Helmut Krausser

Schmerznovelle

EINE FRAU, DIE NICHT DA IST

Man begann sehr bald nach meiner Ankunft, mich auf das Ehepaar Palm hinzuweisen, mit Anspielungen, die das Wesentliche dessen, weshalb ich es denn unbedingt kennenlernen müsse, aussparten. Sätze fielen, wie: «Warten Sie ab, bis Sie den Palms begegnen!» Oder: «Die Palms, die wären was für Ihre Forschung.» Bohrte ich nach, bekam ich zu hören, dieses Phänomen müsse man, um es zu würdigen, mit eigenen Augen erlebt haben, ein Frevel wärs, was mich erwarte, vorwegzunehmen. Manche reagierten auf meine beharrliche Neugier mit einem verschwörerischen Zwinkern, andere mit einem kurzen Schnauben, das Amüsiertheit ebenso wie Ausdrucksnot bedeuten konnte.

 

Ein schwerer September lastete auf dem Ort. In Wassernähe tanzten Heere von Insekten, derentwegen Schwalben, die sich zu einer zweiten Brut entschlossen hatten, immer noch jagten. Ihre Flugfiguren blieben das einzig unruhige Moment in einem Panorama schwitzender Behäbigkeit. Auf den Booten im See trieben schläfrige Menschen, manche vom Sommer bis zur Entstellung gebräunt. Meist ältere Menschen; der Ort gehörte zum größten Teil wohlhabenden Ruheständlern. Es gab die Kaste der durchschnittsverdienenden Ausflügler, die sich an den wenigen öffentlichen Ufern wie in Reservaten drängten. Sie verzehrten Mitgebrachtes, mieden, vom Eis am Stiel fürs Kind mal abgesehen, die überteuerten Preise der Strandgastronomie und bestiegen spätestens bei Sonnenuntergang die halbstündlichen Züge zurück zur Provinzhauptstadt. Danach war man im Ort unter sich, und nur an der Vergnügungsmeile, im architektonisch eindrucksvollen Casino und den dazugehörigen Nachtlokalen, trieben sich noch Fremde herum.

 

Ich will den Namen des Ortes nicht nennen, aus Gründen, die sich im Folgenden erschließen werden. Er liegt in einem großen bohnenförmigen Tal, wird in weitem Umkreis von smaragdfarbenen Gebirgsteichen umringt, und im einzigen Bordell der Gegend, verschämt am Saum des Villenkorsos gelegen, bedienen den Gast ausschließlich Damen inländischer Herkunft. Man weiß hier genau, welchen Anfängen man wehren muß.

 

Der Grund meines Aufenthaltes war profan. Sofern sich dies von einer Frau, zumal einer Schönheit, sagen läßt. Es läßt sich. Guten Gewissens.

Sylvia war überhaupt nicht hier. Ich vermute, daß sie zu fliehen beschloß, nachdem ich ihrem Gatten meinen Besuch angekündigt hatte. Fliehen klingt zu stark, sagen wir: Sie ging mir aus dem Weg. Setzte nichts aufs Spiel. Ihr Mann, dreißig Jahre älter als sie und ich, war in München mein Professor gewesen, wir pflegten jetzt noch, zehn Jahre nach meiner Promotion, fünf nach seiner Emeritierung, ein freundschaftliches Verhältnis.

Sylvia hatte mir bei früheren Gelegenheiten einiges in Aussicht gestellt, was sie nun, unter den gegebenen Umständen, die die ungünstigsten nicht gewesen wären, nicht aufrechterhalten wollte. Das kränkte mich.

Sie sei für eine Woche nach Wien gefahren, Freunde besuchen, der Termin habe lange schon festgestanden, sie ließe sich vieltausendmal entschuldigen. Möglicherweise wollte Sylvia die Spannung zwischen uns später einmal, an anderem, neutralerem Ort entladen. Wie dem auch sein mochte. Es lag an mir, aus der Situation das Beste zu machen.

 

Zwei, drei Tage samt der damit unausweichlich verknüpften Abende würde mein Aufenthalt im Hause Kappler, so hieß mein Doktorvater, notwendig sein, um einem Menschen seiner Generation nicht das Gefühl zu geben, bloß eine lästige Besuchspflicht erfüllt zu haben.

