Phillip P. Peterson
Vakuum
Roman
FISCHER E-Books
Phillip P.Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen schrieb er für einen Raumfahrtfachverlag. Transport war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit Paradox gewann er 2015 den Kindle Storyteller-Award. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C.Clarke und Larry Niven.
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Der neue Science-Fiction-Thriller aus der Feder des Bestseller-Autors Phillip P.Peterson.
Die Physikerin Susan Boyle überwacht im antarktischen Winter ein Neutrino-Teleskop. Sie empfängt ein starkes Signal aus der Richtung eines nahen Sternhaufens, kann aber nichts Außergewöhnliches erkennen. Bis nach und nach immer mehr Sterne am Himmel verschwinden.
Der Astronaut Colin Curtis bereitet sich im Mondorbit auf seine Landung vor. Aber das Manöver wird abgebrochen, als eine Astronomin seiner Crew ein außerirdisches Raumschiff entdeckt, das sich mit großer Geschwindigkeit unserem Sonnensystem nähert.
Es schickt eine Funkbotschaft an die Menschheit, die nur aus physikalischen Formeln besteht, bevor es -offensichtlich auf der Flucht- davonrast. Nach und nach wird den Wissenschaftler*innen klar: Aus den Tiefen des Raums kommt etwas auf uns zu. Etwas so Gewaltiges, dass es die Erde in ihren Grundfesten erschüttern wird.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 Peter Bourauel
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
© 2020S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114 D-60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Covergestaltung und -abbildung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung von Shutterstock/keren-seg
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491296-7
V minus 27 Monate
»Susan! Wir haben ein starkes Signal aufgefangen.«
Susan blickte auf die Nachttischuhr, sah aber nur einen leuchtenden, roten Nebel. Sie blinzelte, bis sich der verschwommene Fleck in eine Reihe von Ziffern verwandelt hatte. Ihre Hand zitterte und beinahe hätte sie den Telefonhörer fallen lassen.
Gerade mal halb drei.
Draußen war es stockdunkel. Aber das war es schon seit zwei Monaten.
»Susan, hast du verstanden?« Tims Bariton vibrierte vor Aufregung.
Susan tastete in der Dunkelheit, bis sie den Schalter der Nachttischlampe gefunden hatte. Die plötzliche Helligkeit zwang sie, die Augen wieder zu schließen. »Ja, ich habe verstanden«, krächzte sie. »Gib mir einen Augenblick, bitte.«
Sie schlug die Bettdecke zur Seite und richtete sich auf, bis sie auf der Bettkante saß. Obwohl die Temperatur in ihrem Raum mindestens zwanzig Grad betrug, fröstelte sie. Mit den Händen fuhr sie über die Gänsehaut auf ihrem Oberschenkel. Es fühlte sich unangenehm an, aber die Kälte sorgte immerhin dafür, dass sie die letzten Reste des Schlafs abschütteln konnte.
Nun gut, Tim hatte diese Nacht Bereitschaft. Der Computer hatte ein Signal entdeckt und ihn zuerst geweckt. Der fünfundzwanzigjährige Doktorand hatte schon einige Monate Erfahrung in der Station, und er würde sie nicht wegen eines zufällig eingefangenen kosmischen Neutrinos wecken. »In Ordnung, Tim. Erzähl mir von dem Signal.«
»Es ist nicht nur eines.« Tims Stimme überschlug sich fast. »Wir haben sieben Neutrinos in den letzten fünfzehn Minuten detektiert. Alle aus derselben Richtung.«
Susan wurde schlagartig hellwach.
Sieben.
»Gib eine Vorwarnung über den Computer raus. Ich komme sofort.« Sie beendete das Gespräch, legte den Hörer auf den Nachttisch und sprang auf. Ihr Kreislauf sackte für einen Moment weg, und sie musste sich an der Wand festhalten. Als der Schwindel vergangen war, griff sie ihre Hose, die sie am Abend achtlos über den Metallstuhl geworfen hatte. Den Pulli zog sie einfach über ihr Nachthemd. Sie eilte in das winzige Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich das kühle Nass ins Gesicht. Im Spiegel betrachtete sie ihre blasse Haut, die seit zwei Monaten kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte.
Wenn die Neutrinos alle aus derselben Richtung kamen, dann konnte es nur einen Grund dafür geben.
Eine Supernova.
Und sie musste verdammt nah sein.
Susan verließ die Nasszelle, zog die Schuhe an, öffnete die Tür und trat in den Gang, der zu dieser Zeit nur schwach beleuchtet war. Eilig lief sie den langen Korridor des Wohntrakts hinunter, bemühte sich aber, nicht zu viel Lärm zu machen, da der Wohnkomplex ziemlich hellhörig war.
Eine Supernova in der kosmischen Nachbarschaft würde ihren Namen mit einem Schlag bekannt machen. Die Entdeckung wäre unter ihrer Aufsicht geschehen und sie würde das Recht haben, die Pressekonferenz zu geben. Sie würde garantiert eine Festanstellung bekommen und vielleicht sogar eine Professur. Die ganze Mühe, die Entbehrungen, der mehrmonatige Aufenthalt an diesem finsteren Ort, fernab von Freunden und Familie, hätte sich gelohnt.
Susan öffnete die Feuerschutztür zum Treppenhaus. Den Fahrstuhl ignorierte sie wie immer und nahm zwei Stufen auf einmal, obwohl sie sich dabei schon einmal ganz gehörig auf die Nase gelegt hatte.
Der Überwachungsraum ihres Experiments war im Untergeschoss der Basis untergebracht, am Ende eines langen Ganges.
Mit einem Ruck riss Susan die Tür auf und stürmte in den Raum, der die Größe einer Besenkammer hatte, die Wände von Konsolen und elektronischen Instrumenten bedeckt. Die Deckenbeleuchtung war heruntergedimmt, die Bildschirme sorgten alleine für genügend Licht.
»Wir haben nach unserem Telefonat noch zwei weitere aufgefangen.« Tim machte sich nicht die Mühe, den Blick vom Bildschirm zu heben. Susan stellte sich hinter ihn und schaute über seine Schulter.
Sie betrachtete abwechselnd das Histogramm und die Kurven des Spektrums. Die Apparatur gab ein Piepsen von sich und ein weiterer Balken erschien auf der Skala.
»Noch eins.« Susan brachte kaum mehr als ein Flüstern hervor.
»Die Explosion muss verdammt gewaltig sein.« Tim wirkte beunruhigt.
»Oder verdammt nahe. Wie genau steht die Richtung fest?«
»Sehr genau.« Tim drückte eine der Funktionstasten seiner Tastatur. Die Histogramme und Energiekurven verschwanden und wurden durch eine Sternkarte ersetzt. Ein roter Kreis stand in der rechten oberen Hälfte. Groß war er nicht.
