehrt –, doch wenn er um Tirol einen Bogen machen kann, dann macht er den auch.
Trotzdem packt der Arno am Vormittag seine Sachen. Wie erwartet war’s überhaupt kein Problem, spontan zwei Tage Urlaub zu nehmen. »Gehen S’ nur, gehen S’ nur, die nächste Woche gerne auch noch!«, hat der Herr Major ihn fast angebettelt und ihm damit wieder einmal vor Augen geführt, wie leicht das Bundeskriminalamt auf seine Dienste verzichten kann. Jaja.
Als er so vor seinem Kleiderschrank steht, versucht er, nicht an die Albträume aus der vergangenen Nacht zu denken. Erdlawinen, sintflutartige Regenfälle, brütende Hitze, Moskitoschwärme und andere biblische Qualen haben ihn heimgesucht und an seine ersten beiden Tirol-Einsätze erinnert: im Kitzlingtal, auf der Suche nach einem verschwundenen Bürgermeister, ein anderes Mal am idyllischen Lärchensee, wo er einen ganz und gar unidyllischen Kriminalfall zu lösen hatte. Hüben wie drüben ist er Menschen mit merkwürdigen, für Außenstehende scheinbar frei erfundenen Dialekten voller krachender Ks begegnet, und wäre nicht der eine oder andere Mensch darunter gewesen, zu dem sich der Arno durchaus hingezogen gefühlt hat – hier die Eva, dort die Laura –, wäre das Resümee noch trister ausgefallen.
»Eisfestival … Maria Schnee«, murmelt er lustlos vor sich hin. Schon bei den Namen wird ihm zu kalt. Aber er hat ja überhaupt nicht vor, sich groß im Freien aufzuhalten, sondern will hauptsächlich im Hotelschwimmbad seine Bahnen ziehen. Okay, beim Startschuss des Festivals wird er der Mama zuliebe dabei sein müssen, samt Sekt und Häppchen und Stars und Sternchen in irgendeinem blöden VIP-Zelt, aber danach hat er hoffentlich seine Ruhe. Denn wenn die Mama erst einmal ihre persönliche Hemmschwelle überschritten hat, findet sie meistens auch schnell neue Freunde.
Aus praktischen Gründen entscheidet er sich für die kleine Reisetasche, in die er seinen Not-Anorak packt, der sich auf Trinkflaschengröße komprimieren lässt. Waschzeug, zwei Garnituren Unterwäsche, eine Ersatzjeans, die langen Laufsachen, vor allem aber seine Schwimmutensilien – Badehosen, Brillen, Hauben –, und natürlich die wasserdichte Sportuhr, mit der er seinen Trainingsfortschritt messen kann. Mit den Laufschuhen ist seine Tasche auch schon voll – für alles andere ist in diesem Vier-Sterne-plus-Hotel bestimmt gesorgt.
Bleibt noch zu klären, wie er nach Tirol kommen soll. Fliegen scheidet aus, nicht nur wegen der Umwelt, sondern auch vom Geld her gesehen. Auto hat der Arno keines mehr, seit er in Wien ist. Eine Vespa schon, und das Wetter in Tirol ließe fast an die eine oder andere frühlingshafte Motorradtour denken. Aber erstens hat er keine Zeit für eine lange Anreise, weil er ja schwimmen muss, und zweitens steht die Vespa schon so lange unbenutzt in der Garage herum, dass die erst einmal eine neue Batterie braucht.
Fährt er eben mit der Bahn.
Am späten Vormittag steigt er am Bahnhof Meidling in den Railjet Xpress. Man kann über Österreich ja vieles behaupten, aber nicht, dass seine Bundesbahnen nicht erstklassig wären, selbst in der zweiten Klasse, in der der Arno sitzt. Saubere Waggons, freundliches Personal und flächendeckendes Gratisinternet – ein Wunder, was sich da aus der Asche der ehemals kaiserlich-königlichen Staatsbahnen erhoben hat. Pünktlich noch dazu.
