Heike Geißler
Die Woche
Roman
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München
Umschlagabbildung: Leonie Bos, Pink Tape
eISBN 978-3-518-77226-3
www.suhrkamp.de
Die Woche
Wir sind dumm, doof und dämlich.
Wir sind zu nichts zu gebrauchen.
Wir sind komplett out of order.
Wir merken ja gar nichts.
Wir merken alles, aber trauen unseren Sinnen nicht.
Wir verstehen uns selbst nicht, würden aber nicht behaupten, dass es ein Anrecht darauf gibt, sich selbst zu verstehen.
Wir halten nicht viel von uns.
Wir legen darauf auch keinen Wert.
Das kommt erst später, wenn wir bemerken, wie viel Zeit uns mehr oder weniger bekannte Leute, Gruppen, Strukturen darauf verwenden, sich laut- und leistungsstark gut zu finden.
Wir sind jederzeit bereit, diese Liste zu ergänzen.
Ach ja, wir gähnen.
Wir gähnen meinungsstark in die Fenster jener Wohnung hinein, in der wir vor kurzem noch wohnten, aus der wir halbwegs charmant entmietet wurden.
So kann man das eigentlich nicht sagen, sagt Constanze.
Doch, sage ich, so kann man das sagen, auch wenn es falsch ist und nichts daran wirklich charmant war. Sondern alles war unhöflich, luftnehmend, feige und brutal, aber ich will darüber nicht sprechen, weil ich gar nicht weiß, wie ich darüber sprechen soll, ohne zu wiederholen, was schon tausendfach gesagt wurde. Dieses Entmietungsproblem ist bestens bekannt, aber mir fehlen die Worte, um es wie ein noch zu entdeckendes Terrain anzupreisen, dem man sich neugierig und mit aller Entschiedenheit widmen möchte. Wer will sich schon mit altbekannten Problemen abplagen.
Ich will damit auch gar nichts mehr zu tun haben.
Meine Akkuladung beträgt noch fünf Prozent.
Ich muss abwägen.
Eine Frau von vierzig Jahren, sagt Constanze, muss vermutlich alles abwägen.
Ja, sage ich. Aber gerade ist es noch so, als müsste ich wenig beachten, wenngleich ich versuche, auf alles zu achten. Gerade bin ich noch voller Gratisproben und Werbeangebote für mich selbst. Aber gleich bin ich vorbei.
Wir ziehen uns an den Fensterbrettern hoch.
Ich mochte das Wohnen im Erdgeschoss ja nur bedingt, sage ich, ich hatte immer Angst vor Einbrechern.
Haha, gleich lachen wir uns darüber scheckig. Als ob es sich lohnte, Angst vor Einbrechern zu haben. Unsere Angstimpulse haben die falsche Schule durchlaufen, unsere Angstimpulse wurden auf die falsche Fährte gelockt.
Ja, wird Constanze dann sagen, die vollkommen falsche Fährte.
Gleich stehen wir mit unpassenden Ängsten vor schwindenden Brachen, in Malls und auf Demonstrationen und stehen sowieso vor den Nachrichten wie Kühe im Wald.
In unserer ehemaligen Wohnung ist alles überformt. Wir erkennen sie nicht wieder mit ihren Schiebegardinen, Ikea-Gemälden und Potpourri-Schalen. Und alles so ordentlich.
Die Eigentümerin oder Mieterin stürmt in das Zimmer, in das wir gerade von draußen schauen, das nicht mehr unser nahezu tanzsaalgroßes Wohnzimmer ist, sondern eine Collage aus kleinen Regionen: die Dining-Situation, die Relax-Station, das Heimkino-Areal etc. Die Bewohnerin klatscht in die Hände, als wollte sie Tauben vertreiben.
Wir stemmen uns an den Fensterbrettern noch ein wenig höher und fliegen schnatternd davon.
Dann springen wir im Freibad vom Startblock und schwimmen so, als pflügten wir das Wasser um.
Immer ist zugleich zu viel Kraft da und zu wenig.
Ach ja, die Techniken des Maßhaltens und der goldenen Mitte.
Wir balancieren halbherzig oder unbarmherzig oder großschnäuzig oder kleinkariert oder stocksauer oder tollkühn auf einer glänzenden Strippe in übersichtlicher Höhe durch die Mitte.
Das Slackline-Ding kapierst du nie, ruft Constanze, da sind wir in der Boulderhalle, meinen Kindern zuliebe, und ich stehe in diesen viel zu engen, stinkenden, ausgeliehenen Kletterschuhen und schwinge mich bereitwillig von der Slackline und falle kein bisschen und plumpse doch auf die dumpf-weiche Bodenmatte. Wir gehen durch dieses gepolsterte Gelände wie Elemente eines anderen Periodensystems, wir greifen nach den Klettergriffen und entwickeln kurz Ehrgeiz. Ich denke die Muskeln derer, die neben und über mir klettern, an meine Arme, lasse mich fallen und schaue an die dunkle Hallendecke. Ich rutsche in einen kurzen Schlaf.
Die Kinder klettern nach oben, zur Seite und zum Boden zurück und springen über mich, als ich von den Alpen träume.
Wir bauen uns aus unseren Defiziten keinen Berg und steigen für den besseren Überblick auf keine Spitze.
Wir schaufeln uns immer ein Grab.
Wir hören damit irgendwann auf.
