Sue Moorcroft
Schneeflockenglitzern
Aus dem Englischen
von Sylvia Spatz
FISCHER E-Books
Sue Moorcroft ist SPIEGEL-Bestsellerautorin. In Deutschland geboren, verbrachte sie ihre Kindheit auf Malta und Zypern und lebt nun mitten in England. Ihr Roman »Winterzauberküsse« stand mehrere Wochen auf der Bestsellerliste in Deutschland. Auch in »Mistelzweigzauber« und »Wunderkerzenzauber« zeigt Sue Moorcroft, dass sie Weihnachten einfach zauberhaft findet. Neben ihren Romanen schreibt sie Kurzgeschichten, entwirft Kurse für die London School of Journalism und tritt als Bloggerin auf.
Sylvia Spatz übersetzt aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Für die S. Fischer Verlage hat sie unter anderem Agatha Christie und Roz Watkins ins Deutsche übertragen.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de
Lily Cortez wuchs in einer Patchworkfamilie in Cambridgeshire auf. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, doch jetzt möchte sie mehr über ihre Herkunft erfahren. Einer ihrer Halbbrüder betreibt ganz in ihrer Nähe einen Pub in Middledip. Kurzerhand bewirbt sie sich dort um einen Job.
Zwei Jahre lang schafft sie es nicht, ihrem Halbbruder Harrison zu offenbaren, wer sie wirklich ist. Stillschweigend geht sie ihrem Job als Teilzeit-Kellnerin nach und dem attraktiven Pub-Manager Isaac bald nicht mehr aus dem Kopf. Doch auch Lily wundert sich, warum sie nicht mehr aufhören kann, an Isaac zu denken. Als Harrison schwer erkrankt, reist er in die Schweiz, um sich bei seiner Familie zu erholen.
Wie es der Zufall will, führt Lily ihr zweiter Job als Designerin bald selbst in die Schweizer Berge, wo sie nicht nur einen weihnachtlichen Messestand entwerfen soll, sondern auch gleich mit dem Middledip-Chor englische Weihnachtslieder zum Besten geben kann. Zwischen Schneeflocken, Glühwein und Weihnachtszauber merkt Lily, dass ihre Gefühle für Isaac immer stärker werden. Doch schafft sie es, ihm ihre Liebe zu gestehen und das Geheimnis ihrer Familie endlich zu lüften?
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem
Titel »Let It Snow« bei Avon, HarperCollins, London
Copyright © Sue Moorcroft 2019
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Archiv www.buerosued.de und Getty Images (Frau)
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491321-6
Für Paul Matthews und
Hollie Clark Matthews
in jenem ganz besonderen Jahr.
Euer Glück macht mich glücklich.
»Was ist los, Mum? Warum weinst du?« Lily Cortez eilte über die Rasenfläche und kniete sich vor die schlanke Frau, die, den Blick auf ihr iPad gerichtet, in einem Gartenstuhl kauerte. Der kühle Oktobertag neigte sich dem Ende zu, das Licht war grau wie Stahl.
»Oh! Lily, du bist schon da? Wir hatten dich erst morgen erwartet.« Roma wischte sich über die tränenfeuchten Wangen und legte das iPad mit dem Bildschirm nach unten in ihren Schoß. Roma Martindale, eine passionierte Gärtnerin, war bei jedem Wetter draußen, auch heute werkte sie bei stürmischem Wind inmitten von Ziertöpfen, Kompost und Töpfen mit Veilchen.
»Ich habe die Reise von Spanien hierher von drei auf zwei Tage gekürzt, weil ich euch überraschen wollte.« Lily runzelte die Stirn. Die Augen der Mutter waren vom Weinen gerötet, und das kam wirklich selten vor. Lily kramte in ihrer Fleecejacke nach Taschentüchern und drückte sie Roma in die kalten Hände. Hier in Peterborough war es bestimmt zehn Grad kühler als in Barcelona, wo sie am Vortag im Morgengrauen aufgebrochen war, weg von ihrem spanischen Ehemann, der über das Ende der Ehe ebenso erleichtert war wie sie. Sie ließ ihrer Mutter Zeit, um sich die Nase zu putzen. »Bist du krank? Oder ist was mit Patsie?« Patsie, eine hochgewachsene selbstbewusste Anwältin mit seidigem schulterlangem Haar und am liebsten in einen dunkelblauen Hosenanzug gekleidet, war Romas Lebensgefährtin.
»Uns beiden geht es gut.« Roma schnäuzte sich erneut. »Sie hat ein Pro-bono-Mandat für ein Frauenhaus übernommen. Und ich dachte wirklich, dass du erst morgen kommen würdest, und so …« Wieder liefen Tränen über ihre Wangen.
»Hat jemand sich über dich und Patsie das Maul zerrissen?« Nicht jeder akzeptierte gleichgeschlechtliche Beziehungen. Sergio, Lilys Fast-Ex, hatte sich zum Beispiel nie damit abfinden können, dass Lily zwei Mütter hatte.
Roma schüttelte den Kopf und suchte an ihrem Taschentuch nach einem trockenen Zipfel. »Nein.« Sie tupfte sich frische Tränen weg.
Lily schluckte schwer, bevor sie etwas sagen konnte. »Bitte, Mum. Lass mich nicht länger raten und sag endlich, was los ist.« Ihr Blick fiel auf das iPad. »Hast du eine schlimme Nachricht erhalten?«
Roma umklammerte ihr Tablet und kniff die Augen zusammen. »Ich habe gerade nah am Wasser gebaut, tut mir leid. Der Anlass dafür liegt schon lange zurück.«
Mittlerweile war auch Lily den Tränen nahe. »Mir wird ganz angst und bange«, sagte sie leise. Was veranlasste ihre Mutter, sonst ein sonniges, fröhliches Gemüt, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen?
Roma nahm ihren Laptop in die eine Hand und stützte sich mit der anderen an Lily ab, um sich aus dem Stuhl zu erheben.
In der Küche war es warm und gemütlich. Roma hängte den Khakimantel, den sie zur Gartenarbeit anzog, an der Hintertür über einen Haken, schüttelte die Gummistiefel ab und setzte sich an den Tisch. Lily nahm neben ihr Platz. Der Bildschirm des iPad erhellte sich. Langsam drehte Roma ihn zu Lily hin. Eine Todesanzeige im Peterborough Telegraph.