Die ersten zwei Stunden surft der Arno im Internet herum, weil draußen dicker Nebel herrscht und ihm nix Besseres einfällt, um sich seine Zeit zu vertreiben. So kommt er unter anderem drauf, dass dieses Maria Schnee eine ziemliche Mogelpackung zu sein scheint, jedenfalls den Ortsnamen betreffend. Denn obwohl’s dort bestimmt die eine oder andere Maria geben dürfte, sucht man den Schnee in Maria Schnee schon lange vergeblich. Der einzige Skilift im Ort ist vor ein paar Jahren abgebaut und verschrottet worden. Die Touristen, die sich noch nach Maria Schnee verirren – bestimmt vor allem des Namens wegen –, müssen per Shuttlebus in ein zwanzig Kilometer entferntes Gletscherskigebiet gekarrt werden, was sich in mancher Bewertung des Vier-Sterne-plus-Hotels Bergkristall niedergeschlagen hat. Schnee? Fehlanzeige! … Alle Knospen blüh’n im Februar … Grüne Wiesen statt Pistenspaß … Tägliche Expedition ins Skigebiet – und so weiter. Als könnte das Hotel irgendwas für das Ausbleiben des weißen Golds.
Dass Maria Schnee noch weniger Schnee abbekommt als die Gegend ohnehin schon, liegt angeblich an irgendeinem mikroklimatischen Phänomen. Der Ort bilde, so das Internet, eine meteorologisch ungünstige Insel zwischen Gebirgsstaulagen, die seit der Veränderung der globalen Windsysteme anders angeströmt werden – aber egal, aus welcher Richtung die Winde auch strömen mögen, an Maria Schnee strömen sie vorbei. Stichwort Klimawandel. Bestimmt hilft’s nicht unbedingt, dass der Ort nur knapp siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel liegt. Da braucht’s dann auch kein mikroklimatisches Phänomen mehr, um demnächst die Zitronenbäume im Vorgarten pflanzen zu können.
Der Arno überlegt, ob er der Franzi was texten soll – da trifft ihn der erste Sonnenstrahl seit Tagen, irgendwo kurz nach Salzburg. Er schaut hinaus über die sanften Hügel hin zu den hohen Bergen, von denen nur die obersten Spitzen angezuckert sind. Trotz der fehlenden Winterstimmung kann er seinen Blick kaum von der Landschaft reißen. Der viele Nebel im Osten Österreichs schlägt ihm mehr aufs Gemüt, als er sich eingestehen möchte. Dort scheint im Winter das Grau in Grau kein Ende nehmen zu wollen, während im Westen die Sonne viel öfter scheint. Fast möchte man glauben, der Frühling sei schon da. Bald werden überall die Kühe und die Schafe auf den Wiesen stehen, die Laubbäume werden der Welt ihre frischen Blätter entgegenrecken, und alles wird leben und sich lieben und neues Leben hervorbringen, umringt von steilen Felsen, die …
»Einen Kaffee, der Herr?«, fragt die Zugbegleiterin und reißt ihn aus seiner ungeplanten Verzückung.
»Nein, nein, danke«, sagt er wie meistens, wenn er etwas angeboten bekommt – und überlegt erst hinterher. Da ist die Zugbegleiterin schon längst wieder weiter.
Knapp nach Kufstein, in Wörgl nämlich, steigt der Arno aus und wartet wie einige andere auch auf den Regionalexpress. Er kann’s kaum glauben, welche Kraft die Sonnenstrahlen schon haben, als er auf dem Bahnsteig steht und auf seinen Anschlusszug wartet. Wie zum Beweis schlurft ein kurzärmliger Skifahrer an ihm vorbei, die Skischuhe über die eine Schulter gehängt, Ski und Stöcke auf der anderen, die Jacke um die Hüfte gebunden. »Tach«, gibt er sich als Deutscher zu erkennen. Der Arno würde ihn am liebsten fragen, ob er auch nach Maria Schnee will, des Schnees wegen vielleicht, aber Schadenfreude gibt nur schlechtes Karma. Also nickt er dem Mann freundlich zu und schaut dann auf seine Uhr, die gerade vibriert hat.
