Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Illustrationen Ines Häßler

Foto Tafelteil 1, Seite 6/7 Marco Rothbrust; Foto Tafelteil 2, Seite 8 Michaela Siegl

Umschlaggestaltung Frank Ortmann

Umschlagabbildung Michaela Siegl

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-87134-164-9 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-12421-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-12421-9

Fußnoten

*

«Nur für den Klick» von Heike Faller. In: ZEITMAGAZIN NR. 48/2015

Für Marta

Die Zeit vergeht nicht schneller als früher,

aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.

George Orwell

Von Weizengras und Gerstensaft

Da stehe ich nun, an meinem Rednerpult. Vor mir, ein paar Stufen tiefer, sitzen die Vortragsbesucher und werfen mir erwartungsvolle Blicke zu. Ein riesiger Kronleuchter hängt an der Decke des Saals. Schwere Vorhänge sind vor dem Fenster angebracht, an einer Wand steht ein Klavier. Der Duft von Hortensien zieht in meine Nase. Heuschnupfen ist im Anflug. Dieses starre Stück Weizengras zwischen meinem letzten und vorletzten Backenzahn macht die Situation auch nicht unbedingt angenehmer. Es in diesem Moment rauszupulen, lässt mich jedoch noch weniger professionell wirken, als ich es ohnehin schon nicht bin.

 

Unglückliche Umstände haben mich an dieses Rednerpult gebracht. Eigentlich wurde ich nur gefragt, ob ich mich bei der «Slow Living»-Konferenz mit meinem kleinen Goggomobil in den Entschleunigungsgarten stellen möchte. Ich könnte ein bisschen von meiner Reise berichten und dem Kaffeemann im Garten Gesellschaft leisten, hieß es. Kaffee trinke ich gerne, und deshalb hielt ich das Ganze für eine ausgesprochen gute Idee zum Abschluss meiner Reise.

Kaum hatte ich mein zwei Meter langes Zuhause der letzten Wochen nach oben und zur Seite aufgeklappt, links und rechts befestigt und mit der Stoffwimpelgirlande verziert, kam Ragnar Willer auf mich zu, promovierter Konsumsoziologe und der so engagierte wie liebenswerte Initiator der ganzen Chose hier. «Einer unserer Redner ist ausgefallen. Hast du Lust, in einem Vortrag von deiner Reise zu berichten?» Spontan sagte ich zu. «Sehr gut, hast du vielleicht eine Präsentation dabei?»

Aus welchem Grund sollte ich zufällig eine Präsentation dabeihaben? Aber ein paar Bilder könnte ich natürlich zeigen. Goggo ist sehr fotogen, da kann nix schiefgehen, dachte ich mir. Außerdem würde ich erst nach der Mittagspause dran sein. Genügend Zeit also, um mir ein paar Notizen zu machen.

 

«Let’s juice!» steht in großen Lettern auf der Leinwand. Ich mische mich unter die Vortragszuhörer. Eine junge, agile Frau hüpft auf die Bühne. Ihre Haut ist rein, das Haar glänzend. In Ihrer Präsentation zeigt sie nicht ganz so vorteilhafte Fotos von sich. Auf den Bildern sieht sie ziemlich erledigt aus, fast nicht wiederzuerkennen. Ihr nun sehr frisch aussehendes Gesicht verdüstert sich kurz: Ja, es gab eine Zeit, in der sie sehr gestresst war, sogar ein Burnout hatte. Forschend sieht sie in die Runde, bereit, die Frage zu beantworten, die doch schon allen auf den Nägeln brennen müsste: Wie hat sie es geschafft, so erfolgreich zurück ins Leben zu kommen? Woher hat sie die Energie genommen? Die Antwort ist relativ einfach zu erraten. Vor ihr stehen diverse Fruchtsaftgetränke, und da rollt auch schon jemand mit einem Tablett kleiner bunter Reagenzgläser über den dunklen Parkettboden des Ballsaals. Durch eine strenge Diät, in der sie ausschließlich Smoothies getrunken hat, ist sie wieder zum Leben erweckt worden. Wie Dornröschen aus der Leichenstarre, nur ohne Kuss. In Zeiten von «Tinder» zählt der ja eh nix mehr. Da muss man schon selbst sehen, wo man bleibt. Ich nehme sicherheitshalber mal zwei der Reagenzgläser, in der Hoffnung, dass die Wunderdrinks schnell wirken und man mir bei meinem Vortrag die letzten Nächte auf dem Presspappholz des Wohnanhängers nicht mehr ansieht.

Als der Gong zur Mittagspause erklingt, bin ich schon ein bisschen erschöpft und auf jeden Fall sehr hungrig. Es gibt vegane Häppchen mit verrückten Namen. Alles sieht sehr klein und sehr grün aus. Hübsch dekoriert, mit Liebe und viel Zeit zubereitet. Die Auswahl ist riesig. Ich probiere alles. Mir schmeckt nichts. Und ich bin eigentlich nicht wählerisch. Aber alle anderen tun stur so, als würde dieses «Superfood» gar köstlich sein. Warum bloß? Ich könnte schwören, ich habe den ein oder anderen heimlich würgen sehen.