Lily überflog die paar Zeilen. »Ein Typ namens Marvin ist gestorben, stimmt’s? Er war achtundsiebzig, mithin ein ganzes Stück älter als du.« Angeblich war dieser Marvin der geliebte Ehemann einer kurz zuvor verstorbenen Teresa gewesen, außerdem ein hingebungsvoller Vater und Großvater, und wurde von seiner Schwester Bonnie in schmerzlichem Andenken gehalten. »Ich hätte nie gedacht, dass du wegen eines Mannes Tränen vergießt.« Roma hatte in ihrem Erwachsenenleben aus ihrer Homosexualität nie einen Hehl gemacht, sie war eine selbstbewusste Lesbe und ihr Freundeskreis fast ausschließlich weiblich.
Roma, das Gesicht immer noch verheult, hüllte sich in Schweigen.
Lily durchfuhr ein Gedanke. »Mir fällt da nur ein einziger Mann ein. Du hattest ganz kurz was mit ihm, angeblich kanntest du nicht mal seinen Namen …« Sie sah ihrer Mutter in die Augen und las dort Sorge, Reue, tiefe Seelenqual. »War das damals vielleicht doch kein One-Night-Stand? Ist er mein Vater?«
Roma schluckte geräuschvoll und schüttelte den Kopf. »Ein einziges Durcheinander war das, eigentlich kennst du die Geschichte.«
Lily hatte das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. »Aber offenbar nur einen Teil davon! Nun sag schon, ich möchte doch nur verstehen, worum es geht.«
Roma sah sie beim Reden nicht an. »Patsie und ich wollten eine Familie haben. Sie war angestellt, erhielt Sozialleistungen für werdende Mütter, deine Schwester Zinnia wurde von einem anonymen Samenspender gezeugt, der übliche Weg also. Da packte mich der Neid, und ich wollte auch ein Baby.« Sie griff nach Lilys Hand, ihre Stimme wurde unsicher. »Patsie wollte nichts davon wissen, schon gar nicht vor der Geburt ihrer Tochter. Ich schlug mich damals als freiberufliche Fotografin durch. Wer sollte sich um euch Kinder kümmern? Auch das war zu klären. Und wenn eine Schwangerschaft, fand sie, dann nur mit Hilfe desselben anonymen Samenspenders und möglichst im gleichen Jahr, also 1983, damit die Kinder genetisch Geschwister sein würden. In meinen Augen war sie unerträglich pragmatisch.« Sie stieß ein verbittertes Lachen aus. »Ich hatte keinen One-Night-Stand, sondern eine ausgewachsene Affäre. Marvin war ein älterer Mann, dem es, wie ich damals naiv und rücksichtslos dachte, nichts ausmachen würde, dass ich ihn benutzte. Er hat nie erfahren, dass mir die Beziehung nur dazu diente, schwanger zu werden.«
In die Stille tickte laut die Küchenuhr über dem Herd. »Warum hast du mich immer angelogen, wenn ich dich nach meinem Vater gefragt habe?«, fragte Lily und empfand plötzlich unerwartet heftig den Verlust des Mannes, den sie nie kennengelernt hatte.
Roma erhob sich, griff nach einem Glas und füllte es mit Wasser aus einer Karaffe im Kühlschrank. Dann schlurfte sie zurück zu ihrem Stuhl. »Ich habe Marvin über einen Arbeitsauftrag kennengelernt – Porträts vom Führungspersonal für ein Inhouse-Firmenjournal. Er mochte mich und zeigte das auch. Und er konnte sein Glück nicht fassen, als ich, damals eine Frau Mitte zwanzig, auf seine Avancen einging.« Sie errötete. »Für jemandem in seinem Alter, Anfang fünfzig, war er fit und sah immer noch gut aus. In meinen Augen war er keine schlechte Wahl, außerdem hatte ich bis dahin nur Erfahrung mit Frauen.« Sie räusperte sich und sah Lily in die Augen. »Willst du das wirklich alles hören?«
Lily klopfte das Herz bis zum Hals. Sie nickte.
Roma strich sich ein paar blonde, vom Wind zerzauste Haarsträhnen hinter die Ohren. »Die Affäre hat fünf Monate lang gedauert, gerade so lange, bis ich schwanger wurde. Mit ihm Schluss zu machen, hat mir leidgetan, und zwar mehr, als ich gedacht hätte. Der arme Marvin war am Boden zerstört. Er sagte, er hätte sich in mich verliebt. Es stimmt, er hatte seine Ehe und das Glück seiner Kinder für mich aufs Spiel gesetzt. Er war fix und fertig, es war einfach schrecklich. An seine Familie hatte ich, ehrlich gesagt, keinen Gedanken verschwendet, ich war damals nur mit mir und meinen Plänen beschäftigt. Im Rückblick kann ich mein eigensüchtiges Verhalten kaum fassen. Und was Patsie angeht …« Romas Hände zitterten. »Meine Affäre hätte unsere Beziehung fast zerstört. Sie war so glücklich während ihrer durchgeplanten Schwangerschaft, und ich hatte sie die ganze Zeit betrogen.«
»Und ausgerechnet mit einem Mann«, flüsterte Lily schockiert.
Romas Lippen umspielte ein bitteres Lächeln. »Stimmt, dass es ein Mann war, hat die Sache nicht besser gemacht. Vor allem aber hatte ich ihr Vertrauen, ihre Pläne für unsere gemeinsame Zukunft verraten. Danach war es lange nicht einfach zwischen uns.«
Was sie da zu Ohren bekam, war ungeheuerlich, aber Lily sehnte sich vor allem danach, mehr über diesen einen Menschen zu erfahren. »Erzähl mir von meinem Vater«, bat sie, ihre Stimme klang heiser.
Romas Gesichtsausdruck hellte sich kurz auf. »Er leitete damals ein Unternehmen. Blond, immer glatt rasiert, im Anzug machte er eine gute Figur. Er war in seiner Art altmodisch, mochte klassischen Rock ’n’ Roll, Rugby, Tennis, Kino, Fernsehkrimis und Ferien in Amerika.«
Lily fühlte sich wie ausgehöhlt. »Ist dir damals eigentlich nie der Gedanke gekommen, dass er von meiner Existenz erfahren und die Chance hätte bekommen sollen, sich auch um mich zu kümmern?«
Roma stand wieder auf und schenkte sich etwas Filterkaffee ein. Ihr Tonfall war leise und beschämt, als sie antwortete: »Ich habe damals einfach keinen Ausweg gefunden, der allen Seiten gerecht geworden wäre. Es waren zwei Kinder unterwegs, und ich wollte unbedingt mit Patsie zusammenbleiben und sie gemeinsam großziehen. Dazu musste Patsie natürlich die volle Wahrheit erfahren, aber auch nur sie. Ich durfte nicht riskieren, dass Marvin von dir erfahren würde, oder du von ihm, denn dann wäre Patsie automatisch mit ihm konfrontiert gewesen.«
Lily starrte in die Tasse Kaffee, die die Mutter ihr hingestellt hatte, und ihr Magen rebellierte leicht.