»Das ist im Sternbild des Stiers«, sagte Susan nach einem Blick auf die Koordinaten.
Tim stieß einen spitzen Pfiff aus. »Da wird doch nicht Aldebaran hochgegangen sein?«
Susan schüttelte den Kopf. »Der rote Riesenstern geht zwar langsam seinem Lebensende entgegen, hat aber nicht genug Masse, um zu einer Supernova zu werden. Außerdem hat er auf der stellaren Evolutionsskala noch ein paar Millionen Jahre vor sich, bevor er sich in einen weißen Zwerg verwandelt. Kannst du bitte ein bisschen weiter hineinzoomen?«
Die Stelle vergrößerte sich, bis der Kreis fast den gesamten Monitor umfasste.
»Die Hyaden liegen im Zentrum des Kreises«, stellte Susan fest.
Es machte Sinn. Der offene Sternhaufen der Hyaden befand sich etwa hundertfünfzig Lichtjahre entfernt. Das war noch innerhalb der lokalen Blase und somit in galaktischem Maßstab in der Nachbarschaft der Sonne. Etwa vierhundert Sterne umfasste dieser Haufen. Wenn sich einer davon in eine Nova oder Supernova verwandelt hatte, dann konnte das die Ausschläge auf dem Bildschirm erklären. Der Kernzerfall würde genügend Neutrinos schaffen.
»Da, noch eins!« Tim zeigte auf den Bildschirm. Der Kreis wurde aufgrund der höheren statistischen Bestimmtheit abermals enger, den offenen Sternhaufen der Hyaden weiterhin im Zentrum.
»Damit wissen wir nun, dass im Bereich der Hyaden etwas astronomisch Bedeutsames geschehen ist«, sagte Susan. »Aber was?«
Sie wandte sich nach links zu der Kommunikationsanlage. Sie brauchten dringend Verbindung zu einem optischen Teleskop in Bereitschaft, besser noch zu zweien. Sie nahm ein Headset aus dem Regal und aktivierte die Bluetooth-Verbindung mit dem Server. »Wer hat Blick auf die Hyaden und Bereitschaft?«
Tim schob die Maus geräuschvoll über den Tisch. »Keck ist zwar grün, verliert aber in fünf Minuten die Sicht. Das GTC auf La Palma ist auch in Betrieb und in einer besseren Position. Als Radioteleskop ist Effelsberg in Deutschland online.«
»Schick beiden eine Meldung. Ich versuche, das GTC ans Telefon zu bekommen.« Susan suchte die Bereitschaftsnummer des Teleskops auf den Kanarischen Inseln. Sie schaltete den Anruf auf den Lautsprecher. Es tutete mehrmals laut, aber mehr geschah nicht.
»Wo sind die denn, verdammt?«, fragte Tim.
Susan trat von einem Bein auf das andere. Sie verfügten über ein eigenes optisches Teleskop, immerhin ein Cassegrain mit anderthalb Metern Durchmesser, aber da sich die Hyaden über der Nordhalbkugel befanden, nützte ihnen das herzlich wenig. Nur die Neutrinos durchquerten mühelos die Erde und vermochten einen Impuls in ihren Detektoren auszulösen. Sichtbares Licht konnte das leider nicht, darum waren sie auf das Bereitschaftsnetzwerk angewiesen. Genau dafür hatte man es vor ewigen Zeiten eingerichtet, damit eine kritische Entdeckung wie eine Supernova in kürzester Zeit bestätigt und von möglichst vielen Observatorien beobachtet werden konnte. Aber was nützte es, wenn der Operator, statt an seinem Arbeitsplatz zu sein, eine Zigarettenpause oder sonst was machte.
Es tutete immer noch.
»Ich werde wahnsinnig«, stöhnte Tim. »Hebt schon ab, ihr Idioten.«
Susan seufzte, trennte die Verbindung und suchte eine andere Nummer aus der Kurzwahlliste. »Wir werden zuerst mit Effelsberg reden.«
Diesmal hob auf der Gegenseite sofort jemand ab. »Effelsberg, Berger hier.« Den Astronomen kannte sie nicht.
Susan hatte insgeheim gehofft, Peter Franck vom Max-Planck-Institut für Radioastronomie in der Leitung zu haben. Sie beide hatten mal gemeinsam ein Seminar in Moskau besucht und sich gut verstanden. Tatsächlich waren sie nach einem wodkaseligen Abend zusammen in seinem Hotelzimmer verschwunden. Am nächsten Morgen war für sie beide klar gewesen, dass es nur ein One-Night-Stand gewesen war, aber dennoch hatte sie Peters charmante Art in guter Erinnerung.
»Hier ist Ice Cube 2«, sagte Susan geschäftsmäßig. »Wir haben ein starkes Neutrinosignal aus Richtung der Hyaden aufgefangen und bitten um Beobachtung.«
»Ach so, ja, wir haben die Meldung schon gesehen. Es wird einige Minuten dauern, bis das Teleskop in die korrekte Richtung geschwenkt ist.«
»Wir bleiben in der Leitung. Meldet euch, wenn ihr etwas sehen könnt.«
»Machen wir.«
Susan seufzte. Sie legte die Verbindung nach Effelsberg in die Warteschleife und wählte erneut La Palma an.
»Hoffentlich haben die endlich wieder ihren Arsch zurück auf ihre …«, begann Tim, da endete das Tuten abrupt.
»GTC, Pedro Olivares hier«, meldete sich atemlos eine dunkle Männerstimme. »Perdon. Ich hatte einen Anruf auf der anderen Leitung.« Das war sicher eine Lüge.
Susan biss sich auf die Lippen. Normalerweise hatte das Bereitschaftstelefon immer Priorität. Dieser Olivares sah das offenbar anders. »Also gut, Pedro. Wir haben eine Reihe von Neutrinoereignissen. In dieser Anzahl hatten wir das noch nie. Wir haben die Koordinaten schon in einer Meldung an euch geschickt. Bitte richtet euer Teleskop aus und schaut, ob ihr dort etwas findet. Mit Effelsberg haben wir bereits ein Radioteleskop.«
»Ich habe die Meldung aufgerufen und schwenke das Teleskop.« Olivares sprach Englisch mit einem derart starken spanischen Akzent, dass Susan ihn kaum verstehen konnte.
»Prima, danke.« Susan griff nach einem Stift, um eine Eintragung in das Logbuch zu machen.