Darauf freuen wir uns schon.
Wir sind die proletarischen Prinzessinnen.
Wir schwingen die Reifröcke und klopfen uns den Staub von den Jeans. Wir sagen, wenn jemand eine Monarchie braucht, dann sind das nicht wir, aber Prinzessinnen sind wir trotzdem.
Prinzessinnen, wie sie nicht in jedem Buche stehen. Aber wartet nur, wir schreiben uns in die Bücher hinein.
Unsere Eltern hatten keine Ahnung davon, welchen Weg wir einmal einschlagen würden. Unsere Arbeitereltern wussten nichts vom Königlichen in ihren Genen.
Wir legen alle Geheimnisse frei.
Oh, sagt Constanze, da habe ich ja jetzt schon Angst.
Nun ja, wir legen vielleicht nicht alle Geheimnisse frei. Man weiß das nicht so genau. Manchmal kommt mit einem Geheimnis ein Märchen hervor und gibt sich als Familiengeschichte aus.
Weil wir anstelle einer Familiengeschichte nur eine Ahnung von einer uns unbekannten und weitgehend verschwiegenen oder unerzählten Vergangenheit haben, entdecken wir unsere Geschichte in allen Büchern, die wir kennen. Wir wissen dennoch nie, wie uns geschah, woher wir kommen, wer wir sind.
Meine Güte.
Immer sagt jemand: Meine Güte.
Wir sind vollkommen derangiert, wir sind vollkommen zerstört.
Wirklich?, fragt Constanze.
Na ja, sage ich, das ist jetzt die Prognose. Und das wird der Trugschluss sein.
Wir werden uns über kurz oder lang, also eher über kurz als über lang, sehr zerstört vorkommen. Man merkt das dann oder merkt das nicht.
Kommt ganz drauf an, was wir preisgeben wollen oder können.
Kommt ganz drauf an, was wir verbergen wollen oder können.
Wir haben, sagt Constanze, bisher alles gut verborgen.
Ja, sage ich, wir beherrschen das Verstecken von Dingen, Geschehnissen, Meinungen, Erinnerungen meisterhaft.
Nur uns selbst können wir nicht gut verstecken, weil wir auch in größter Angst in den Verstecken kichern müssen.
Wir sind auch nicht so gut im Finden oder nicht so gut im Suchen.
Ich gebe ein Haus kaufen Leipzig / Haus kaufen Buckow / Haus kaufen Groß Neuendorf / Haus kaufen Los Angeles / Haus kaufen Warschau / Haus kaufen Chemnitz / Haus kaufen Berlin / Haus kaufen Zeitz etc.
Ich spiele immer noch unregelmäßig Lotto und erwarte demnächst einen größeren Gewinn.
Ich habe bisher zwölf Euro gewonnen.
Ich ehre den Pfennig nicht, muss aber des Talers für wert befunden werden.
Ich will unter keinen Umständen die Taube auf dem Dach und locke keinen Spatz in meine Hand.
Aber alle Spatzen sind willkommen.
Mit Tauben ist es halt so eine Sache.
Schon klar, sagt Constanze.
Ja, sage ich. Mit Tauben ist es zum Beispiel so, dass ich in Banjul, von einem Freund gefragt, vielmehr von dem Mann gefragt, den ich damals liebte und gar nicht mitbekam, wie ungleich wir waren, ob ich ihm Geld für seine kleine Taubenfarm geben würde, damit er Futter kaufen könnte, begründungslos verneinte. Ich sagte stattdessen, er könne Kondome nicht zweimal benutzen, und schickte ihm später über Western Union viel Geld, weil er meinte, ein Fahrradverleih sei eine gute Sache, damit werde er es zu einem soliden Einkommen bringen.
Hat es geklappt?
Lebt er noch?
Und wenn nein: Wer kann ihn von mir grüßen?
Wie erreicht man die Toten?
Bleiben wir irdisch, sagt Constanze.
Halten wir die Augen auf Erde und Horizont gerichtet und uns bei den Händen.
Lebst du noch?
Aber ja.
Lebe ich noch?
Aber ja.
Lebt Ihr noch?
Geht es Euch gut?
Kommt Ihr zurecht?
Redet Ihr über das Wetter, meint aber die Politik?
Redet Ihr über Politik, meint aber das Wetter?
Könnt Ihr sagen, wie der Hase läuft?
Wie der Hase gleich laufen wird?
Guckt Euch mal diesen Hasen an. Ist er nicht hübsch?
Und ich meine auch dieses Kaninchen vom Forum Romanum, das da saß und das trockene Gras fraß und sich nicht stören ließ von mir und meinen Kindern, das entspannte Kaninchen am touristischen Hotspot, als wäre es ein Ausstellungsstück, unter dem speziellen Schutz des Ortes stehend, wirklich lässig, wirklich wahr.
Ach, wir wollen die Hasen und Kaninchen hier nicht mit reinziehen.
Aber guckt sie Euch gut an. Und seid nicht als Jäger*innen zugegen.
Das schreiben wir Euch in Briefe, die wir dann doch nicht abschicken.
Als ob, sagt Constanze.
Doch, sage ich, das schreibe ich in alle Briefe: Dass sie keine Jäger*innen sein sollen. Ich als Mutter zweier Kinder, in deren Schulklassen sich Kinder mit Jägervätern befinden, hatte reichlich Zeit, mir eine Meinung zu Jägern zu bilden, und kritisiere in erster Linie nicht das Jagen, sondern den zum Jagen unmittelbar gehören zu scheinenden Lifestyle und das Mindset, sozusagen.