Eine SMS von der Mama. Bin da. Warte vorm Hotel. Hier ist’s schon ganz eisig ;-) Wann kommst du? Bussi, Mama
Der Arno rümpft die Nase. Eisig. Kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen, und so weit ist’s nicht mehr bis Maria Schnee, als dass irgendein meteorologisches Mikroklimaphänomen den Ort auf Eistemperatur herunterkühlen könnte.
Er holt sein Handy heraus und tippt zur Antwort: Zug fährt gleich. Zwanzig Minuten max., geh schon vor! Bussi, Arno
Ehe er das Gerät wieder einstecken kann, schickt ihm die Mama drei gereckte Daumen, gefolgt von Ich wart – und da kommt auch schon der Zug.
Als der Arno in Maria Schnee aussteigt, glaubt er fast, er sieht nicht recht. Als hätte der Zug irgendwo auf den letzten Kilometern das Tor zu einer Paralleldimension durchstoßen, ist hier tatsächlich alles eisig – genau wie’s die Mama behauptet hat! Jedenfalls optisch, denn temperaturmäßig hat sich seit Wörgl kaum etwas getan.
Der Arno schreitet durch die Bahnhofstraße, über der Kristallwolken zu schweben scheinen – geschickt gemacht, wie er zugeben muss. Ein bissl wie Weihnachtsdeko, nur frostiger eben. An Laternenpfählen sind große, glitzernde Eissterne befestigt. Die einzigen Farben weit und breit sind eigentlich gar keine, weil: Grau und Weiß. Und Glitzerfunkeln. Der ganze Ort wurde auf Eiswelt getrimmt.
Trotzdem sieht man gleich, dass Maria Schnee schon bessere Tage gesehen hat. Im verstaubten Schaufenster eines längst geschlossenen Ladens hängt noch die Werbung für Agfa-Farbfilme und Vierundzwanzig-Stunden-Expressentwicklung. Die Straßenlaternen erinnern an die Siebzigerjahre, genau wie die Häuserfassaden, die damals auch zum letzten Mal gestrichen worden sein dürften.
Am Dorfplatz haben sich zahlreiche Menschen in knalligen Skianzügen und Winterjacken versammelt. Die meisten von ihnen haben ein völlig unangemessenes Grinsen im Gesicht. Schlagermusik dröhnt aus den Boxen. Ein Imbissstand ist gut besucht, davor dampfen die Menschen, genauer gesagt ihre Getränke – Glühwein vermutlich –, und das bei geschätzten plus zehn Grad im Schatten.
»Achtung!«, ruft jemand von schräg oben, da fährt dem Arno auch schon ein Ungetüm haarscharf an der Nasenspitze vorbei. Dieses Ungetüm ist eine Eismaschine, die ein paar Meter weiter auf die Eisfläche biegt, welche dem Arno bisher entgangen ist. Aber klar – ganz ohne Eis kommt ein Eisfestival nicht aus. Und obwohl der Arno eigentlich auf schnellstem Weg in sein Vier-Sterne-plus-Hotel will, bleibt er erst einmal stehen, um in Ruhe staunen zu können.
Der ganze Hauptplatz wurde in eine Eislauffläche verwandelt, die bis auf einen Saum rundum jede Biegung des Ortskerns auszufüllen scheint, begrenzt von halbhohen Absperrgittern, die hier und da unterbrochen sind, um die Eisfläche betreten zu können. In der Mitte des Platzes steht eine ebenfalls eingezäunte Baumgruppe, unter der der Arno das für Tiroler Ortskerne typische Holzkreuz und den Dorfbrunnen erkennt. Auch die Bäume wurden auf Winter dekoriert – mit Watte, wie’s ausschaut –, den Jesus und sein Kreuz hat man aber zum Glück verschont.
Ein paar Kinder, die ihren Pinguin-Schlitten hinterherstolpern, werden von ihren Eltern eingesammelt, weil die Eismaschine kommt. Zwei Arbeiter stehen auf Leitern und machen sich an riesigen Scheinwerfern zu schaffen. Irgendwo dröhnt ein Kühlaggregat, woanders läuft ein Dieselgenerator. Zusammen mit der Schlagermusik ergibt sich ein ziemlich aufdringlicher Brei aus Lärm, und riechen tut’s auch nicht viel besser. Wie eine Mischung aus Christkindlmarkt und Tiefgarage.
