Romuald Schaber
Blutmilch
Wie die Bauern
ums Überleben kämpfen
Knaur e-books
Romuald Schaber, geboren 1957, ist der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Der Bauer aus Petersthal im Allgäu bewirtschaftet einen fünfunddreißig Hektar großen Grünlandbetrieb mit vierzig Kühen und Nachzucht. 1998 gründete er in Konkurrenz zum Deutschen Bauernverband den eingetragenen Verein Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM e.V.), der inzwischen mit 33000 Mitgliedern rund ein Drittel der 100000 Milchviehbetriebe in Deutschland vertritt.
eBook-Ausgabe 2014
Pattloch eBook
© 2010 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise–
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Bildnachweis:
BDM (Bundesverband Deutscher Milchviehhalter e.V.):
Abb. 08, 09-a + 09-b, /
Agentur PS22.de: Abb. 01, 02, 03, 04, 05, 06, 07 /
Jutta Weiss: Abb. 10
ISBN 978-3-629-32027-8
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»Ihr werdet eure Heimat
nicht mehr wiedererkennen,
wenn uns skrupellose Profiteure
erst vernichtet haben.«
Romuald Schaber
Als ich 1957 in Petersthal geboren wurde, das damals noch nicht zu Oy-Mittelberg gehörte, da hat mir niemand vorhergesagt, dass ich einmal ein anderes Schicksal haben würde als mein Vater, als der Vater meines Vaters und als dessen Vater. Alle waren sie Bauern. Gut, ich habe in meiner Jugend zusätzlich noch ein Handwerk gelernt – das Maurerhandwerk. Das kann man als Bauer gut gebrauchen. Wenn man für einen Hof mit Gebäuden, Tieren und Maschinen zu sorgen hat, ist man schlecht dran, wenn man zwei linke Hände hat. Ein Bauer packt selbst an.
Von unserem Hof, der etwa 870 Meter über Meereshöhe liegt, hat man einen großartigen Blick über eine grüne Senke, an deren tiefstem Punkt der Rottach-See gelegen ist, der größte und höchstgelegene Badesee im Oberallgäu. In meiner Kindheit gab es diesen See noch nicht; er ist erst in den neunziger Jahren angelegt worden. Heute kommen die Touristen nicht nur zum Wandern und Skifahren nach Petersthal; sie können im Sommer baden und sich vom Stress der Großstadt erholen. Die Kuh, der Duft von frisch gemähtem Heu, auch das Mittagläuten der Sankt-Peter-und-Paul-Kirche gehören dazu.
Wir Schabers in Petersthal haben keinen großartigen Stammbaum, aus dem hervorgehen würde, dass wir bereits in der x-ten Generation auf diesem Hof an der Burgstraße ansässig sind. Niemand hat die Geschichte unserer Familie aufgeschrieben. Dazu hatten wir keine Zeit. Dazu war auch der Kampf ums Leben viel zu hart. Aber ich weiß, dass wir seit Jahrhunderten Bauern waren und Bauern sind – freie Bauern, stolze Bauern. Vielleicht muss man Menschen, die in der Stadt leben, das Selbstwertgefühl von uns Bauern heute anders übersetzen: Wir sind Selbständige, allerdings umfassender als Rechtsanwälte oder Steuerberater. Wir haben das Stück Welt, das wir bewohnen und auf dem wir Leben, weitgehend selbst gestaltet. Wir haben das Fleckchen Erde von unseren Vorfahren übernommen, die die Höfe gebaut und die Felder angelegt haben.
Bauern arbeiten über Generationen hinweg Hand in Hand. Die Sach’ zu erhalten – das ist unsere Form von Dankbarkeit. Wir achten den bäuerlichen Kollegen, der das Erbe seiner Väter und Mütter erfolgreich bewirtschaftet. Früher verachteten wir insgeheim jene, die ihren Hof herunterkommen ließen. Heute wissen wir nicht mehr, wie wir damit umgehen sollen. Wenn einer aufgibt, hinwirft, sogar sein Leben hinwirft, dann wissen wir zu genau: Der hat nicht versagt. Man hat ihm versagt, was er zum Leben und zum Überleben gebraucht hätte. Wer ist »man«?
Bauern sind die, die immer was zu jammern haben, heißt es. Tatsächlich ist es so: Wer eine Landwirtschaft betreibt, ist vom Wetter abhängig, von EU-Beschlüssen, von Weltmarktpreisen, von der Stimmung innerhalb seiner Familie, von verschiedenen Landwirtschaftsministerien, von dem, was er ererbt hat, und davon, an wen er weitervererben kann. Selbständig sind wir nur, insofern wir halt selbst und ständig arbeiten. Ansonsten sind wir tausenderlei Einflüssen ausgesetzt. Das verleitet zum Jammern, weil wir an vielen entscheidenden Dingen, die unser tägliches Leben bestimmen, nichts ändern können. Wenn’s ins Heu regnet, ist es eben nass.
Mir sagt man nicht nach, dass ich zum Jammern neige. Allgäuer gelten als Dickschädel, als zäh und zielstrebig. Das trifft es eher, sagen meine Mitstreiter. Ich kann schimpfen, aber ich unterscheide gern genau, worüber es sich zu schimpfen lohnt. Regen und Sonne kommen und gehen, und der Bauer und die Bäuerin haben immer schon damit umzugehen gewusst. Regierungen kommen und gehen. Da wird es schon schwieriger. Lange Jahre waren die Interessen der Landwirtschaft dort ordentlich vertreten. Die Regierenden hatten – zumindest in den demokratischen Zeiten – ja selber vielfach bäuerliche Wurzeln. Die wussten im Groben, worum es geht.
Heute stehen wir vor einer gänzlich anderen Situation: Es geht der Landwirtschaft nicht mal besser, mal schlechter, wie es das immer tat. Heute steht die Existenz der bäuerlichen Kultur ganz und gar auf dem Spiel. In den nächsten Jahren – und derzeit schon – wird in Deutschland und in der Europäischen Union darüber entschieden, ob das Land, auf dem wir leben, im wesentlichen von Bauern bewirtschaftet und gestaltet wird oder von Agrarindustriebetrieben. Ob also unsere Landschaften, die Besiedlung der Dörfer, die regionale Nahrungsbeschaffung und damit Natur, Heimat und ein ganzheitlicher, nachhaltiger Umgang mit unserer Lebenswelt erhalten bleiben, oder ob Industriebetriebe darüber entscheiden, wie unsere Felder und Wälder aussehen und was wir zu essen bekommen.
Da hilft kein Jammern. Da ist auch Schimpfen längst zu wenig. Da gilt nur zupacken – wie es der Bauer weit mehr noch gewohnt ist, als zu jammern. Bauern sind nicht die, die lamentieren, Bauern sind die, die etwas in die Hand nehmen. Das haben die Milchbauern in den vergangenen Jahren allen gezeigt: Den Politikern, denen sie bei Wahlkampfveranstaltungen eine Fuhre Mist vor die Lackschuhe gekippt haben, den EU-Beamten, denen sie mit tausend Schleppern und tausend dazugehörigen Fanfaren den Marsch geblasen haben. Die Milchbauern, jene 30 000, die sich im BDM, dem Bundesverband Deutscher Milchviehhalter, zusammengeschlossen haben, zeigen es der Gesellschaft: Seht her, so sieht die Lage aus. Und bald sieht sie anders aus. Bald braucht ihr Städter nicht mehr über Wiesen und Wege wandern wollen. Bald esst ihr nicht mehr, was eure Landwirtschaft für euch erzeugt. Wir vom BDM versuchen, es in die Gesellschaft hineinzutragen, durch Aktionen und allem voran durch Informationen: Schaut euch an, was da passiert. Das ist nicht unser Problem allein, wenn der bäuerliche Familienbetrieb untergeht. Das ist auch euer Problem, wenn Ihr dann eure Heimat nicht mehr wiedererkennt. Das ist auch das Problem der Menschen in Kamerun und Bangladesch, in Brasilien oder Indonesien, wenn Lebensmittelkonzerne Märkte zerstören, die die Bevölkerung dort zum Überleben braucht.
Wie das alles zusammenhängt? Davon handelt dieses Buch. Nicht jammernd, manchmal schimpfend, hoffentlich Augen öffnend. Was dabei herauskommt, ist erschütternd. Mir sind ja selber die Augen erst richtig aufgegangen, als ich mit meinen Freunden vom BDM, mit den Milchbäuerinnen und Milchbauern in Holland, Frankreich, Italien, Spanien den Blick auf die ganze Wirklichkeit gewagt habe. Da kann man zum Revoluzzer werden. »Der fröhliche Milchrevoluzzer« hat die »taz« – ausgerechnet in der »taz«! – über einen Artikel geschrieben, der sich mit meiner Arbeit befasst. Damit muss ich leben. Damit kann ich leben. Wir Bauern waren immer als konservativ verschrien und wir haben auch lange brav »die Schwarzen« gewählt in Bayern. Aber wir sind keine Ideologen. Wer die falsche Politik macht, wird abgewählt. Wir Bauern brauchen keine schwarze oder rote oder gelbe Politik, wir brauchen Lebensgrundlagen. Dazu gehört Luft zum Atmen. Zurzeit wird uns die Luft abgeschnürt durch Gesetze und Verordnungen und eine Lobby-Politik, die immer nur zu einem führt: Zur Industrialisierung des Agrarsektors, zur Vernichtung der Bauern.
Bauern vernichten, das haben schon andere versucht. Die haben aber immer gewusst, dass sie uns brauchen. Die haben uns in den Bauernkriegen nur klein halten wollen. Heute ist der Kampf heimtückischer. Noch geht es darum, uns klein zu halten, uns auszupressen, uns unsere Milch abzunehmen zu Preisen, die die Kosten nicht annähernd decken. Wenn wir dann ausgeblutet sind, dann folgt die Übernahme. Dann geht es nicht mehr nur uns an. Dann wird Landschaft zerstört und mit ihr der menschliche Umgang mit dem Tier, die Umwelt, die Heimat.
Dass die Bauern sterben sollen – dass »der bäuerliche Familienbetrieb Nostalgie ist« –, sagt man in Brüssel und Berlin ganz offen. Der Effekt ist in den Planspielen einer liberalistischen Ideologie einkalkuliert. Als Kollateralschaden, wie die Zyniker sagen. Man hat ihn abgenickt in den klimatisierten Konferenzräumen der EU-Behörden. »Es gibt keine Alternative«, heißt das dann, wenn die Interessen von Konzernen und Institutionen nur mächtig genug sind. Die Bauern sollen sterben, und dieses Land soll ein anderes werden, und wenn es dabei vor die Hunde geht.
Das Buch will erklären, warum das so ist und wie wir Bauern dagegen kämpfen. Denn so viel an die Adresse der Agrarlenker in Berlin und Brüssel: Sie werden noch jede Menge Freude mit uns Bauern haben. So leicht lassen wir uns nicht von Haus und Hof vertreiben.
Kann der Mensch auf Dauer in einer künstlichen Welt aus Beton und Glas überleben? Wie viel Natur brauchen wir? Wie viel Nähe zur organischen Welt, zum Wachsen und Vergehen, zu Pflanzen und Tieren, zum natürlichen Wechsel der Jahreszeiten? In den gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen wir uns befinden, halten viele solche Gedanken für rückständig.
Ich halte sie für zukunftsweisend. Mit mir denken meine Freunde im BDM und die Milchbauern Europas, die sich im European Milk Board zusammengefunden haben, ebenso. Mit uns denken aufgeschlossene, bewusste Verbraucher heute so und Bürger mit Zivilcourage, Nicht-Regierungs-Organisationen und auch der eine oder andere Unternehmer, der sich Gedanken um die Zukunft macht.
Deutschland ist »kein Agrarland«, heißt es. Richtig ist, dass Deutschland auch eine international erfolgreiche Industrie hat. Richtig ist aber auch, dass Deutschland zumindest bei der Milch noch über Ernährungssouveränität verfügt. Richtig ist auch, dass im Agrarsektor in Deutschland Milliarden umgesetzt werden. Deswegen wollen die Agrarfonds und die Großmolkereien ja an unser Land und unseren Rohstoff. Nur wollen die unsere Milch und unser Land und hier und da eine Tierfabrik, und nicht die Dörfer und Wiesen und Almen und Weiden und die Menschen, die davon leben. Sie wollen nur den Profit. Das ist mir zu wenig.
Der Mensch, der der Natur entfremdet ist, der kein Gefühl mehr für das Wetter hat, der keine Erde mehr riecht, der kein Tier mehr berührt, der keine Pflanze mehr pflegt und keine Frucht vom eigenen Baum mehr pflückt, ist entwurzelt. Ohne Wurzeln kann der Einzelne nicht leben. Irgendwo müssen die in der Gesellschaft noch sein und gepflegt werden. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten die meisten Menschen bäuerliche Wurzeln. Sie wuchsen auf einem Hof auf oder wenigstens ihre Eltern oder Großeltern. Selbst als immer mehr ehemalige Bauern ihren Lebensunterhalt in den Fabriken, bei der Bahn oder in kommunalen Einrichtungen verdienten, blieb man vielfach noch Selbstversorger. Man hatte ein paar Äcker, pflanzte Kartoffeln und Gemüse an, hielt sich ein Schwein oder zwei, ein paar Hühner, manchmal auch Kaninchen oder Ziegen. Der Umgang mit den Tieren war eine Schule der Verantwortung und eine Schule des Menschlichen. »Quäle nie ein Tier im Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!« Jedes Kind hörte diesen Satz. Es hörte ihn nicht nur, sondern es übte ihn im lebendigen Umgang mit den Tieren ein.
Viele Höfe und Nebenerwerbshöfe waren auch deshalb für Kinder so interessant, weil sie sich mit der Zeit habhafter Technik anfüllten. Auf den Höfen wurde eben nichts weggeworfen. Kein Haken, keine Schraube, keine Mutter, kein krummer Nagel. Die Scheunen, die vielleicht einmal als Speicherräume gedacht waren, hatten sich zu abenteuerlichen Werkstätten gewandelt; Zwingen und Schraubstöcke, Hämmer, Zangen und Sägen, die verschiedensten Eisen- und Holzteile lagen herum. An schwülen Sommertagen roch es im Dunkel der Scheunen nach Öl und Heu. Zumindest für Buben war dieses Milieu ein Paradies.
Arbeit und Leben gingen ineinander über. Ich kenne viele Leute, die mir sagen: »Dass ich diese Wurzeln habe, das hat mich entscheidend geprägt.« Neulich hat mir ein Familienvater, der heute in der Stadt lebt, versichert: »Wenn heute schlechte Zeiten kommen würden – ich wüsste, wie man überlebt. Ich weiß, wie man Feuer macht, wie man die Erde umgräbt, wie man pflanzt, hegt und erntet, Früchte und Gemüse konserviert und Vorräte anlegt. Meine Kinder wissen das nicht mehr. Um die würde ich mir Sorgen machen.«
Die vorsätzlich betriebene, radikale Entbäuerlichung Deutschlands hat einen gigantischen Preis, der nicht nur in Euro und Cent bezahlt wird. Bauern sind das Ferment, das Heimat schafft und Natur erhält. Wir können nicht auf Heimat und Natur verzichten. Den eigentlichen Preis zahlen wir mit unserer Seele. Wir alle – Bauern und Nichtbauern – dürfen es nicht zulassen, dass wir aus natürlichen Zusammenhängen herausgerissen werden, dass unsere Heimat verscherbelt und unser Land vertickert wird, nur weil eine Handvoll sogenannter Marktwirtschaftler behauptet, dass nach ein bisschen Strukturwandel der Käse beim Aldi noch billiger würde.
Wenn die Pläne der europäischen Agrarstrategen, die heute noch rücksichtslos durchgezogen werden, endgültig in die Tat umgesetzt sind, ist Petersthal aller Voraussicht nach ein totes Dorf. Das ist kein Hirngespinst. Andernorts in Europa kann man heute schon besichtigen, wohin das führt, was die europäischen Agrarstrategen anrichten. In ein paar Jahren wird es auch bei uns so aussehen: Die Jungen verdienen ihr Geld irgendwo in den Städten. Die paar Alten, die so weit vom Schuss noch leben wollen, sind Rentner. Niemand hat Geld, um es in den Ausbau und den Erhalt von Immobilien zu stecken. Einige Unentwegte versuchen sich mehr schlecht als recht im Tourismusbereich. Aber wo sollen die ganzen Touristen denn herkommen? Wenn wahr wird, was die Brüssler Agrarmarktstrategen wollen, wird aus unserem bäuerlichen Kulturland höchstens noch eine Art Agrarindustriezone im Flachland. Wir können dann nur noch billig. Und in Rumänien können wir noch billiger.
Mein Sohn hätte vielleicht noch einen Job in der Milchindustrie. Wenn Sie dann nach Petersthal in Urlaub fahren, weil irgendwelche Brüsseler Kommissionsstrategen herausgefunden haben, hier sei das Produkt »Freizeit & Tourismus« angesagt, kommen die Kuhglocken wohl nur noch aus dem Lautsprecher, die gemähten Flächen fürs touristische Auge erbringt der Landschaftspfleger, und auf der Alpe können Sie sich H-Milch am Automaten ziehen. Deshalb sage ich Besuchern aus der Stadt, mit denen ich ins Gespräch komme: »Stellt euch an die Seite von uns Bauern! Seid solidarisch! Dieses Land hier gehört uns allen – uns Bauern, aber auch euch, die ihr diesen Flecken Erde liebt. Ihr werdet unsere und eure Heimat nicht wiedererkennen, wenn uns die Konzerne erst vernichtet haben.«
Eine Handvoll großer Konzerne befindet sich auf einem mehr oder weniger heimlichen Eroberungsfeldzug, einem Beutezug, der es auf das weiße Gold abgesehen hat – die Milch, die ihnen gehören soll, wie diesen und anderen Konzernen bald alles gehört: das Land, die Saat, das Wasser, warum nicht gleich die Luft. Sie wollen an die Quelle, wollen den Rohstoff Milch, der noch in Bauernhand ist. Sie wollen nicht, dass Hunderttausende von Bauern in ganz Europa an etwas mitverdienen, das doch gleich den Konzernen gehören könnte.
Im Blickwinkel der Konzerne sind die Bauern nur kleine Zulieferer im Wertschöpfungsprozess »Milch«. Auf den Reißbrettern der Konzerne gilt dieser Wertschöpfungsprozess erst dann als lückenlos, wenn alle Faktoren und Phasen der Produktion und des Vertriebs unter Kontrolle sind. Mit anderen Worten: wenn vom Euter bis zum Milch- und Käsesortiment im Laden alles in einer Hand liegt und von einer Hand betrieben wird. Wir Milchbauern sind die letzte Hürde auf dem Durchmarsch der Milchindustrie. Die Lösung, die den Milchgiganten vorschwebt, äußern sie in einer verklausulierten Sprache. Man muss sie in allgemeinverständliche Sprache übersetzen. Dann lauten ihre Worte: Nehmt den Bauern die Milch weg! Nehmt ihnen ihre Tiere weg! Nehmt ihnen ihre Häuser, ihre Höfe und ihr Land weg! Wir wollen das haben!
Dieses Ziel erreichen die Milchkonzerne nur, wenn sie Verbündete haben, die ihnen ihre Wünsche erfüllen. Diese Verbündeten sind: 1. die Agrarbeamten der Europäischen Union, 2. die deutschen Agrarpolitiker in Berlin und den Landeshauptstädten, 3. der Deutsche Bauernverband. Der eigentliche Treiber sitzt in Brüssel, in der Agrarkommission, aber auch an anderen Stellen der Europäischen Zentralregierung, wo man eisern der Ideologie des »Freihandels« anhängt. Im Liberalismus gibt es drei »Dogmen«. Das erste ist das Dogma von der »Privatisierung«. Klingt gut, könnte uns Bauern gefallen. Aber gemeint ist damit nicht, dass man das Privateigentum und das Geschäftsmodell von kleinen Erzeugern schützt. Gemeint ist, dass der Staat alle denkbaren Aufgaben, für die er bislang aufkam, an große private Betreiber verkauft: Post und Bahn, Kommunikationsnetze und Energie. Problematisch wird das vor allem da, wo diese privaten Riesen dann eine Art faktisches Monopol für eine dringend von allen benötigte Leistung oder ein von allen benötigtes, unersetzliches Produkt haben. Die Riesen – und das hat man gesehen – sind plötzlich in der Lage, die Allgemeinheit zu schröpfen, wie bei Strom und Gas. Dann sind sie so groß, dass der Staat ganz eng mit den Konzernen »zusammenarbeiten muss«. Der Gedanke ist: Wenn die Wirtschaft brummt, indem die großen Unternehmen florieren, fällt als Nebenprodukt auch das Soziale für die Kleinen und Schwachen ab. Für uns Bauern bedeutet das: Der Staat will sich aus dem Agrarbereich zurückziehen. Die Vision ist: Wenn wir eines Tages gar keine Agrarpolitik mehr machen, weil der Markt sich selbst organisiert, haben wir keinen Ärger und keine Kosten mit den Bauern. Für uns Bauern heißt das: Der Staat sieht die Nahrungsmittelversorgung am besten dadurch gewährleistet, dass die Milchindustrie den Sektor übernimmt. Kurz: Aus der Landwirtschaft wird eine Industrie.
Das zweite Dogma des Liberalismus ist die »Deregulierung«. Dieses Dogma besagt, dass sich der Staat am besten gar nicht in das freie Spiel des Marktes einmischt. Das gefällt Unternehmen, die gerne ihre eigenen Regeln setzen, um damit allein Herren im Haus zu sein. Frei sind dann nur die Mächtigen. Für uns Milchbauern heißt das: Weg mit der Milchquote! Der verheerende Effekt dieser Entscheidung spielt, wie wir sehen werden, nur den Konzernen in die Bilanz. Der Staat erliegt einer Fehlkalkulation, die ihm (und damit allen Bürgern) erst zeitversetzt präsentiert wird. Die Deregulierung des Agrarmarktes wird unsere Heimat zerstören, wird Arbeitsplätze in großem Umfang kosten, wird freie Existenzen ruinieren, Löhne in den Keller drücken und zuletzt eine nie dagewesene Umverteilung bewirken. Was vielen gehörte, wird wenigen gehören. Bei der Bodenreform in der DDR hieß es »Junkerland in Bauernhand«. Heute heißt es »Bauernland in Firmenhand«. Mit der Zustimmung zu diesen Mechanismen betreiben wir unsere Enteignung und Verarmung. Das sollten wir wissen. Ich wünsche mir nicht, dass jemand in zwanzig Jahren dieses Buch liest und sagt: »Ach, die haben das damals schon gewusst!« Wir können das schließlich verhindern. Und wer es noch immer nicht glaubt, möge sich anschauen, was das Dogma von der »Deregulierung« auf dem Finanzsektor angerichtet hat.
Das dritte Dogma des Liberalismus ist die »Kürzung staatlicher Leistungen«. Es besagt etwas im Grunde genommen Richtiges, was uns Bauern eigentlich vertraut ist, wenn man meint: »Nur Eigeninitiative und Eigenverantwortung bringen einen Fortschritt bei der wirtschaftlichen Entwicklung!« So haben Bauern immer gedacht. So haben sie sich in Zeiten, in denen der Staat ausfiel, immer nach oben gearbeitet. Aber: Der pure Wettbewerb, dem hier das Wort geredet wird, kann nur funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen für alle, die sich dem Wettbewerb stellen, gleich sind. Wir freien Bauern wollen den Staat nicht als Dauer-Almosengeber. Wir brauchen auch kein Recht auf permanentes Sponsoring und ewige Subventionen. Wir wollen nur faire Rahmenbedingungen für eine faire Arbeit zu einem fairen Preis – und Schutz vor dem Abschöpfen des Geldes, das vielen kleinen Leuten ein Leben ermöglicht und nicht dazu gedacht ist, dass es in die Renditeüberschüsse der Milchgiganten wandert.
Brüssel geht voran – oder wird vorgeschickt? Die Agrarministerien der Länder tun so, als läge gar nichts mehr an ihnen und keine Entscheidung mehr bei ihnen, als müssten sie sich einem europäischen Diktat beugen. Deutsche Agrarpolitiker, seien es nun Landes- oder Bundespolitiker, reden sich gerne heraus mit Sätzen wie: »Eure Vorstellungen sind in Brüssel nicht durchsetzbar!« Ich kann’s nicht mehr hören! Welches demokratische Mandat hat Brüssel, eine Politik der Konzerne zu betreiben, eine Politik gegen die Mehrheit des Volkes? Hat jemand die Bürger befragt? Wozu wählen wir Volksvertreter in Berlin, wenn sie uns die Regelungen aus Brüssel als unabwendbares Schicksal hinstellen?
Nicht jammern, anpacken! Deshalb haben wir 1998 den BDM gegründet. 30 000 Milchbauern haben sich angeschlossen bisher. 30 000 von vielleicht noch 90 000, vielleicht auch nur noch 70 000. 30 000, die aufstehen, damit wir nicht bald schon nur noch 50 000 Milchbauern sind in Deutschland. Wir kämpfen dafür, dass Europa auch weiterhin nachhaltig bewirtschaftet und ernährt werden kann. Wir kämpfen für die Milch als Naturprodukt. Wir kämpfen für unseren Plan, der nicht nur wenigen Profit verspricht, sondern allen Anteil an der Wertschöpfung ermöglicht. Wir kämpfen für unser Leben.
Milch ist weiß. Frisch, warm, cremig, gesund. Bis sie zum roten Tuch wird. Bis sie wieder Blutzoll fordert. Bis der Bauer tot im Stall hängt. Weil er nicht mehr aus noch ein gewusst hat. Weil er den neuen Stall gebaut hat, wie man es ihm geraten hat. Weil er Risikokapital aufgenommen hat, wie man es ihm geraten hat. Weil er auf Verbandsvertreter und Politiker gehört hat, die ihm geraten haben: Vergrößere dich!
Wenn er dann eine halbe Million oder eine Million in den neuen Stall investiert hat, dann sinkt der Milchpreis, um 20, um 30 Prozent. Einfach so. Der »Weltmarkt« ist schuld, heißt es dann. Tut uns leid, sagt die Bank. Tut uns leid, sagen die Verbandsvertreter. Aber zahlen musst du trotzdem.
Dann sagt der Bauer: Mehr schaffen kann ich nicht. Meine Frau auch nicht, die Kinder auch nicht. Der Hof, seit Jahrzehnten oder seit Jahrhunderten in Familienbesitz, ist hin. Tut mir leid, sagt sich der Bauer dann still und geht in den Stall. Bis ihn die Frau, die Kinder finden. Dann hat’s wieder einen erwischt. Einen, der nichts dazukann. Einen, von dem man es nicht gedacht hätte. Der doch mutig war, der gebaut hat, der mithalten wollte. Wieder einer, dem die weiße, die gesunde, die frische Milch zur Blutmilch geworden ist.
Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Das passiert in Italien, noch mehr in Frankreich. Das steht selten in der Zeitung, es wird nicht an die große Glocke gehängt. Es sind eben nicht nur Einzelfälle, von denen uns Kollegen aus Schleswig-Holstein, Bayern oder Österreich berichten, wenn wir uns zu unseren Versammlungen treffen. Hans Goldbrunner, Psychologe der Universität Duisburg-Essen, arbeitet in der landwirtschaftlichen Familienberatung und sagt: »Suizid ist ein großes Thema bei uns.« Es muss weit kommen, bis ein Bauer zum letzten Mittel greift. Bauern sind bodenständige Menschen. Wir sind Familienmenschen. Wir denken in der Regel konservativ. Was treibt die Menschen in die Verzweiflung? Hans Goldbrunner: »Viele Bauern haben in den vergangenen Jahren enorm investiert, um auf den von der EU geforderten Standard zu wachsen. Jetzt schwimmen denen die Felle davon.«
Als Milchbauern aus Schleswig-Holstein im Sommer 2009 vor der Kieler Staatskanzlei von Ministerpräsident Carstensen protestierten, griffen sie zu ungewöhnlichen Mitteln. Sie warfen dem Landesoberhaupt ihr »letztes Hemd« vor die Füße, hielten dunkle Kreuze in die Höhe mit der Aufschrift »Der deutsche Milchbauer« und entzündeten Grablichter davor. Da waren sie sich noch nicht bewusst, dass das mehr war als eine Symbolhandlung. Wenig später drang an die Öffentlichkeit, was die Verwandten gerne verborgen hätten: Dass sich zwei Milchbauern in ihrer Umgebung das Leben genommen haben. Für die Angehörigen kommt zu allem Leid hinzu, dass sie es oftmals immer noch als Schande empfinden, wenn die ganze Wahrheit durchsickert: dass sie es nicht geschafft haben. Es ist aber keine Schande für die Milchbauern. Es ist eine Schande für die, die sie so weit getrieben haben.
Der Schleswig-Holsteinischen Zeitung entnehme ich den Fall eines 47-jährigen Milchbauern aus Großenaspe (Kreis Segeberg), der im Juni 2009 zum Gewehr griff. Er hinterließ seine Frau und zwei Kinder. Die Zeitung schreibt: »Vor zwei Jahren, als die Milchpreise noch bei mehr als 30 Cent lagen, hatte er für seine 150 Kühe einen neuen Stall gebaut. Inzwischen liegen die Milchpreise bei 18,5 Cent. Sah er keinen anderen Ausweg mehr? Sein Vater Günter T. sagt nur: ›Das hätte nicht nötig getan. Wir hätten auf jeden Fall eine Lösung gefunden.‹ Der Hof muss nun verkauft werden. Die Kinder (9 und 12) sind noch zu jung, um den Betrieb zu übernehmen.« Von Großenaspe nach dem nordfriesischen Behrendorf ist es mit dem Auto nur gut eine Stunde Fahrtzeit. Dort lebte der 40-jährige Milchbauer Jürgen J. Zwei Monate bevor sich sein Kollege aus Großenaspe das Leben nahm, ging auch Jürgen J. diesen letzten Schritt. In der Schleswig-Holsteinischen Zeitung lese ich: »Im April frühstückte er mit Frau und Kindern. Dann ging er wie immer zu seinen Kühen in den Stall, schaltete die Melkanlage an und erhängte sich.« Jürgen J. hinterließ einen Abschiedsbrief. Seine Verwandten sollten wissen, was ihn zu der Verzweiflungstat veranlasst hatte: Er sah keinen Ausweg mehr aus seiner Finanzmisere.
Die Fälle, in denen die Milch der Bauern zu Blutmilch wird, häufen sich. Da ist der Fall des 58-jährigen Dieter K. aus Langensteinach (Kreis Neustadt/Aisch-Bad Windsheim), der im vergangenen Juni durch die Presse ging. Dieter K. war ein im ganzen Dorf beliebter Mann; er war aktiv im Schützen- und im Soldatenverein. Doch die Krise um die Milchpreise trieb ihn zu einer grausamen Tat: Dieter K. sprang aus lauter Verzweiflung in die Jauchegrube. Vor Jahren schon hatte er seinen ganzen Betrieb auf Milchproduktion umgestellt. Er glaubte den Versprechungen, die ihn zu wirtschaftlichem Wagemut aufforderten und mit der Verheißung lockten, hier könne er seine bäuerliche Existenz sichern. Jetzt waren nur diese erdrückenden Schulden da. Man hatte ihn in die Falle gelockt. Seine Beerdigung ließ bei den Dorfbewohnern die schiere Wut hochkochen. »Den hat die Politik auf dem Gewissen«, sagte einer. Stimmt das? Auch davon handelt dieses Buch.
Die Verzweiflung der Bauern ist ein europäisches Thema. Erwin Schöpges ist Präsident der belgischen Milcherzeuger-Interessengemeinschaft (MIG); er ist einer der Aktivisten im European Milk Board (EMB), dessen Präsident ich bin. Und er ist mein Freund, ein handfester Bursche und ein mutiger Mann. Als ihn letzthin ein Abgesandter der EU-Kommission zur Weißglut brachte, warf Erwin kurzerhand ein Paar Stiefel vor laufender Kamera in Richtung des EU-Beamten. Der Zeitung sagte er hinterher: »Ich finde nicht, dass ich damit zu weit gegangen bin. Die Politiker machen sich immer noch lustig über die Bauern. Deshalb wollte ich ein starkes Zeichen setzen und habe mit dem Stiefelwurf signalisiert, dass die Politiker selbst die Kühe melken sollen.« Als Erwin Schöpges gefragt wurde, warum es auch in Belgien zu Selbsttötungen von Milchbauern kam, antworte er: »Das ist doch kein Wunder. Die Produzenten verlieren ihr Kapital, arbeiten viel und schaffen es doch nicht, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Das führt zu Stress und zu Spannungen in den Familien. Man ist niemals reich gewesen, doch man war in der Lage, ein normales Leben ohne all diesen Ärger zu führen. Einige geben nun alles auf oder sehen keinen anderen Ausweg als den Selbstmord.« So könnte ich Zeugnisse aus ganz Europa beibringen. Jedes Mal wenn ich mich mit meinen Freunden und Mitkämpfern aus dem European Milk Board treffe, machen neue Berichte von Bauernschicksalen die Runde.
Die Milch, die Macht und die Verzweiflung sind nicht ein deutsches Thema. Sie sind nicht einmal allein ein europäisches Thema. Das Thema ist global – so wie die großen Molkereien den Milchmarkt gerne hätten. Vor einigen Jahren ging die Nachricht durch die Presse: »US-Bauer erschoss 51 Kühe und verübte Selbstmord.« Ein Einzelfall? Die Tat ereignete sich dem Artikel zufolge in Copake im Norden des Bundesstaates New York. Ein Nachbar fand dort den Bauer Dean Pierson und das Gewehr in dessen Stall und meinte: »Die Zeiten sind hart für die Bauern.« Auch Pierson war ein hochangesehener Mann in seiner Heimat, den der politische Druck auf die Milchpreise in den Tod trieb. Der Vizepräsident des New York Farm Bureau, Eric Ooms, der selbst noch mit seinen Brüdern und seinem Vater eine Farm in Kinderhook leitet, meinte zu der aufwühlenden Tat, die möglicherweise vielfältige Ursachen hatte: »Die ökonomische Situation ist ein weiterer Teil in diesem Puzzle. Mein Vater war sein ganzes Leben lang Farmer. Aber er sagt, ein Jahr wie dieses habe er nie gesehen. Niemand hat so etwas erlebt wie dieses Jahr … Die wirtschaftliche Situation geht wie ein Sturm über uns hinweg. Mehr als wir jemals annahmen, sind wir Teil einer globalen Ökonomie.« Ooms berichtet von dem dramatischen Sturz der Milchpreise, der die Erzeuger zwang, Milch unterhalb eines möglichen Gestehungspreises zu verkaufen.
Am härtesten betroffen sind von dem Machtspiel um die Milch die Menschen in den Entwicklungsländern. Aus Indien gibt es Nachrichten von ganzen Selbstmordserien, besonders im Bundesstaat Maharasthra. Dort berichtete man vor ein paar Jahren von Tausenden von Bauern, die sich umbrachten. Alle acht Stunden sollte sich dort ein Bauer ums Leben bringen, wie SPIEGEL online im November 2006 meldete: »… die Globalisierungsverlierer in der Boom-Ökonomie: Indiens Landwirte leben in unfassbarem Elend – als letztes Mittel des Protests wählen sie den Selbstmord.« Die Bauern gingen in den Tod, weil sie überschuldet waren und die Kredite, die sie für Saatgut aufnehmen mussten, nicht zurückzahlen können. Ein Bauer namens Akola bekannte: »Zu Hause haben wir kein Essen und keine Kleider zum Anziehen. Wir sind hungrig und rennen herum wie streunende Hunde.« Was er einmal an Land besessen habe, habe er verkauft: »Ich finde keinen Job – weil keiner mehr Geld hat, einen Landarbeiter zu beschäftigen.« Den Bauern ging es aus mehreren Gründen schlecht. Die Natur spielte nicht mehr mit. Schlimmer noch war, was an politischen Faktoren über die Regierung in Neu-Delhi hinzukam. Die Welthandelsorganisation WTO hatte von ihr verlangt, sie müsse die Subventionen und Importzölle herunterfahren. Die armen Bauern in der Provinz Maharasthra bekamen plötzlich für ihre Produkte eine unerwartete Konkurrenz aus der EU und aus Amerika. Wie das? Kann man denn dort noch billiger produzieren als in Maharasthra? Kann man eigentlich nicht – oder nur, weil die aus Amerika und der EU importierten Agrarprodukte in ihren Herkunftsländern mit gigantischen Milliardensubventionen »weltmarktfähig« gemacht werden und bei der Einfuhr nach Indien nicht mehr durch Importzölle geschützt werden. Welch ein Irrsinn! Der Wirtschaftswissenschaftler Vijay Jawandhia erklärt: »Im Interesse der Industrie hat Indien seine Zollgrenzen geöffnet – obwohl die Landwirtschaft dafür nicht vorbereitet war.« Die größte Boombranche in Indien sind die Privatbanken, die den verzweifelten Bauern Geld zum »Marktpreis«, sprich zu Wucherkrediten vermitteln. Auf diese Weise kommt immer mehr Bauernland an die Banken. Die Geldleute bestellen das Land natürlich nicht selbst. Am Ende sind es die gleichen Leute, welche die Arbeit auf den Feldern machen. Aber es sind eben keine freien Bauern mehr, sondern abhängige Lohnarbeiter, besser gesagt: Sklaven. Nur zur Information: Zwei Drittel der indischen Bevölkerung leben von der Landwirtschaft.
Drastisch hat ein Deutsch-Brasilianer das Drama auf den Punkt gebracht, der im Jahr 2002 starb: José A. Lutzenberger, Träger des Alternativen Nobelpreises, brasilianischer Umweltminister von 1990 bis 1992. Seine Rede bei der Entgegennahme des Ehrendoktor-Titels der Hochschule für Bodenkultur in Wien stammt von 1995. Das war die Zeit, als wir Milchbauern in Deutschland gerade anfingen, den Kampf aufzunehmen. Es war die Zeit, als wir uns nicht mehr nur über unsere sinkenden Einkommen aufregten, sondern das System zu analysieren versuchten, das dahintersteckt. Es war die Zeit, als nach Wende und Mauerfall eine liberalistische Wirtschaftsdoktrin ohne Begrenzung alle Bereiche erfasste. Der Text von Lutzenberger ist vielleicht in manchen Teilen zeitbedingt, aber im Wesentlichen stimmt er immer noch. Ja, er ist geradezu prophetisch. Der Titel: »Die Abschaffung der Bauern – ein globaler Selbstmord.« Gerade weil Lutzenberger »draußen« war und die Dinge aus der Perspektive eines Entwicklungslandes betrachtete, redet er einem europäischen Milchbauern, der im Jahr 2010 um seine Existenz kämpft, aus der Seele. Es geht ja den Bauern weltweit aus denselben Gründen an den Kragen. Darum erlebe ich bei jedem Kontakt mit den Freunden aus Europa, den Kollegen aus Nordamerika oder aus den Ländern Afrikas oder Asiens: Die Sache der Bauern ist unteilbar. Und: Die Sache der Bauern ist die Sache aller Menschen.