»Ich sehe mir gerade die Koordinaten an«, plärrte Pedros Stimme aus dem Lautsprecher. »Die Hyaden? Sie vermuten dort doch nicht etwa eine Supernova, oder?«
Susan seufzte. »Zumindest stimmt die Richtung. Da sind wir uns sehr sicher.«
»Vielleicht aus einer Galaxis, die von uns aus gesehen hinter dem Sternhaufen steht.«
Susan schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass Pedro das nicht sehen konnte. »Das Ereignis, was immer es war, muss sehr nahe sein. Eine Supernova in einer anderen Galaxis könnte niemals eine derart hohe Zahl von Neutrinos in den Detektor getrieben haben.«
»Vielleicht haben Sie ja etwas völlig Neues entdeckt, eh?«
Susan musste kurz grinsen. Sie hätte nichts dagegen gehabt. Etwas völlig Neues wäre der erste Schritt zum Nobelpreis. Und den hatte schon lange keine Astronomin mehr gewonnen.
Es war ihr früher nie wirklich klar gewesen, dass man in der Experimentalphysik vor allem Glück brauchte, um erfolgreich zu sein. Denn was nützte der brillanteste Geist, wenn man einfach niemals eine Entdeckung machte, die man analysieren konnte?
Ein kurzes Piepen tönte aus dem Lautsprecher. Susan blickte auf die Konsole. Effelsberg meldete sich. Sie schaltete Berger mit in die Verbindung.
»Berger hier. Das Radioteleskop ist in Position.«
»Sprechen Sie«, bat Susan.
»Bei zehn Gigahertz auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Das muss aber nichts heißen. Ich schaue mir noch die anderen Frequenzen an.«
»Danke.« Susan war ein wenig ernüchtert, aber nicht enttäuscht. Nicht jede Supernova sendete Radiosignale aus.
»Hier GTC.«
»Sprechen Sie.«
»Nichts.«
Susan glaubte, sich verhört zu haben. »Bitte?«
»Ich sagte, hier gibt es nichts zu sehen«, wiederholte Olivares. »Ich habe die Hyaden auf dem Schirm. Von einer Supernova keine Spur. Der Sternhaufen schaut völlig normal aus.«
»Das kann nicht sein«, murmelte Tim und schüttelte den Kopf. »Ich habe schon wieder zwei Neutrinos detektiert. Beide wieder aus derselben Richtung.«
»Olivares, sind Sie sicher …«
»Ich habe Ihren Kollegen gehört. Es tut mir leid, aber durch das optische Teleskop gibt es nichts zu sehen.«
Susan ging rückwärts, bis sie mit den Oberschenkeln an den Bürostuhl stieß. Sie ließ sich darauffallen. Egal, was Berger und Olivares sagten, das war ganz und gar unmöglich! Es gab zwei Erklärungen: Entweder hatte Olivares recht und sie war auf ein völlig neues Phänomen gestoßen, oder ihre Anlage produzierte fehlerhafte Daten. »Was steht in dem Protokoll für eine nicht bestätigte Supernovakandidatin?«
Tim rollte mit seinem Stuhl an den Nebentisch und holte dort einen Ordner aus dem Regal. Er blätterte und fuhr dann mit dem Zeigefinger über die aufgeschlagene Seite. »Die Verstärkerelektronik überprüfen«, antwortete er und drehte sich zu ihr um. »Draußen im Detektorcontainer.«
Das hatte Susan befürchtet.
»Einer muss also rausgehen«, sagte Tim. »Soll ich das machen?«
»Nein, das ist meine Aufgabe«, erwiderte Susan. »Ich gehe raus.«
»Es sind minus sechzig Grad«, gab Tim nach einem Blick auf den Bildschirm zu bedenken.
Susan antwortete nicht und wandte sich um.
Ich hasse den Südpol.
»Houston, Beagle hier«, meldete Commander Colin Curtis an die Bodenkontrolle. »Crew ist bereit zur Triebwerkszündung.«
»Verstanden, Beagle, hier Houston. Sie haben Go für die Initiierung des Abstiegsorbits. Beginnen Sie die letzte Checkliste.«
Colins Blick traf sich mit dem seines Copiloten. Schon sehr bald würden sie gemeinsam auf der Mondoberfläche spazieren. Freddy ›Frost‹ Ferguson nickte knapp und wandte sich wieder den grün leuchtenden Anzeigen vor ihm zu. Die Bildschirme – um nichts anderes hatte sich Freddy zu kümmern. Colin blickte aus dem Fenster und flog die Landefähre, während Freddy ihn mit Informationen versorgte. Wenn beide den Job richtig machten, würde Freddy die Aussicht auf den Mond erst genießen können, wenn sie auf ihm gelandet waren. Colin wollte nicht mit ihm tauschen.
Freddy rief mit einem Tastendruck die Checkliste auf seinen Monitor. »Vorventile MMH und N2O4 offen.«
Colin legte die Schalter um. »Beide offen.« Er spürte eine leichte Vibration, als einige Meter unter ihm zwei Ventile den Weg für den Treibstoff freigaben und der Druck sich in den Leitungen aufbaute.
»Radaraltimeter an.«
Colin drückte den Knopf für den Höhenmesser. »Ist an.«
»Treibstoffvorrat mindestens 85 Prozent.«
Colin las die Anzeige ab. »Ist auf 92 Prozent.«
»Computermodul 92B laden.«
Colin tippte die Lettern auf der winzigen Tastatur des Bordcomputers ein. Ein Sternchen im Display bestätigte, dass das Landeprogramm im Speicher und betriebsbereit war. »92B geladen.«
»Checkliste beendet. Bereit für Triebwerkszündung, Commander.« Freddy wechselte die Anzeige auf seinem Display.
»Noch zwei Minuten und dreißig Sekunden bis DOI«, sagte Colin nach einem Blick auf seine eigenen Anzeigen. »Und hör endlich auf, mich Commander zu nennen!«
Er zögerte einen Moment und übergab dann die Steuerung der Landefähre an den Bordcomputer. Damit sie genau am berechneten Punkt der Mondoberfläche landeten, musste die Zündung auf den Bruchteil einer Sekunde exakt erfolgen. Kein Mensch war dazu in der Lage. Den Steuerknüppel vor sich würde er nur berühren, wenn irgendetwas schief lief.
Colin atmete tief durch und blickte aus dem Fenster. Achtzig Kilometer unter ihm befand sich die mit Kratern übersäte graue Mondoberfläche. Links erkannte er die zerklüftete Gebirgskette der Apenninen. Sie näherten sich auf ihrem Orbit schnell dem Meer der Ruhe, wo Neil Armstrong und Buzz Aldrin vor mehr als sechzig Jahren gelandet waren. Colins und Freddys Landestelle im Fra-Mauro-Hochland befand sich noch hinter dem Horizont. Wie würde es wohl sein, dort unten auf der grauen, staubigen Oberfläche zu stehen und in den Himmel zu blicken?
»Noch zwei Minuten bis zur Abstiegszündung«, verkündete Freddy.