Roma setzte sich und nahm sie in die Arme, verströmte den vertrauten Geruch nach frischer Luft und Gartendünger. »Ach, wenn du nur wüsstest, wie oft und wie lange wir darüber diskutiert haben! Aber jeder Ausweg, der mir einfiel, machte meinen Fehler nur noch schlimmer und hätte beide Familien, meine und seine, aufs Spiel gesetzt. Hättest du eines Tages die Wahrheit erfahren und daraufhin mit ihm Kontakt aufgenommen, wäre unsere gesamte Familie, also du und Zinnie, Patsie und ich, durcheinandergeraten. Hass mich nicht dafür, Lily! Du hast zwei Mütter und eine Schwester. Das sollte genügen, fand ich.«
»Und folglich hast du einfach über meinen Kopf hinweg entschieden, mich von seiner Familie fernzuhalten. Eine Seite meiner Familie.« Lily schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich innerlich wie ausgehöhlt, auch wenn sie die Entscheidung ihrer Mutter nachvollziehen konnte. »Wie könnte ich dich hassen, Mum. Das ist alles so typisch für dich … chaotisch und unüberlegt. Ich habe meinen Vater gefunden und ihn zugleich verloren, das ist einfach hart.« In ihren Augen glänzten Tränen.
Sie setzte sich langsam in ihrem Stuhl auf, zog das iPad zu sich heran und las die Todesanzeige noch einmal. Und fand etwas, das sie tröstete. Schweigend markierte sie den ersten von zwei Namen und tippte ihn in die Suchmaschine. Eine Liste von Suchergebnissen sprang auf, und sie klickte eines davon an. Was sie dort las, traf sie mitten ins Herz. »Schau her. Der älteste meiner beiden Halbbrüder, Harrison Tubb, leitet einen Pub, The Three Fishes, in einem Dorf namens Middledip.« Sie sah aufgeregt zu ihrer Mutter. »Es liegt hier in Cambridgeshire. Ich könnte ihn doch besuchen.«
Roma ließ sich mit einem entsetzten Stöhnen gegen die Lehne zurückfallen. »Oh, nein, Lily!«
November, zwei Jahre später
Lily ließ eine bunte Lichterkette durch ihre Finger gleiten und überlegte, ob die geeignet wäre, ihre Schwester zu erwürgen. Denn die brachte sie gerade zur Weißglut.
Zinnia hätte Lily eigentlich dabei helfen sollten, den Pub The Three Fishes zu dekorieren, aber bis jetzt hatte sie lediglich mit einer Handvoll Lametta herumgespielt und Lily die Ohren vollgequasselt. »Wir sind schließlich deine Familie!«, erklärte Zinnia und fuhr mit ihren Fingern durch das kastanienbraune Haar. »Mit deiner Aktion verletzt du die Gefühle von Patsie und Roma.«
Lily kletterte auf einen Barhocker und zog die Kette durch die Haken über dem Tresen. »Sie haben Verständnis dafür, dass das allein meine Entscheidung ist. Und das weißt du ganz genau, Zin. Lass uns nicht schon wieder mit dieser Diskussion anfangen.«
Aber Zinnia war nicht zu stoppen. »Genügen wir dir nicht? Wir haben als Kinder sogar unser Zimmer geteilt! Wir sind Schwestern …«
»Und du bist wirklich die tollste Schwester der Welt«, sagte Lily in der Hoffnung, Zinnia durch das Kompliment abzulenken. Sie sprang vom Hocker, zog ihn zum nächsten Abschnitt mit noch leeren Haken weiter, umarmte Zinnia kurz und kletterte wieder auf die Sitzfläche. »Du könntest doch schon mal die Efeugirlanden auf dem Kaminsims mit dem Lametta schmücken.«
»Lily!« Zinnia warf das Lametta auf den blankpolierten hölzernen Tresen. »Ich kenn dich genau! Ich bin doch in der gleichen Situation wie du und weiß genau, wie man sich fühlt, wenn die Leute einen schräg angucken, weil man aus einer Familie mit zwei Müttern kommt.«
»Stimmt«, sagte Lily versöhnlich. »Das haben wir gemeinsam. Aber das hier ist allein meine Angelegenheit, und genau das macht dir Probleme.« Lily hatte zwei Jahre zuvor das Dorf besucht, um ihren Halbbruder kennenzulernen. Am Ende hatte sie sich um einen Job in seinem Pub beworben, eine Bleibe gesucht – und war geblieben. Und das war Zinnia ein Dorn im Auge.
Zinnia ging nicht direkt auf Lilys Erwiderung ein, aber ihr Tonfall klang nun weniger angriffslustig. »Du hast deine Mission erfüllt und ihn kennengelernt. Jetzt solltest du ihn entweder über alles aufklären oder ihn in Ruhe lassen.«
Zinnia bezog sich auf Harrison Tubb, besser als Tubb vom Pub bekannt, und ihr wurde ganz übel bei der Vorstellung, dass er Lily zuvorkommen und alles herausfinden könnte. Lily, die sich mit ihrer Enthüllung offenbar alle Zeit der Welt ließ. Lily stieg vom Barhocker und strich Zinnia beruhigend über den Arm. »Eine Hälfte meiner Mission ist erledigt, die andere folgt im nächsten Monat«, sagte sie, und ihr Herz hüpfte vor Vorfreude bei dem Gedanken, dass es noch einen anderen Halbbruder gab, den sie kennenlernen wollte. »Du bist besorgt, dass ich unsere Familie im Stich lassen könnte, und das verstehe ich. Übrigens ist das nicht der Fall. Denn wo ich lebe oder mit wem ich Umgang habe, spielt in der Beziehung zu unseren Müttern keine Rolle. Wenn das Verhältnis zu euch leidet, dann nur, weil du alles dafür tust.«
Zinnia versuchte es auf eine andere Tour. »In dir steckt doch wirklich mehr, als in einer blöden Dorfkneipe zu arbeiten.«
»Das ist keine blöde Dorfkneipe.« Lily rückte ihren Hocker ein Stück weiter.
»Seit du vor zwei Jahren aus Spanien zurückgekehrt bist, hast du deine Zeit hier in diesem Nest verschwendet. Anscheinend willst du nicht länger in der Nähe deiner Familie leben …« Zinnia unterbrach sich, vielleicht hatte sie selbst gemerkt, dass ihre Argumentation widersprüchlich war. »Wir sind doch deine Familie, Lily«, schob sie erläuternd nach.
»Familien können auch verstreut sein.« Lily hängte das Kettenende über einen Haken und stieg vom Hocker, um ihr Werk zu begutachten.
