Die Gauklerin
Historischer Roman
(August 1620 – April 1626)
Der Feierabend, den der Turmbläser soeben verkündet hatte, versprach keine Abkühlung. Bleigrau lastete der Himmel über der Stadt, die ungewöhnliche Hitze an diesem Spätsommernachmittag machte die Menschen reizbar.
Agnes stellte ihren Einkaufskorb auf den Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Den Weg zum Schuhmacher oben im Gänsbühl würde sie morgen früh erledigen, jetzt zog es sie nur noch nach Hause. Ein Trommelwirbel ließ sie aufhorchen: Vor dem Rathaus tänzelte ein prächtig geschmückter Schimmel unter seinem Reiter, der die scharlachrote Schärpe eines Offiziers trug.
Neugierig trat sie näher. Das Gesicht war unter dem breitkrempigen Hut nicht auszumachen, doch die beiden Trommler rechts und links des Reiters wirkten blutjung. Jetzt ließen sie ihre Schlegel schneller und schneller über das Fell wirbeln, und binnen kurzem füllte sich der Platz vor dem Rathaus mit Neugierigen: mit Lehrlingen und Gesellen, Gesinde und Knechten, mit Schulbuben, Tagedieben und Taugenichtsen. Kaufleute, Bürgersfrauen und andere Leute, die Besseres zu tun hatten, ließen sich wenige blicken – schließlich wusste jeder, was es mit dem verwegen aussehenden Reiter auf sich hatte: Er war gekommen im Auftrag des Generalleutnants in bayerischen Diensten, Johann Tserclaes Freiherr von Tilly, und hatte die bedeutsame Aufgabe, ein Regiment Knechte aufzurichten. Auf ein Zeichen hin hielten die Trommlerbuben inne, und der Reiter ließ seinen dröhnenden Bass erschallen:
«Bürger der Stadt Ravensburg, Männer und Burschen!»
Weiter kam er nicht. Zwei riesige Köter waren mit dem tiefen Knurren hungriger Wölfe in die Menge gerast: Vorneweg ein heller mit langem, struppigem Fell und einem Schweinskopf zwischen den Lefzen, ihm dicht auf den Fersen der andere, schwarz und nicht weniger groß. Genau vor dem Reiter kamen sie zum Stehen. Mit glühendem Blick, das Fell gesträubt, verteidigte der Helle seine Beute. Sein Angreifer fletschte nur kurz die Zähne, dann warf er sich auf ihn. Im nächsten Augenblick hatten sich die beiden zu einem Knäuel verbissen und wälzten sich unter hässlichem Gekläffe im Dreck. Der Schimmel stieg steil in die Luft, erschreckt wichen die Umstehenden zurück, irgendwer schrie nach einem Knüppel. Schon färbte sich der Nacken des hellhaarigen Hundes blutrot unter den Bissen des schwarzen, sein Jaulen gellte über den Platz. Immer wieder schnappte er nach der Kehle des anderen, doch er schien hoffnungslos unterlegen.
«Wenn Ihr Soldat seid, warum schießt Ihr nicht auf die Scheißtölen?», brüllte einer der Burschen dem Werber zu, der vergeblich versuchte, sein Pferd zu beruhigen. Endlich erschienen im Laufschritt zwei Stadtwächter und schlugen mit ihren Stöcken auf die Tiere ein, bis sie voneinander abließen und sich winselnd aus dem Staub machten – der eine blutüberströmt, der andere mit gebrochenem Hinterlauf. Zurück blieb der zerbissene Schweinskopf, der aus leeren Augenhöhlen in den grauen Himmel stierte.
Laute Trommelschläge ließen die aufgeregte Menge verstummen.
«Nun denn», der Offizier räusperte sich, um seiner Stimme wieder Nachdruck zu verleihen. «Ihr wisst, dass in Böhmen die gottlosen und rebellischen Stände unsere christliche Ordnung mit Füßen treten und ihr Land von einem unrechtmäßig gewählten König, dem Ketzer Friedrich von der Pfalz, regieren lassen. Nun, da das hochherzige Angebot unserer Majestät des Kaisers, die böhmische Krone freiwillig zurückzugeben, ausgeschlagen wurde, muss die Ordnung mit Waffen wiederhergestellt werden. Wer also Manns genug ist, mit Leib und Seele für Gott, die Christenheit und unseren Kaiser zu kämpfen, der möge sich in den nächsten Stunden auf der Kuppelnau zum Eintragen in die Musterrolle einfinden. Als heldenmütige Herausforderung, als Christenpflicht –»
In diesem Moment entdeckte Agnes in der Menschenmenge ihren jüngeren Bruder Matthes. Ihre Blicke trafen sich für einen Sekundenbruchteil, dann senkte Matthes verlegen den Kopf und trat einen Schritt zurück, um sich hinter ein paar hoch gewachsenen Burschen zu verbergen.
Sie hatte genug gesehen. Energisch nahm sie ihren Korb unter den Arm und eilte in Richtung Liebfrauen. Vor dem Elternhaus, einem schmalen dreistöckigen Steinbau hinter der Kirche, traf sie auf ihren Vater. Missmutig erwiderte der Ravensburger Schulmeister Jonas Marx den Gruß seiner Tochter, öffnete die Haustür und ließ sie vorangehen in den angenehm kühlen Flur. In der Stube wartete bereits die Mutter mit Jakob, dem Jüngsten, am gedeckten Tisch.
»Was ist mit dir? Du schaust so finster.» Prüfend betrachtete Marthe-Marie Mangoltin ihren Mann.
«Diese gottverdammten Rattenfänger! Selbst Kinder machen sie verrückt mit ihrem Gefasel von Ruhm und Ehre. Meine Schulbuben haben heute über nichts anderes geschwatzt als über das Soldatenleben. Als ob sie mit ihren zwölf, dreizehn Jahren alt genug wären, um auf dem Schlachtfeld zu krepieren.» Jonas Marx blickte missmutig zur Tür. «Wo bleibt Matthes? Muss dieser Bengel fortwährend zu spät zum Essen kommen?»
Mit rotem Gesicht stürzte der Gescholtene in die Stube, murmelte eine Entschuldigung und setzte sich an seinen Platz.
«Können wir jetzt endlich anfangen zu essen?», herrschte Jonas den Jungen an.
Agnes warf ihrem Vater einen Seitenblick zu. Der Werber, der seit gestern für den Prager Feldzug die Trommeln rührte, schien ihm vollkommen die Laune verdorben zu haben. Schweigend löffelten alle ihre Suppe.