Wir setzen die Hasen zurück aufs Feld.
Und wir sehen: Es sind wehrhafte Hasen.
Wir schicken die Hasen mit guten Wünschen ins Feld, und ich halte meine Söhne fest. Ich halte die Söhne so fest, dass es den Söhnen ganz ungeheuerlich zumute wird.
Wir liegen gleich herum wie Fallobst.
Wir liegen gleich herum wie Isomatten.
Wir liegen gleich herum wie Bodenfliesen.
Wir sind gleich auf den Boden gedrückt und ganz erschlagen, aber das merken wir noch nicht.
Wir liegen in Fitnessstudios und auf Liegewiesen und sind immer ein bisschen betrübt, wenn es heißt, es sei Zeit aufzustehen.
Wir haben zu unserer eigenen Überraschung schon jetzt ein spezifisches Interesse am Liegen entwickelt: Wir versuchen, wissend, dass es unmöglich ist, die Erdoberfläche liegend zu durchdringen und lebendig den Gegebenheiten zu entkommen.
Und das an einem normalen Sonntag, an dem meine Kinder noch länger im Freibad bleiben wollen, aber ich schon gehe.
Sie machen irgendwas, was lebendig ist, was an keinem Unheil mitwirkt und vielleicht von keinem Unheil getilgt werden kann.
Ich sorge mich trotzdem immer um sie.
Constanze ruft mir schon seit Jahren zu: Dir hängt alles an einem seidenen Faden.
Ja, rufe ich jedes Mal zurück: Taue waren und sind eben aus.
Ich weiß jedoch, wie Kinder manchmal zu retten sind, ich habe vor Jahren bei Hugo Loetscher gelesen, wie man Kinder, die am Sterben sind, behandelt. Man schlägt ihnen ins Gesicht und sagt: »Ich prügle dich, machst du schlapp, prügle ich dich lieber tot, bevor du allein stirbst.«
Wir haben die Welt aufgegeben, aber das wissen wir noch nicht.
Wir werden zu unserem Erstaunen herausfinden, dass es doch nicht so ist.
Wie könnten wir denn.
Das ist nämlich gar nicht unsere Art.
Das wird dann nur eine Täuschung gewesen sein.
Ein großes Schauspiel, dem wir aus lauter Dummheit, Unerfahrenheit und Blindheit zu lange beigewohnt haben werden.
Wir drücken unsere Ohren aufs Gras und versuchen etwas zu hören. Wir wollen sehr gern etwas hören und die Seiten wechseln.
Wir sind der oberirdische Untergrund.
Wir versuchen, den Systemwechsel in jedweder Hinsicht zu vollziehen.
Wir versuchen zu leben, was wir wirklich leben wollen.
Wenn Sie uns bitte nicht dabei stören würden.
Wenn Sie bitte endlich aufhören würden, all Ihr Augenmerk und all Ihr Kapital darauf zu verwenden, uns dabei zu stören.
Wenn Ihr uns bitte nicht dabei stören würdet.
So sehr wir die Unterbrechungen lieben.
Nur diese nicht.
Und jene nicht.
Wir haben Sie und Euch ja auch nicht gestört.
Wir haben Euch und Sie bedauerlicherweise nicht gestört.
Wir haben ja mit brav verschränkten Armen aufrecht gesessen und Euch und Ihnen zugehört und zugeschaut.
Wir warten eigentlich immer auf das Ende der Unterrichtsstunde. Dachte ich gerade, sage ich.
Meinst du?, fragt Constanze.
Ja, sage ich, ich warte brav und verschiebe, was im Unterricht als unangemessen gilt, auf die Pause, erlebe die Pausen jedoch als zu kurz, um auch nur einen Bruchteil des Aufgeschobenen umzusetzen.
Guck mal, sagt Constanze, die ganze Hörigkeit, da liegt sie gefügig zur Anschauung bereit.
Na sieh mal einer an, sage ich.
Wie sieht sie denn aus? Eher grünlich-gelb als angenehm.
Constanze sagt: Die gesammelten Höflichkeiten und Hörigkeiten der C und der H, und was sie damit machten.
Tja, sage ich: Und was sie damit machten.
Aber kaum liegt die Hörigkeit zur Anschauung bereit, ist sie weg, und zurück bleibt die Höflichkeit, der wir, so allein und quasi nackt vor uns liegend, nichts vorwerfen wollen.
Der Hase läuft quer übers Feld. Noch vor Kurzem hatten wir eine Hauskatze, die mal da war und mal nicht, die darüber entschied, wann ich mich vom Stuhl erhob: nie, wenn sie auf meinem Schoß saß.
Wir sind also nett und in irgendwelche Körper geboren, mit denen wir mal mehr, mal weniger zufrieden sind, mit denen wir hadern oder auch nicht, die wir aber nun einmal haben.
Wir können pragmatisch klingen, aber gehen doch in jede Körperbild-Falle. Das nervt.
Und in ein paar Tagen diese hypothetische Frage: Stell dir vor, du könntest für den Weltfrieden sorgen, wärest aber als Preis dafür zwanzig Kilogramm schwerer. Würdest du dich auf diesen Handel einlassen?