Zinnias Blick wurde traurig. »Jetzt sag’s ihm schon endlich, dann hängt das Ganze nicht weiter wie ein Damoklesschwert über uns. Ich bin schon drauf und dran, es ihm selbst zu erzählen …«
»Das würde ich dir nicht raten. Ob und wann ich ihm reinen Wein einschenke, ist allein meine Angelegenheit.«
Lily gab sich alle Mühe, die leise Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. Ihr wurde siedend heiß klar, dass Zinnia ihren Besuch im Pub problemlos dazu nutzen könnte, Lilys Geheimnis auszuplaudern. »Die Art und Weise, wie ich das Ganze anpacke, mag dir nicht gefallen, aber hier geht es um mich.« Und nicht um dich, hätte sie anfügen können, unterließ es aber.
Bevor Zinnia etwas darauf erwidern konnte, ertönte vom Tresen eine Männerstimme. »Entschuldigung, dass ich unterbreche.«
Lily und Zinnia drehten sich überrascht um. Lily lachte künstlich. »Du hast mich aber erschreckt, Isaac. Das hier ist meine Schwester Zinnia. Sie hilft mir mit der Weihnachtsdekoration. Zin, das ist Isaac O’Brien, der Interimsmanager, den Tubb für die Zeit seiner Abwesenheit eingestellt hat.«
Isaac, dunkelbraune Augen, fast schwarzes Haar, einen kleinen goldenen Ring an einem Ohr, streckte Zinnia über den Tresen seine Hand entgegen. Sein Blick wanderte zurück zu Lily. »Ich wusste gar nicht, dass du heute Nachmittag kommen wolltest, um das zu erledigen.«
Lily errötete. Wahrscheinlich wollte er auf diese Weise höflich nachfragen, warum sie das nicht mit ihm abgesprochen hatte. So gut hatte sie ihn in den vergangenen zwei Wochen bereits kennengelernt. In seinem letzten Job hatte er in einer trendigen Bar gearbeitet, wo er Dutzende von Leuten unter sich gehabt und wahrscheinlich eine auswärtige Firma mit der Weihnachtsdeko beauftragt hatte.
»Janice hat mich darum gebeten, weil sie doch in der Schweiz ist. Normalerweise hängt der Weihnachtsschmuck bereits in den ersten Novembertagen, und heute ist schon der siebte … Ich war davon ausgegangen, dass entweder sie oder Tubb dich darüber informiert hat.« Janice hatte im Pub immer mehr oder weniger tun und lassen können, was sie wollte. Und seitdem sie und Tubb sich vergangenes Weihnachten zusammengetan hatten, hatte sie noch mehr zu sagen.
»Wir öffnen übrigens in weniger als einer Stunde«, mahnte Isaac.
»Stimmt genau.« Mein Gott, gerade eben hatten sie nach Mittag geschlossen, und jetzt war schon wieder Zeit für die Abendschicht, der ganze Nachmittag war wie im Flug vergangen. »Wir stellen keinen großen Weihnachtsbaum auf, sondern verteilen nur einige Bäumchen auf dem Tresen, und damit ist im Handumdrehen alles erledigt.«
»Danke.« Er lächelte sie an und ging dann »nach hinten«, wie sie jenen Bereich im Erdgeschoss nannten, in dem sich eine Garderobe, ein Putzschrank und das Getränkelager befanden. Außerdem gingen diverse Türen davon ab, zum Bierkeller, zur Küche, zum Parkplatz, zu den Toiletten für die Angestellten und zur Treppe in den oberen Stock. In einer Nische stand ein Schreibtisch mit Isaacs Laptop.
»Wow«, hauchte Zinnia und wackelte mit den Augenbrauen, als seine Schritte verklungen waren. »Der Typ ist ein echter Hingucker. Da kann Tubb nicht mithalten.«
Vor ihrem geistigen Auge sah Lily Tubbs Haartolle, die ihm immer in die Stirn fiel, und das typische Lächeln, bei dem die Mundwinkel sich nach unten verzogen. »Ja, Isaac ist sexy«, pflichtete sie ihr leise bei, während sie eines der Bäumchen aus einer Schachtel nahm. Ihr blieb weniger als eine Stunde, um den Pub für die Gäste herzurichten. Vielleicht hatte Isaacs Auftauchen wenigstens Zinnias Tiraden beendet. »Zuletzt hat er in einer coolen Lounge in Peterborough gearbeitet. Er hält sich zurück, aber er schafft es trotzdem, die Leute zum Arbeiten zu bewegen.«
Zinnia zwinkerte ihr vielsagend zu. »Mich könnte mühelos er zu allem Möglichen bewegen, das kann ich dir sagen …«
»Schhh!«, flüsterte Lily und hoffte inständig, dass Isaac die Unterhaltung nicht mitgehört hatte. »Du redest von meinem Boss! Und was ist mit George? Du hast schon einen Liebhaber!«
Zinnia grinste übers ganze Gesicht und zuckte mit den Schultern, offenbar hatte sie das Streitgespräch von eben vergessen. »Ich meine ja nur …«
Lily griff nach Zinnias Jacke und drückte sie ihr in die Arme. »Komm, ich lass dich durch die Hintertür raus. Ich bin nicht ganz sicher, ob Isaac so begeistert war, dich hier außerhalb der Geschäftszeiten anzutreffen.«
»Ich war doch noch nicht mit dem Lametta fertig«, protestierte Zinnia, während Lily die Tresenklappe öffnete und sie durchwinkte.
»Das mache ich schon.«
Zinnia blieb noch einmal kurz stehen. »Wie geht es Tubb eigentlich? Herzprobleme muss man ernst nehmen.«
Lily wurde sofort versöhnlicher. »Janice sagt, es geht ihm gut, aber er muss weiter aufpassen und den ärztlichen Rat befolgen, das heißt, viel Ruhe, kein Alkohol oder Fett und die Diät einhalten.« Tubb hatte seine Umgebung im Sommer in Sorge versetzt, weil er zeitweise schlecht Luft bekam und Beine und Bauch angeschwollen waren. Janice hatte dafür gesorgt, dass er ins Krankenhaus kam, aus dem man ihn mit einem Satz Medikamente entlassen hatte, die er täglich einzunehmen hatte.
Eine Weile waren sie ganz gut klargekommen. Er hatte sich bei der Arbeit im Pub im Hintergrund gehalten, und Janice übernahm die Hauptlast. Aber dann hatte der Arzt ihn gewarnt, er benötige eine Pause von der Siebzigstundenwoche und dem schweren Heben. Aber das war nun einmal der Alltag im Pub, und Tubb erklärte sich mit einer krankheitsbedingten Auszeit einverstanden. Zur gleichen Zeit hatte die schwangere Schwiegertochter von Janice in der Schweiz gesundheitliche Probleme bekommen. Kurzentschlossen waren Janice und Tubb in die Schweiz aufgebrochen und wohnten fortan bei Max, dem Sohn von Janice. Janice half ihrer Schwiegertochter mit den beiden anderen Kindern, und Tubb konnte sich ein paar Monate ausruhen.