Endlich war es so weit. Das anstrengende Studium auf der Testpilotenschule, das nervenaufreibende Astronautenauswahlverfahren, die lange Warterei auf den ersten Flug und das Zitterspiel, wer zu den wenigen im Korps gehören durfte, die auf dem Mond landeten. Jetzt würde sich die jahrelange anstrengende und oft frustrierende Arbeit auszahlen. Wenn er in zwei Wochen wieder zur Erde zurückkehrte, war er ein Mondspaziergänger, ein Held, ein lebender Mythos. Und Astronaut ›Cool‹ Curtis würde mehr Frauen abschleppen können als jemals zuvor.
»Alle Systeme grün«, meldete Freddy. »Noch zehn, neun, acht, sieben, sechs …«
Colins Hand näherte sich dem Abbruchschalter.
»Fünf, vier, drei …«
Colin drückte den Schalter nieder. Schlagartig schlossen sich die Vorventile des Fördersystems. Ein Alarm jaulte auf und rote Anzeigen blinkten auf der Konsole. Er deaktivierte das Signal und begann die Abschaltprozedur.
»Generalprobe erfolgreich«, meldete er Houston. Die Werte auf dem Display sahen alle gut aus. Colin wusste, dass das Raumschiff sie nicht im Stich lassen würde, wenn sie wirklich auf dem Mond landeten.
Nach und nach schalteten sie die Systeme der Beagle ab. Am Ende hatten sie fast fünf Stunden für die Generalprobe gebraucht, bevor sie die Luke zur Orbitalstation wieder öffnen konnten.
»Morgen geht’s richtig los«, sagte Freddy, der als Erster durch den engen Durchgang schwebte.
»Darauf kannst du dich verlassen, Alter.«
»Hauptsache, wir bauen nicht so eine Scheiße wie Roy und Dick.«
Colin verzog den Mund. Musste Freddy das jetzt ansprechen? Roy Hudson und Dick Jennings waren die vorherige Mission zur Oberfläche geflogen und hatten die Fähre mit einem Bein in einem verdammten Krater aufgesetzt. Das Gefährt hatte derart schief gestanden, dass Houston Probleme beim Rückstart von der Mondoberfläche befürchtet hatte.
Am Ende war zwar doch noch alles gut gegangen, aber ihre eigene Mission war wegen dieser Dummheit um fast zwei Monate verschoben worden, denn eine Untersuchungskommission sollte zunächst feststellen, wie so etwas trotz aller Vorsichtsmaßnahmen überhaupt passieren konnte. Was Colin anging, war Roy einfach nur ein völlig unfähiger Pilot. Ihm selbst würde so etwas nicht passieren. Er hatte bei der Navy seine Jets auf der Landefläche der Flugzeugträger stets mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks aufgesetzt. Und er wusste, dass er sich auf Freddy verlassen konnte.
Mit einem schnellen Handgriff schaltete Colin die Beleuchtung der Mondlandefähre aus und folgte seinem Kameraden durch die Luke in das Knotenmodul der lunaren Gatewaystation, die mit ihren zylinderförmigen, silbernen Komponenten einer Miniaturausgabe der Internationalen Raumstation ISS ähnelte.
Colin schwebte durch das Knotenmodul, an das neben der Mondlandefähre und der Orionkapsel für den Rückflug zur Erde auch ein kleines Teleskopmodul angedockt war, mit dem Wissenschaftsastronautin Judy Hoffman nach Kometen und Ähnlichem suchte. Allerdings war das Modul verlassen. Die hübsche Blondine war wohl mit Bordingenieur Terence Spencer im Habitatmodul.
Colin warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Essenszeit. Er stieß sich von der Wand ab und schwebte kopfüber in das Wohnmodul, das kaum größer als ein Campingbus war. Obwohl sie zu viert auf der Station arbeiteten, gab es hier nur zwei Schlafkabinen, die jeweils gerade mal die Größe eines kleinen Schranks hatten. Freddy und Terence hatten sich die Betten unter den Nagel gerissen. Aber das kümmerte Colin nicht wirklich, denn er schlief sowieso am liebsten in seiner Liege in der angedockten Orionkapsel, die etwas kühler als das Habitat war. Judy Hoffman hatte ihren Schlafsack einfach an der Wand ihres Teleskopmoduls festgemacht.
Terence saß am Tisch in dem kleinen Ess- und Küchenbereich am hinteren Ende des Habitats und war mit seinem Essen beschäftigt. Damit er nicht davonschwebte, hatte er sich mit einem Gurt am Stuhl festgemacht und das Essen auf dem Tablett mit Klettband an seinen Oberschenkeln befestigt. »Alles klar für morgen?«, fragte er und wischte sich ein Bröckchen Erbsenpüree aus dem Mundwinkel.
»Alles klar für morgen«, bestätigte Freddy, der sich ein abgepacktes Tablett aus dem Vorratsschrank holte. Colins Kamerad riss die Klarsichtfolie auf und zog sich an einem Handgriff zur Küche, wo Judy in dem kleinen Mikrowellenofen gerade ihr Essen zubereitete.
Colin hielt sich an der Modulwand fest und schwang elegant herum, bis er über einem der Hocker schwebte. Mit der Linken zog er sich nach unten. Auf dem Nebenplatz lag Judys gelbes Besteck, mit Magneten am Tisch gehalten. Colin griff nach dem Trinkbeutel, der daneben in einem Fach ruhte.
»Hey, Cool, das ist meiner«, protestierte Judy.
»Kannst dir einen aus meinem Schrank holen«, sagte Colin und grinste.
Judy verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Sie stieß sich von der Küchenzeile ab, schwebte zum Esstisch und ließ sich auf ihrem Hocker nieder. Sie hatten sich schon im Training andauernd gegenseitig geneckt und im Gegensatz zu einigen anderen Astronautinnen konnte sie über seine Frotzeleien lachen und hatte Phantasie genug, sich bei passender Gelegenheit zu revanchieren.
»Hey, Cool«, rief Freddy. »Hör mit dem Quatsch auf und sag mir lieber, was du essen willst.«
»Da müsste noch was mit Hühnchen sein, wenn du so freundlich bist.«
Freddy grunzte und zog ein weiteres Tablett aus dem Schrank.
Colin wandte sich wieder der blonden Wissenschaftlerin zu. »Hast du denn heute Erfolg gehabt?«, fragte er.