Tja, da werden wir schlingern, da werden wir versuchen abzulenken, die Frage von uns weisen und die Antwort schuldig bleiben.
Wenn wir aus dem Fenster schauen, fällt manchmal gerade einer vom Dach. Vielmehr springt er und fällt nicht, fällt auf jeden Fall nicht aus Versehen.
Das ist Kasper, auf dessen Beerdigung wir eines Tages stehen werden, aber bis dahin vergeht noch viel Zeit. Wir werden uns bis dahin oft gewünscht haben, dass er endlich einmal stürbe, dass niemand mehr an unserem Fenster vorbeifliegt und dumpf aufschlägt, weil wir uns daran einfach nicht gewöhnen können; auch daran nicht, dass er sich nach dem Aufprall mühelos erhebt, die Hose abklopft, die Straßenseite wechselt, an den Baum pinkelt und dann bei allen im Haus Sturm klingelt, um wieder eingelassen zu werden.
Kasper hat weder Schlüssel noch Mietvertrag. Er lebt unter sogenannten fragwürdigen Bedingungen auf unserem Schrägdach. Dort, wo er seine Behausung aus Planen und Steinen errichtet hat, regnet es nicht hinein, darunter ist der Wäscheboden trocken.
Warum man ihn da wohnen lässt, ist uns ein Rätsel, warum er vom Dach springt, auch, wenngleich wir natürlich grundsätzlich Gründe kennen.
Kasper springt, als wäre er nie geboren.
Kasper springt, als wäre er gar nicht da.
Ich sage, mir fällt gerade auf, dass ich in meiner Kindheit gelernt habe aufzuräumen, wie andere Leute Feuer löschen, indem ich die unterschiedlichsten Plüschdecken, Sofadecken also, auf die passende Größe gefaltet, über unsortierte Zeitungsstapel und andere herumliegende Dinge gebreitet habe, damit sie nicht mehr zu sehen waren. Es mangelte in meiner Kindheit nie an Decken und Kissen, mit denen sich einiges verbergen ließ. Ebenso schlossen alle Schranktüren gut, und ich wusste, welche besonders vorsichtig zu öffnen war, weil sich dahinter alles Verborgene, Vertuschte, Verschimmelte verbarg und zwischendrin ein Buch, ausgeliehen bei irgendwem und dringend zurückzugeben, von Ottokar Domma beispielsweise.
Ach ja, sagt Constanze, Ottokar Domma, der uns alle amüsierte, den ich mir von einer Freundin geborgt hatte und im Sessel vor dem Fernseher las, dabei Brötchenhälften mit Schweinefleisch im eigenen Saft und Ketchup aß. Ich aß Brötchenhälfte um Brötchenhälfte, bis eine der Hälften mir aus der Hand und auf die Buchseite fiel. Ich wusch die Seite panisch ab, ich trocknete sie mit Geschirrtüchern, ich versuchte, den orange gewordenen Ketchupfleck wegzureiben, wegzudenken, ich versteckte das Buch im übervollen Schrank und versprach, wenn die Freundin fragte, es tags darauf mitzubringen, um sie dann wieder auf den nächsten Tag zu vertrösten.
Ich versuchte das Buch nachzukaufen, aber es war einfach immer vergriffen.
Als ich es der Freundin nach über einem Jahr zurückgab, bemerkte sie den Ketchupfleck und die vom Wasser gewellten Seiten nicht oder fand es nicht weiter schlimm.
Mit unseren Problemen ist jedenfalls kein Blumentopf zu gewinnen. Die meisten sind peinlich und fad, und wir sind ihrer schon jetzt überdrüssig.
Constanze sagt, daraus macht sie ein Seminar:
Wie man wahre Probleme erkennt, benennt und die falschen erfolgreich über Bord wirft.
Oh, sagt Constanze nach einer Weile, das klingt ganz nach Realität, das klingt ganz nach Missverständnis. Das klingt nach einem Kurs, den ich unter keinen Umständen geben möchte. Das klingt nach einem Kurs, den es gar nicht braucht, weil längst bekannt ist, wie Europa oder welcher Staatenverbund auch immer sich seiner sogenannten Probleme entledigt, beispielsweise ins Mittelmeer hinein.
Gleich sehen wir in jedem Gewässer für immer Tote treiben.
Gleich sehen wir in jedem LKW für immer Menschen erfrieren, ersticken.
Gleich sehen wir jede Grenze als tödliche an.
Gleich sehen wir unsere Hände nur noch als machtlose Instrumente. Und unsere Köpfe erst recht.
An diesem Sonntag aber sind wir noch nicht so weit. Wir sind noch Geschöpfe einer uns fast harmlos erscheinenden Gegenwart, und wir sind auf etwas aus, das uns erheben und belichten könnte.
Wir sind noch nicht auf Lifting aus.
Wir denken an diesem Tag nicht darüber nach, wie unsere Probleme sich gewichtiger aufstellen könnten. Wir sehen unsere Probleme noch nicht in einem größeren Kontext, und ungefähr bis zur Wochenmitte kommen wir auch nicht auf die Idee, uns selbst in einem größeren oder gar internationalen Kontext zu sehen. Wir sind noch vollkommen regional. Wir sind in alltägliche Strukturen verwickelt und werfen sehnsüchtige und romantische Gedanken in alle Himmelsrichtungen. Ja, an unseren Gedanken und Wünschen sollte man uns an diesem Tag und ungefähr bis zur Wochenmitte nicht messen.