Mittlerweile hatte Lily anderthalb Jahre Zeit gehabt, um den bärbeißigen Tubb ins Herz zu schließen, der stets über alles grummelte, aber seinen Pub und sein Dorf liebte. Harte Schale, rauer Kern, das war Tubb. Seine Beziehung mit Janice freute sie. Und sie vermisste beide, ihn und die fröhliche Janice, die nichts aus der Ruhe bringen konnte. Aber dank moderner Kommunikationsmittel war es ein Leichtes, den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Zinnia umarmte Lily zum Abschied und verließ bereitwillig den Pub, worauf Lily sich wieder der Deko zuwandte. Rasch hängte sie Kugeln an die Weihnachtsbäumchen.
Isaac tauchte wieder auf. »Eigentlich hätte Vita schon hier sein sollen, aber sie hat gerade angerufen. Ihr Mann kommt später nach Hause, und so muss sie sich weiter um die Kinder kümmern. Ich springe für sie ein.« Isaac füllte die Regale hinter dem Tresen auf und bereitete die Mixer vor. »Wirklich nett, dass du und deine Schwester die Dekoration übernommen haben. Ich hätte mich erkundigen sollen, wie das bislang gelaufen ist.«
Lily unterbrach ihr Aufräumen, in den Händen hielt sie Schachteln, an einem Arm hing eine Rolle mit Klebeband. »Letztes Jahr haben ich und Janice das übernommen.«
Er nickte auf seine typisch bedächtige Weise, sein Blick blieb unergründlich. »Soll ich dir Überstunden bezahlen? Wie hat Mister Tubb das gehalten?«
Lily musste lachen. »Mit Überstunden hat er es nicht so«, sagte sie freimütig. »Während der Weihnachtszeit sind Arbeiten wie Dekoration, Weihnachtslunch und die Lotterie Ehrensache. Aber er packt auch immer selbst mit an, und deswegen sind alle einverstanden.«
Er fuhr mit seinen Fingern durch sein glänzendes Haar, das sofort wieder in die alte Form zurückfiel. »Aber du hast doch auch noch dein eigenes Geschäft, oder nicht?«
»Ja, ich entwerfe und organisiere Messestände. Aber ich mag Weihnachten, deshalb macht mir das Dekorieren wirklich nichts aus.«
»Okay, danke.« Isaac war sowohl Gästen als auch dem Personal gegenüber entgegenkommend, offen und freundlich, aber wenn er sich unbeobachtet fühlte, wirkte er oft gedankenverloren. Und er war sexy, wie Zinnia so zutreffend festgestellt hatte.
»Übrigens ist er für niemanden hier Mister Tubb. Einfach Tubb vom Pub, oder Harrison, so nennt Janice ihn. Ein paar ältere Gäste reden ihn auch mit Harry an.« Darauf nickte er leicht, und Lily zwängte sich mit ihren Schachteln durch die Öffnung im Tresen, stellte sie ab, und saugte dann im Pub Lamettareste vom Teppich. Sieben Minuten bis zum Öffnen. Sie war gerade noch rechtzeitig fertig geworden.
Die Bar war bereit für den Abendbetrieb. Isaac hörte die Chefs in der Küche klappern, und Lily hatte soeben den Staubsauger weggestellt. Soweit er das Personal hier kennengelernt hatte, würde er mit Lily am einfachsten zurechtkommen: Sie war pünktlich, zuverlässig und hatte ein sonniges Gemüt. Aber sie konnte auch Kontra geben, das hatte sie vorhin bei der Diskussion mit ihrer Schwester bewiesen, zumindest so viel er davon mitbekommen hatte.
Er würde ihr die Arbeitszeit vergüten, die sie vorhin unaufgefordert aufgewendet hatte. Zumindest er, Isaac, hatte sie nicht darum gebeten. Janice hatte ja angeblich kein Problem damit gehabt, von Lilys Freizeit einfach etwas für den Pub abzuzwacken. Doch wenn er ehrlich war, konnte er sie nicht einschätzen. Als er seine Stelle angetreten war, war Janice gerade mit dem Umzug in die Schweiz beschäftigt gewesen. Zwei Wochen lag das jetzt zurück, und er fühlte sich immer noch fremd. Innerhalb von wenigen Monaten war in seinem Leben das Unterste zuoberst gekehrt worden. Gar nicht leicht, das vor der Umgebung zu verbergen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Er stand gerade am Safe, um Wechselgeld herauszuholen, als Vita atemlos hereingestürmt kam. Sie streifte rasch ihren Mantel ab und bat um Entschuldigung. Kein Problem, beschwichtigte er, korrigierte die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden auf ihrem Monatsplan nach unten und ging dann in den Gastraum. Offenes Kaminfeuer und dunkle Windsor-Stühle, alles ziemlich altmodisch, fand er. Er schaltete die Kasse ein und begann, das Wechselgeld für den Abend zu zählen, wie so oft in seinen diversen Jobs, zuletzt in der Juno Lounge.
Im Juno, einem schicken In-Pub in Peterborough, war er der Pächter gewesen und hatte eine Schanklizenz besessen. Der Pub servierte Frühstück und war anders als The Three Fishes ganztägig geöffnet, am Wochenende auch bis in die Nacht, weil es dort auch einen Raum für Partys gab. Von der ehemaligen Kapelle hatte er Teile der Originalbestuhlung belassen und sie um Sofas und ein geschmackvolles Sammelsurium von Stühlen erweitert, dazu überdimensionierte Glasleuchten, die von kunstvoll verzierten original viktorianischen Trägern aus Gusseisen herabhingen. Entstanden war eine gewagte Kombination von unterschiedlichen Stilen, die dem Pub etwas von dem Flair einer Fabrikhalle gaben.
Vorbei, Schnee von gestern, ermahnte er sich, aber da war sie sofort wieder, diese Traurigkeit, dass die Juno Lounge durch eine Verkettung von unglücklichen Zufällen nicht mehr existierte. Einrichtung und Ausstattung waren versteigert worden. Und draußen an dem Gebäude aus rotem Backstein hing wieder das Schild »Zu verpachten«.
Dass ihn keine Schuld an der Pleite traf, war kein wirklicher Trost. Ohne Gäste war ein Lokal nichts wert. Als sich bei der Juno Lounge die Krise abzeichnete, musste sich Isaac als Pächter vornehmlich darum kümmern, die Geschäfte so schnell wie möglich abzuwickeln, damit wenigstens nicht der gesamte Gewinn von sechs Jahren den Bach hinunterging.