Wir langweilten uns kaum. Fritz Kappler besaß Humor, einen schier unerschöpflichen Anekdoten- und Erfahrungsschatz, und seine fachliche Autorität blieb, obgleich er die jüngsten Entwicklungen in unsrer Disziplin nicht mehr recht wahrnahm, ehrfurchtgebietend. Ich hatte ihn gern. Daß die Sache mit Sylvia im Imaginären blieb, dort kläglich zu verkümmern drohte, schien mir bald ein willkommener, befreiender Umstand, auch wenn ich ihretwegen kein schlechtes Gewissen gehabt hätte, nein. Manchmal schwang in Kapplers laut geäußertem Bedauern über die Abwesenheit seiner Gattin sogar etwas subtil Obszönes mit – als hätte er sie mir gerne angeboten, stolz auf das Erarbeitete, das man, um es voll zu würdigen, ausprobieren müsse. Er war ein Genießer, der sich über seine Person und sein Alter keine Illusionen gönnte, der Illusionen überhaupt verabscheute, insbesondere solche des Eros. Unser beider Fachgebiet ermöglicht wohl keine andere Haltung.

Ich bin mir sicher, daß Kappler, schon als er Sylvia und mich zum ersten Mal miteinander hatte reden sehen, in seiner Phantasie binnen Sekunden Dutzende möglicher Verstrickungen, Abenteuer und daraus resultierender mehr oder weniger kritischer Verläufe entwarf. Ohne daß ihn dies bekümmert oder gegen mich eingenommen hätte.

«Überlassen wir das Zwischenmenschliche den Patienten, die davon nicht lassen können.» So oder ähnlich sprach er mitunter nach dem dritten Glas Rotwein; es klang dann sehr vernünftig, gar nicht arrogant.

Bestimmt hätten wir sogar, in der Art zweier welterfahrener Zuhälter, über Sylvia reden können, würde die Kluft mehrerer Generationen nicht immer ein Grenzland schaffen, in dem manche Themen höflich ausgeschwiegen werden, ohne daß sich genau sagen ließe, warum das so sein muß. Hängt wohl mit den sehr unterschiedlichen verbleibenden Lebensspannen zusammen, die kein gemeinsames Spielfeld mehr zulassen, ohne zu Lasten des Älteren jene Stillosigkeit ins Spiel zu bringen, die der nahende Tod nun einmal darstellt.

 

Am dritten Abend meines Aufenthalts, einer bis dahin entspannenden, kontemplativen Zeit, die mit Wanderungen, Wein, Gesprächen und Zigarren leicht vorüberfloß, nahm mich Kappler mit zum Hauskonzert der Kaltenbrunners. Ich hatte keine Lust gehabt, er allerdings bestand darauf. Es gebe Brahms und Ravel, dazu ein gutes Buffet, der Rest könne so schlimm nicht werden. Ich ließ mich überreden. Wir fuhren, Fritz wollte alkoholisch unabhängig sein, mit dem Taxi vor. Es handelte sich um eine der größeren Villen am westlichen Seeufer. Der Garten war mit Lampions geschmückt, der Salon zum kleinen Konzertsaal verwandelt. Fackelbeleuchtete Auffahrt. Samstagabend. Kappler lieh mir eine Krawatte. Man würde mich sonst «für einen Künstler halten» – es klang aus seinem Mund bedrohlich.

Zwangloses Zusammenkommen. Ich blieb in Kapplers korpulentem Schatten, lavierte mich so durch. Niemand wollte wissen, wer ich war. Begrüßungschampagner. Steifheit. Parade der Frauen. Sitzverteilung. Bitte um Ruhe.

Und das Konzert begann.

Ein junger Pianist von bereits, wie es der Gastgeber in seiner Einführungsrede ausdrückte, ‹verfestigtem Namen›, spielte, so der Gastgeber weiter, ‹Klassisches› – damit war der Brahms gemeint, wie auch ‹Zeitgenössisches›, hierunter fiel Ravel.

Es war in Ordnung. Während des Vortrags durfte geraucht und getrunken werden. Einige Frauen trugen gewagte Garderoben.

Als Zugabe – nach enormem Beifall – brachte der Virtuose eine Eigenkomposition zu Gehör. Nicht ohne Witz und Originalität. Man lachte gutwillig. Daran anschließende Tischgespräche drehten sich bevorzugt um die ‹goldenen Zeiten der Tonkunst›. Der angenehme Teil des Abends war Vergangenheit. Die Dame des Hauses reichte mir ihre Hand zum Kuß, ich schüttelte sie kurz. Kaltenbrunner, der, wie mir souffliert wurde, mit dem zu Nürnberg Gehenkten weitläufig verwandt sein sollte, verwickelte mich in eine Diskussion über angeblich zunehmende Homosexualität in der Gesellschaft als schiere Folge des auf kein zuträgliches Frauenbild mehr treffenden Hedonismus. Meine Zurückhaltung, die mich bislang vor allgemeinem Interesse bewahrt hatte, wurde öffentlich als Understatement deklariert. Kappler stellte mich nicht vor, er stellte mich bloß. So empfand ich es. Er war gradhinaus besoffen. Nannte mich vor allen Leuten den in Deutschland führenden Spezialisten auf dem Gebiet sexueller Aberration. Das konnte meiner Meinung nach zwar stimmen, ich hätte es dennoch lieber in der Zeitung gelesen.

Alleinstehende, zugleich gutaussehende Frauen fanden sich auf der Soiree nicht. Es gab keinen Grund, länger als unbedingt nötig zu bleiben. Das Buffet war durchprobiert und für anständig befunden, die Tochter des Hauses, nicht ganz schlecht aussehend, tief dekolletiert, jedoch frisch verlobt, sang in der Begleitung des leidenden Virtuosen zwei Schumann-Lieder, wonach die Welt dieselbe blieb, die sie zuvor gewesen war, nur durstiger – das war der Abend, an dem mir der Name des Ehepaars Palm nachdrücklich ins Bewußtsein und Gedächtnis getrieben wurde.

«Fritz», fragte ich. «Was haben die alle? Was ist los mit den Palms?»

Und er, zurückgelehnt grinsend, im Mund eine dicke Zigarre, an der er eine Art gemäßigter Fellatio vollführte, antwortete, daß er schon längst darauf zu sprechen gekommen wäre, ungern indes, da es sich um ein außerhalb seiner Kompetenz liegendes Phänomen handle, jenseits alles jemals Gesehenen. Worüber man nicht sprechen könne, davon solle man Andeutungen machen und den Rest einem Jüngeren überlassen. Er klopfte mir väterlich auf die Schulter. Ich müsse das Ehepaar Palm einmal besuchen und mir selbst ein Urteil bilden. Die beiden stünden meiner Visite nicht widerspenstig gegenüber, seien im Gegenteil darauf – ganz unaufdringlich, ganz verpflichtungslos – vorbereitet worden. Morgen – vielleicht? Am Nachmittag?

«Das könnte aufregend sein. Ehrlich» – fügte er hinzu und verweigerte sich standhaft jedes erhellenden Details. Sein Ausweichen ging soweit, ohne Bedarf der Haustochter für ihre Notzucht an Schumann höchsten Respekt zu zollen. Er berührte ihre nackte Schulter und pochte darauf, von Musik doch einiges zu verstehen. Ich täuschte vor, frische Luft zu benötigen, ging über die Gartentür hinaus in die milde Nacht und blieb wohl eine ganze Stunde am Ufer hocken, horchte auf das Geräusch kleiner Steine, die auf die Wasseroberfläche platschten, versuchte zu begreifen, warum Fritz mich hierher geschleppt hatte. Womöglich diente all das keinem bestimmten Zweck, und die entstandenen Konjunktionen waren zufälliger oder leichtsinniger Natur.

EIN MANN, DER NICHT DA IST

Das Haus der Palms lag ein gutes Stück vom See in Richtung Westen, am Fuß eines steil aufragenden Hügelzugs. An Schlechtwettertagen mußte der düstere Hintergrund der hohen, eng beieinanderstehenden Fichten deprimierend wirken; kalt wirkte er selbst jetzt, in der tiefen, alle Wipfel mit Aureolen beladenden Nachmittagssonne.

Der Garten des in keiner Weise außergewöhnlichen Hauses war zu Terrassen geschichtet und mit ockerfarbenen Schieferkalkplatten ausgelegt. Keine Zierbeete, keine Statuetten. Eine aus dem Hang geschaufelte plumpe Treppe ohne Ornamentik, mit insgesamt vier beinah halbmeterhohen Stufen. Nur an seinen Rändern und hinten, die fünfzig Meter zum Wald hinauf, bestand der Garten aus Rasenflächen, aufgrund ihrer Schräglage zu keinerlei Art von Ballspiel geeignet. Ich vermutete sofort, daß die Palms kinderlos wären oder ihren Nachwuchs woanders aufgezogen hätten. Wiewohl es mir im nächsten Moment ganz unsinnig erschien, aus so wenig auf so viel zu schließen. Das einstöckige Haus besaß große Fenster, war modern und wärmedämmend gebaut, sein ziegelrotes Giebeldach kontrastierte schön zu den kupfernen Regenrinnen. Alle Holzelemente waren dunkelblau bemalt. Sandfarbener Putz. Im späten Licht glitzerten die Scheiben eines Wintergartens, der, soweit ich sehen konnte, vollkommen leer war, ganz ohne Pflanzen und Mobiliar. Das Haus machte den Eindruck, als stünde es zur Besichtigung frei. Ich klingelte. War mir fast sicher, daß niemand öffnen würde. War halb enttäuscht und halb erleichtert. Und wartete pro forma.