Ein lautstarkes »Prost!« lenkt Arnos Aufmerksamkeit zum Imbissstand. Die Trinkwütigen haben wie die meisten Menschen hier Eislaufschuhe an. Hinter der Gruppe sind noch weitere Verpflegungsstände mit illustren Namen zu sehen, eine Eishölle hier, ein Froststadel dort, die haben allerdings noch geschlossen. Der Arno hofft bloß, dass sein Vier-Sterne-plus-Hotel ein bissl abseits des sich abzeichnenden Trubels liegt.
Aber umsonst gehofft. Im selben Moment, als er sich nach seiner Herberge umschaut, sieht er sie auch schon, halb verdeckt von einer großen Bühne, aber eindeutig das größte und wohl auch einzige Hotel am Platz. Das Bergkristall.
Direkt davor, auf einer Bank, entdeckt der Arno noch etwas.
Seine Mama.
Die Mamas. Die spielen ja eine ganz entscheidende Rolle im Leben. Wenn’s in diesem Leben einmal richtig hart auf hart kommt, wenn alles über einem einstürzt und jeder vor einem davonläuft, dann bleibt im Zweifel ein Mensch stehen, und dieser Mensch ist die Mama. Ganz egal, ob man fünf ist und der blöde Valentin einem den Lutscher geklaut hat oder fünfzig und derselbe Valentin – Friede seiner Asche – zwanzig Jahre lang eine Affäre mit der eigenen Gattin hatte – die Mama wird’s schon wieder richten. Gesegnet ist, wer seine Mama hat! Aber manchmal, ja manchmal, und das meistens im Alltag und völlig belanglos, können einen die Mamas dieser Welt schon auch an den Rand des Wahnsinns bringen. Wie den Arno zum Beispiel.
»Arrrno!«, ruft die Mama ihm entgegen, als sie ihn sieht, und springt von der Sitzbank auf. Und man kann über die Marina ja vieles sagen, aber nicht, dass sie sich nicht geschmackvoll anzuziehen wüsste, dunkel, aber nicht zu dunkel, Marke hier, Marke da, Ton in Ton mit dem Gepäck – italienische Gene eben.
»Hallo, Mama«, sagt der Arno, stellt seine Reisetasche ab und umarmt sie. Er riecht das Parfum, von dem sie ordentlich was aufgetragen hat, und freut sich mehr, als er gedacht hätte, aber nur kurz, weil …
»Mein Gott, bist du knochig geworden! Ich komm ja bald zweimal um dich herum!«, klagt sie, schiebt ihre Markensonnenbrille nach oben und mustert ihn mit ihren tiefbraunen, im Moment gerade ziemlich skeptisch blickenden Augen. »Wie viel hast du abgenommen, Bub? Zehn Kilo? Alles wegen diesem Sport!« Sie legt ihre Hand um sein Kinn und drückt die Backen zusammen. »Jetzt schau nur, wie schmal du im Gesicht geworden bist! Bist du … bist du etwa …«
Der Arno schaut zum Himmel. Wieso müssen alle immer gleich denken, dass man krank ist, nur weil man ein paar Kilo weniger auf die Waage bringt? Was bei ihm ja nicht einmal zutrifft, denn Muskeln wiegen bekanntlich mehr als Fett, und Muskeln hat er jetzt definitiv mehr, Fett definitiv weniger, macht unterm Strich unveränderte achtzig Kilo, bei eins siebenundachtzig Körpergröße überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Okay, neue Hemden und Hosen hat er sich letztens kaufen müssen, weil die alten zu weit geworden sind, aber sonst …
»Bist aber nicht … krank, oder?«, flüstert sie fast.
Er seufzt. »Nein, Mama. Wir trainieren halt viel, die Franzi und ich, für …«
»Jaja, für diesen Triathlon. Aber wie wollts ihr denn dort überhaupt antreten, wenns vorher schon verhungert seids? Kocht die Franzi so schlecht?«
Jetzt darf man der Mama nicht böse sein. Sie ist’s halt so lange gewohnt gewesen, für den Arno zu kochen, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, der Bub könne sich auch ganz allein versorgen. Außerdem steht für sie als Pizzabäckerin a. D. das Essen so weit oben in der Bedürfnispyramide, dass man die Sticheleien nicht persönlich nehmen darf. Deshalb sagt der Arno nix, auch weil ihm nix Gescheites einfällt außer langkettigen Kohlenhydrat-Paraden, von denen die Mama ganz sicher nix hören will.
»Ich werd dich schon wieder aufpäppeln«, droht sie und lacht. Und wenn sie lacht und der Arno den Strahlenkranz um ihre Augen herum sieht, dann kann er ihr sowieso für gar nix mehr böse sein.
»Ich nehm deinen Koffer«, sagt er, hebt ihn hoch und staunt, weil: schwer. SCHWER. »Was hast du denn da drin? Deine Pizzasteine?«, scherzt er und zerrt das Ungetüm die breiten Stufen zum Hoteleingang hoch.
»Du weißt doch, dass ich nicht mehr im Da Silvio koche«, erinnert sie ihn daran, dass sie neuerdings hauptberuflich die Frau an Lorenzo Romanos Seite ist, an Lorrrenzo Rrromanos Seite, vorzugsweise in dessen Ferrrrrari.
»Was hast du denn mitgenommen? Sind doch nur drei Nächte!«, wundert er sich weiter.
»Ja, mein Gott, Eislaufschuhe halt und Winterzeug. Wo sind denn deine überhaupt?«
»Was, meine?«
»Eislaufschuhe!«
»Brauch ich nicht.«
Sie reißt die Augen auf. »Du kommst zum Eisfestival von Maria Schnee ohne Eislaufschuhe? Ja, sag einmal, Bub, wo willst du die denn bis zum Abend herbekommen?«
»Brauch ich nicht«, wiederholt er bloß.
»Aber es sind doch bestimmt schon alle verliehen und ausverkauft hier!«, wird sie ihm fast ein bissl zu penetrant mit ihren blöden Eislaufschuhen, aber auch das schluckt er hinunter. Und schon gleiten die Glastüren des Vier-Sterne-plus-Hotels Bergkristall auseinander. Die beiden Neuankömmlinge empfangen gedämpftes Licht, erfrischendes Raumparfum und ein schwerer roter Teppich, an dessen Ende die Rezeption liegt, hinter welcher eine ziemlich attraktive Rezeptionistin auf sie wartet – eine sehr attraktive sogar.
»Ist er gekommen, der Bub?«, fragt diese die Mama und zwinkert ihr zu, und der Arno realisiert, dass die Marina hier drinnen schon einmal ein bissl vorgefühlt haben muss, während er noch auf der Anreise war. Wieso sie ihren Betonkoffer dann nicht gleich hier hat stehen lassen, ist ihm ein Rätsel.
»Ja, da ist er, der Bub«, rutscht dem Arno heraus, und wie er der jungen Frau im Dirndl so in die blauen Augen schaut, verschlägt’s ihm glatt die Sprache.
Kurz scheint ihr etwas Freches auf der Zunge zu liegen, aber sie schluckt es herunter, senkt ihren Blick auf den Bildschirm und legt ihre langen, dünnen Finger auf die Tastatur. »Wie war der Name noch mal?«, fragt sie die Mama.
»Rrromano«, rollt die Mama das R, dass es dem Arno bald die Zehennägel aufringelt.
»Ja … die Kristallsuite, für drei Nächte.«
»Genau. Mein Mann … ich meine … mein Freund, Herr Rrromano, ist leider in Mailand unabkömmlich, also begleitet mich mein lieber Sohn«, sagt die Mama ein bissl hektisch und auch ein bissl stolz, dann zwinkert sie den Arno an und bedeutet diesem kopfnickend, auch was zu sagen.
»Bussi«, fällt ihm bloß ein, und er beeilt sich zu sagen: »Arno Bussi. Brauchen S’ meinen Pass … Rosa?«, liest er von ihrem Schild ab. Rosa. Schöner Name eigentlich.