Hayley hatte er gleich mit verloren, auch wenn das keine Überraschung gewesen war. Hayley stand im Leben auf der Gewinnerseite, für Verlierer hatte sie nichts übrig. Sie hatte die Beziehung freundlich, aber unmissverständlich beendet, und er hatte keinen Versuch unternommen, sie umzustimmen. In der Not erkannte man eben, aus welchem Holz Leute geschnitzt waren.
Aber ausgerechnet sie hatte über Umwege von der Stelle als Interimsmanager in The Three Fishes erfahren. Und er war über das Angebot erleichtert gewesen, auch wenn ihn die Ironie des Schicksals geärgert hatte und es sich um einen ordinären Pub von der alten Sorte handelte. Aber endlich kam wieder Geld rein, und außerdem lebte er wieder auf dem Land, auch das gefiel ihm. Sein Vater hatte als Pächter einen Bauernhof bewirtschaftet, und wenn er an seine Kindheit auf der Farm in den Fens dachte, ungefähr eine halbe Autostunde von hier entfernt, zwischen Cambridge und Spalding, fiel ihm nur Schönes ein.
»Und, wie gefällt es dir?« Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Augenblicklich fühlte er sich in The Three Fishes zurückversetzt, gemütlich, wenn auch konventionell. Auf der anderen Seite des Tresens stand lächelnd Lily Cortez und wollte ihm die Früchte ihrer Arbeit zeigen.
Er schloss die Kasse und folgte ihrem Blick zu den bunten Lichtern, die von dem Balken über dem Tresen herabhingen und sich in den Gläsern hinter der Bar spiegelten. Die dicken hölzernen Balken waren mit Lametta geschmückt, und auf dem Tresen erstrahlten Bäumchen mit bunten Kugeln und Lichtern. An Holzbalken trugen Nikoläuse schwere Säcke mit Geschenken, glänzten Silbersterne und goldene Glöckchen, und auf dem Kaminsims wand sich mit Lametta verzierter Efeu.
»Einfach toll«, sagte er. Die Juno Lounge war im vergangenen Jahr kunstvoll mit silbernen Zweigen und Golddraht mit roten Origami-Sternen geschmückt gewesen, aber das war sein Lokal gewesen. The Three Fishes gehörte ihm nicht. Wenn man irgendwo als Manager einsprang, ließ man eben alles so, wie es die Leitung wünschte. Und die Deko passte ja zum Stil des Pubs. Er lächelte sie an. »Sehr hübsch und gemütlich. Danke dir für deine Arbeit.« Ihre Augen waren von einem klaren Blau, bemerkte er. Ein solches Himmelblau hatte sich in dem See gespiegelt, an dem er einst mit Hayley in Neuseeland gecampt hatte. Wenn man einen Urlaub in einem schicken Wohnmobil als Campen durchgehen ließ. Hayley mochte den Aufenthalt in der freien Natur, solange sie sich wie gewohnt um Nägel, Haut und Haar kümmern konnte.
Lilys Lächeln wurde noch breiter, und ihre Augen strahlten. »Hat Spaß gemacht.«
»Danke auch an deine Schwester«, schob er gerade noch rechtzeitig nach, obwohl diese Schwester, nach allem, was er mitbekommen hatte, nicht viel dazu beigetragen hatte. Der Wecker an seinem Handy klingelte, sechs Uhr, Zeit zum Öffnen. Er sah sich in der Bar um. »Passt alles. Ich schließe auf.«
Lily und Vita waren ein eingespieltes Team, sie plauderten mit den Gästen, zapften Bier und bedienten die Kasse, die ebenfalls mit Lametta geschmückt war. Vita trug eine Brille mit großen Gläsern, in denen sich das Licht spiegelte, und hatte das glatte Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war ein paar Jahre älter als Lily, die, das wusste er aus ihrer Personalakte, sechsunddreißig war.
Für einen Donnerstagabend war der Pub recht gut besucht, nicht zuletzt wegen des lokalen Dart-Teams, das an diesem Abend ein Heimspiel veranstaltete. Im Bereich vor der Dartscheibe standen Barhocker, auf denen Zuschauer saßen und jubelten, enttäuscht aufstöhnten und scherzten. Isaac war gerade aus dem Bierkeller zurück, wo er die Temperatur überprüft hatte, als er eine männliche Stimme grölen hörte: »Ihr Lesben seid wirklich überall.« Gefolgt von hämischem Lachen.
Isaac wandte sich um und bemerkte einen rotgesichtigen Typen Ende dreißig, der Lily mit glänzenden Augen und unstetem Blick taxierte und dazu süffisant grinste. Sie bedachte ihn mit einem frostigen Blick, und er legte nach. »Nun komm schon, Süße, war doch nur Spaß.«
Ungerührt zapfte Lily weiter ein Glas halbdunkles Bier. »Was ist daran so lustig? Geht’s um Lesben allgemein? Oder darum, dass ich vielleicht eine bin?«
Rotgesicht war das Grinsen vergangen. »Jetzt mach mal halblang. War nur’n Witz.«
Lily stellte das Bier zu den anderen drei auf der Bar, offenbar alle für Rotgesicht. »Das macht 15 Pfund 44.« Ohne eine Miene zu verziehen, nahm sie seine Zwanzigpfundnote entgegen.
Isaac sah zu, wie der Mann Lilys Rundungen unter dem schwarzen Polohemd begutachtete, während sie den Betrag in die Kasse tippte. Er hätte einschreiten können und den Gast auffordern, er solle sich gegenüber dem Personal anständig benehmen oder sein Bier woanders trinken. Aber bei nervigen Gästen überließ er grundsätzlich zunächst seinen Angestellten das Terrain. In der Juno Lounge war es hin und wieder zu unangenehmen Zwischenfällen gekommen, aber hier hatte er das bislang noch nicht erlebt.
Die Menge vor der Dartscheibe jubelte gerade, während Lily Rotgesicht widerstrebend das Wechselgeld in die Hand zählte. Dann wandte sie sich mit einem betont freundlichen Lächeln an den nächsten Gast. »Hallo Gabe! Wie läuft’s mit deinen Tieren?«
Gabe war ein bereits älterer Stammgast. Silbergrauer Pferdeschwanz und ein Lächeln, das sein Gesicht in Runzeln legte. Er leitete eine Heimstätte für alte und verwaiste Tiere. »Die fressen mir die Haare vom Kopf«, klagte er, aber mit einem breiten Grinsen. »Was von Tubb gehört?« So gut wie das ganze Dorf war über Tubbs Zustand besorgt und konnte kaum glauben, dass er in diesen Tagen nicht hinter dem Tresen stand.