Sie nickte. »Ja, ich habe tatsächlich etwas entdeckt. Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob es ein Asteroid oder ein Komet ist. Ich tippe auf einen Kometen, denn es ist sehr schnell. Auf den Aufnahmen von gestern war es noch nicht da.«
Colin nickte lächelnd. Im Grunde genommen interessierte ihn der ganze Astronomiekram nicht sonderlich. »Scheint so, als hättest du dein Ziel erreicht.«
Judy lächelte zurück. »Vielleicht. Es wäre der erste Komet, der aus einem Mondorbit entdeckt wurde.«
»Und?«, fragte Colin schelmisch. »Nach wem wirst du ihn benennen?«
Judy lachte leise. »Ich werde ihn nicht benennen. Wie alle anderen aus dem Team kann ich Vorschläge einreichen und die IAU wird einen aus der Vielzahl auswählen.«
»Die IAU?«, fragte Colin.
»Die Internationale Astronomische Union«, erklärte Judy. »Aber dafür müssen wir das Objekt erst einmal katalogisieren und verifizieren.«
»Dein Essen, Cool«, sagte Freddy.
Colin blickte auf und nahm das Tablett, das ihm Freddy über den Tisch reichte. Er befestigte es mit Klettband an seinem Oberschenkel. Freddy schwebte zu seinem Sitz neben dem Ingenieur, der mittlerweile mit irgendwelchen Checklisten beschäftigt war. Obwohl Colin sich im Training gut mit ihm verstanden hatte, war Terence in den Tagen seit dem Start von der Erde immer schweigsamer geworden. Na ja, nicht für jeden gingen im Weltraum die Erwartungen in Erfüllung, aber das konnte Colin egal sein. Er wandte sich wieder der bezaubernden Blondine zu. »Bleibt es noch bei unserem Date heute?«
Judy blickte ihn für einen Moment irritiert an, dann schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir leid, Cool. Ich muss das neuentdeckte Objekt noch einmal beobachten. Vielleicht gelingt es mir, seine Umlaufbahn zu vermessen und etwas über die Zusammensetzung herauszufinden.«
»Das ist aber schade«, sagte Colin überschwänglich. »Mein letzter Abend mit dir, und du versetzt mich. Das werde ich dir nicht verzeihen.«
Sie grinste ihn an. »In einer Woche kommst du vom Mond zurück. Dann können wir den Filmabend sicher nachholen, bevor wir zur Erde zurückreisen.«
Er grinste zurück und tat so, als würde es ihn nicht sonderlich kümmern. Tatsächlich war er maßlos enttäuscht. Er hatte es sich so schön zurechtgelegt. Er hatte eine lustige Beziehungskomödie abspielen und aus seinem Geheimversteck einen kleinen Beutel mit Rotwein hervorzaubern wollen. Nach allen Regeln der Kunst hätte er sie umgarnt, bezirzt, zum Lachen gebracht und zuletzt seine Geheimwaffe ausgespielt: den alten Erotikthriller aus den Neunzigern. Sie wusste, dass er verheiratet war. Sie wusste aber auch, dass seine Ehe nur noch auf dem Papier existierte. Er war sich absolut sicher, dass es bei ihr geklappt hätte, denn Judy hatte auf seine Sprüche und Scherze genau die richtigen Signale gesendet. Er hätte die Luke des Teleskopmoduls zugezogen und es mit der blonden Astronomin in der Schwerelosigkeit getrieben, was er schon immer mal hatte ausprobieren wollen. Und jetzt kam dieser dämliche Komet dazwischen.
»Den Gesteinsbrocken kannst du doch morgen noch untersuchen, wenn Freddy und ich zur Mondoberfläche aufgebrochen sind«, sagte er wegwerfend.
Judy lachte. »Damit jemand mir meine Entdeckung wegnimmt? Auf der Erde haben sie die Bilder auch empfangen, und wenn irgendwer mit einem anderen Teleskop die Umlaufbahn zuerst bestimmt, dann werde ich mich für den Rest meines Lebens ärgern.«
»Wie lange wird die Untersuchung dauern?«, fragte Colin.
Judy zuckte mit den Schultern. »Einige Stunden vielleicht.«
Das war zu lange, um danach noch sein Programm abzuspulen. Er seufzte. »Na, vielleicht erlaubst du mir, dir dabei etwas Gesellschaft zu leisten.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Solange du mich nicht störst.«
Colin biss sich auf die Lippen.
Toll. Von einem Gesteinsbrocken ausgebootet.
»Ich möchte, dass du meine Frau wirst«, sagte Toma leise.
Pala konnte seinem Blick nicht lange standhalten und schaute zu Boden. Das hatte sie befürchtet. Sie hatten im letzten Zyklus einfach zu viel Zeit miteinander verbracht.
Dabei waren sie schon Freunde gewesen, seit sie klein waren. Pala hatte ihn immer gemocht, obwohl die anderen Kinder den schlaksigen, tollpatschigen Toma oft gehänselt hatten, wenn er mal wieder den Pfeil meilenweit neben das Ziel geschossen hatte oder zu feige gewesen war, einen Baum hinaufzuklettern. Aber sie hatte gewusst, dass der etwas ältere Toma trotz seiner Ungeschicklichkeit ein blitzgescheiter Junge war. Im Unterricht hatte er neue Dinge meist sofort verstanden, während Pala und die anderen häufig Schwierigkeiten hatten, dem anspruchsvollen Sanes zu folgen. Es war kein Wunder, dass die Ältesten Toma zum Nachfolger des Proffes’ auserwählt hatten. Während die Schule für Pala in diesem Zyklus zu Ende gegangen war, bekam Toma nun so mysteriöse Fertigkeiten wie Lesen und Rechnen vermittelt, die nur der Proffes beherrschte.
Und dennoch war Toma für Pala immer nur ein Freund gewesen. Selbst, als vor wenigen Zyklen Jungen und Männer für sie interessant geworden waren. Sie schätzte die tiefschürfenden Gespräche mit ihm und dass er sich für den Stoff in der Schule genauso interessierte wie sie. Aber in der letzten Zeit wurde es immer offensichtlicher, dass er sich von ihr etwas ganz anderes erhoffte. Er hatte sie vermeintlich unabsichtlich berührt oder war ganz nah an sie herangerückt, wenn sie sich unterhalten hatten. Sie war nicht darauf eingegangen, hatte ihn aber auch nicht klar abgewiesen.
So konnte es nicht weitergehen. Pala musste ihm deutlich machen, dass sie nichts für ihn empfand. Dass sie sich keine Zweisamkeit mit Toma vorstellen konnte. Er durfte sich nicht weiter umsonst Hoffnung machen. Sie musste ehrlich zu ihm sein.
Toma griff nach ihrer Hand, doch Pala zog sie weg und blickte ihrem Freund in die Augen.
Er schluckte, ahnte nach ihrer Reaktion offensichtlich, was sie nun sagen würde. »Du willst mich nicht.« Seine Stimme klang anklagend.