Nach dem «Energy Lunch» gibt es ein «Re-Boost und Re-Focus» von den Pausenkickern. Das sind drei junge Damen, die die Anwesenden ein wenig «auffrischen» wollen, mit einer interaktiven Kombination aus Gesang, Meditation und Sport. Nach einem Ausflug in die Welt der entschleunigten Badezimmerarmaturen und einem leicht befremdlichen «Slow Sex»-Vortrag hat meine Stunde geschlagen.

Ich fühle mich völlig fehl am Platz.Ich war vierzig Tage auf Entschleunigungsreise, habe unterschiedlichste Menschen getroffen, Unerwartetes und Neues erlebt, habe mich in Geduld und Offenheit und Langeweile und Selbstkritik geübt. Ich dachte, ich wäre vorbereitet auf das hier. Und würde diesen «Slow Irgendwas»-Kosmos besser verstehen. Aber eine schlichte Badewanne reicht mir weiterhin zum Entspannen in den eigenen vier Wänden, das vegane Superfood hier lässt nur meinen Appetit auf meine heißgeliebte Leberwurst steigen, und statt dieses megagesunden Weizengrastrinks hätte ich jetzt gern einen Gerstensaft.

 

Ich sehe von der Bühne aus in die gespannten Gesichter der Zuhörer. Was soll ich Ihnen sagen, wenn sie mich fragen, was ich auf meiner Entschleunigungstour gelernt habe? Was soll ich ihnen sagen, wenn sie mich nach dem einen Rezept fragen?

Für meine Antwort brauche ich Zeit. Es gibt viel zu erzählen …

Kapitel 1 Mit einem kleinen Schubs über die Startlinie

Es ist Juli. Genau genommen, der fünfte. Es ist der Tag, an dem die höchste Temperatur seit 1881 gemessen werden wird. Irgendwo an einem Ort in Süddeutschland. Und es ist der Tag, auf den ich knapp ein Jahr gewartet habe: Tag eins einer Reise, deren Navigationsziel nur Nebensache ist.

Es gilt etwas herauszufinden. Etwas nicht gerade Unbedeutendes: Was kann ich tun, damit mir mein Leben länger vorkommt?

An diesem Julitag möchte ich in mein Goggomobil steigen und mich auf die Suche nach Antworten machen.

 

Seit knapp acht Jahren sind das Goggo und ich treue Weggefährten. Da es nur dreizehn Pferdestärken hat, ist meine Reisegeschwindigkeit definitiv entschleunigt. Langsam fahren werde ich: Fünfzig Kilometer pro Stunde sind das Maximum, das ich aus dem Goggo rausholen kann. Bei der Geschwindigkeit zieht naturgemäß alles etwas langsamer an einem vorüber. Aber langsam werden – das ist nicht, was ich will. Da ich grundsätzlich auch eher der schnelle Typ bin, würde das bedeuten, mich zu verändern.

Ich möchte nicht mit meinem Leben komplett aufräumen, ich will mich nicht von dem trennen, was mir wichtig ist oder mich ausmacht. Nach dieser Tour habe ich nicht vor, aus meinem bisherigen Leben auszusteigen und nur noch mit dem Auto durch die Weltgeschichte zu bummeln. Ich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist – nur dass ich mehr davon haben will. Mehr Zeit, mehr Leben. Das Leben darf rauschen. Ich wünsche mir nur, dass ich das Rauschen etwas mehr genießen kann und es nicht zum bloßen Hintergrundsound wird. Auch wenn ich mich nicht verändern will, etwas muss sich ändern.

In den nächsten sechs Wochen möchte ich sechzehn Menschen auf meiner Reise durch Deutschland besuchen. Sechzehn sehr unterschiedliche Menschen. Vom Landwirt bis zum Google-Manager. Ich möchte erfahren, was für diese Menschen Entschleunigung bedeutet. Was ist das? Wie geht das? Können sie das? Und überhaupt, was ist das für ein Wort, Entschleunigung? Bedeutet es für jeden das Gleiche?

Ich glaube nicht, dass es eine Universalantwort auf diese Fragen gibt oder dass Entschleunigung für jeden das Gleiche bedeutet. Deshalb lautet mein Vorhaben, so viele verschiedene Antworten wie möglich zu sammeln. Damit ich nichts vergesse, habe ich einen kleinen, grünen Koffer dabei, um Erinnerungsstützen von meinen Interviewpartnern mitnehmen zu können.

Meine Reise ist vorgeplant: Sechzehn feste Stopps zwischen Nord und Süd stehen. Ich suche nach Entschleunigung, baue mir aber zunächst mal einen Zeitplan. Passt irgendwie nicht ganz zusammen? Anderseits: Wer weiß das schon? Vielleicht ist Organisation sogar ein Schlüssel für ein entspannteres Leben. Ich bin ja erst dabei, das herauszufinden. Momentan weiß ich nicht wirklich viel über Entschleunigung. Ich weiß nur, was Entschleunigung für mich nicht ist: Verzicht.