Nach mehr als einer Minute schwenkte, mit einem schnellen Ruck, die Tür auf.

Ich hatte mit einer älteren Frau gerechnet. Warum? Ich weiß nicht.

Mir war so gut wie nichts auf den Weg mitgegeben worden. Die Frau, die vor mir stand, mochte vierzig sein, allerhöchstens. Sie war schlank, einen Kopf kleiner als ich, trug weiße Jeans und einen weiten Wollpullover, aus dem ihre schmalen bleichen Hände so trostlos herabhingen, als hätte sie sie vergessen. Ihre Augen waren dunkelbraun wie ihr Haar, das sie hinten zu einem kurzen, kaum handlangen Pferdeschwanz gebunden hatte. Wenige hätten sie auf den ersten Blick schön genannt.

 

Ich sagte ihr meinen Namen. Fügte hinzu, daß Kappler mich geschickt hatte.

Ihre Wangenknochen traten aus dem mageren Gesicht stark hervor, die dünnen Lippen hatte sie wie ein Kind, das ein Geheimnis zerkauen und herunterschlucken will, nach innen gesogen. Wir standen lange voreinander. Es hatte was von einem Spiel, in dem der, der sich zuerst äußert, verliert. Sicher spürte sie, daß ich etwas von ihr erwartete. Wollte sich wohl über den Umfang dessen klar werden. Endlich sagte sie etwas. Sagte, wie man eine belanglose Äußerung kommentiert: «Ja.»

Machte noch einmal eine lange Pause. «Und?»

«Sind Sie denn auf meinen Besuch nicht vorbereitet worden?»

«Ja.» Diesmal besaß das Wort einen bedauernden wie auch belästigten Unterton. Ich musterte ihre Nase, die nicht sehr groß war, aber spitz zulief, was ihrer Erscheinung etwas Füchschenhaftes verlieh. Bis auf ein paar Krähenfüße war ihr Gesicht faltenfrei – doch abgelebt, verschattet, auf eine Weise, die ich, selbst bald vierzig, seit einiger Zeit reizvoll fand.

«Mein Mann», sagte sie jetzt leise und nach unten, in Richtung meiner Schuhe, «ist nicht hier.»

«Das tut mir leid», antwortete ich, und erntete einen irritierten Blick. Ihre Wimpern flackerten. Sie schüttelte leicht den Kopf. Meine Antwort hatte eine Spur von Arroganz enthalten, als wäre mit dem, was mir leid tat, meine verschwendete Zeit gemeint gewesen. Und dem war ja so.

Sie sah mich an, forschend, feindlich. Dann entspannte sich ihr Blick, wurde ruhig und offen.

«Sie sagen es, als ob Sie mir kondolieren müßten.»

Ich entschuldigte mich. Nein, das müsse sie falsch aufgefaßt haben. Ob ich irgendwie von Nutzen sein könne, auch wenn ihr Mann nicht hier wäre? Ich fügte hinzu, nicht den geringsten Anhaltspunkt zu haben, worum es hier eigentlich gehe, was genau ihr Problem sei. Ich kam mir, sobald ich all das gesagt hatte, vor, als hätte ich unser kleines Spiel bereits verloren.

«Problem? Was für ein Problem?»

«Ich weiß es ja nicht. Wie gesagt. Ich bin auf Urlaub hier. Muß keine Probleme finden, wo keine sind.»

«Ja?»

Nun sah sie weg, nach rechts, nach oben, schnaubte leise, überlegte, zupfte den Saum ihres Pullovers glatt. Fragile Finger. Kurze Nägel.

«Kommen Sie rein, wenn Sie noch wollen. Trinken wir Tee?» Sie zwang sich ein Lächeln ab, und hinter diesem kurzen schrägen Lächeln glaubte ich etwas zu sehen, zu fühlen. Einsamkeit. Eine solche, die von weniger Geschulten gern mit dem Wunsch nach Einsamkeit verwechselt wird. Jene grauenvolle, unendliche Einsamkeit, die mir oft aus Gesichtern von Patienten entgegengetreten war.

 

Es ist ein unangenehmer, weil allzu entscheidender Moment, in diese stille Landschaft einzutreten, ohne etwas zu zertrampeln oder in bereitgestellte Fallen zu tappen. Der Patient ist immer auch Partisan. Wehrt sich, mit jedem ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Die Verzweiflung ist, wo sie nicht agieren, nur reagieren muß, ein äußerst kreativer Zustand.