»Ich habe dich gern, Toma«, erwiderte sie. »Und ich bin gern mit dir zusammen. Aber ich liebe dich nicht.«
Toma blickte sie an. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Warum nicht? Warum bin ich dir nicht gut genug?«
Er konnte sie doch nicht verurteilen, weil sie ihn nicht liebte! Oder doch? Vielleicht hatte sie ihm durch die viele Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, das Gefühl gegeben, ihn zu begehren. Was hatte Sanes einmal im Unterricht gesagt? Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen haben ihre Tücken. Und der Proffes hatte wohl recht. Pala atmete tief durch. »Es hat nichts damit zu tun, dass du mir nicht gut genug bist. Ich habe einfach nicht die Gefühle für dich, damit wir mehr als eine Freundschaft teilen können.«
»Aber wir haben doch immer so viel Spaß zusammen.«
Pala nickte. Das hatten sie wirklich. Aber das führte doch nicht unweigerlich zu einer Bindung! »Es tut mir leid, wenn ich falsche Erwartungen bei dir geweckt habe«, sagte sie leise. »Ich mag dich wirklich und ich würde dich gerne als Freund behalten, aber du musst dich damit abfinden, dass mehr einfach nicht sein wird.«
Toma presste die Lippen zusammen. Seine Augen schimmerten. Schließlich nickte er und stand auf. Langsam ging er in Richtung Dorf davon.
Pala hatte ihm nicht weh tun wollen. Das hatte sie wirklich nicht, aber manchmal verletzte man Menschen, auch ohne es zu wollen. Es würde schwer für Toma werden. Abgesehen von ihr hatte er nicht viele Freunde, und die meisten anderen Mädchen machten sich über ihn lustig. So viele junge Frauen gab es auf der Welt ja auch nicht. Pala verstand, warum Toma sich ausgerechnet in sie verliebt hatte. Sie war seine einzige Chance gewesen. Er hatte es gewusst und sie wusste es auch. Nun, da Pala ihn abgewiesen hatte, war für ihn jegliche Hoffnung, jemals eine Frau zu finden, dahin. Er würde für immer alleine bleiben. Ein angesehener Proffes irgendwann, ja, aber einsam. Er tat ihr unendlich leid.
Pala blickte über den See auf das gegenüberliegende Ufer, das auch schon ein gutes Stück weit oben im Himmel lag, und ließ ihren Blick weiter aufwärtsschweifen bis zu den entfernten Baumwipfeln auf der anderen Seite der Welt. Die Sonne brannte in den Augen, aber dennoch waren der Wald und der große Schlangensee gut erkennbar. Nur die windigen Hügel standen hinter der Sonne, so dass sie von hier aus nicht sichtbar sein konnten. Sie würde auf die andere Seite des Dorfes gehen müssen, um die Hügelkette zu erblicken. Auch der Südpol, das ihnen zugewandte Ende der Welt, ließ sich hinter den Wipfeln nur erahnen.
Irgendwann würde sie die Welt umrunden, so, wie ihr Vater es vor langer Zeit einmal getan hatte. Sie stand von dem Baumstamm auf und schaute in Richtung Dorf. Es wurde Zeit, zurückzukehren. Sie hatte noch viel zu tun, und der Aufbruch zum Ausweichlager rückte immer näher.
Langsam ging Pala zwischen den abgeernteten Feldern hindurch. Sie hatten von morgens bis abends gearbeitet, um die Ernte noch rechtzeitig einzufahren. Nur wenige Tage noch, dann würde hier alles unter Wasser stehen, wenn der See am Ende des Zyklus über die Ufer trat und die Felder und letztlich auch das Dorf überflutete.
Pala beschleunigte ihren Schritt. Von Toma war keine Spur mehr zu sehen. Er war entweder in das Dorf zurückgelaufen oder hockte jetzt irgendwo zwischen den Büschen am Rand der Felder und weinte. Wieder spürte Pala tiefes Mitgefühl für ihren Freund, aber Liebe ließ sich einfach nicht erzwingen.
Als sie zwischen einer Reihe Büsche hindurchtrat, sah sie endlich das Dorf, das aus einer Ansammlung Hütten bestand, die in lockerer Anordnung um den zentralen Dorfplatz errichtet waren und schnell abgebaut werden konnten, wenn das Ende des Zyklus nahte. Viele Familien hatten ihre Behausungen bereits demontiert, die Pfähle und die Tierhäute auf den Wagen hinter den Ochsen verspannt.
Pala eilte zwischen mehreren Hütten hindurch, die gerade abgebaut wurden, und winkte flüchtig Ged zu, der ihr grinsend entgegenkam. Sie erreichte schließlich ihre eigene Hütte, die sie sich mit ihrem Vater teilte. Er hatte bereits damit begonnen, die Felle von den Pfosten zu lösen. Ihre Habseligkeiten, die Decken und Tierhäute lagen säuberlich aufgeschichtet neben der Hütte.
Ihr Vater blickte auf, als sie neben ihn trat. »Ich hatte eigentlich früher mit dir gerechnet, nachdem du mir versprochen hast, diesmal beim Abbau zu helfen.« Er zupfte sein Wams zurecht und fuhr sich durch die früh ergrauten Haare. Sein breites Lächeln und der verschmitzte Blick ließen ihn dennoch fast jugendlich wirken.
»Tut mir leid, Mikel«, sagte Pala. »Ich hatte noch etwas Dringendes zu klären.«
Ihr Vater winkte ab. »Schon gut. Wir müssen uns nicht beeilen. Noch haben wir Zeit. Was war denn so wichtig?«
Pala schüttelte den Kopf. »Geht dich nichts an, Mikel.«
Er grinste. »Wenn du so reagierst, muss es mit einem Jungen zu tun haben. Wer ist es? Toma?«
Pala seufzte. »Ja, es hat mit Toma zu tun, aber nicht das, was du denkst. Bitte, frag nicht.«
»Schon gut, es geht mich ja auch wirklich nichts an.« Mikel hantierte an den Nähten, um zwei Häute voneinander zu lösen. »Kannst du mir bitte helfen? Ich bin heute nicht so geschickt.«
Sie blickte ihn an und runzelte die Stirn. Seine Hände zitterten, während er an den Fäden zog. »Ist alles in Ordnung?«
Mikel nickte. »Ja, alles bestens. Nur ein bisschen schwindelig.«
Erst jetzt fiel Pala auf, wie blass ihr Vater war. Er war es eigentlich die ganzen letzten Tage schon gewesen, aber wegen der Sache mit Toma hatte sie nicht ausreichend darauf geachtet. »Lass mich das machen«, sagte sie und schob Mikel sanft zur Seite.
Ihr Vater nickte dankbar und setzte sich auf einen großen Stein.