Was ist denn das für ein Tag?
Es ist ein Tag, wie er im Buche steht.
Was ist denn das für ein Buch?
Es ist ein Buch, in dem steht: »Wer also ein Igel ist, der muss darauf schauen, dass auch seine Frau ein Igel ist.«
Wir haben lange keinen Igel mehr gesehen. Maulwürfe hingegen schon. Leider hauptsächlich tote oder sterbende, am Rand eines Grundstücks liegende und schnell atmende, wir haben sie aus der knallenden Sommersonne, die ihnen das Fell schon bedenklich erhitzt hatte, in den Schatten gelegt, Blätter um sie verteilt, haben ihnen den Respekt eines anständigen Sterbeortes erwiesen, haben gewartet und ihre Schaufeln bestaunt, sie ganz und gar bewundert und geliebt, aber fragen uns jetzt, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, den Giftnotruf zu alarmieren und zu sagen: Hier liegt ein vergifteter Maulwurf, bitte kommen Sie schnell.
Übrigens marschiert hier der Tod herum. Nein, er marschiert nicht, er schleppt sich. Und wie er sich schleppt, man kann kaum hingucken. Deshalb gucken wir nicht hin und tun weiterhin so, als wäre er nicht als Verfolger, Beigabe oder Begleiter zugegen, den wir auf Abstand zu halten versuchen.
Der Tod kommt ungeheuer langsam über das Feld, er sieht aus wie ein Kriegsversehrter, aber was wissen wir schon. Er sieht zum Gotterbarmen aus, aber das denken wir nicht. Wir ducken uns hinter den Schilfzaun, der marode und bröselig ist und keinem Wesen ein Hindernis, und kriechen von dort aus in Richtung Haus, das uns nicht gehört, das einem Bekannten gehört, der es von seiner Tante geerbt und aus nostalgischen Gründen behalten hat. Gut möglich, dass der Tod sich, der Siedlung näher kommend, nun ausgerechnet dieses Haus aussucht, dieses nostalgische Haus, das sich vom Feld mit keiner Mauer abschottet. Wir verstecken uns im Flur des Hauses, wir rennen dann weg und wissen genau, wen wir da auf uns zukommen sahen, aber wir täuschen uns doch.
Wir täuschen uns sowieso die ganze Zeit.
Wir gehen Runden durch das Viertel, gehen Runden durch das sich sehr verändernde, einerseits üppiger werdende, andererseits verkargende Viertel; die Trennlinie zwischen den unterschiedlichen Lebensweisen verläuft genau durch unser Haus, ein abgewohntes Gründerzeithaus, das zur einen Seite an unsanierte Plattenbauten und zur anderen an sanierte Altbauten grenzt. Wir hören den Spatzen zu und erzählen ihnen allen Unsinn, der uns in den Kopf kommt.
Ich sage, irgendwelche Kinder hätten einem Betrunkenen aus dem Fenster Loser hinterhergerufen, aber ich sage nicht, dass es meine Kinder waren und dass ich mich sehr für sie genierte.
Wir liefern den Spatzen keinerlei Ordnung. Wir kommen von Krethi zu Plethi, vom Hölzchen aufs Stöckchen und über Stock und Stein.
Uns kommt immer das in den Sinn, was gerade so rumliegt.
Wir fangen dann gleich wieder von vorn an.
Wir fangen immer wieder von vorn an.
Wir werden dieses ewige Von-vorn-Anfangen hochhalten, aber gen Ende der Woche werden wir es aufgeben, wenn auch ungern.
Wir haben Langeweile und geben uns Mühe, uns ein bisschen zu unterhalten, uns irgendwie sinnvoll zu beschäftigen.
Nein, das stimmt nicht. Es stimmt auch nicht, dass wir Langeweile haben. Eher macht sich eine Dumpfheit breit, eine Taubheit, sie saugt schon an unseren Enden.
Immer diese Verwechslungen.
Wir wissen nach wie vor viel zu wenig.
Einmal, beim Baden unseres ersten Kindes, Entschuldigung: meines ersten Kindes, da bemerkte ich, was die Seele ist, da war meine Seele am Wannenrand, saß, ohne zu sitzen, sprach vor sich hin und war etwas Altes, etwas, das gar nicht meines war.
Ich hätte mir ja lange Jahre nicht träumen lassen, dass ich mal Seele sage.
Ich spürte auch einmal Gottes Hände auf den Schultern, ich wusste ganz genau, dass es Gottes Hände waren. In diesem Moment kam ich mir sehr gerettet vor und bedurfte der Rettung. Nein, sagen wir lieber so: In diesem Moment war ich verzweifelt, entkräftet und abhängig, und ich empfand, am Fenster stehend, diese Berührung als Berührung Gottes, würde aber grundsätzlich nicht davon ausgehen, dass Gott sich um mich kümmert. Eher glaube ich, ich kümmere mich um ihn.
Ich rede immer, damit jemand nicht stirbt, zum Beispiel ich.
Das stimmt aber auch nicht.
Das stimmt nur zum Teil.
Wir sitzen zu Füßen der Woche und haben noch gar keine Ahnung. Wir wühlen nicht einmal in alten Ängsten.