Sie grinst schelmisch. »Das wird glaub ich nicht nötig sein. Und Ihr Vorname, bitte?«, fragt sie die Mama.
»Marrrina«, säuselt sie, dass man gleich den Refrain weitersingen möcht.
Die Rezeptionistin tippt wieder und beißt sich dann in die Unterlippe. »Ich habe zur Buchung leider weder die Namen Arno noch Marina Bussi vorliegen«, sagt sie betreten. »Herr Romano wird also gar nicht kommen? Nur zur Sicherheit, weil …«
»Marianne«, fällt ihr die Mama ins Wort, ganz ohne rollendes R und Singsang. »Marianne Bussi.« Wie um ihren Anspruch zu untermauern, zückt sie ihr Portemonnaie und zeigt der Rosa ihre goldene Kreditkarte.
»Moment … Ach ja, Marianne, jetzt habe ich Sie.«
Der Arno hört etwas aus Mamas Mund, das sich wie »dieser Schuft« anhört. »Wo ist das Schwimmbad?«, fragt er schnell.
»Das Schwimmbad?«, staunt die Rosa, als hätte der Arno sie nach dem kürzesten Weg zum Taj Mahal gefragt.
»Das Fünfundzwanzig-Meter-Becken«, konkretisiert er.
»Da müsst ich erst nachfragen, ob das heute …«
»Was willst du denn im Schwimmbad?«, empört sich die Mama.
»Ja, äh – ich mein, schwimmen halt«, stammelt der Arno herum und ärgert sich über sich selbst. Schwimmen wird er wohl noch dürfen! Also schaut er kurz böse, worauf die Mama zum Glück nix mehr sagt.
Die Rosa telefoniert derweil. »Heute ist es tatsächlich leider ungünstig«, sagt sie anschließend, »wegen des Festivals wird unser Personal draußen gebraucht. Bis auf den Wellnessbereich hat leider alles geschlossen.«
»Auch das Fitnesscenter?«
»Leider.«
»Gibt’s vielleicht ein Schwimmbad im Wellnessbereich?«, fragt der Arno missmutig.
Die Rosa schüttelt ihre entzückenden hellbraunen Locken und sagt: »Nur den Whirlpool.«
»Mhm«, brummt der Arno, der sich lieber nicht vorstellt, wie er im Whirlpool zu kraulen beginnt.
»So kommst du wenigstens einmal zum Erholen und Genießen. Schadet dir überhaupt nicht, so verhungert wie du bist!«, sagt die Mama. »Wann gibt’s Abendessen?«
Die Rosa nickt, als erinnere sie sich gerade an etwas Wichtiges, das sie vergessen hat. »Genau. Das ist heute früher, wegen der Festivaleröffnung. Achtzehn Uhr dreißig. Um zwanzig Uhr geht’s dann los, direkt vor der Tür draußen.« Und, an den Arno gerichtet: »Nicht verpassen!«
Er runzelt die Stirn und beeilt sich, ein Lächeln nachzuschieben.
»Hier, die Zimmerkarten. Zwei reichen?«
Synchrones Kopfnicken.
»Dann angenehmen Aufenthalt!«
Ein Stündchen oder zwei später haben sie ihre Kristallsuite ausreichend bestaunt, sich auf die Zimmerverteilung geeinigt – natürlich kriegt die Mama das große –, ihr Gepäck verstaut, sich ein bissl ausgeruht und für den Arno Eislaufschuhe besorgt, ohne die die Mama keinen Seelenfrieden gefunden hätte. Praktischerweise hatte das Sportgeschäft dieses Vier-Sterne-plus-minus-ein-Schwimmbad-Saftladens Eishockeyschuhe in Arnos Größe zum Verleih. Bei der Gelegenheit hat sich die Mama auch gleich in ein Täschlein verliebt – Modell: so klein und schon so teuer – und ihre Kreditkarte gleich ein weiteres Mal gezückt.