Pala löste die Häute von dem Gerüst ihrer Hütte, faltete sie und legte sie fein säuberlich nebeneinander, wie sie es als kleines Kind bereits von ihrer Mutter gelernt hatte. Mama! Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Die Wunden waren noch nicht verheilt. Sie presste die Lippen zusammen und zwang sich andere Gedanken auf, während sie ihre Arbeit fortführte.
Schließlich zerlegte sie zusammen mit Mikel das Gerüst und band die Pfosten mit Tiersehnen auf dem Wagen hinter dem Ochsen fest, den Staffa, Mikels bester Freund und Hüter der Herde, ihnen für den Marsch zum Ausweichlager geliehen hatte. Endlich waren sie fertig und begaben sich zum Sammelort in der Nähe des Ostpfades am Waldrand.
»Mikel und Pala«, hörte sie Geri, den Lagerwirt, mit einer Mischung aus Belustigung und Verärgerung rufen. »Mal wieder die Letzten.«
Pala blickte sich am Sammelplatz um. Das Gras war schon völlig niedergetrampelt. Der Lärm, vor allem der der Tiere, war ohrenbetäubend. »Jedes Mal am Ende des Zyklus der ganze Aufwand«, murmelte sie.
»So ist es eben«, sagte Mikel. »Mit der Zeit findet man sich damit ab.«
»Wenn wir nicht immer regelmäßig das Lager abbrechen müssten, könnten wir uns eine größere Hütte bauen. Wir könnten uns mehr Mühe geben, alles etwas schöner zu machen«, jammerte Pala.
»Leider geht das wegen der Flut nicht«, gab Mikel zurück.
»Warum lassen wir das Lager nicht einfach am Ausweichplatz?«
»Weil der Boden am See nun einmal am fruchtbarsten ist.« Pala erschrak, als sie die Stimme des Proffes neben sich hörte. »In der Tat sorgt die jährliche Überschwemmung dafür, dass Zyklus für Zyklus neue Mineralstoffe auf die Felder getragen werden, die dann als Dünger dienen.« Sie hatte Sanes bei dem Lärm nicht kommen hören. Er stand direkt neben ihr, in seinem typischen grauen Gewand und mit dem goldenen Halsschmuck. Seine langen grauen Haare waren unter einem schwarzen spitzen Hut verborgen. Pala ahnte bereits, was er von ihr wollte.
»Ich komme wegen Toma«, sagte der Proffes, der mit der Anstellung seines Lehrlings auch die Fürsorge für ihn übernommen hatte.
Pala hob abwehrend die Hände. »Ich habe ihn nicht verletzen wollen. Ich habe …«
»Keine Sorge«, erwiderte Sanes sanft. »Ich bin nicht hier, um dich zu tadeln. Ich wollte dir nur mitteilen, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst.«
Pala blickte Sanes abwartend an. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.
»Ich habe ihn von dir reden hören und bemerkt, wie er dich ansah«, sagte der Proffes. »Ich habe mich schon gefragt, wann ihr endlich die Sache klärt. Darum finde ich es gut, dass du das nun getan hast.«
»Du bist nicht böse, dass ich ihn abgewiesen habe?« Pala war erstaunt. Mikel hantierte neben ihr an seinem Rucksack, aber sie konnte sehen, dass er interessiert zuhörte.
Sanes schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand kann dich zwingen, seine Gefühle zu erwidern.«
Pala nickte langsam.
»Du wirst dich aber daran gewöhnen müssen, dass eure Freundschaft nie wieder so sein wird wie früher.«
Pala hatte genau das befürchtet. »Ich hatte gehofft, dass er sich irgendwann damit abfindet und dann wieder mein bester Freund ist.«
Sanes lächelte sanft. »Dieser Hoffnung solltest du dich nicht hingeben.«
»Los, wir wollen aufbrechen«, schrie die korpulente Asson, deren Kopf über dem Rücken eines Ochsen hervorschaute. »Die Spitze der Karawane ist schon losgezogen. Sanes, geh wieder nach vorne!«
Sanes nickte der Frau freundlich zu und wandte sich dann noch einmal an Pala. »Am besten geht ihr euch eine Zeitlang aus dem Weg. Das wird es vor allem für ihn einfacher machen.«
»Ich wollte ihm nicht weh tun«, wiederholte Pala.
»Mach dir keine Sorgen. Toma hat im nächsten Zyklus sehr viel zu lernen. Das wird ihn daran hindern, zu viel darüber nachzugrübeln.« Sanes drehte sich um und ging davon. Schon nach wenigen Augenblicken war er hinter mehreren Ochsen verschwunden.
»Soso, hat meine Tochter also jemandem den Kopf verdreht.« Mikel grinste.
»Ich kann doch auch nichts dafür«, seufzte Pala. Sie wollte eigentlich gar nicht mehr darüber nachdenken, geschweige denn darüber reden.
»Deine Mutter wäre stolz auf dich«, sagte ihr Vater mit Wehmut in der Stimme. »Sie war genauso schön, wie du es inzwischen geworden bist.«
Mama. Pala presste die Lippen zusammen. Ihre Mutter war nun schon seit sechs Zyklen tot. Und Palas Erinnerungen an sie verblassten immer weiter. Wie sehr sie sich wünschte, dass Mama noch lebte. Sie hätte so viele Dinge fragen wollen.
»Entschuldige.« Ihr Vater berührte sie sanft an der Schulter. Er musste genau wissen, wie sehr es sie jedes Mal schmerzte, an Mama zu denken. Mikel hatte sich irgendwie schneller damit abgefunden, dass sie nicht mehr da war.
»Geht ihr jetzt endlich los?«, schrie Asson wieder. »Ihr haltet den ganzen Zug auf.«
Pala blickte auf. Vor ihnen war eine große Lücke entstanden. Ihr Vater winkte entschuldigend und ging nach vorne zu dem Ochsen. Das Tier setzte sich bereits von alleine in Bewegung, ohne dass Mikel am Seil rucken musste.
Pala ging hinter dem Ochsen her, passte auf, dass die Ladung nicht verrutschte, als das schwere Tier nach links schwenkte, um den anderen am Waldrand entlang zu folgen.
Es ging nur langsam vorwärts. Bei Erreichen des Ausweichlagers würde die Sonne bereits heruntergedimmt sein. Wenn sie die Hütten wieder aufgebaut hatten, würde nur noch das Nachtlicht auf der gegenüberliegenden Seite des Himmels leuchten.