Wir schlingern herum und schlingern bald aus Prinzip und voller Energie und dermaßen formschön, beispielsweise schlingern wir dann so, wie man Wasserrutschen nach unten rutscht: mit guter Technik, sich nahezu auf die Seite legend, aufwölbend, alles unter Spannung, ein Kreisen, ein Rasen, also Spaß auf jeden Fall.
Wir schauen in die Zukunft, und uns sind die Utopien abhandengekommen. Wir haben Bedürfnisse und wissen, wenn diese wegfallen, nicht mehr, wonach wir Ausschau halten, worauf wir unseren Blick richten sollen.
Constanze sagt: Ich eröffne meine kleine Sehschule. Ich eröffne meine Universität des Sehens.
Und ich rufe in die Gegend: Seht Ihr mich oder seht Ihr mich nicht?
Ihr seht mich nicht. Ich werde aufhören, Euch zu sehen. Dann werde ich wieder anfangen, Euch zu sehen.
Wie bitte?, sagt Constanze.
Manchmal spricht sie so, als würfe sie ihre Worte in halbwegs leserlicher, leicht eiliger Handschrift in Großbuchstaben an eine Tafel – an eine dieser alten, mit grüner Farbe gestrichenen Tafeln –, als machte sie dann einen Schritt zurück, drehte sich um und zeigte, die Kreide in der Hand, auf das Geschriebene.
Später, wenn diese Woche vorbei ist, gehe ich durch Los Angeles, gehe herum, als wäre die Stadt nicht fürs Autofahren gemacht, als wollte ich neue Fußwege in die Stadt ziehen. Ich gehe durch einen kalifornischen Regen, der nicht enden will, an dem sich die Hänge prall und schmierig trinken und auf die Bürgersteige mit den Übergangssiedlungen, den Obdachlosenzelten rutschen. Als ich am Museum ankomme, hat sich meine Hose trotz des Schirms bis zu den Oberschenkeln mit Wasser vollgesogen. Ich trockne nicht.
Ich stehe vor einem Kunstwerk von Gary Simmons und bekomme nicht genug davon, diese unbetitelte, keine zehn Zentimeter hohe und zwei Meter breite Schultafel anzusehen. Sie ist in Birkenholz eingefasst, schwarz gestrichen, schwarze Kreide liegt bereit. Die Tafel ist unbenutzbar, das Geschriebene für immer unlesbar. Hätte man weiße Kreide, wäre das Ergebnis kaum anders. Die Tafel ist zu klein, um sie im Unterricht zu verwenden. Alle müssten ganz dicht herantreten, um die Worte zu entziffern, und am Ende der Zeile müsste sie sofort wieder abgewischt werden, wollte man einen zweiten Satz schreiben.
Ich werde meinen Kindern sagen: Vergesst nicht, Eure Lehrer und Lehrerinnen von Rancière zu grüßen, und sagt ihnen: »Es gibt Verdummung da, wo eine Intelligenz einer anderen Intelligenz untergeordnet ist.«
Heute aber reise ich nicht und habe keine guten Hinweise in petto. Heute bin ich noch unglaublich dumm und obrigkeitshörig und gefühlsergeben wie ein Matratzenheinz.
Aha, sagt Constanze.
Na ja, sage ich. Mal so, mal so.
Wir gehen herum, kaufen uns preiswertes Eis in einem Laden, der das teuerste Eis verkauft. Das Eis schmeckt kein bisschen, ich werfe es vor dem Petersbogen über den Zaun in das Bauloch.
Wir hatten große Pläne damit, wir haben schon mehrfach den Bauzaun beiseitegeschoben und waren in dieses tiefe Loch hinabgeklettert wie in den ausrangierten Krater eines Vulkans, der vielleicht noch nicht ganz erloschen war.
Ein Vulkan, sagte Constanze, der durch Zuneigung zu erwecken ist. Haha, sagte ich und tat, als würde ich schmelzen.
Am Ende der Woche wird das Bauloch geschlossen sein. Am Ende der Woche werden alle Baulöcher und Baulücken geschlossen sein, und wir werden vor versiegelten Fassaden stehen und uns wundern. Am Ende der Woche wird dort, wo gerade noch das Bauloch ist, wo meine Eiskugeln samt Waffel landen und nicht detonieren, wenngleich wir mit Detonationen rechnen, ein Hotel entstanden sein, wird sich an den dahinterliegenden Petersbogen schmiegen und einen halbwegs repräsentativen Vorplatz haben.
Das Bauloch wird dann nicht einmal mehr erahnbar sein.
So lang ist die bevorstehende Woche.
Wir gehen in eine Woche voller Montage. Sie ist die schlimmste und läuft auf Liebe und Krieg hinaus.
Und wir lieben noch nicht über alle Maßen.
Wir werden die Hälfte der Woche benötigen, um dem Lieben näherzukommen.
Wir werden die Hälfte der Woche brauchen, um ein bisschen erwachsen zu werden.
Wir sind solche Kinder.
Wir sind so schlecht erzogene Kinder.
Wir brauchen eine Inventur, eine Generalüberholung.