»Geht auf den Lorrrenzo«, hat sie verschwörerisch zum Arno gesagt. Wenn man will, dann kann man die Mama und ihre plötzliche Freude am Materiellen durchaus verstehen. Dreißig Jahre lang war sie die Pizzabäckerin im Da Silvio in Schwaz, nicht weit von der Erdgeschosswohnung entfernt, in der der Arno groß geworden ist. In all den Jahren hat sie wohl Zigtausende Pizzateiglinge geknetet, gewalkt, belegt und gebacken, und die Menschen kamen von weit her, um Mamas legendäre Pizza zu genießen. Jahr für Jahr gingen die Geschäfte besser, aber die Lorbeeren hat immer der Silvio eingesteckt. Zwar hat er die Mama nicht schlecht bezahlt, aber eben auch nicht so gut, als dass sie als Alleinerziehende locker über die Runden gekommen wäre. Und dann kommt eines Tages nicht der reiche Onkel aus Amerika, sondern der reiche Cousin vom Silvio aus Mailand nach Tirol, auf seinem edlen Ross aus dem Hause Ferrari, sieht die Marina und verliebt sich quasi aus dem Stand, und wenn sie nicht gestorben sind, so …
Oder so ähnlich. Jedenfalls ist’s logisch, dass die Marina eine helle Freude daran hat, endlich einmal nicht mehr aufs Geld schauen zu müssen.
»Auf uns!«, sagt sie beim Abendessen und hält dem Arno ihren Weinkelch entgegen.
»Und den Lorenzo«, erinnert dieser an den Sponsor der ganzen Geschichte.
»Und den Lorenzo«, echot die Mama, nippt am Wein und beugt sich über ihren Hirsch, während der Arno lieber das Vegetarische genommen hat. Penne mit Spinat.
»Wie ist das jetzt eigentlich mit der Franzi und dir?«, fragt sie ansatzlos.
Er schluckt. »Wie?«
»Ja – wie halt? In deinem Alter war ich längst …«
»In deinem Alter?«
Sie kapiert zum Glück selbst, dass ihre eigene Lebensgeschichte nicht unbedingt als Vorbild für den Arno dienen sollte, auch wenn sie gar nix dafür kann, dass ein gewisser Enrico Bussi sie knapp nach Arnos Geburt im Stich gelassen hat und seither wieder auf Sardinien lebt, wo er gerne bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bleiben kann, wenn’s nach dem Arno geht. »Jedenfalls …«, druckst sie herum.
»Ich weiß es noch nicht«, kommt er ihr zu Hilfe. »Wir kennen uns ja noch nicht so lang. Momentan sind wir eher so was wie … Trainingspartner.«
»Aber gefallen tät sie dir schon.«
»Ja … schon.«
Fast klingt’s jetzt, als wär die Franzi für den Arno ein Plan B, für den Fall, dass kein Plan A mehr ums Eck kommt. Dabei stimmt das überhaupt nicht, aber mit der Mama darüber zu reden, fällt dem Arno viel schwerer als früher. Wahrscheinlich hat sich die räumliche Trennung inzwischen auch auf das berühmte Mutter-Sohn-Verhältnis ausgewirkt.
Eine Weile essen sie schweigend weiter. Dann sagt die Mama, schon wieder ansatzlos: »Der Rosa von der Rezeption hast du gefallen. Hab’s genau gesehen.«
»Du, glaubst du nicht, wir sollten langsam …«, sagt er schnell und schaut demonstrativ auf seine Sportuhr, »Nachtisch wird sich wohl keiner mehr ausgehen, leider.«
»Du liebes bissl!«, erschrickt die Mama nach einem Blick auf ihre eigene Uhr. »Das wird aber knapp. Komm, schnell, wir müssen noch unsere Eislaufschuhe holen«, sagt sie und eilt ganz unelegant aus dem Restaurant hinaus.
Der Arno rennt hinterher und wirft einen Seitenblick zur Rezeption. Von der Rosa keine Spur. Dafür geht’s in der anderen Richtung rund, draußen vorm Hotel nämlich, wo die Scheinwerferkegel aufgeregt tanzen und dumpfe Partymusik bis ins Foyer des Hotels Bergkristall hereindringt.