Aus der langgezogenen Kurve heraus erhaschte sie einen guten Blick auf den Anfang der Karawane, viele Dutzende Meter voraus. Sanes hatte vor einigen Tagen gesagt, dass 345 Menschen die Reise mitmachen würden. Es waren zehn weniger als im letzten Jahr, aber das hatte ihm keine Sorgen gemacht, da einige Frauen schwanger waren. Der Proffes legte Wert darauf, dass die Anzahl der Mitglieder ihres Stammes nicht unter eine gewisse Grenze fiel. Ebenso wenig durfte sie eine andere überschreiten. Sie hatten das Thema in der Schule besprochen, aber Pala hatte den Grund nie verstanden. Es hatte wohl mit einem Begriff namens ›Demographie‹ zu tun.
Pala fiel aus dem Augenwinkel auf, dass ihr Vater plötzlich seltsam ruckhaft ging. Er schwankte nach links, dann nach rechts und blieb stehen. Auf einmal kippte er langsam mit dem Gesicht voraus in den Matsch.
»Mikel«, schrie sie und rannte nach vorne. Sie stoppte den Ochsen am Zugseil, damit er nicht über ihren Vater trampelte. Dann ging sie in die Knie, drehte Mikel auf den Rücken und wischte ihm den Matsch aus dem Gesicht. Er röchelte. Speichel rann an seiner Wange herab und er zuckte rhythmisch wie in Trance. Nur das Weiße seiner Augen war zu sehen.
»Was habt ihr denn nun schon wieder?«, fragte Asson, die neben ihr aufgetaucht war.
»Schnell«, schrie Pala. »Hol die Medika. Hol Dorro.«
Mit dem dicken Parka, der mehrlagigen Unterwäsche, den schweren Stiefeln, der Mütze und der Gesichtsmaske kam sich Susan vor wie eine Astronautin. Ein Blick in den Spiegel stellte sicher, dass nirgendwo mehr nackte Haut zu sehen war. Erst dann öffnete sie die Schleuse nach draußen.
Sie trat hinaus auf die Schneefläche und zog die Tür an dem eisernen Griff hinter sich zu. Die Außentemperatur betrug fast minus sechzig Grad, und wenn sie keine Handschuhe getragen hätte, wäre ihre Haut an dem Metallgriff festgeklebt.
Trotz der Gesichtsmaske spürte Susan die eisige Kälte, die die dünne Luft mit sich brachte.
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um sich umzusehen, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Über ihr ragte die rechteckige Gebäudefront der Amundsen-Scott-Südpolstation auf. Die meisten der Gebäudeteile standen auf Stelzen, damit der permanent vom Wind herbeigewehte Schnee sie nicht langsam eingraben konnte. Aus einigen der kleinen Fenster fiel Licht, das aber nicht bis zum Boden kam. Nur die starken Scheinwerfer an den Ecken des Gebäudes erleuchteten das Eis im Umkreis von wenigen Dutzend Metern. Alles dahinter wurde von Dunkelheit verschluckt. Der Himmel war von dichten Wolken bedeckt und weder Mond noch Sterne oder Polarlicht spendeten Helligkeit, geschweige denn Trost.
Langsam stapfte Susan durch den Schnee. Ein auf dem Boden gespanntes Seil wies ihr den Weg zur Neutrinodetektoranlage. Sie wusste, dass die Batterien ihrer Taschenlampe bei der eisigen Kälte nicht lange halten würden und beschleunigte ihre Schritte.
Nur wenige Menschen der kümmerlichen Überwinterungsmannschaft verließen zu dieser Jahreszeit überhaupt die Station. Und dann, wie Susan, nur im Notfall.
Die Lichter im Rücken, arbeitete Susan sich weiter vor. Rechts von ihr stand die Kuppelkonstruktion der alten Südpolstation, die 2006 durch den Neubau ersetzt worden war. Etwas abseits davon befand sich der zeremonielle Südpol, eine kleine stabförmige Skulptur mit einer Kugel, von einer Vielzahl an Flaggen der unterschiedlichsten Nationen umstanden und im antarktischen Sommer regelmäßig ein Anziehungspunkt von Abenteurern, Extremsportlern oder besonders ehrgeizigen Politikern.
Mühsam stapfte Susan weiter durch den Schnee, während der eisige Wind ihr feine Kristalle ins Gesicht blies. Trotz der Brille und der Gesichtsmaske fühlte es sich an, als würden kleine Gnome sie mit Nadeln in die Gesichtshaut stechen, und ihre Bronchien brannten wie bei einer Inhalation mit verdampfter Salzsäure. Sie konnte nur hoffen, dass sich die Mühe lohnte.
Bis zu dem Container mit der Detektorelektronik waren es nur wenige hundert Meter, aber Susan hatte das Gefühl, dass sie bereits seit Stunden durch die Eiswüste wanderte.
Die Metalltür hatte sich in der Kälte verzogen und Susan gelang es nur mit Mühe, sie aufzuziehen. Sie stolperte ins Innere des von grüner Notbeleuchtung erhellten Raumes und zog die Tür hinter sich zu. Keuchend riss sie sich Brille und Maske vom Gesicht und atmete durch. Nach der Wanderung kam es ihr vor, als sei sie in ein tropisches Gewächshaus gelangt. Dennoch war es kühl im Detektorhaus, etwa um den Gefrierpunkt. Sie zog die Mütze ihres Parkas in den Nacken und fuhr sich durch das strubbelige Haar. Eiskristalle rieselten zu Boden.
Zwei schnelle Schritte brachten sie zum Funkgerät, das sie mit einem Knopfdruck aktivierte.
»Tim, hörst du mich?«, fragte sie in das Mikro.
»Ja, ich verstehe dich ausgezeichnet«, blökte Tims Stimme durch den Lautsprecher.
»Ich bin gut angekommen, hörst du?«
»Ist sicherlich kalt draußen, oder?«
Susan schnaubte. Was für eine blöde Frage. »Was Neues vom GTC oder Effelsberg?«
»Nein«, antwortete Tim. »Inzwischen hatte ich Kontakt mit der NASA. Sie richten das JWST aus.«
Susan nickte befriedigt. Das James Webb Space Telescope war als Nachfolger des Hubble das stärkste Weltraumteleskop der NASA. Außerdem konnte es den nahen Infrarotbereich beobachten. Wenn bei den Hyaden irgendetwas vor sich ging, dann würde das JWST es finden.
Andererseits war das Weltraumteleskop sehr teuer und üblicherweise Monate im Voraus verplant. Wenn die NASA es jetzt auf die Hyaden ausrichtete, dann musste gerade irgendein Astronom vor Wut kochen, weil seine Beobachtungszeit gestrichen worden war. Und wenn sich die Flut an Neutrinos als Störsignal herausstellte, dann könnte die Blamage für Susan kaum größer sein. Sie wäre auf Jahre das Gespött der astronomischen Gemeinschaft.
Also besser schnell für Gewissheit sorgen.
Zielstrebig schritt sie zu dem Schrank mit der Verstärkerelektronik, löste die Flügelschrauben und öffnete ihn.
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