Während Lily ihm erzählte, dass Tubb seinen Aufenthalt in der Schweiz offenbar genieße, blickte Rotgesicht verdrießlich in ihre Richtung und zog mit seinen vier Pints zu seinen Dartkumpels ab. Isaac beobachtete, wie er etwas zu seinen Kumpels sagte, Lily lüsterne Blicke zuwarf und dann laut losprustete. Seine Freunde stimmten in das Gelächter ein.
Lilys Wangen röteten sich leicht, aber ansonsten ließ sie Rotgesicht links liegen.
Isaac beschloss, den Essbereich zu übernehmen, so dass weder Lily noch Vita in der Nähe der krawalligen Dartrunde Spießruten laufen mussten. Rotgesicht wurde immer röter, sein Gelächter immer lauter, und bald ging er offenbar den anderen Gästen auf die Nerven. Sie warfen der Männerrunde missbilligende Blicke zu, tranken aus und schlüpften in die Mäntel.
Als Rotgesicht das nächste Mal am Tresen auftauchte, hielt er sich nur noch schwankend auf den Beinen, und außer den Dartspielern waren kaum noch Gäste im Lokal. Vita wollte ihn bedienen, aber er wies sie rüde ab. »Ich will mein Bier von der kleinen Lesbe.« Er lachte anzüglich.
Isaac räumte gerade Tische ab. Er drehte sich auf dem Absatz um und begab sich zum Tresen. Doch Lily hatte sich bereits ohne mit der Wimper zu zucken Rotgesicht zugewandt, zwischen ihr und ihm war nur der Tresen. »Tut mir leid, ich kann Ihnen heute Abend leider keinen Alkohol mehr ausschenken.« Sie sah ihm kurz in die Augen und wollte sich dann umdrehen.
Aber der Mann packte sie zwischen den Bierhähnen hindurch am Arm. »Vergiss es, du läufst mir nicht einfach so weg.«
Isaac war sofort zur Stelle, doch Lily hatte Rotgesichts Griff bereits abgeschüttelt. »Bitte verlassen Sie das Lokal, Sir«, fauchte sie.
»Ich gehe, wann es mir passt«, sagte Rotgesicht höhnisch.
Lily ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Dann rufe ich die Polizei. Sie haben zwei Sekunden Zeit, eins …«
»Jetzt komm mal von deinem hohen Ross runter.« Rotgesicht wirkte abstoßend.
»Zwei.« Lily langte nach dem Hörer des Wandtelefons.
Isaac stand hinter dem Betrunkenen und verfolgte das Geschehen. In seinem Rücken zogen die Dartkumpels mit finsteren Blicken einer nach dem anderen die Mäntel über. »Komm, lass es«, rief einer. »Das ist doch nur eine kleine Scheißkneipe am Arsch der Welt. Sollen sie doch.«
Lily hielt den Hörer ans Ohr und hatte einen Finger auf den Wähltasten.
Rotgesicht löste sich abrupt vom Tresen.
»Euer Bier ist eh eine Plörre.«
Die Männer verrückten laut fluchend und demonstrativ ein paar Stühle, aber sie stolperten schließlich zur Tür hinaus. In der Stille, die dann folgte, legte Lily den Hörer wieder zurück.
Es war zehn nach zehn und der Pub ohne Gäste. Super. Wenigstens hatten die Typen ordentlich Geld in die Kasse gebracht, bevor ihre Randale alle anderen verscheucht hatte. »Könntest du bitte die Gläser einsammeln, Vita?«, sagte Isaac, um Zeit für ein kurzes vertrauliches Gespräch mit Lily zu bekommen. Vita machte sich sofort an die Arbeit.
»Tut mir leid«, kam sie ihm zuvor. »Ich hätte ihn weniger aggressiv abfertigen sollen. Aber ich konnte einfach nicht anders, ich hasse es, wenn eine Frau kein Interesse an einem Mann hat, und dann sofort in den Verdacht gerät, lesbisch zu sein, vor allem, wenn das ganz klar als Beleidigung gemeint ist.« Wut blitzte in ihren blauen Augen. »Dann kann ich nicht mehr an mich halten, denn Zinnia und ich kommen aus einer Familie mit zwei Müttern. Keine Väter. Ich dachte, Sie sollten das wissen, das macht es für alle Seiten einfacher.«
Sie neigte ihren Kopf zur Seite und wartete ab, wie er reagieren würde.
Es war offensichtlich, dass Lily mit einer wie auch immer gearteten negativen Reaktion rechnete. Wie viele Leute waren ihr im Leben deshalb bereits zu nahe getreten?, fragte sich Isaac. »Diskriminierung von Homosexualität ist in jedem Fall unakzeptabel, und ich kann verstehen, warum dieser Gast dich so wütend gemacht hat.« Er lächelte. Mit diesem speziellen Thema war er bislang noch nicht konfrontiert gewesen, aber warum sollte er anders damit umgehen als mit anderen persönlichen Angelegenheiten, die das Personal an ihn herantrug? »Alles klar? Ich fand, du bist mit diesem unverschämten Kerl sehr gut umgegangen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts im Vergleich zu den besoffenen Typen in Barcelona. Die Familie von meinem Ex hatte eine Bar in unmittelbarer Nähe von Las Ramblas. Bar Barcelona war ein Treffpunkt für beide Geschlechter. Da war immer mal Randale, und ich hatte mich daran gewöhnt, schlechtes Benehmen einfach zu ignorieren … aber heute Abend habe ich bei diesem Typen die Nerven verloren.«
»Er war wirklich aggressiv. Dein Mann war Spanier?« Das erklärte ihren Nachnamen, Cortez.
»Wir haben uns hier in England kennengelernt, wo er Erfahrungen im Hotelgewerbe sammeln wollte. Seine Familie wollte ein Hotel eröffnen. Er hat versucht, hier klarzukommen, aber er hatte Heimweh nach Spanien, und so versuchte ich, dort klarzukommen.« Sie hob die Augenbrauen. »Ich wäre vielleicht in einem anderen Teil von Spanien klargekommen, oder auch in einer anderen Situation. Aber mit dem Familienbetrieb leider nicht.«
»Wegen deines Jobs als …« Er unterbrach sich, womit verdiente sie noch mal ihr Geld?
»Ich entwerfe und organisiere Messestände«, ergänzte sie den Satz. »Ich kümmere mich ums Design und den gesamten Messeauftritt, einschließlich Marketing und allem, was damit zusammenhängt. Aber das hatte in den Augen der Familie nicht den gleichen Stellenwert wie die Arbeit in der Bar. Sergios Bruder Nando und seine Frau haben sich immer wieder eingemischt, und dass ich meinem eigenen Beruf nachgehen wollte, hat schließlich zu Streit geführt.«
Isaac ließ Vita mit einem Tablett voller Gläser vorbei. »Und jetzt arbeitest du in einem Dorfpub, offenbar gefällt dir das Gastgewerbe.«
Sie zögerte, ließ ihre Blicke schweifen. »Offenbar lande ich einfach immer hinterm Tresen.« Sie lächelte ihn kurz an, und als fiele ihr gerade ein, dass noch Arbeit auf sie wartete, machte sie sich auf den Weg zu den Tischen, um dort die Salz- und Pfefferstreuer zum Auffüllen einzusammeln.
Vita hastete mit weiteren Gläsern vorüber, und bald war alles aufgeräumt, was sie aufräumen konnten, ohne für den Abend definitiv zu schließen. Isaac seufzte angesichts des leeren Gastraums. »Wir brauchen eigentlich keine drei Leute, um noch den Rest zu erledigen. Eine von euch kann schon nach Hause gehen.«
»Lass Vita gehen«, sagte Lily, die gerade Spender mit Soßenpäckchen auffüllte. »Ihre Kinder müssen morgens früh raus.«
Vita war sichtlich erleichtert, aber sie schlug fairerweise vor, eine Münze zu werfen.
»Irgendwann sind wir wieder quitt«, sagte Lily.
Darauf ließ Vita sich nicht ein zweites Mal bitten. Sie ging nach hinten, und kurz darauf hörte man die Haustür ins Schloss fallen. Isaac warf einen Blick auf die Uhr. Halb elf. Er hätte ohne weiteres auch Lily nach Hause schicken können, aber das war nicht seine Kneipe, außerdem wollte er ein Gefühl dafür bekommen, wie die Geschäfte üblicherweise liefen.
»Ist es oft so ruhig wie heute Abend?«
»Nein, seit ich hier arbeite, zum ersten Mal.« Lily verdrehte die Augen. »Das lag an diesem ungehobelten Typen und seinen Kumpels. Radau ist in diesem Pub selten, und der hat heute Abend leider die Gäste vertrieben.«
Er atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank, denn ich habe nicht vor, Mister Tubbs Pub gegen die Wand zu fahren.« Es sollte ein Scherz sein, aber als er die Worte aussprach, wurde ihm kurz unwohl.
Sie kam stirnrunzelnd näher. »Ich glaube, wir haben am frühen Abend genug eingenommen, um die letzte Stunde wettzumachen, in der es ruhig geworden ist.«
»Ruhig wie auf einem Geisterschiff«, sagte er grinsend. »Da hast du recht.« Er wollte gerade noch einen Scherz darüber machen, wie es wäre, in einem leeren Pub zur letzten Runde aufzurufen, als sich die Tür öffnete. Eine Frau mit Hund. Der große Dalmatiner zog heftig an der Leine und wedelte wie toll mit dem Schwanz, als er Isaac erkannte. Die Frau am anderen Ende der Leine war knapp über vierzig, hochgewachsen, schlank, das Gesicht von sorgfältig gestyltem braunen Haar gerahmt.
»Doggo!«, rief Isaac und hätte sich sofort auf die Zunge beißen wollen.
Doggo jaulte begeistert auf, legte die Ohren zurück und verzog das Maul zu einem breiten Grinsen, während er herumtanzte und sich gegen die Leine wehrte. Isaac kam hinter dem Tresen hervor und kniete nieder, um den überglücklichen Hund zu streicheln. Er war fest entschlossen, sich dem Hund zu widmen, den er mit allem anderen hatte aufgeben müssen, und die Frau, die die Szene mit nachsichtigem Lächeln verfolgte, möglichst nicht weiter zu beachten.
Hayley.
Sie trug einen langen hellbeigen Wollmantel und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen und wirkte wie ein Stück teures Porzellan. Was zum Teufel wollte sie hier? Und musste es ausgerechnet an einem Abend sein, an dem die Kneipe menschenleer war? Das passte mal wieder, dachte er verbittert, er kam aus seiner Versagerrolle einfach nicht mehr raus.
»Er hat Sehnsucht nach dir, deshalb dachte ich, ich statte dir mit ihm einen Überraschungsbesuch ab und schaue auch gleich mal, wie du so klarkommst.«
Hayley klang gerade so, als hätten sie sich erst gestern gesehen und nicht zwei Monate zuvor, als er aus der gemeinsamen Wohnung in Peterborough ausgezogen war. Damals war er zunächst bei seiner Schwester in der Nähe von Bettsbrough im Gästezimmer untergekommen und hatte nach ein paar Wochen eines der Zimmer im oberen Stockwerk bezogen, die ohnehin selten belegt waren. Hayley ließ ihren Blick durch die Bar ohne Abendgäste schweifen. »Hattet ihr eine Bombenwarnung, oder so was?« Ihr Blick war zunächst verwundert und wurde dann mitleidig. Ihr Mitleid hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Randale«, sagte er kurz angebunden und streichelte weiter Doggo, dessen Blick viel leichter zu ertragen war. »Mit Typen, die über ihren Durst getrunken haben, die anderen Stammgäste sind darauf nacheinander abgezogen.«
»Ich verstehe.« Dann sagte sie freundlich: »Hallo, ich bin Hayley.«
Isaac hörte, wie Lily sich ebenfalls vorstellte und um den Tresen herumkam, und schon wanderten ihre Beine in den engen schwarzen Röhrenjeans an ihm vorbei. Doggo warf Lily kurz einen Blick zu und wedelte mit dem Schwanz. »Hübscher Hund«, sagte sie noch und ging weiter in den Essbereich, um dort Vorbereitungen für den nächsten Morgen zu treffen.
Also musste er sich doch wohl oder übel mit Hayley abgeben, die vor ihm auf dem rot gemusterten Teppich stand und offenbar darauf wartete, dass er sein Geknuddel mit Doggo beendete. Er erhob sich, bürstete mit den Fingern seine Hose ab und lächelte Hayley an. »Willst du was trinken?« Er ging hinter den Tresen.
»Gerne.« Sie ließ sich auf einem Barhocker nieder. »Hast du einen guten Rotwein?«
»Sangiovese?«, schlug er vor, er kannte ihre Vorliebe für italienische Weine und stellte zwei Gläser auf den Tresen. Dann rief er aus einem spontanen Einfall heraus: »Lust auf ein Glas mit uns, Lily?«
Er war nicht in der Stimmung für einen vertraulichen Plausch in Anwesenheit von Personal, nicht einmal an einem der entlegenen Tische.
Hayley wirkte kurz überrascht, schenkte Lily, die sich zu ihnen gesellte, aber sofort ein höfliches Lächeln.