Am Abend steht eine Schauspielerin als einzige Frau im Stück am Bühnenrand, steht da mit verlaufener Schminke, mit schwarz auslaufenden Augenrändern vor dem Publikum, in der Rolle einer jungen, vergewaltigten Frau. Sie spricht somnambul. Dramatisch steht sie im Setting und redet irgendwas, es wirkt wie Geschwätz des Wahnsinns, dieses Geschwätz, das alle angeblich Wahnsinnigen immer zur Schau stellen, wenn sie vorgeben, wahnsinnig zu sein oder es gleich zu werden. Die Schauspielerin breitet ein Netz aus, das ihr der Autor in das spärliche Gewand geschrieben hat, und die Figur bringt sich kurz nach ihrem finalen Monolog um.
Constanze, die schon die ganze Zeit genervt in mein Ohr schnaufte und mit dem Fuß wippte, springt auf und ruft: Du bringst dich doch jetzt nicht um, du drehst doch jetzt nicht so konventionell durch, du lässt dich doch hier nicht als einzige weibliche Hauptrolle im Stück erst vergewaltigen, schwängern und dann auch noch vorführen, lässt dich doch jetzt nicht deinem Lebensende zur freundlichen Weiterbearbeitung übermitteln, du steigst doch jetzt bitte nicht so aus diesem Stück aus, das kannst du doch anders!
Als das Publikum sie zur Ruhe ermahnt, spricht sie nur lauter. Die Schauspielerin lächelt verständig, deeskalierend, könnte man sagen; es ist unangenehm, sie so lächeln zu sehen.
Constanze setzt fort: Du gehst jetzt einen halben Meter nach vorn, wischst die verlaufene Schminke weg, stemmst die Hände in die Seiten und sagst: Ist das euer Ernst? Hat der Autor den Fuß in einem längst vergangenen Jahrhundert? Wurde der Autor erpresst, diese Rolle zu schreiben? Hat das Theater noch alle Tassen im Schrank?
Dann wirst du die exakte Uhrzeit und das exakte Datum nennen und sagen: Nun beginnt ein neues Stück, dessen Verlauf ich noch nicht kenne. Die anderen Rollen auf der Bühne werden sich übergangen fühlen, aber du wirst sagen: Heute versuchen wir es mit meinen Vorschlägen, macht es morgen, wie ihr wollt, heute aber macht es, wie ich es will. Wenn sie dich lassen, dann mach was auch immer, wenn sie dich nicht lassen, lass dich von der Bühne tragen. Geh nicht von allein.
Aha, sage ich zu Constanze, als sie wieder sitzt. Ihr Herz schlägt gegen meine Schulter.
In der Kneipe, wo wir nach der Vorstellung sitzen und der Rauch uns schon die Haut verätzt, sagt Constanze zur Schauspielerin, ihre Darstellung des Wahnsinns, wie sie da mit flackernden Augen von ganz unten nach ganz oben geschaut habe, das sei zwar etwas abgenutzt gewesen, aber, na ja, das liege ja vielleicht am Regisseur, ach so, es war eine Regisseurin, ah, oh, interessant, eine Regisseurin und: Tja, man steht sich ja immer selber am besten im Weg, nicht wahr, aber egal. Und wie sie sich mit den Händen die Haare gerauft habe, gerade so, dass es am Ende noch gut aussah, dass also sogar eine gute Frisur dabei herauskam, das sei schon ein spannendes Konzept, nämlich ein im Kern kapitalistisches sei da an ihren Haaren sichtbar geworden: wie der Kapitalismus also aus den verzweifelten Handlungen des Wahnsinns eine Frisur, eine adrette Außenwirkung, eine Werbung mache, nicht wahr, ach so, ja, klar. Usw.
Ach, sagt Constanze, und ich glaub es nicht, ich meine, ich hör wohl nicht richtig, sie sagt: Irgendwie habe ich das sehr gern gesehen, und vielleicht ist das Gestrige die beste Kritik am Heutigen.
Ich schlage mir gegen die Stirn, dass es knallt, so ein Sonntag ist es plötzlich geworden, und meine Kinder schlafen und sind in den besten Händen, nur will ich über diese Hände hier nicht reden.
Constanze trinkt ihr Bier wie elektrifiziert, als arbeitete sie sich einer Karriere in Bier entgegen. Ich sehe Constanze verlustig gehen, und die Schauspielerin gibt Wodka aus, den ich lächelnd hinter die Eckbank schütte. Sie schwärmt, wie es nun endlich um etwas gehe, weshalb sie gar nicht anders könne, als jeden Montag bei diesen Versammlungen am Augustusplatz zu sein. Zwar stimme sie nicht mit allen Reden überein, mit der Energie aber schon. Sie stehe halt so auf die Energie, die von diesen Reden und den Protestierenden komme und freue sich, dass aus den Versammlungen nun Demonstrationen werden.
Ich frage, ob sie denn die Energie nicht woanders zutage befördern könne. Ob sie denn kein Leben habe, und schütte noch einen Wodka hinter die Eckbank. Constanze sagt, ich soll ihn lieber ihr geben, aber ich gebe ihn ihr nicht. Ich nehme alle Wodkas, die auf dem Tisch stehen, und schütte sie hinter die Eckbank, und der Wirt kommt und weist mich mit ausgestrecktem Arm nach draußen. Ich rufe: Ich spaziere auf deinem Arm in die Freiheit.