Jakob hob den Kopf.
«Der Stadtarzt hat gesagt, ich darf ihn sonntags bei den Krankenbesuchen begleiten.»
Jonas’ Miene hellte sich auf. «Soso, mit dem Herrn Stadtarzt. Ich hoffe, du vernachlässigst darüber nicht deine Studien.»
Agnes wusste, wie stolz ihr Vater auf Jakob war, dem das Lernen so leicht fiel wie einem Vogel das Fliegen und der mit seinen dreizehn Jahren bereits eine Klassenstufe der Lateinschule übersprungen hatte. Jeder in der Familie bewunderte Jakob für diese Fähigkeit; Jakob selbst hingegen, in fast kindlicher Einfalt, schien dies gar nicht zu bemerken. Zumal ihr Vater seit jeher bemüht war, keines seiner drei Kinder zu bevorzugen – auch wenn ihm dies in letzter Zeit sichtlich schwer fiel. Matthes nämlich wurde zunehmend störrischer, brachte seinen Lehrherrn gegen sich auf oder ließ sich auf Händel mit irgendwelchen Gassenbuben ein.
Verstohlen musterte Agnes ihre beiden ungleichen Brüder. Matthes, dunkel wie sie selbst und wie die Mutter, war im letzten halben Jahr unerwartet schnell in die Höhe geschossen. Der Flaum auf seiner Oberlippe verriet, dass er zu einem jungen Mann wurde. Das Ungestüme, fast Leichtsinnige, das ihn schon als kleines Kind in haarsträubende Situationen gebracht hatte, schien sich jetzt noch zu verstärken. Es war, als suche er täglich aufs Neue eine Herausforderung. Jakob hingegen, der Schmächtige, Nachdenkliche mit seinem strohblonden Haar, ging jedem Streit aus dem Weg und hatte dafür ein unendlich großes Herz für alles Schwache und Hilflose. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er je einen anderen Wunsch geäußert hatte als den, Medicus zu werden. Und zwar studierter Arzt. Jonas Marx hatte dazu bisher weder ja noch nein gesagt. Jakob solle zunächst seine Lateinschule absolvieren, dann werde man weitersehen.
Unterschiedlicher konnten zwei Brüder nicht sein. Und doch liebte Agnes beide gleichermaßen, jeden auf seine Art. Fast fühlte sie sich verantwortlich für sie, als Schwester, die um etliche Jahre älter war. Oder besser gesagt: als Halbschwester. Ihr eigener, leiblicher Vater war schon bald nach Agnes’ Geburt am hitzigen Fieber gestorben.
«Gibt es heute kein Brot zur Suppe?»
«Herrje! Das Brot hab ich ganz vergessen. Es liegt noch im Korb.»
Agnes sprang auf und holte den Laib Weißbrot, schnitt erst ihrem Vater, dann ihrer Mutter ein Stück ab.
Jonas lächelte sie an. Sein Ärger war offensichtlich verflogen – dem Himmel sei Dank, denn Agnes hatte noch etwas auf dem Herzen.
«Danke, meine Kleine.»
Meine Kleine! Wann würde ihr Vater endlich einsehen, dass sie kein Kind mehr war? Sie war fast neunzehn! Andere hatten in diesem Alter bereits einen Ehemann, ihre eigene Haushaltung. Agnes holte tief Luft.
«Erlaubt ihr mir, nach dem Essen noch auf den Marienplatz zu gehen? Nur für eine Stunde.»
Jonas’ Miene verfinsterte sich erneut.
«Zu den Komödianten? Wir haben doch erst vorgestern diese alberne Aufführung gesehen.»
«Bitte!»
Agnes sah zu ihrer Mutter. Für einen kurzen Moment glaubte sie so etwas wie Misstrauen in ihrem erstaunten Blick zu lesen.
«Nun, weltbewegend fand ich diese Truppe zwar wirklich nicht.» Jonas strich sich das noch immer volle Haar aus der Stirn. «Aber wenn’s sein muss. Der Jakob geht mit. Und ihr seid gleich nach der Vorstellung wieder hier.»
Agnes zog eine Grimasse. «Mein kleiner Bruder als Aufpasser!»
«Du hast gehört, was Vater gesagt hat.» Marthe-Marie erhob sich und stapelte geräuschvoll die leeren Teller ineinander. «Entweder nimmst du Jakob mit, oder du bleibst zu Hause. Und jetzt geh mir in der Küche zur Hand.»
Als sie wenig später das saubere Geschirr auf die Regalbretter räumten, hörten sie aus dem Erdgeschoss, wie mit plötzlichem Krachen eine Tür ins Schloss fiel, dann erscholl die laute Stimme von Jonas Marx. Kurz darauf zerrte er, das Gesicht hochrot vor Zorn, Matthes hinter sich her in die Küche.
«Heimlich hinausschleichen wollte er sich, durch die Hintertür. In seinem besten Sonntagsstaat. Und den Knappsack hat er auch schon gepackt. Jetzt sag endlich, wohin du wolltest.»
Trotzig biss sich Matthes auf die Lippen. Dabei warf er Agnes einen flehenden Blick zu.
Ach Matthes, dachte sie, warum soll ich verraten, dass ich dich bei dem Werber gesehen habe? In diesem Aufzug verrätst du dich doch selbst.
«Also?» Marthe-Marie musterte ihren Sohn von oben bis unten. Ganz blass sah sie plötzlich aus.
«Wenn du den Mund nicht aufmachst, sage ich es.» Jonas riss ihm den Ranzen aus der Hand. «Du wolltest auf die Kuppelnau, dich zur Musterung eintragen lassen. Habe ich Recht?»
Matthes schwieg.
«Antworte mir gefälligst! Oder ist dir dein Soldatenherz schon vor der großen Schlacht in die Hose gerutscht?»
Da ballte Matthes die Fäuste. «Gar nichts kannst du mir vorschreiben. Lieber will ich bei den Soldaten kämpfen, als weiter vor diesem Menschenschinder in der Werkstatt zu katzbuckeln.»
Jonas holte aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.
«Habe ich richtig gehört?», brüllte er. «Mein Sohn, den ich nach Luthers Lehren zu einem friedfertigen Menschen erzogen habe, will sich für diese katholischen Kriegstreiber abschlachten lassen? Will mit nicht mal fünfzehn Jahren den Helden spielen? Und ob ich das verhindern kann – zur Not sperr ich dich ein, bis du wieder zu Verstand gekommen bist!»
Noch nie hatte Agnes ihren Vater so wütend gesehen. Marthe-Marie strich ihm über den Arm, eine flüchtige Geste der Beruhigung und Zärtlichkeit zugleich.
«Lass gut sein, Jonas. Ich bringe Matthes auf seine Kammer, und ihr sprecht morgen in aller Ruhe miteinander.»
«Da gibt es nichts zu reden.» In den Augen des Schulmeisters blitzte noch immer der Zorn. «Dieser widerliche Krieg in Böhmen ist ein Krieg der Mächtigen, die nichts als Geld und Blut begehren. Niemals wird einer meiner Söhne zu dieser schmutzigen Schlächterei ausziehen. Nicht, solange ich lebe. Geht das in dein Hirn?» Er packte Matthes hart bei den Schultern. «Morgen werde ich ein Wörtchen mit deinem Meister reden, damit deine Schludrigkeiten ein Ende nehmen. Jetzt los auf eure Zimmer, aber sofort – auch du, Agnes.»
Agnes stockte der Atem. «Aber du hast mir doch –»
«Du bleibst heute Abend im Haus.»
Mit zusammengekniffenen Lippen folgte sie ihrem Bruder zur Küche hinaus, hörte eben noch, wie ihr Vater sagte: «Der Junge braucht eine härtere Hand!», dann stapfte sie hinauf in ihre kleine Dachkammer.
Die harte Hand würde er beim Heer haben, dachte sie, und ihr Mitleid mit Matthes schlug in Groll um. Nur seinetwegen durfte sie nicht hinaus! Dabei hatte sie Kaspar treu und fest versprochen zu kommen. Und sie war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen – zumindest, was ihren Vater betraf. Sie trat mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und starrte wütend aus der Luke über die Dächer der Stadt. Über den Hügeln im Osten begann es zu wetterleuchten.
Aus der Kammer unter ihr hörte sie die Mutter auf Matthes einreden. Im Grunde konnte Agnes ihren Bruder verstehen. Ihn trieb es hinaus aus der Enge der Stadt, weg von seinem jähzornigen Meister, bei dem er das Horndrechseln lernen sollte. Finster lauschte Agnes den wehleidig-trotzigen Widerworten ihres Bruders. Es war so ungerecht: Natürlich war Matthes viel zu jung, um auf eigene Faust in die Fremde zu ziehen oder sich gar als Söldner zu bewerben. Doch in zwei, drei Jahren, wenn er sich ein wenig am Riemen riss, würde er die Gesellenprüfung ablegen und auf Wanderschaft gehen. Würde fremde Städte und Landschaften kennen lernen.
Wie oft hatte sie sich gewünscht, als Junge geboren zu sein. Selbst um seine Lehre als Horndrechsler beneidete sie Matthes – doch als Mädchen eine Lehre zu beginnen, daran war nicht einmal zu denken. Auch wenn das in längst vergangenen Zeiten wohl nichts Ungewöhnliches gewesen war. Was konnte ihr das Schicksal als Frau schon anderes bieten als eine Anstellung in einem Bürgerhaushalt oder die Ehe mit einem Mann, dem sie für den Rest des Lebens Ehrfurcht und Respekt zollen musste. Nur selten, das wusste sie, traf es eine so glücklich wie ihre Mutter mit Jonas Marx, der seine Frau verehrte und liebte. Gut, in vielen Häusern hatten heimlich die Frauen die Hosen an, hielten sie selbst den Söhnen gegenüber die Zügel in der Hand. Doch kaum gab es weiterreichende Entscheidungen, galt man als Frau nicht viel mehr als ein unmündiges Kind.
Agnes lehnte sich weit hinaus in die Abendluft, deren Wärme ihr nach diesem entsetzlich kalten Sommer wie eine Verheißung erschien. In der Kammer unten war es still geworden. Offenbar hatte die Mutter in ihrer so liebevollen wie unnachgiebigen Art Matthes zur Vernunft gebracht. Vom Marienplatz her drang Gelächter, dann Musik herauf. Mit einem Ruck schloss Agnes die Luke und trat mit geballten Händen an den Waschtisch. Nein, sie würde sich nicht einsperren lassen wie ein Stück Vieh. Sie hatte Kaspar versprochen zu kommen, und niemand würde sie zurückhalten.
Nachdem sie sich gewaschen und ihr neues Leinenkleid angelegt hatte, flocht sie sich bunte Bänder in die widerspenstigen dunklen Locken, nahm ihre Schuhe in die Hand und tappte barfuß, so lautlos wie möglich, die Stiege hinunter zur Kammer ihrer Brüder. Ohne anzuklopfen trat sie ein.
Jakob saß mit einem Buch in der Hand auf seinem zerschlissenen Lehnstuhl am Fenster, Matthes kauerte auf dem Bett und starrte an die Wand.
«Und? Hast du deine dummen Soldatenträume begraben?»
«Nein!»
«Und warum bist du dann noch hier?»
«Rutsch mir doch den Buckel runter.»
«Hör zu, du großer Feldherr: Eine Hand wäscht die andere. Ich hab nicht verraten, dass du bei dem Werber warst, und ihr wisst nicht, dass ich jetzt noch nach draußen gehe. Und zwar ohne meine Brüder.»
Jakob sah erstaunt von seinem Buch auf. «Du willst heimlich gehen? Wie willst du an der Stube vorbei, ohne dass dich jemand hört?»
«Ach Jakob, mein Unschuldslämmchen. Als ob ihr beiden diesen Weg nicht bestens kennen würdet.»
Durch ein schmales Türchen schlüpfte sie hinaus auf den Altan, auf dem die Wäsche trocknete. Sie knotete das Ende einer der Leinen auf und warf das freie Ende über die Brüstung. Jakob steckte den Kopf zum Fenster heraus.
«Du bist verrückt geworden», sagte er.
«Und wenn schon?» Sie warf ihre Schuhe in den Hof hinunter. «Bis später. Und lasst das Türchen offen.»
Es ging leichter, als sie gedacht hatte. Vorsichtig seilte sie sich entlang dem breiten Pfeiler ab. Angst, dass das dünne Hanfseil ihr Gewicht nicht halten würde, brauchte sie nicht zu haben. Sie war viel zierlicher als Matthes, der schon oft auf diesem Weg dem elterlichen Haus entflohen war. Für sie bedeutete es das erste Mal, und sie grinste vor Stolz.
Gebückt huschte sie durch den Gemüsegarten, stieg über die halbhohe Mauer zum Nachbargrundstück, dann über eine weitere Mauer, bei der sie erst auf ein Regenfass klettern musste, und stand schließlich im Kirchhof von Liebfrauen. Sie hatte es geschafft. Nur eine gute Stunde blieb ihr noch bis Einbruch der Dunkelheit, dann musste sie wieder im Hause sein, wollte sie nicht dem Nachtwächter oder der Stadtwache in die Arme laufen. Aber eine Stunde war besser als nichts.
Auf der Bühne, die nichts weiter war als ein umgebautes Fuhrwerk mit Himmel aus verblichenem blauen Tuch und einem Vorhang im Hintergrund, sprach einer der Komödianten eben seine Schlussworte: «In Summa: Unsre Lebenszeit – ist lauter Traum und Eitelkeit!», dann fiel Trommelwirbel in den nicht eben leidenschaftlichen Beifall, und zwei Artisten machten ihre Faxen und Luftsprünge über die knarrenden Bretter. Agnes wusste: Als Nächstes würde der Höhepunkt folgen – der Auftritt des Lautenspielers und Zeitungssingers Kaspar Goldkehl.
Sie bedauerte kaum, dass sie das Spiel der Komödianten verpasst hatte, denn ihr Stück frei nach der berühmten Tragödie Cenodoxus des Jesuiten Jacob Bidermann hatte vor zwei Tagen weder sie noch die anderen Zuschauer so recht begeistert. Die Geschichte des heuchlerischen Medicus von Paris, die die Zuschauer in Angst und Schrecken hätte versetzen sollen, war zu einer faden Posse heruntergekommen, lustlos gespielt und ohne jeden Aufwand in Szene gesetzt. Überhaupt schien es Agnes, dass diese Truppe ihre beste Zeit längst hinter sich hatte, mit ihren zerschlissenen Kostümen und spärlichen Requisiten.
Doch dann betrat Kaspar die Bühne, mit strahlendem Lächeln, die Arme zum Gruß erhoben. Und prompt schwoll der Applaus an, den er sichtlich zu genießen schien. Es waren, wie Agnes missmutig wahrnahm, vor allem die Frauen und Mädchen, die da so hingerissen in die Hände klatschten. Denn Kaspar war ein ausnehmend schöner Mann. Das dichte braune Haar, unterhalb der Ohren und im Nacken sorgfältig gestutzt, umrahmte sein bartloses Gesicht mit der geraden Nase und dem etwas kantigen Kinn. Sehr männlich wirkten Kaspars Züge, gleichzeitig hatten sie etwas Weiches, beinahe Mädchenhaftes durch die hellbraunen, leicht vorstehenden Augen unter fein geschwungenen Brauen und seinen schönen Mund mit den vollen Lippen. Dazu war er hoch gewachsen und von aufrechter, muskulöser Statur.
Während im Hintergrund ein Bub das Dreigestänge mit den Bildtafeln aufstellte, stimmte Kaspar seine Laute, nicht ohne hin und wieder ein verschmitztes Lächeln ins Publikum zu werfen. Dabei entdeckte er Agnes. Sofort schlug er eine kleine Melodie an und sang, ohne den Blick von ihr zu wenden:
«Königin Sonne, du leuchtest so!
Ich und der Sommer, wir brennen lichterloh!»
Obwohl immer noch drückende Schwüle über dem Platz lag, lief Agnes ein Schauer über den Rücken. Kaspar ließ eine schnelle Akkordfolge anklingen, und der Junge deutete mit einem Stock auf das erste Bild. In grellen Farben zeigte es einen Tumult zwischen mehreren Männern, die sich inmitten umgestürzter Möbel vor einem weit geöffneten Fenster drängten.
«Ihr Leute, höret die Geschichte,
Die vor zwei Jahren ist geschehn,
Die treulich ich euch nun berichte,
Drum lasst uns dran ein Beispiel sehn.»
Agnes nahm die Bilder nicht wahr, hörte nicht die Worte. Nur Kaspars schönes Gesicht hatte sie vor Augen, die Melodie seiner warmen tiefen Stimme im Ohr. Die kündete von dem bösen Streit zwischen den kaiserlichen Statthaltern Prags und den lutherischen Ständevertretern, der für Böhmen so schlimme Folgen gezeitigt hatte.
«Die Statthalter, die Kaisertreuen,
Die stritten laut um Wort und Sinn
Mit den Calvinern, Lutheranern,
Was in des Kaisers Brief stand drin.
Zum Fenster hat man sie gezogen,
Den Slavata und Martinitz,
Und rausgehaun in hohem Bogen
Gradwegs auf einen Haufen Mist.
Der Schreiberling Fabricius,
Der flog gleich hintendrein.
Sie fielen tief, sie fielen weich,
Auf Dreck von Rind und Schwein.
Bald kündt von Pein und großer Not
Ein Stern am Himmelsrand,
Und seither schlagen sie sich tot
Im schönen Böhmerland.
Doch Martinitz und Slavata
Samt Secretarius –
Für sie war Glück und Ruhm nun da
Mit Adelstitel und Genuss.
So macht man aus ’nem armen Schreiber
Fabricius von Hohenfall.
Die andern massakrieren sich die Leiber
Mit Spieß und Büchsenknall.
Von der Geschicht so hört nun die Moral:
Des einen Glück den andern wird zur Qual.»
Agnes hatte kaum zugehört. Ungeduldig wartete sie darauf, dass Kaspar sein nächstes Stück beendete, ein rührseliges Schäferlied, für das er eigens Schlapphut und Schaffell angelegt hatte. Ein rothaariges Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren drängte sich neben sie. «Na, wartest du auf deinen Liebsten?»
Es schien nicht böse gemeint, denn auf dem sommersprossigen Gesicht der Rothaarigen erschien ein freches Grinsen. Es war die Tochter des Prinzipals, das wusste Agnes inzwischen. Seit Kaspar seinen Weggefährten erzählt hatte, dass Agnes als Kind selbst mit Gauklern gezogen war, begegneten ihr die Leute von der Truppe zwar nicht immer freundlich, aber doch ohne Misstrauen.
Endlich verschwand Kaspar nach einer knappen Zugabe hinter dem Vorhang. Kurz darauf stand er neben ihr.
«Mein Goldschatz!»
Er zog sie in den Schatten des Requisitenwagens, wo er sie zärtlich umarmte. Wieder wurde ihr heiß und kalt zugleich, doch diesmal kämpfte sie dagegen an, denn sie wollte nicht wie eine dumme Jungfer vor ihm stehen. Sie war nicht ganz so unerfahren, was immer Kaspar von ihr denken mochte.
«Ich hab schon gemeint», er küsste ihre Lippen, «du lässt mich sitzen.»
«Es gab Streit mit meinen Eltern», flüsterte sie. «Lass uns woanders hingehen. Vielleicht im Hirschgraben spazieren.»
«Wohin du willst. Und danach –» Er strich über den Ansatz ihrer Brüste.
«He, Kaspar, Schluss mit den Tändeleien! Los, hilf abbauen!» Ein vierschrötiger Mann mit wilder grauer Mähne stand plötzlich direkt neben ihnen. Agnes machte sich hastig von Kaspar los; sie spürte, wie das Blut ihr in die Wangen schoss.
«Nicht heute, Meister! Lass mir diesen letzten Abend mit meinem Schatz.»
Er hakte sich bei Agnes unter und schob sie, ohne auf die Verwünschungen des Grauhaarigen zu achten, in eine schmale Seitengasse, die zu einem Durchlass in der Stadtmauer führte. Dort, geschützt vor den Blicken der heimkehrenden Bürger, beugte er sich wieder über sie. Doch Agnes schüttelte seinen Arm ab. Ihre dunkelblauen Augen funkelten.
«Was soll das heißen – letzter Abend? Zieht ihr etwa weiter?»
«Hatte ich dir das gestern nicht gesagt?» Elegant zog er die geschwungenen Brauen in die Höhe.
«Nein, hast du nicht!» Sie verschränkte die Arme. «Und wahrscheinlich hättest du es mir auch heute Abend verschwiegen. Wärst morgen früh sang- und klanglos verschwunden.»
«Ach, Unsinn. Es ist nur –», er geriet ins Stottern, «der Prinzipal hat es heute erst entschieden.»
Er nahm ihre Hand, und sie traten durch die Pforte auf den Hirschgraben hinaus. «Du hast doch selbst gesehen, dass wir kaum noch einen Hund hinter dem Ofen vorlocken. Kann ich sogar verstehen. Diese entsetzlich plumpen Moralitäten, ohne Witz und Attraktion. Und meine neckisch-verlogenen Schäferliedchen stehen mir selbst schon bis zum Hals.» Er lächelte sie an. «Aber ich verspreche dir: Spätestens zum Martinimarkt bin ich wieder in Ravensburg. Und in der Zwischenzeit werde ich keine andere Frau auch nur eines Blickes würdigen.»
Vergebens suchte sie ihre Enttäuschung zu überspielen. Viel zu kurz war er in Ravensburg gewesen, fünf Tage nur, an denen sie sich heimlich vormittags vor der Stadt getroffen hatten. Wie schwer war es ihr gefallen, bei der Aufführung vorgestern, ihren Eltern gegenüber zu verbergen, dass sie den Sänger kannte. Dass sie ihn liebte, seit er sie beim Frühjahrsmarkt keck und unverhohlen angesprochen hatte, in Gegenwart all ihrer Freundinnen. Und jetzt sollte sie schon wieder viele, viele Wochen warten, bis sie wieder zusammen sein konnten?
«Nun sieh mich nicht so an, Prinzessin. Nur du bist mir wichtig in dieser heillosen Welt.» Er bedeckte ihren Hals und ihre Schultern mit Küssen. «Weißt du, in was ich mich damals zuerst verliebt habe? In deine Augen. Sie haben das Blau eines wolkenlosen Sommertages, eines im Wind wogenden Kornblumenfeldes –»
«Es wird gleich dunkel», unterbrach sie ihn. «Ich muss nach Hause.»
Unvermittelt ließ er sie los und kniete jetzt tatsächlich vor ihr nieder, mit glühendem Blick, die Arme ihr theatralisch entgegengereckt.
«Komm mit zum Fluss, in unser Lager. Ich flehe dich an: Lass uns diese letzte Nacht zusammen verbringen.»
Ihr schwindelte. Dieser Gedanke war ungeheuerlich. Sie wusste, was eine Nacht mit Kaspar bedeutete. Er war keiner der Nachbarburschen, die sie seit einigen Jahren umschwärmten und mit denen sie spielen konnte, wie es ihr gefiel. Die sie nach Belieben an sich heranlassen und wieder abweisen konnte. Kaspar war ein Mann, und er wollte sie als Frau. Sie wusste genau Bescheid um diese Dinge, hatte oft genug von sich aus die Burschen gedrängt, weiter zu gehen, als es schicklich war. Doch bis zu dem, was der Pfarrer in der Kirche mit hochrotem Kopf «Kopulation» nannte, hatte sie es niemals kommen lassen.
Und dann – ihre Eltern! Vielleicht hatten die längst entdeckt, dass sie verschwunden war, und erwarteten sie nun voller Zorn zu Hause. Nicht auszudenken, wenn sie die ganze Nacht fortbliebe. Umbringen würden ihre Eltern sie.
Ein mächtiger Donnerschlag ließ sie zusammenzucken. Gleich darauf begann es zu regnen. Beherzt zog sie Kaspar zu sich heran.
«Gehen wir.»
«Wie konntest du so etwas Schamloses tun?» Aus Marthe-Maries Lippen war alle Farbe verschwunden.
Agnes hob den Kopf. Ihre Wange brannte noch immer. Zwar war ihre Mutter mit Maulschellen stets schneller zur Hand gewesen als ihr Vater, doch es war Jahre her, dass sie zuletzt eine gefangen hatte.
«Was hätte ich tun sollen?» Agnes’ Stimme zitterte. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern, seit sie bei Morgengrauen heimgeschlichen war, über den Altan zurück in das Zimmer der Brüder – und dort auf ihren Vater gestoßen war. Im Lehnstuhl hatte er gesessen, hellwach, mit rotgeränderten Augen, und auf sie gewartet.
«Es ist, wie ich’s sage. Die Leute von der Theatertruppe wollten mir das Lager zeigen, und dann kam dieses Unwetter dazwischen.»
Jonas schlug die Faust auf den Küchentisch, dass es krachte. «Hör endlich auf! Darum geht es gar nicht. Du hast uns belogen und betrogen. Einfach nachts davonschleichen, sich einem hergelaufenen Landstreicher an den Hals werfen! Bist du überhaupt noch ganz bei Sinnen?»
«Kaspar ist kein Landstreicher. Er ist Sänger! Und er weiß ganz genau, was er will.»
«Oh, das kann ich mir denken. Dummen jungen Gänsen den Kopf verdrehen, um sie dann aufs Kreuz zu legen.» Jonas war aufgesprungen und lief erregt in der Küche auf und ab. «Ich hab ihn doch gesehen, ihn und diese elende Vagantentruppe. Ein ausgekochter Hallodri ist das, nichts weiter.»
«Nein!» Agnes sprang vom Stuhl auf. «Er meint es ernst mit mir.»
«Ein Komödiant meint es niemals ernst», entgegnete ihre Mutter tonlos. Sie wirkte plötzlich alt, wie sie da mit gesenkten Schultern hinter der Stuhllehne stand. «Wir können alle nur bei Gott hoffen, dass du in dieser einen Nacht nicht dein ganzes Leben verpfuscht hast. Du wirst ihn nie wieder sehen. Du wirst seinen Namen in diesem Haus nie wieder erwähnen. Hast du verstanden?»
In einem Sturm der Wut und Enttäuschung sah Agnes ihrer Mutter in die Augen. «Wie kannst du nur so reden? Hast du vergessen, dass du selbst einst bei Gauklern gelebt hast? Dass ich bei diesen Leuten aufgewachsen bin? Hast du das alles vergessen?»
«Auf deine Kammer!» Jetzt war es Marthe-Maries Stimme, die bebte. «Sofort! Und für den Rest der Woche verlässt du nicht mehr das Haus.»
Hilfesuchend sah Agnes zu ihrem Vater. Doch auch dessen Blick war starr und abweisend. So verkniff sie sich jedes weitere Wort und ging stumm zur Tür. Ihr Vater fasste sie bei der Schulter.
«Nächsten Sonntag sind wir bei Ulrichs Eltern zum Essen eingeladen. Ich hoffe, du weißt, wie du dich dort zu benehmen hast.»
Ulrich Nägli! Sie musste an sich halten, dass sie nicht hinter sich die Tür ins Schloss krachen ließ. Dann hatten sich die Eltern also schon abgesprochen, war die Heiratsabrede beschlossene Sache. Aber nicht mit ihr. Lieber würde sie konvertieren und zu den Franziskanerinnen ins Kloster gehen.
Agnes kannte Ulrich, den Kaufmannssohn aus der Nachbargasse, seit Kindertagen, und im Grunde mochte sie ihn. Die ersten unbeholfenen Zärtlichkeiten hatte sie mit ihm ausgetauscht, sogar den ersten richtigen Kuss gewagt. Aber er war ein Langweiler, gutmütig, blass und etwas dicklich, der seine Nase nur zum Essen und Schlafen aus dem Kontor seines Vaters steckte. Kein Vergleich mit einem Mann wie Kaspar!
Sie verriegelte die Kammertür und warf sich auf ihr Bett. Wie scheinheilig ihre Eltern waren, scheinheilig und dünkelhaft. Stellten Kaspar als Landstreicher hin. Dabei hatte ihre Mutter selbst einmal in höchster Gefahr Zuflucht gefunden bei einer Komödiantentruppe! Sie war von diesen Menschen aufgenommen worden, als wäre sie eine von ihnen. Agnes selbst konnte sich nicht mehr daran erinnern; sie war ja erst zwei, drei Jahre alt gewesen. Doch Marthe-Marie hatte ihr eines Tages davon erzählt: Wie sie mit ihr aus Freiburg hatte fliehen müssen, als dort einmal mehr der Hexenwahn aufloderte, dieser entsetzliche Wahn, der Marthe-Maries Mutter auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Wie sie außerdem von einem Wahnsinnigen verfolgt worden war, der ihr, der vermeintlichen Hexentochter, nach dem Leben trachtete. Wie sie dann zwei Jahre lang im Schutze von Leonhard Sonntags Compagnie durch die Lande gezogen waren, immer tiefer in Hunger und Elend gerieten, bis Marthe-Marie beinahe vergessen hatte, dass sie eigentlich einer angesehenen Familie entstammte, und sich selbst zu den Unehrlichen, zu den Rechtlosen zählte. Es musste eine schlimme Zeit für ihre Mutter gewesen sein, und doch war es die Zeit, die ihrem Leben schließlich die glückliche Wende gebracht hatte: Hier in Ravensburg war Marthe-Marie überraschend auf ihren verloren gewähnten Vater gestoßen. Und sie hatte auf ihrer Flucht Jonas Marx kennen gelernt.
Agnes schnaubte. Selbst das schienen ihre scheinheiligen Eltern vergessen zu haben: dass auch der Vater eine Zeit lang bei den Gauklern gelebt hatte, aus lauter Liebe zu ihrer Mutter. Und noch etwas wusste Agnes: Beinahe hätte Marthe-Marie ihr Herz an einen echten Gaukler verloren, einen Komödianten namens Diego. Das allerdings hatte sie nicht von ihrer Mutter erfahren, sondern von Lisbeth, Leonhard Sonntags Tochter. Vorletzten Sommer nämlich hatte Sonntags Truppe nach vielen, vielen Jahren wieder in Ravensburg gastiert, und es war zu einem ergreifenden Wiedersehen gekommen. Als Agnes und die gleichaltrige Lisbeth einander als Freundinnen aus frühesten Kindertagen vorgestellt wurden, war der erste Augenblick der Verlegenheit rasch verflogen. Denn zwischen ihr und dem Mädchen mit den kräftigen dunkelroten Haaren und den Sommersprossen auf der spitzen Nase schien eine Art Seelenverwandtschaft zu bestehen – sie lachten über dieselben Dinge, machten sich über dieselben Leute lustig und waren gleichermaßen neugierig auf alles, was sie nichts anging. Es waren herrliche Tage damals, jede freie Minute verbrachte sie mit Lisbeth. Sie lernte die anderen Gaukler kennen, erfuhr alles über den Alltag der Fahrenden, hörte von der unglücklichen Liebe Diegos zu ihrer Mutter und von so manchem Abenteuer aus ihrer eigenen Kindheit, an das sie selbst sich nicht mehr erinnern konnte. Als sie nach zwei aufregenden Wochen Abschied nehmen mussten, war es Agnes, als verliere sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen geliebten Menschen. Was blieb, war ein heimliches Fernweh, eine unbestimmte Sehnsucht nach einem anderen Leben.
Vielleicht war es das – vielleicht wussten ihre Eltern um diese Unruhe und wollten sie gerade deshalb in den Käfig eines wohlanständigen Lebens sperren. Aber an diesen Stubenhocker Ulrich würde sie sich nie und nimmer ketten lassen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Sie vergrub den Kopf in ihrem weichen Daunenkissen und versuchte, den herben Duft von Kaspars Haut nachzuspüren. Ihr schwindelte. Wie zärtlich und voller Liebe er sie letzte Nacht berührt hatte. Als es dann tatsächlich zu jenem bang erwarteten Moment gekommen war, hatte sie statt der erhofften Lust nur einen kurzen Schmerz verspürt. Doch der Stolz darüber, dass ihr Geliebter sie zur Frau gemacht hatte, ließ sie diesen kurzen Augenblick der Enttäuschung schnell vergessen. Sie und Kaspar gehörten jetzt zusammen. Für immer.
Den Gedanken an die möglichen Folgen ihrer Liebesnacht hatte sie verdrängt. Zumal Kaspar ihr versprochen hatte, er werde schon Acht geben, was auch immer er darunter verstand. Doch war ihr das in dieser wundervollen Nacht ohnehin gleich, sie würde bei ihm bleiben, da konnten ihre Eltern noch so zetern und zürnen. Schließlich hatte Marthe-Marie ihre Entscheidungen dazumal auch allein getroffen, hatte weder Vater noch Mutter um Einverständnis bitten müssen.
Jetzt galt es nur noch, die Zeit bis November hinter sich zu bringen – vielleicht konnte sie bis dahin ein paar Schillinge zusammensparen, indem sie öfter als bisher für die alte Grete aus dem Nachbarhaus Botengänge und Einkäufe erledigte. Das musste natürlich heimlich geschehen, denn für die Haustochter eines Schulmeisters schickte es sich nicht, Geld für Gefälligkeiten anzunehmen. Doch sie war fest entschlossen, Kaspar bei seinen Zukunftsplänen zu unterstützen. Sie zweifelte keine Sekunde an seinen Worten: Noch vor dem ersten Schneefall werde er eine feste Stellung an der herzoglichen Residenz in Stuttgart antreten, hatte er gesagt. Der Siegeszug der italienischen Oper an den Fürstenhöfen sei unaufhaltsam, und er habe fast ein Jahr bei einem Chor- und Kapellmeister in Mantua gelernt. Nur aus der Not habe er sich dieser Gauklertruppe angeschlossen, doch jetzt sei seine Zeit gekommen. «Nie wieder will ich auf einem verlotterten Bühnenkarren von diesen albernen Zeitungen singen oder mich in Schäferlumpen zum Hanswurst machen. Ich bin kein Gaukler, Agnes, ich bin ein Mann der Kunst.»
Das waren seine Worte gewesen. Agnes lächelte versonnen. Bei Hofe würde er zu den geachteten Leuten gehören, mit festem Einkommen und frei vom Makel der Rechtlosigkeit und Unehrlichkeit. Dann würden nicht einmal mehr ihre Eltern etwas gegen eine Heirat einzuwenden haben.
«Und du willst wirklich, dass ich mit dir komme?», hatte sie ihn am Vorabend gefragt. Nassgeregnet bis auf die Haut standen sie vor seinem Wagen am Ufer der Schussen, und Agnes hatte ein letztes Mal gezögert, ob sie tatsächlich das Nachtlager mit ihm teilen sollte.
«Aber ja, meine Prinzessin. Du musst! Du wirst mir Glück bringen.»
«Warum ziehst du dann erst mit den anderen weiter? Warum gehst du nicht gleich nach Stuttgart und sprichst bei Hofe vor?»
«Ach Agnes, das weißt du doch! Ich habe mit dem Prinzipal einen Kontrakt bis Martini, und es würde mich meinen letzten Heller kosten, wenn ich den breche.»
Bis Martini! Agnes seufzte. Und wenn ihn nun seine Reisen ganz woanders hinführten? Oder er bis dahin eine andere Frau kennen lernte? Ach was – sie musste Kaspar vertrauen. Er meinte es ernst. Warum sonst hätte er sein Vorhaben bis ins Kleinste mit ihr besprochen? Ihr ein ums andere Mal versichert, dass er den Neubeginn nur mit ihr wagen wolle? Hatte er nicht sogar, als es endlich soweit war und sie eins mit ihm wurde, geflüstert: Ich liebe dich? Und hatte ihr die Wahrsagerin nicht neulich aus der Hand gelesen, ihr sei Eheglück und Kindersegen in einer fernen Stadt beschieden?
Sie sprang vom Bett auf und ging zum Waschtisch, um sich zu kämmen und zurecht zu machen. Aus der Küche hörte sie das Klappern der Töpfe. Ihre Mutter begann das Mittagsmahl vorzubereiten, und es war Agnes’ Aufgabe, dabei zu helfen. Trotzig verzog sie das Gesicht. O ja, sie würde ihren Pflichten nachkommen, ganz die folgsame Tochter, und Kaspar nie wieder erwähnen. Denn nur eines zählte: An Martini würde sie ihren Geliebten wiedersehen.
Der Sommer hatte dieses Jahr nur ein kurzes Gastspiel gegeben. Auf den heftigen Gewittersturm Ende August war ein kühler September gefolgt, mit einer kraftlosen Sonne am dunstigen Himmel, und hernach ein feuchter, nebliger Oktober. Auch jetzt, an diesem Sonntagvormittag, zeigte sich die Welt grau in grau.
Matthes trat vom Fenster zurück und setzte sich in Jakobs alten Lehnstuhl. Er war gerade mit der Familie vom Gottesdienst zurückgekehrt. Keiner hatte ein Wort gesprochen, als sie den Marienplatz überquerten, auf dem seit gestern die Stände und Lauben für den Martinimarkt aufgebaut waren. Er fragte sich, was wohl in seiner Schwester vorgegangen sein mochte, als sie am Bühnenwagen der Gaukler vorbeikamen. Von der Truppe war niemand zu sehen gewesen, doch Agnes war ohnehin mit erhobenem Kopf, ohne nach rechts und links zu blicken, daran vorbeimarschiert.
Seit jenem schlimmen Streit mit den Eltern war seine Schwester eine andere. Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt, ihr Blick abwesend und ernst. Sie kam nicht mehr vor dem Schlafengehen zu ihm und Jakob herunter, wie sie es sonst getan hatte, um mit ihnen eine halbe Stunde zu würfeln oder Karten zu spielen, beteiligte sich kaum noch an den Tischgesprächen und stürzte sich stattdessen verbissen in ihre Haus- und Flickarbeiten. Und bei den wechselseitigen Sonntagsbesuchen mit der Familie Nägli benahm sich Agnes wie eine mustergültige junge Dame. Wahrscheinlich sah sich der dicke Ulrich schon als ihr Gatte.
Matthes hatte längst begonnen, Agnes’ frechen Spott und ihre Neckereien zu vermissen, von ihrem lauten, fröhlichen Lachen ganz zu schweigen. Manchmal fragte er sich, ob sie was im Schilde führte.
Anfangs war ihm dieser Streit gerade recht gekommen – schienen doch seine Eltern über jene unerhörte Geschichte mit Agnes und diesem singenden Possenreißer den Ärger über ihn vollkommen vergessen zu haben. Niemand hatte mehr auf ihn geachtet, weder hatte der Vater das Gespräch mit seinem Meister gesucht noch den angedrohten Hausarrest wahr gemacht. Matthes zog ein finsteres Gesicht. Wenn er, Matthes, anstelle seines Vaters gewesen wäre, er wäre noch am selben Morgen zum Gauklerlager hinaus und hätte Kaspar die Seele aus dem Leib geprügelt. Er war sich sicher, dass dieser Hundsfott jede Nacht über ein anderes Weib stieg.
Doch ihn hatte niemand gefragt, und sich einzumischen hätte er nicht gewagt. So ging der Alltag für ihn bald wieder seinen gewohnten Gang: Frühmorgens verließ er das Haus, um in die ungeliebte Werkstatt zu trotten, wo er bis zum Feierabend nichts anderes tat, als Rinder- und Ziegenhörner zu entschlauchen und zuzurichten und die Hohlstücke aufzuschneiden. Nicht ein einziges Mal hatte ihn der Meister bisher an die Drehbank gelassen, obwohl er bereits seit einem Jahr in Lehre war. Stattdessen fluchte der Alte über sein Ungeschick und seinen Widerwillen bei der Arbeit und prophezeite ihm ein ums andere Mal, aus ihm werde nie ein ordentlicher Handwerker. Womit er nicht falsch lag, denn Matthes hatte längst andere Pläne. Mit diesem weibischen Kram wie Frisier- und Zierkämmen, Haarnadeln, Knöpfen, Spielmarken und anderem Schnickschnack hatte er ohnehin nichts am Hut. Wenn schon jahrelang als Lehrbub ochsen, dann wollte er wenigstens einen Beruf für richtige Männer erlernen.
Er beugte sich über die Armlehne und tastete unter sich über die Dielenbretter, bis er die lose Stelle fand. Vorsichtig zog er den Stapel Flugblätter hervor. Plötzlich stand Jakob hinter ihm.
«Was schleichst du dich herein wie ein Strauchdieb?», herrschte Matthes seinen jüngeren Bruder an.
«Vielleicht hast du vergessen, dass das auch meine Kammer ist? Los, zeig schon her.»
Mit einem Ruck entriss Jakob ihm das oberste Blatt. Glorreicher Sieg der Bayerisch-Kaiserlichen über die calvinischen Ketzer prangte fett über einem Bildnis des so genannten Winterkönigs Friedrich. In frechem Strich hatte der Zeichner den Pfälzer barfuß, in Lumpen und mit zerbrochener Wenzelskrone auf dem lockigen Haupt dargestellt.
«In der Nacht vom siebenten zum achten November – die Böhmischen vernichtend geschlagen – Schlacht am Weißen Berge –», murmelte Jakob halblaut vor sich hin. «Kühn und voller Wagemut – Tillys tapfere Mannen – Prag vom Joch der Ketzer befreit.» Er sah auf. «Ich dachte, der Mansfelder hätte die Bayern bei Pilsen zurückgeschlagen?»
«Seit wann interessiert dich der Krieg?»
Jakob zuckte die Achseln. «Das tut er nicht, aber ich habe halt Augen und Ohren. Was mich interessiert, sind die Menschen.» Er gab ihm die Flugschrift zurück. «Von wem hast du das?»
«Von Gottfried. Hat er mir heute in der Kirche zugesteckt.»
«Der großgoscherte, aufgeblasene Gottfried Gessler? Das scheint ja dein neuester Spezi zu sein. Und woher hat der die Blätter?»
«Sein Vater lässt sie sich kommen.»
Auf Jakobs schmalem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. «Büchsenmacher Gessler, der brave Lutheraner. Hält Ausschau, an wen er seine Feuerrohre verscherbeln kann. Und wenn’s an die Katholischen ist, die damit seine Glaubensbrüder über den Haufen schießen.»
«Du kleiner Klugscheißer! Wehe, du verpfeifst mich bei Vater.»
Jakob schüttelte den Kopf. «Keine Sorge. Ich frag mich bloß, ob du immer noch abhauen willst. Aber wie du siehst, gewinnt der große Tilly seine Schlachten auch ohne dich.»
«Halt’s Maul. Du redest schon so blöd daher wie Agnes.»
Sein Bruder brauchte ja nicht zu wissen, wie froh er im Nachhinein war, dass der Vater ihn an jenem Sommerabend erwischt hatte. Damit hatte er sich eine Blamage vor all den anderen Burschen der Stadt erspart. Denn als sein Freund Gottfried Gessler, mit dem er auf der Kuppelnau verabredet gewesen war, vor den Musterschreiber getreten war, hatte der ihn als Erstes nach seinem Alter gefragt. Achtzehn, hatte Gottfried gesagt. Da war der Mann in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatte ihm mit den Worten «Da hast du dein Handgeld» vor allen anderen kräftig eins hinter die Ohren gegeben. Unter einem Schwall von Spott und Häme hatte er den Heimweg antreten müssen.
Matthes verstaute die Blätter wieder in ihrem Versteck.
«Hör zu, Jakob: Bevor du dich vielleicht doch vor deiner geliebten Schwester verschwatzt – ich will bloß auf dem Laufenden sein. Mehr noch als der Krieg interessiert mich das Büchsenmachen. Mit ein wenig Glück werde ich bei Gessler nächstes Jahr die Lehre beginnen.»
Jakob sah ihn aus seinen hellen Augen erstaunt an. «Du willst schon wieder eine neue Lehre anfangen?»
«Was heißt schon wieder? In der Kunstschlosserei unseres Oheims war ich nur zu einer Probezeit.»
Jakob grinste spöttisch und schwieg.
«Denk doch, was du willst. Der alte Gessler jedenfalls meint, die Zeiten seien formidabel. Die Büchsenmacherzunft wird bald die Königin der Zünfte sein.»