Ich erhoffe mir ein paar Ratschläge, neue Gedanken, die ich in mein Leben integrieren kann. In mein Leben mit Smartphone, mit Computer, mit WLAN. Und Terminkalender.

In Letzterem steht mein Startpunkt notiert: Dingolfing. Hier werde ich meine Reise beginnen, hier rollte das Goggomobil 1955 erstmals vom Band. Meine Gretel, wie ich sie liebevoll nenne, ist 1969 als eines der letzten Goggos gebaut worden, dann stellte BMW die Produktion ein, und die letzte Stunde vom «Ferrari des kleinen Mannes» hatte geschlagen. Für mein Goggo und mich soll das große Abenteuer hier erst beginnen, an der Brutstätte des Entschleunigungsmobils schlechthin.

Das erste Ziel wird ein wunderschöner, idyllisch gelegener Hof an einer alten Mühle sein. WLAN, Strom, Dusche – alles da. Ich habe ein kleines Büchlein namens «Landvergnügen» bei mir. Dieser mobile Stellplatzführer hilft mir, vom Allgäu bis zur Nordsee einen Schlafplatz zu finden. Meine Gastgeber sind Käseproduzenten, Ziegenhirten, Winzer und Höfe. Ein kurzer Anruf ein paar Tage vorab genügt, um mein Lager für vierundzwanzig Stunden kostenfrei zwischen Alpakas, Pferden oder anderem Nutzvieh aufschlagen zu dürfen.

Die kleinen Symbole für Strom, WLAN, Dusche, Wasser, Hofladen und Anhängererlaubnis sind mir schnell sehr vertraut. Ich habe sie in meinem Kopf wie folgt priorisiert: Strom ist das wichtigste Gut – um meine technischen Geräte aufladen und gegebenenfalls den kleinen Heizlüfter anwerfen zu können. Dicht gefolgt natürlich von der Anhängererlaubnis. Wenn ein Hof keine Wohnwagen zulässt, brauche ich auch nicht mit meinem Gespann um die Ecke kommen – auch wenn die Bezeichnung «fahrbares Zelt» hier angebrachter wäre als «Anhänger». Ich hoffe natürlich, dass der ein oder andere Bauer im Notfall schon ein Auge zudrückt. Bei der nächsten Priorisierung muss ich schon überlegen: Nehme ich lieber WLAN oder fließendes Wasser?

Überhaupt: So viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Finde ich alle Ziele? Hält mein Goggo durch? Lohnt sich die Reise? Finde ich, was ich suche? Was genau war das noch mal, das ich suche? Zu Beginn der Reise fällt es mir schwer, all diese Gedanken in meinem Kopf zu sortieren. Die Hitze ist dabei nicht gerade hilfreich. Die erste Etappe meiner Reise droht eine Saunatour zu werden. Der Taschenventilator für 4,95Euro aus dem Baumarkt kommt direkt zum Einsatz, und in mir macht sich das zufriedene Gefühl darüber breit, so weitsichtig geplant zu haben.

Das Goggo läuft, ein laues Taschenventilatorlüftchen weht, ich klebe glücklich in meinem Sitz und rolle los. Die reduzierte Geschwindigkeit des Goggos bedeutet übrigens nicht zwingend Entspannung, dafür ist es hier drin schlichtweg zu laut. Nicht dieses elegante «Oldtimer-laut» – so einem V8-Motor kann man das Rattern verzeihen –, nein, das Goggo-Fahrgeräusch erinnert eher an einen aufgemotzten Rasenmäher. Für Überlandfahrten habe ich daher auch immer Ohrstöpsel im Handschuhfach – eigentlich nicht mehr als ein kleines Loch im Armaturenbrett, das sich hervorragend eignet, um Dinge abzulegen. Und auch das Armaturenbrett sieht im Goggomobil nicht aus, wie man das von anderen Autos kennt – ebenso wie die Rückbank, die eher keinen praktischen Nutzen hat, dafür aber schön ist.

Vieles ist ungewöhnlich an diesem kleinen Gefährt. Und was andere Autofahrer direkt aus der Ruhe bringen würde, ist für mich kein Warnsignal. Ich habe mit dem Goggo schon einiges durchgemacht. Immer wieder sind wir gemeinsam zum Stehen gekommen. Und immer öfter konnte ich uns ganz allein wieder zum Weiterfahren bringen. Bis auf den Meisterschein fehlt mir eigentlich nichts mehr zur Kfz-Mechanikerin.

Das Ruckeln und Zuckeln des Goggos, das ich jetzt allerdings spüre, ist durchaus ein Warnsignal. Ich bin erst wenige Kilometer gefahren, dann bleibt mein Auto stehen. Auf der Straße hinter uns schimmert eine lange Benzinspur in der Sonne – wie im Märchen hat Gretel zwischen Landshut und Dingolfing Benzinkrumen auf der Straße verteilt. Sie macht ihrem Namen alle Ehre. So dürfte es immerhin nicht so schwer sein für den ADAC, uns zu finden …

 

Noch oft werde ich auf dieser Reise merken, dass meine perfekte Organisation nicht alles abfangen und ich vor allem nicht alles alleine kann. Noch oft muss ich unfreiwillig von dem abweichen, was ich mir vorgenommen habe. Und dann dieses latente Gefühl von Hilflosigkeit und Unsicherheit aushalten, wenn die Zeit plötzlich ganz anders vergeht als gedacht. Nicht selten komme ich in diesen Momenten den Antworten auf meine Fragen am nächsten. Nicht selten bringt mich mein Infragestellen bestimmter Erwartungen und Vorstellungen an mich und meinen Umgang mit der Zeit voran.

Beste Bedingungen gleich zu Beginn also, die Sache mit der Entschleunigung zu trainieren.

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Kapitel 2 Mut zur Lücke

Vor mir steht eine Tasse dampfenden Kaffees mit einem hübschen Milchhäubchen. Ich weiß schon jetzt, dass ich diesen Anblick und diesen Duft wertschätzen sollte. In den nächsten Wochen werde ich meinen Kaffee wohl eher mit einem Schluck Kondensmilch aus Plastikbechern trinken. Ich sitze in Unterföhring in der Küche der Filmproduktion von Franz Xaver Gernstl und warte auf mein erstes Interview – darüber, wie man Interviews führt.

Franz ist zweiunddreißig Jahre mit seinem VW Bus und einem Kamerateam durch Deutschland gereist und hat dabei Menschen zu allen möglichen Themen interviewt. «Damals dachten wir, wir seien auf der Suche nach den besten Weibern, dem besten Bier und den besten Bratwürsten. Doch eigentlich waren wir auf der Suche nach Menschen, die wissen, wie man richtig lebt», erzählt er im Trailer seines Dokumentarfilms. Er wusste, wie man herausfindet, was es heißt, richtig zu leben. Er stellte die richtigen Fragen. Er fand die richtigen Leute. Genau das möchte ich von ihm lernen. Denn wenn ich lernen möchte zu entschleunigen, wenn ich wissen möchte, wie man die Zeit ausdehnen kann, mehr von ihr hat, muss ich herausfinden, wie man die richtigen Fragen danach stellt.

Franz kommt aus seinem Büro und begrüßt mich herzlich. Sein markanter bayerischer Akzent ist unverwechselbar, ich erkenne seine Stimme sofort aus seinen Filmen wieder. Und es fühlt sich gleich ein wenig so an, als würde ich ihn schon lange kennen. Gemeinsam gehen wir raus in den kleinen Garten des Hinterhofs. Der Rasen ist frisch gemäht, die alte Holzbank dient uns als Sitzgelegenheit. Bäume und Sträucher rahmen den Garten perfekt ein. Eine Weile vergesse ich, dass wir mitten in der Stadt sind. Hinter uns steht sogar ein Gewächshaus. Hier bauen Franz und seine Mitarbeiter Tomaten und Gurken an. Franz liebt es zu kochen. Er redet immer wieder von Küchengeräten wie der «flotten Lotte» und anderen Helfern, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Meine Ahnungslosigkeit hat einen Grund: Zum Kochen fehlt mir einfach die Geduld. Diese ganze Schnippelei macht mich verrückt.

Das mit der Geduld scheint bei Franz anders zu sein, sein ganzes Wesen strahlt eine erstaunliche Entspanntheit aus. Gegen ihn bin ich ein nervöses Nervenbündel. Vielleicht bin ich das aber ohnehin? Ich will immer alles sofort, so schnell wie möglich. Es kann mir eigentlich nie schnell genug gehen, paradoxerweise fehlt mir aber bei all dem Tempo, mit dem ich Dinge erledige, die Zeit.

Franz hat sich noch nie Gedanken gemacht, warum die Zeit so schnell vergeht, und muss erst mal überlegen, ob das überhaupt der Fall ist. Grübelnd versucht er eine Antwort zu finden, aber ich merke, dass das Thema für ihn gar nicht relevant ist. Mir wird mulmig zumute: Mache ich mir vielleicht zu viele Gedanken und mein Leben unnötig kompliziert? Es würde sich wahrscheinlich nichts ändern, wenn man sich einfach mal weniger Gedanken machte. Was wäre, wenn ich jetzt die ganze Zeit darüber philosophiere und nachdenke, wie mir mein Leben länger vorkommen könnte, und dabei Zeit verliere? Eine schwerwiegende Frage, die da aufkommt, gleich bei meinem ersten Treffen. Kurz bekomme ich Panik, weil ich so schnell dabei bin, mein ganzes Vorhaben in Frage zu stellen. Statt Zeit verlangsamen Zeit verplempern – das war nicht der Plan.

Ich trinke einen Schluck meines Kaffees, beruhige mich mit der warmen Flüssigkeit und versuche, mich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Es gibt für Franz offenbar keinen perfekt vorbereiteten Fragenkatalog, der von oben nach unten durchgearbeitet wird, wenn er Menschen kennenlernt. Es gibt nicht mal ein Leitthema: «Ich gehe auf die Leute zu und frage, was sie treiben, was sie umtreibt. Wenn man vorab schon all seine Fragen im Kopf hat, kann man nicht mehr richtig zuhören. Man denkt bei der Antwort bereits an die nächste Frage. Man muss den Leuten Zeit geben.» Mut zur Lücke, rät er mir. Wenn man es schafft, Gesprächspausen, Denkpausen auszuhalten, kommen meist auch bessere Antworten.

Ohne es zu wissen, hat er mir damit auch einen Ratschlag für meinen mich so plötzlich umtreibenden inneren Konflikt gegeben. Zeit fürs Denken, Nachdenken, Fragen – das ist es ja, weshalb ich losgedüst bin. Nein, das hier ist keine Zeitverschwendung. Auch dann nicht, wenn ich mal keine direkte Antwort auf eine Frage bekomme.

Das optimale Rezept, wie ich die vielen Fragen, mit denen ich auf Entschleunigungstour gehe, am besten angehe, bekomme ich heute nicht. Franz erzählt mir, dass es das im Grunde nicht gibt, dass auch er das alles nicht gelernt hat. «Ich bin einfach losgezogen und habe als normaler Mensch mit den Leuten gesprochen, die mir auf meinen Reisen begegnet sind. Wenn dich ein Thema wirklich interessiert, dann kommt’s automatisch.»

Das sind Ratschläge, die von meinem Plan abweichen, die ich so nicht erwartet habe: sich Zeit lassen und schauen, was passiert. Vorab keine Termine mit den Interviewpartnern ausmachen. Die zufälligen Begegnungen sind die schönsten, hier werden die besten Antworten kommen.

Ich dachte, ich würde von nun an mit einem genauen Interviewkonzept weiterreisen. Und jetzt heißt es: Der beste Plan ist es, keinen zu haben. Ist das Kind jetzt schon in den Brunnen gefallen? Denn ich habe in der Tat so ziemlich alles durchgeplant. Alle Termine sind ausgemacht, alle Interviewpartner ausgesucht, um möglichst verschiedene Menschen mit möglichst unterschiedlichem Angang ans Thema zu befragen. Soll ich denen nun absagen und mal schauen, was kommt – was so ziemlich gar nicht meine Art ist und der direkte Weg in meine Unbehaglichkeitszone?

Mir fällt es schwer, die Kontrolle abzugeben, Dinge ungeplant auf mich zukommen zu lassen. Aber vielleicht ist das der erste kleine Schritt auf dem Pfad der Entschleunigung. Ich entschließe mich nun doch zu einem bewussten Verzicht: Ich werde meinen Fragenkatalog wegwerfen. Und ich nehme mir vor, die Ohren und Augen offen zu halten für Gespräche mit Menschen, die mir zufällig auf der Tour begegnen, mich zurückzulehnen und darauf zu vertrauen, dass das, was kommt, schon irgendwie gut wird.

In diesen Gedanken hinein taucht plötzlich eine Kerze in meinem Blickfeld auf. Franz hat sie aus seiner Tasche gekramt, er möchte sie mir mitgeben. «Die beste Art, sich zu entspannen und zu entschleunigen, ist zu meditieren.» Bei einem Filmprojekt besuchte er verschiedene Klöster und lernte die dortige Art zu meditieren. «Doch das war mir zu stressig. Morgens um fünf aufstehen und eine Stunde gegen die Wand schauen beim Meditieren. Sutren lesen und das Kloster putzen. Das ist nichts für mich.»

Trotzdem meditiert er. Auf seine Art: Man stellt die Kerze vor sich, setzt sich ordentlich auf und peilt sie unscharf mit halbgeschlossenen Augen an. Einatmen, ausatmen, ohne sich zu bemühen. Einatmen, ausatmen, mitzählen, um sich voll und ganz darauf zu konzentrieren. «Nach ein paar Sekunden wirst du merken, dass du schon wieder an deinen Vergaser denkst. Man lernt, seine Gedanken zu beobachten. Man lässt sie kommen und dann auch wieder gehen.»

 

So sitzen wir noch eine Weile auf der alten Gartenbank vor dem Gewächshaus und lauschen den Vögeln beim Singen. Ich trinke noch einen Kaffee mit Milchhaube aus der schönen Porzellantasse. Wer weiß, wann es wieder einen gibt.

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Kapitel 3 Die Sache mit der Rosine

Was du heute kannst besorgen, dass verschiebe nicht auf morgen: Ich wache auf und werde direkt daran erinnert, dass ich vergessen habe, Mückenspray zu kaufen. Man denkt ja, irgendwann hat man die maximale Anzahl an Mückenstichen erreicht. Von wegen. Ich bin übersät. Einer ist direkt auf dem Augenlid, das sich anscheinend auch entzündet hat. Es juckt höllisch. Und ich sehe aus wie nach einer üblen Schlägerei. Ich bin nicht besonders eitel, für ein Mädchen zumindest, aber gerade traue ich mich kaum aus meinem Anhänger raus. Wahrscheinlich wird mein Anblick die sicher sehr schicke Psychotherapeutin Eva, die mich heute besuchen will, ziemlich erschrecken, steigere ich mich rein. Am liebsten würde ich andere Menschen heute komplett meiden. Aber da muss ich jetzt wohl durch. Vielleicht ist auch diese Erfahrung ein Puzzleteil des großen Bildes der Entschleunigung, das sich am Ende der Tour sinnvoll zusammenfügt. Ich setze also die Brille auf und versuche nicht an den Juckreiz zu denken. Ein bisschen lächerlich komme ich mir in meiner Eitelkeit gerade schon vor …

 

Entschleunigung wird oft mit Achtsamkeit gleichgesetzt. Momentan bin ich sehr achtsam, was meinen Mückenstich betrifft. Das bringt mir jedoch überhaupt nichts, und ich denke, das kann unmöglich der Grundgedanke dieser ganzen Bewegung sein. Ein Freund hatte mir von seiner Bekannten in München erzählt, die sich beruflich mit den Themen Entschleunigung und Achtsamkeit beschäftigt. Eva hilft gestressten Menschen im Gespräch mit ihnen und durch gezielte Übungen aus ihrem «Trott» zu kommen. Um herauszufinden, ob die innere Einstellung tatsächlich dabei hilft, der Entschleunigung ein bisschen näher auf die Spur zu kommen, habe ich mich heute mit ihr verabredet.

Noch vor meiner Reise – als ich in der Psychotherapeutischen Praxis anrief, um zu erfahren, ob ich auch ohne Rezept eine Therapieeinheit auf meiner Tour bekomme – merkte ich, dass Eva sicher viele spannende Antworten auf meine Fragen haben wird. Aus einer sehr spannenden Perspektive allemal: Sie ist schließlich die Person, die tagtäglich mit Menschen spricht, die an ihrem eigenen Lebenstempo erkrankt sind. Männer und Frauen, mit vermutlich unterschiedlichsten Auslösern für ihr Leiden. Daraus schlussfolgere ich: Das Achtsamkeitstraining ist eine Methode, die persönlichkeitsübergreifend funktioniert. Ganz gleich, aus welchem beruflichen oder sozialen Umfeld man kommt und wo die Gründe für die Sehnsucht nach Entschleunigung liegen.

Psychotherapeuten neigen berufsbedingt dazu, einen geringeren Sprechanteil zu haben als ihr Klient und sich mit Tipps nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Der Klient soll bestenfalls selbst auf die Lösung kommen. Ich überlege, ob Achtsamkeit vielleicht bedeutet, dass man sich auf eine einzige Sache fokussiert und somit die Gedanken in eine Richtung lenkt. Für mich würde das heißen: weg von den Mückenstichen hin zu … Zu was eigentlich? Ich bin gespannt.

Von weitem sehe ich ein Auto, das aussieht wie der große Bruder vom Goggo. Es ist ein roter Mini mit weißem Dach, Münchner Kennzeichen. Das muss Evas sein. Es steigt eine zierliche, dunkelhaarige Frau aus. Hoffentlich gehört Eva zur redseligen Fraktion der Psychotherapeuten – mit einer einzigen Therapiestunde werde ich wohl kaum alleine hinter die Sache mit der Achtsamkeit kommen.

Der Kaffee, den ich mit meinem ultraleichten Campingkocher gebrüht habe, ist gerade fertig, und wir machen es uns am Camper gemütlich. Ich bin beruhigt, als sie gleich beginnt zu erklären: «Achtsamkeit bedeutet, dass man übt, konzentriert im Hier und Jetzt zu sein.»

Vom «Hier und Jetzt» wird mir oft erzählt, das scheint der Schlüssel zur ganzen Entschleunigungsnummer zu sein. Ganz vollständig erschließt sich mir dieser Begriff nicht. Aber er klingt verheißungsvoll. Ich verbinde damit ein Gefühl aus der Kindheit, in der man eigentlich immer nur von jetzt bis gleich gedacht hat. Deshalb hatte ich zum Beispiel einmal große Panik, als ich glaubte, meine Mutter im Kaufhaus verloren zu haben – nur weil ich sie kurz nicht sehen konnte. Ich dachte in diesem Moment: «Die finde ich nie wieder, jetzt muss ich ins Heim.» Vielleicht auch ein Grund, warum einem die Jahre in der Kindheit länger vorkommen, dieses rein intuitive Zeitgefühl, das man hat, verliert sich irgendwann.

Eva führt ihre Erklärungen fort: «Eine achtsame Grundhaltung bedeutet, auf akzeptierende Art und Weise die Dinge zu nehmen, wie sie eben kommen. Dabei versucht man, erst einmal nur zu beobachten und nicht gleich zu bewerten.»

Beobachten, ohne zu bewerten. Alles klar, das krieg ich hin.

«Bei deinem Mückenstich denkst du nicht gleich, das ist ja jetzt total ätzend, oder fragst dich, wie sieht das denn jetzt aus?»

Okay, bekomme ich in der Praxis wohl doch nicht so leicht hin. Ist es nicht normal, dass man es vermeidet, mit einem riesigen Mückenstich auf dem Auge in den Spiegel zu schauen, sich unwohl fühlt und sich ungern zeigt, wenn Mückenstiche, Pickel oder Beule gut sichtbar im Gesicht prangen? Ich würde mich als einigermaßen empathischen Menschen bezeichnen, und diese Stimme in mir sagt: «Es dient deinem eigenen Schutz, dass du dich fragst, wie das jetzt aussieht. Du bewertest das, andere werden es bewerten, und du möchtest dich dem nicht aussetzen.»

Eva sagt mir dazu: «Durch diese Bewertungen wird das Erleben stärker oder manchmal sogar beängstigender. Das heißt aber nicht, dass man jetzt alles total rational sehen soll und emotionsfrei durch die Gegend läuft. Man soll sich lediglich nicht direkt jedem Gefühl hingeben.»

Aha. Das klingt gut, so als könnte man mit diesem Training entspannter durchs Leben gehen und Mückenstich Mückenstich sein lassen. Und wie geht das?

Eva holt eine Packung Rosinen hervor. Es wird spannend, von der Rosinenübung munkelt man immer wieder. Es ist eine Achtsamkeitsübung für alle Sinne. Wobei man von einer Rosine ja nichts hören kann, deshalb betrifft es eher fünf Sinne. Reicht mir auch, fürs Erste! Die Übung geht folgendermaßen: Man nähert sich der Rosine an, stellt sich vor, man sei jemand von einem anderen Planeten, und beschreibt sie, als würde man zum ersten Mal in seinem Leben eine Rosine sehen. Dabei darf man sie nicht bewerten.

«Versuche mal zu beschreiben, was du siehst, wie das aussieht, was du siehst», bittet mich Eva.

«Also, sie ist rund», beginne ich vorsichtig. «Runzelig. Hat eine Struktur und sieht aus wie aus Plastik.»

Hier bekomme ich die erste Rote Karte. «Sieht aus wie Plastik» ist natürlich eine Bewertung.

Eva fragt weiter, danach, wie die Rosine sich anfühlt.

«Wie ein Schwamm oder ein Kaugummi», finde ich. Es folgt sogleich die zweite Rote Karte: Vergleiche sind eine Bewertung und somit in der Achtsamkeitsübung verboten. Neuer Versuch: «Die Rosine fühlt sich glibberig an.»

Bewertung, Bewertung, Bewertung!

Ich fühle mich, als müsse ich der Rosine gegenüber politisch korrekt auftreten: Das Ganze ist ein großes Beschreibungsminenfeld, und ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sagen darf und was nicht. Gar nicht mal so leicht, etwas wertungsfrei zu beschreiben. Verrückt, wie sehr man selbst bei der Betrachtung einer Trockenfrucht von seinem Hintergrund, seiner Erziehung und Sozialisierung geprägt ist, wie diese Vergleiche und Assoziationen beeinflussen und hervorrufen. Ich finde, so eine Rosine ist aber auch ein schwieriges Objekt; sie ist ja von Natur aus nicht sonderlich hübsch. Man könnte meinen, ich sei der Rosine gegenüber nicht gerade positiv eingestellt – und vermutlich stimmt das auch. Eva hat zum Glück Geduld mit mir und lässt sich nicht anmerken, dass ich die Übung überdurchschnittlich schlecht absolviere.

«Okay, jetzt kannst du die Rosine in den Mund nehmen, aber noch nicht kauen. Erst mal nur mit der Zunge fühlen.»

«Hmmm, ja. Ist nicht so meins. Ich verstehe, warum manche Leute Rosinen eklig finden.»

Und wieder: BEWERTUNG!

Ich frage mich langsam selbst, warum ich mich nicht besser im Griff habe. Ich habe immerhin in der Theorie verstanden, worum es geht, aber es gelingt mir nicht, meine Beschreibung von meinen bisherigen Erfahrungen mit Rosinen zu lösen und aus meinem Wortschatz wertfreie Begriffe zu fischen – vielleicht so etwas wie «rau, geriffelt, fest» anstatt «Plastik, glibberig, eklig». Beschreiben, nicht bewerten.

Neuer Versuch: Ich darf die Rosine nun kauen. Ich kaue sehr langsam, konzentriere mich auf ihren Geschmack – und stelle überrascht fest, dass sie sehr viel intensiver schmeckt, als ich es kenne. Bei diesem Teil der Übung liegt mein Fokus tatsächlich ganz auf der Rosine. Und obwohl ich die Rosinenübung mit hoher Fehlerquote bestritten habe, muss ich zugeben: Ich habe in den letzten zwei Minuten an nichts anderes gedacht als die Rosine. Ich war da, im Hier und Jetzt! Schon der angestrengte – und leider auch missglückte – Versuch, nicht zu bewerten, ist ein Erfolg in Sachen Achtsamkeit. Und ich nähere mich der Erkenntnis, weshalb Achtsamkeit, das Verbleiben im Hier und Jetzt, so guttut.

Ich denke an einen Begriff, den ich erst kürzlich gelernt habe, «Monkey Mind». Das bedeutet übertragen: Die Gedanken hüpfen vom einen Thema zum anderen, sie schwirren, sie lassen einen nicht zur Ruhe kommen. Besonders in Momenten, in denen wir gerade geistigen und tätigen Leerlauf haben – etwa vorm Einschlafen –, fängt unser Gehirn an zu «ruminieren». In Ruhepausen käuen wir wie die Kuh ihr Essen unsere Gedanken wieder, grübeln in Endlosschleife über etwaige Missgeschicke, Unglücke, Ärgernisse herum. Diese Gedankenschleifen kennt wohl jeder. Situationen laufen immer wieder vor dem inneren Auge ab, man brütet über Dingen, die schiefgelaufen sind, denkt lange über die peinlichsten Momente des Tages oder den unmöglichen Satz nach, dem man zum Kollegen gesagt hat – und darüber, wie wohl seine Reaktion zu bewerten ist. Oder geht das alles schon mal im Voraus durch.

Im Unterschied zur Kuh werden Menschen beim Ruminieren traurig. Wir fühlen uns dann nämlich diesen unkontrollierbar erscheinenden Gedanken ausgeliefert. In solchen Situationen ist es gut, etwas zu haben, worauf man sich fokussieren kann. Genau dafür übt man sich in Achtsamkeit.

Toll! Die Rosine ist in meiner Gunst deutlich gestiegen, an der kann man das Hier und Jetzt wirklich wunderbar erproben. Ich nehme mir vor, ab sofort jeden Tag bei der Tour eine solche Übung zu machen. Damit es nicht zu langweilig wird mit den Rosinen, gibt mir Eva Seifenblasen für meinen Entschleunigungskoffer mit.

 

Als ich wieder alleine bin und mein Treffen mit Eva Revue passieren lasse, bin ich erneut überrascht, wie schwer es ist, Dinge nicht zu bewerten. Irgendwie macht es ja auch Spaß, seinen Senf dazuzugeben – es ist jedenfalls definitiv schwierig, es nicht zu tun. Aber, ja, es schadet einem auch. Wie oft kreisen meine Gedanken um Dinge, die schon passiert sind und die ich auch nicht mehr beeinflussen kann. Ich erwische mich immer wieder bei dem Versuch, die Kontrolle über alles haben zu wollen. Sei es bei der Arbeit, wenn ich aus Zeitgründen Aufgaben an Kollegen abgeben muss, oder bei Kleinigkeiten wie Aufräumen. Ich fühle mich oft nicht damit wohl, bestimmte Dinge – vernünftigerweise – weiterzudelegieren, weil ich glaube, sie a) schneller und b) einfach besser zu können. Deshalb versuche ich, möglichst alles selbst zu machen, damit ich wenigstens die Sicherheit habe: Es wird erledigt, es wird gut. Da der Faktor Zeit nicht in meiner Macht liegt, mache ich mir und auch anderen – schließlich ist es manchmal ganz schön anmaßend zu glauben, andere könnten es nicht besser – das Leben selbst unnötig kompliziert. Das ist mir bewusst, und doch fällt es schwer, damit aufzuhören.

Diesen Mückenstich hier, den habe ich jetzt einfach, und er bringt mich sicher nicht um. Wenn ich ehrlich bin, habe ich in der letzten halben Stunde gar nicht mehr drüber nachgedacht. Jetzt, wo er mir wieder einfällt, hole ich vorsichtshalber die Seifenblasen hervor …

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Kapitel 4 Hat man es erst mal verstanden, hat man es auch kapiert. Oder?

Stroboskopisches Licht. Ich bin nicht in der Disko, sondern auf einer Pferdewiese, irgendwo im Allgäu. Mit Angstschweiß auf der Stirn sitze ich da wie ein fünfjähriges Kind. Traue mich nicht mal zu telefonieren, aus Angst, ich bekomme erst recht einen Schlag ab. Es pfeift und donnert. Der Regen prasselt auf das morsche Pressspanholzdach des Wohnanhängers. Ich habe Angst. Vor dem Gewitter, das da draußen tobt, und sowieso: vor der tiefen Dunkelheit um mich herum.

Die Achtsamkeitstrainerin Eva hatte mir einen Ratschlag gegen meine Angst im Dunkeln mit auf meinen Weg gegeben. Irrationale Ängste aus der Kindheit seien das. Und: Wenn man das verstanden hat, man sich die Wurzeln dieser Furcht bewusst macht, dann verschwindet die Angst. Das kann ich durchaus nachvollziehen, aber als es immer lauter wird und der gesamte Camper umzukippen droht, wird mir klar: Irrational ist diese Angst hier nicht. Ich muss in einen faradayschen Käfig, sonst sterbe ich noch heute Nacht.

Also ziehe ich mit meinem Kissen und dem Damenschlafsack – der übrigens so heißt, weil der Fußraum verstärkt ist (ich habe absolut keine Idee, wo hier der Zusammenhang sein soll …) – um. Völlig durchnässt komme ich im Goggo an und versuche krampfhaft, den Rest der Nacht kein Metall zu berühren. Was gar nicht mal so leicht ist, da Gretel wirklich winzig ist. Meine Angst hält mich lange wach. Gegen vier Uhr, als der Sturm langsam nachlässt, schlafe ich endlich erschöpft ein.