Später am Abend sitzen wir noch halbwegs betrunken im Wohnzimmer und schütteln die Köpfe, bis sie wieder klar sind, und stemmen uns gegen die Zeit. Wir ziehen die Vorhänge zu. Leise schleiche ich in die Kinderzimmer und in das Schlafzimmer, um die Schlafenden nicht zu stören, und suche alle Stoffe, ausrangierten Vorhänge, Woll- und Bettdecken für Gäste aus den doppelten Beständen zweier auch nach Jahren des Zusammenlebens noch nicht vollständig zusammengeführten Haushalte. Wir verkleiden die Fenster, wir verhängen die Fenster, so gut es geht, wir halten das Tageslicht, das kommen wird, draußen.
Wir verstecken uns vor der Üblichkeit, auf den Sonntag den Montag folgen zu lassen.
Plötzlich haben wir etwas, woran wir festhalten müssen.
Wir haben unsere Kindheitssonntage in Badezimmern verbracht, wir haben uns auf die Tapete fixiert, diese abwaschbare Tapete voller wolkenartiger Muster, in der wir auch Clowns sahen oder Affen, wir haben uns, weil wir irgendwo gelesen hatten, dass das funktioniert, ein Stück Seife in die rechte Armbeuge gesteckt und dann versucht, den Arm weiter anzuwinkeln, ihn fest zusammenzudrücken, um ihn zu brechen.
Wir haben uns an eiskalten Winterabenden ohne Bettdecke bei weit offenem Fenster ins Bett gelegt und auf das Frieren und eine üble Erkältung gewartet.
Wir haben auf Prinzen und auf Könige gehofft, die uns entführen.
Wir beten unbeholfen zu diesem Sonntagsgott, den es doch geben könnte, zu dieser Sonntagsgöttin, sich bloß nicht, sich bloß nicht aus lauter Gewohnheit und weil es nun einmal so angelegt scheint, dass auf den Sonntag der Montag folgt, dieser Chrono-Konvention hinzugeben. Ja, wir rufen an diesem schon vergangenen Sonntag, er soll sich schnell ausdehnen, einen größeren Platz einfordern, um den Montag zu verdrängen.
Wir fordern den Sonntag auf, einen Streit mit dem Montag anzuzetteln, ihn abzulenken, zu ermüden.
Die Spatzen kichern über unsere Pläne, haben aber nichts Konstruktives beizutragen.
Ich krieche ins Bett und verstecke mich für dreißig Minuten, die ich mit aller Kraft zu verlängern versuche, mit aller Hoffnung, ich schalte alle Wecker aus, die in unser verdunkeltes Epizentrum der Montagsverweigerung hineinklingeln.
Wir würden gern sagen: Es kam ein Sturm auf, es schoss ein Jet über den Platz vor unserem Haus, es fielen straußeneigroße Hagelkörner.
Wir hätten hier gern eine überlebensgroße, machtvolle Erzählerin, die uns durch die Eingeweide einer Katastrophenwelt jagt und einer mehr oder weniger gut geplanten Katharsis übergibt.
Wir würden aus dem Inneren der Weltkatastrophe nach draußen rufen: Sind wir bald da? Wie lange dauert es noch?
Und wir würden die Antwort mal besser, mal schlechter hören.
Uns schlottern alle Organe, aber man sieht es nicht.
Uns ist ausgesprochen schlecht, aber wir merken es nicht.
Und alles liegt in der Luft, die wir im Nachhinein immer wieder durchsieben werden und schließlich feststellen: Es stand uns alles vor Augen, es vollzog sich alles wie am Schnürchen, wie nach Plan, wie auf eine bösartige Kausalkette aufgezogen.
Dies ist eine alte, alte Geschichte.
Es ist eine Geschichte aus einer Zeit, in der die Montage noch zum Fürchten waren. Mittlerweile sind es die Samstage, oder es sind die Samstage und die Montage, oder es ist jeder Tag.
Und wir klagen darüber und wimmern darunter und wetzen uns die Zähne an den feindseligen Artikeln und Gebärden ab.
Wir sind so zuverlässig bedroht.
Wir lernen erst später, gelassener zu sein und entschieden und stark.
Wir stehen dann auf der Slackline unseres Lebens, stehen maximal dreißig Zentimeter über dem Erdboden und sagen:
Meine Damen und Herren! Sehen Sie jetzt die Überquerung eines Abgrunds zweier waghalsiger Demokratinnen, die es auf eine andere Demokratie anlegen. Sehen Sie, wie die beiden abstürzen und sterben, und sehen Sie, was dann passiert.
Gleich sind alle meine Briefe Abschiedsbriefe, aber das bleibt bitte unter uns. Ich weiß auch noch nicht, von wem oder wovon ich mich verabschiede.
»Die Ereignisse der letzten Monate greifen Sie also regelrecht körperlich an«, kommentiert der Journalist.
»Oh ja«, sagt Laurie Anderson, »das tun sie.«
Ja, sage ich, das tun sie. Und wie sie das tun.
Ja, sagen wir, das werden sie getan haben.
Wir sind am Anfang der Woche und noch im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte.
Wir hätten das feiern sollen.
Wir feiern später alle Verluste.
Wir hängen später alle unsere Verluste an den Nagel oder wohin auch immer.
Wir zerschmeißen Geschirr und nennen es unsere letzte Amtshandlung.
Und jemand ruft Burnout.
Und wir sagen: Geht’s noch?
Das alles sind Selfies aus dem Untergrund.
Das alles sind Selfies von Missverständnissen. Eines blöder als das andere.
Ab und an ein schönes Bild.
Wie dieses hier: