– Erstkontakt-Geschichten –
Herausgegeben von Christoph Grimm
Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe
ISBN 978-3-946348-34-4
ISBN 978-3-946348-33-7 (Print Ausgabe)
© Eridanus Verlag | Jana Hoffhenke
Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Jurasek
Umschlaggestaltung: Detlef Klewer
Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke
Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen
Vorwort
~ ~ ~
»Ist die Menschheit alleine im Universum?
Oder existieren irgendwo da draußen andere intelligente
Lebensform, die auf verschiedenen Welten in ihre
Nachthimmel schauen und sich die gleiche Frage stellen?«
Carl Sagan (Exobiologe)
Dass eine gewaltige Bühne wie das Universum Leben ausschließlich dem Planeten Erde vorbehält, darf bezweifelt werden. Natürlich zeigt bereits unser Sonnensystem, dass nicht gerade wenige Faktoren zusammenwirken müssen, um auch nur der rudimentärsten Form von Leben – zeitweise! – eine Chance zu geben. Angesichts von bis zu 400 Milliarden vermuteten Gestirnen in der Milchstraße, die wiederum nur eine von 100 Milliarden Galaxien im sichtbaren Universum darstellt, liefert jedoch selbst die pessimistischste Wahrscheinlichkeitsrechnung unterm Strich eine beeindruckende Zahl außerirdischer Spezies: Während der Physiker Seth Shostak vermutete, es könnte allein in der Milchstraße bis zu 10.000 Zivilisationen geben, räumte der Exobiologe Carl Sagan für unsere Galaxie immerhin noch die Möglichkeit von 10 ein.
Das klingt doch erst mal vielversprechend, oder? Leider gibt es einen kleinen Haken, denn es gilt gemeinhin in der wissenschaftlichen Welt als sehr unwahrscheinlich, dass sich Lebensformen zweier Welten jemals begegnen. Selbst wenn die unzähligen Parameter, die auf der Erde unsere Spezies heranwachsen ließen, auch auf anderen Welten – annähernd zeitgleich! – zusammenwirkten, so machen letztendlich die gewaltigen Distanzen ein Treffen ausgesprochen schwierig.
Doch, was wäre, wenn … sich ein uraltes Objekt in unser Sonnensystem verirrt … der Nachbarplanet Mars Erstaunliches beherbergt … jemand am Rande unseres Sonnensystems wartet … die uns bekannten Gesetze der Physik nicht für alle gelten … andere Zivilisationen schnellere Wege des interstellaren Reisens entdeckt hätten … wir es sind, die Fremde wären … etwas jenseits von dem ist, was wir als Leben definieren und begreifen würden? Dies sind nur einige der Szenarien, die auf den nächsten 430 Seiten auf Sie warten. So fantasievoll die Autorinnen und Autoren das Ob und Wie ihres Erstkontakts gelöst haben: Noch interessanter sind die Auswirkungen einer solchen Begegnung – für sie und für uns.
Christoph Grimm,
im Februar 2022
Objekt eins (Maximilian Wust)
~ ~ ~
Bevor wir zum ersten Mal Außerirdischen begegneten, hatten wir nur zwei Vorstellungen, wie das wohl geschehen würde: Entweder im Guten, also dass sie als Weise zu uns herabsteigen – in Frieden kommen, wie man im Film immer sagt –, mit unseren Anführern sprechen wollen und uns Wissen, Technologie und sprechende Fertigpizzen bringen. Oder natürlich im Schlechten, als Invasoren: Dann würden sie Denkmäler in die Luft sprengen und jeden Menschen verdampfen, den sie vors Visier bekommen – meistens, um an Ressourcen zu kommen, die auch in jedem zweiten Asteroiden zu finden sind.
Das waren unsere Gedanken, wenn wir von Aliens sprachen. Die Medien hatten uns dermaßen benebelt, dass wir schon gar nicht mehr wussten, wie langweilig die Realität im Regelfall ist.
Jedenfalls war da auf einmal Ordnung im Chaos. Klingt etwas melodramatisch, aber genau das hat das Objekt zuerst verraten.
Um das zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen: Der Weltraum ist alles andere als still, auch wenn das keiner glaubt. Sonnen geben ein regelrechtes Gebrüll an Signalen von sich – deswegen können wir sie auch sehen – und Planeten spiegeln und verzerren diesen stellaren Rundfunk noch tausendfach. In akustische Signale umgewandelt – und das haben ein paar besonders gelangweilte Astronomen schon getan –, ist es ein Brei aus Tönen und Lärm. Chaos eben.
Das Objekt dagegen strahlte geordnete, regelmäßige Funkwellen aus. So haben es die Menschen damals entdeckt, von der professionellen Sternwarte bis zu den SETI-Spinnern auf dem Dachboden ihrer Eltern. Und gleich dazu noch verstanden, dass es von Außerirdischen stammen muss. Ordnung ist unnatürlich. Jemand muss sie gemacht haben.
Natürlich richteten die NASA, die ESA und die Nachrichten sofort alles, was ein Objektiv hatte, auf das Objekt und staunten – zusammen mit dem Rest der Welt. Da driftete nämlich tatsächlich etwas sehr Raumschiffartiges durch unser Sonnensystem. Dieses Ding war ein unförmiges Etwas, wie eine riesengroße Kidneybohne, neunzig Kilometer lang, schwarz und somit im Vakuum kaum sichtbar. Und definitiv das Werk einer nicht-irdischen Zivilisation.
Wie die Leute damals ausgerastet sind, weißt du ja inzwischen selbst. Sie sind auf die Straße gegangen, haben gefeiert, sich gefürchtet und sind beinahe durchgedreht. Allein, wie viele Tausend Esoteriker auf einmal meinten, mit dem Objekt in Verbindung zu stehen, war gruselig und mit den Verschwörungstheoretikern will ich gar nicht erst anfangen. Zu viele empfahlen, das Raumschiff präventiv mit Atombomben zu begrüßen und zu viele hörten ihnen zu – glücklicherweise aber nicht die Menschen mit besagten Bomben.
Und natürlich durften auch die Verrückten nicht fehlen, die ganz offen darüber diskutierten, wie wohl diese Außerirdischen schmecken, und Influencer mussten einfach – weil man für Klicks und Likes alles tut – einen Wettstreit daraus machen, wer seine Geschlechtsorgane zuerst in einen der Besucher schiebt oder die ihren empfängt.
Ich könnte mich jetzt noch ewig darüber aufregen, was in den ersten Tagen der Ankunft geschah oder gesagt wurde, aber das hatten wir schon. Im Nachhinein glaube ich, dass viele das Objekt einfach als eine Art Erlösung sahen, gerade hier in den USA. Ein Haufen Leute waren hochverschuldet, in Leben verfangen, die sie hassten, und hatten keine Hoffnung, weder für sich noch für das Land. Irgendwie dachten sie wohl, dass die Insassen dieses Raumschiffs sie aus allem retten würden – entweder indem sie unsere verzahnte Zivilisation entwirren oder ausradieren, unkompliziert machen eben. Ein wenig kann ich sie verstehen.
Wir jedenfalls – die Leute vom Institut, das es damals natürlich noch nicht gab – hatten vor allem eines: Fragen. Was ist das Objekt? Was macht es hier? Wer hat es gebaut? Was bedeuten die Signale, die es aussendet? Sind das interne Nachrichten, so von einem Alien zum anderen und wir empfangen sie nur durch Zufall oder sollen sie schon von uns gehört und verstanden werden? Warum reagieren die Piloten nicht auf unsere Kommunikationsversuche? Und warum halten sie auf die Sonne zu?
Denn genau das war der Fall.
Als wir das Objekt entdeckten, hatte es gerade die Umlaufbahn des Saturns passiert … und war drauf und dran, gleich wieder Lebewohl zu sagen. Sein Kurs, den es wahrscheinlich alles andere als freiwillig verfolgte, führte direkt in die Sonne, und das bei einer Geschwindigkeit von über hunderttausend Kilometern am Tag. Ich will dich jetzt nicht mit den mathematischen Details langweilen, also sagen wir es einfach so: Experten weltweit haben die Zahlen durchgekaut und kamen alle zum selben Ergebnis: Das Objekt würde in weniger als sieben Jahren in die Sonne stürzen.
Das war enttäuschend. Anders lässt es sich nicht ausdrücken.
In einem Film hätte man jetzt einfach ein Raumschiff aus dem Boden gestampft, eine gemischte Crew aus Schönlingen hineingesetzt und zum Objekt geschickt, wo sie dann die tollsten Abenteuer und Explosionen erlebt hätten. Und ein Charakter würde in den ersten fünfzehn Minuten klarstellen, dass er homosexuell ist, was dann auch schon seine ganze Persönlichkeit ausgemacht hätte.
Die Realität sah halt wie immer viel langweiliger aus – und vor allem schwieriger: Niemand, nicht einmal die USA oder China können mal eben eine bemannte Mission bis in die Jupiterumlaufbahn schicken, wo das Objekt gerade vorbeizog, als man diesbezüglich die ersten Pläne machte. Sogar schon Raumsonden, ja eigentlich jedes Kilogramm, das die Erdschwerkraft verlässt, muss über Jahre berechnet und geplant werden. Ein Andock- oder Enterverfahren hätte bedeutet, dass man die Männer nicht nur dort hinschicken musste, durch extrem gefährliche Sonnenwinde und uns noch unbekannte Gefahren, sondern auch noch auf die Geschwindigkeit des Objekts beschleunigen, danach zurück, in die Erdumlaufbahn, auf Erdgeschwindigkeit und dann auch noch in Erdnähe.
Nimm zum Vergleich eine Mars-Mission: Optimistisch gesehen bräuchte so ein Flug, hin und zurück, zwei Jahre. Optimistisch gesehen! Vier ist realistisch, wenn nicht sogar acht. Die Psyche der Astronauten mal außen vor gelassen, die man für einen ganzen Lebensabschnitt in eine von Vakuum umgebene WG stopft. Es war also von Anfang an klar, dass nur unbemannte Sonden ans Objekt herankommen werden, wenn überhaupt, bevor es auf Nimmerwiedersehen in der Sonne zu Plasmasuppe verkocht wird. Aber trotzdem konnten wir uns diese Chance auf neue Technologie und Antworten nicht entgehen lassen.
Und das war gut so.
Was in den nächsten sechs Monaten folgte, hatte etwas Prophetisches an sich. Ich nenne es gern einen Kleinen Weltfrieden. Um so viele Objektsonden wie möglich loszuschicken, arbeiteten tausende technischer Abteilungen, von hier über Russland bis Indien, so harmonisch und zielgerichtet zusammen, als stünde uns eine Invasion bevor. Und das, ohne dass man zuvor dreißig Jahre lang einen brüchigen Frieden aushandeln musste. Würde die Menschheit immer so zusammenhalten, hätten wir einfach mal fünfundneunzig Prozent all unserer Probleme gelöst. Die Energie, diese Klarheit, alle auf ein gemeinsames Ziel gerichtet; alle bemühen sich für etwas, das größer ist als man selbst – es war berauschend, an so etwas Teil zu haben.
Etwas mehr als ein halbes Jahr nach der Entdeckung des Objekts schickten wir – also wir, die Menschheit – zwölf Sonden los. Eineinhalb Jahre später kamen sie an. In Rekordzeit! Die Galileo-Sonde hatte für fast dieselbe Strecke sechs Jahre benötigt, die wir aber dieses Mal nicht hatten. Die Sonden kamen also an und lieferten … na ja, Fragen. Aber das ist eigentlich nicht schlimm. Weißt du, wie man erkennt, dass Wissenschaft funktioniert? Man findet Fragen. Drei für jede Antwort. Nur hatten wir etwas mehr erwartet.
Die Kameraaufnahmen des Objekts waren selbstverständlich faszinierend. Seine Oberfläche schien aus so einer Art Obsidian zu bestehen, also einem schwarzen, glänzenden Glas, das über und über mit Rillen überzogen war. Wir fanden Buchten, vielleicht Dockingstationen für kleinere Raumschiffe, ansonsten endlose Eingänge und Schächte, manche einen Kilometer breit, andere etwa so dick wie ein Daumen. Ein Teil davon waren vermutlich Düsentriebwerke, aber bis heute grübelt die ganze Welt darüber, was wohl Luftschleusen, Wärmetauscher oder Waffensysteme gewesen sind. Oder ob das Schiff so etwas überhaupt besessen hatte.
Wir hätten gerne eine Sonde reingelenkt, in so eine kilometergroße Bucht zum Beispiel, aber das war kaum machbar. Jede noch so kleine Kurskorrektur dauerte allein schon wegen der Entfernung mehrere Stunden. Das Wenige, das wir schafften, war das Meiste, das möglich war.
Nach drei Tagen entdeckten wir dann die Wunde. Irgendjemand oder irgendetwas hatte ein riesiges Loch in das Objekt hineingeschossen, von außen nach innen, wie Ballistiker weltweit bestätigten. Der Einschlagskrater war gute fünfzehn Kilometer breit, hatte also ungefähr ein Achtel des Objekts aufgerissen und reichte bis ins Zentrum hinab. Da wurde uns bewusst, warum niemand antwortete: Vermutlich war das Objekt tot; das Signal nur noch eine Bandansage, ein Flugschreiber vielleicht, der immer noch Geräusche von sich gibt, damit man ihn leichter findet. Die Experten kamen damals zu dem Schluss, dass es wohl vor über achtzehntausend Jahren tödlich getroffen worden war und dann als Wrack in den Schwerkraftbereich unserer Sonne gedriftet sein muss.
Sein Inneres jedenfalls war so gar nicht wie erwartet. Wir hatten wohl auch hier zu sehr die Kulisse aus einem Science-fiction-Film erwartet, mit Korridoren, einem Speisesaal, Quartieren, sowas in der Art. Einen Hydroponischen Garten für erholende Spaziergänge, weil Gärten in der Science-Fiction immer hydroponisch sein müssen! Stattdessen fanden wir einfach nur ein unendlich großes, graues Geflecht – als würde man durch Millionen Lagen grauer Baumwolle schneiden. Zwanzig Kilometer, also etwa zehnmal so tief wie der Grand Canyon, reichte die Wunde in das Objekt hinein. Was wir darin sahen, waren Gebirge aus endlosen Fransen, Fäden und Sehnen. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Auf den Aufnahmen sind einige Tunnel zu erkennen, der Größte mit einem Durchmesser von drei Kilometern, aber ansonsten schien das ganze Objekt mit Wolle gefüllt zu sein. Das war so enttäuschend unmenschlich.
Vielleicht hatte dieses Ding nie eine Besatzung gehabt. Vielleicht waren diese Fäden seine Besatzung. Vielleicht gehörte es zu einer künstlich geschaffenen Spezies aus intelligenten, biomechanischen Schiffen und war einem feindseligen Artgenossen zum Opfer gefallen. Oder unerwartet von einem Asteroiden getroffen worden. So oder so, für einen Menschen, der menschlich denkt und Menschliches erwartet, war es halt unerwartet wenig. Ein mit Watte gefüllter Rillen-Asteroid. So als wäre er nur Deko in einer kosmischen Wohnzimmerschale gewesen.
Was es natürlich nicht war. Das ist uns damals auch bewusst gewesen.
Du kannst dir vorstellen, wie wir alle feierten, als es sogar einer der Sonden gelang, an dem Rand dieser geologisch großen Wunde zu landen, nachdem man vier Tage lang über Kurskorrekturen gebrütet und drei andere Satelliten in die Leere verschossen hatte. Dort nahm sie offiziell einige belanglose Materialproben und bis heute glaube ich, dass es mehr Glück als Können war, dass wir sie sogar bis zur Erde zurückholen konnten.
Der Rest der Geschichte ist Allgemeinwissen: Das Objekt flog weiter in Richtung Sonne und unsere Sonden begleiteten es, bis sie ausfielen. Die Objektive wurden blind, die Mikroelektronik begann sich im radioaktiven Strom aufzulösen, bevor sich eine nach der anderen abmeldete. Das Objekt folgte wenig später nach. Es hielt ein gutes Stück länger durch als unsere mit Computerchips gefüllten Aluminiumdosen, aber schließlich blähte es sich genauso in der geballten Strahlung der Sonne auf, platzte und verglühte, lange bevor es ins Plasma eintauchen konnte.
Das tat weh. Wir waren endlich diese riesengroße, ungute Ungewissheit losgeworden, ob es im Universum außer uns auch noch andere gab und blieben am Ende genauso ahnungslos wie zuvor. Nicht eine verdammte Frage konnte uns das Objekt beantworten!
Später benannte man es offiziell als Objekt Eins, wohl in der Hoffnung, dass vielleicht noch ein zweites in unsere Sonne stürzt oder dass die Erbauer doch noch vorbeischauen. Aber seitdem hat sich, wie wir alle wissen, nichts getan. Oder sagen wir, fast nichts. Die Welt ist immer noch dieselbe geblieben, die Probleme von damals sind heute immer noch nicht gelöst, Afrika ist immer noch arm und in den Filmen geht es wieder um bösartige Alien-Invasoren mit Anti-Häuserblock-Waffen.
Also, warum erzähle ich dir jetzt all diese Dinge, die du eh schon weißt? Wir haben ein Problem. Oder besser: Wir wissen nicht, ob es überhaupt ein Problem ist. Im Militärsprech aus dem Kalten Krieg sollte man wohl eher sagen: Wir haben eine Situation!
Diese eine Sonde kam, wie erwähnt, mit den Materialproben zurück nach Hause. Das war kein Geheimnis und zum Glück auch kein Grund für einen internationalen Streit. Jeder, der beim Sondenbau geholfen hatte, bekam seinen Anteil an den außerirdischen Fransen, ob jetzt China, Südkorea oder die USA – nur dass bei uns ausnahmsweise mal nicht die Republikaner herrschten und man sich dafür entschied, unsere Portion mit den Europäern zusammenzulegen und gemeinsam zu erforschen. Wir brachten sie in ein Forschungslabor, ganz neutral und schön abgelegen in Finnmark, dem nördlichsten Norden Norwegens und erforschten die vierzehn Gramm der Objektoberfläche zwanzig Jahre lang. Sehr genau und voller Hoffnung – immerhin war es unsere einzige Spur zu wenigstens ein paar Antworten. Unser roter Faden, wenn man so will, auch wenn er eher schwarzgrau gewesen ist.
Was wir daraus lernten, war auch enorm. Beispielsweise, dass die Objektwatte nicht einfach bloß ein paar Fäden sind. Vor etwa dreizehn Jahren erwachte das Material zum Leben und begann zu wachsen … und ernährte sich bei der Gelegenheit auch noch gleich vom Untersuchungstisch. Wir haben es mit Hitze bestrahlt, mit Plasma, mit Säure begossen und mit einem Diamantbohrer bearbeitet und dabei gelernt, dass man es inaktiv mit einer Drahtschere zerschneiden kann, es im aktiven Zustand dagegen nur mit extremem Aufwand zerstörbar ist. Es regeneriert sich einfach zu schnell. Wenn man es loswerden will, muss man es zerstäuben und dann im Hochofen annihilieren, wie man dazu sagt. Viel schlimmer noch: Wir haben ihm mit den meisten unsere Tötungsversuche anscheinend sogar noch Energie zugeführt. Wenn wir es mit einer Plasmaflamme schmelzen wollten, wuchs es nur noch schneller. Und gleich nebenher hatte es sogar den Raum entstrahlt! Kein Scherz, es trank Strahlung und verstoffwechselte sie, als wäre es eine Pilzart!
Nach ein paar Wochen hatte es den halben Untersuchungstisch überwuchert. Hast du dir inzwischen die Fotos angesehen? Es sah so aus, als würde der Tisch grau verschimmeln. Es schien aber nicht bösartig zu sein. Lebende Materie wurde von dem Geflecht seltsam analysiert, aber nicht getötet. Die Zellkulturen, die wir ihr in einer Petrischale zukommen ließen, blieben noch lange am Leben, weil es sie erhielt. Es produzierte sogar Wärme und Licht für sie, bevor es sie langsam und behutsam zu seinem Stoffwechsel hinzufügte.
Wir vermuteten zumindest eine rudimentäre Intelligenz dahinter, also haben wir ein Handy hineingelegt und es hat damit gespielt. Unser Test-Smartphone hat mehrfach versucht, aufs Internet zuzugreifen und sämtliche Textdokumente geöffnet, bevor es in Fäden aufgelöst wurde. Das war spannend. Und auch ein bisschen gruselig.
Irgendwann mussten wir uns aber der Frage stellen, was wir damit machen. Ist es eine Gefahr? Schießen wir das Geflecht in den Weltraum? Stecken wir es in ein Labor auf der ISC, wo es dann mit etwas Pech die ganze Station verschlingt? Was passiert, wenn wir ihm zum Beispiel eine Ratte geben?
Und am wichtigsten: Was passiert, wenn wir es wuchern lassen? Werden wir es dann nicht mehr los, während es den Planeten frisst?
Ich war dafür, dass wir es behielten. Nenn es Naivität oder den Glauben an das Gute, aber ich habe nie befürchtet, dass es den ganzen Planeten überwuchert und ja, ich bin zu weit gegangen. Als man ihm keine Ratte geben wollte, bin ich ins Labor geschlichen und hab’ ihm die frischeste DNS gefüttert, die ich kriegen konnte – nämlich eine Samenprobe. Von mir. Hat mich auf der Stelle den Job gekostet, genauso wie mein Geld, meinen Lehrstuhl, meinen Titel und alles andere. Eigentlich sitze ich noch jetzt in einem Gefängnis, das es offiziell nie gegeben hat.
Das Geflecht hat aber auf mein Sperma reagiert. Es hat anscheinend verstanden, wozu Samenzellen gut sind. Zuerst ist es heller geworden, am Ende sogar weiß, dazu warm und klebrig, indem es die Feuchtigkeit aus der Luft abzog. Es hatte sich eine Gebärmutter wachsen lassen und etwas geboren, bevor es das Wachstum komplett einstellte und wieder zu toten, grauschwarzen Fransen verkümmerte. Bis heute. Und auch nur unsere zusammengelegte, US-europäische Portion. Alle anderen sind genauso tot geblieben, wie seitdem auch wieder unser Geflecht.
Ihr Kind dagegen, unser Kind, wenn man es so nennen darf, ist ein kleines Mädchen mit ganz weißer Haut, das ganz zerbrechlich wirkt, aber seine Hand in einen Schmelztiegel stecken kann. Das eigentlich aus jedem Gefängnis ausbrechen könnte. Wenn es wollte. Manche von uns glauben sogar, dass ihm eine Elefantenbüchse kaum mehr als einen blauen Fleck zufügen würde. Ein liebes Ding, das so stark und so klug ist und uns manchmal Angst macht, weil es oft traurig und still auf seinem Bett sitzt. Und weint, weil seine Blume gestorben ist. Das besser als jeder Chopin am Klavier spielt und beleidigt ist, wenn man ein Stück von genau diesem Chopin mit einem von Rachmaninoff verwechselt.
So bist du entstanden. Das ist deine Geschichte. Ich wollte jetzt einfach, dass du sie kennst.
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Über den Autor
Maximilian Wust, geboren 1983, ist studierter Kommunikationsdesigner, Leidenschaftsleser und nebenberuflich Redakteur für Jugend und Medien. Seine Ideen entspringen, nach eigenen Angaben, seinen Erlebnissen in der S-Bahn, mit der er jeden Tag fährt.
Der Digger und der Lukudur (Frank Lauenroth)
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Zach war leicht übergewichtig und schwer gelangweilt.
Zu letzterem gehörte einiges, denn Zach veranschaulichte den Begriff von Eintönigkeit perfekt.
Vielleicht lag es daran, dass sein Lack einfach nicht trocknen wollte.
Für Distributianer bedeutete ein trockener Lack alles. Erst dann durfte man seine Meinung sagen, auf Fragen mit mehr als nur Zustimmung oder Ablehnung antworten und – natürlich – schwabbeln.
Rick stellte quasi den Gegenentwurf zu Zach dar. Schlank, rastlos, vorlaut, schwabbelnd.
Unschwer zu erahnen, dass er und sein Lack eine trockene Einheit bildeten. Und das sogar bereits seit Fünf.
Rick, der mit vollständigem Namen Rickomerlanvandermaar hieß, blickte sich in ihrer Zelle um. Eine Kraftfeldhalbkugel mit drei Sitzpads, die in gleichgroßen Winkeln zueinander angeordnet waren. Eines befand sich genau gegenüber dem Eingang der Zelle. Über ihnen hingen drei Überwachungsholochrone.
»Was für ein Aufwand«, kommentierte Rick.
Zach blickte hinüber zu den anderen Kraftfeldzellen. Nur in einigen saßen Gefangene. »Sieht so aus, als wäre das nicht nur für uns so eingerichtet worden.«
»Dein Lack ist noch nicht trocken. Also sei still!«, wies Rick ihn zurecht. »Stimm zu oder lehn ab, nicht mehr!«
»Ich lehne ab«, sagte Zach. »Wie übrigens auch unseren Ausflug nach Chronos 2.«
Dabei drehte er sich langsam und wies dabei auf das Etablissement, in dem sie gelandet waren.
»Wurde registriert«, erwiderte Rick knurrend.
Zach blieb still. Es hätte nichts gebracht, seinen Kumpan darauf hinzuweisen, dass er es von Anfang an für hochgradig gefährlich gehalten hatte, ihrer Profession gerade auf dem Planeten mit dem besten Strafverfolgungssystem nachzugehen. Das zudem über das ausbruchsicherste Orbitalgefängnis verfügte.
Zach ließ sich auf eines der Pads sinken und drehte Rick sein rückwärtiges Exo zu.
»Cruel wird uns hier rausholen«, sagte Rick.
»Das wird er vielleicht, aber dann werden wir den Rest unseres Lebens die Kaution abarbeiten müssen.«
Rick schwabbelte aufgeregt. Dieser Zach nahm sich eindeutig zu viel heraus. »Wir brauchen nur ein großes Ding und nicht unser ganzes Leben.«
Zach hob seine linke Schwabbelhand. »Ich stimme nicht zu!«
»Du wirst schon sehen, wie er …«
Mit einem lauten Fump erschien eine Gestalt in der Zelle! Da war er. Groß und wuchtig und er trug etwas, das eine Uniform sein konnte. Seine mittlere Schulter stand wie ein steinerner Kragen unter seinem Gesicht. Wache Augen musterten die Zelle.
»Ihr alle könnt mich Digger nennen«, sagte … nun ja … der Digger mit tiefer, rauchiger Stimme.
Mit ‘Ihr alle’ meinte er sicherlich nur seine zwei Mitinsassen.
»Ist gut«, antwortete Zach mit gelangweilter Stimme.
»Äh, wo kommst du auf einmal her?«, fragte Rick. »Und was bist du eigentlich für einer?«
»Ein Crelate«, sagte der Digger und ließ damit die erste Frage unbeantwortet.
»Ein Crelate«, wiederholte Rick, und wippte mit seinem schwabbelnden Schaumkamm. »Von euch hab ich – glaube ich – gehört. Draußen, vor Chronos 8. Also … als es noch Chronos 8 gab.«
»Gibt’s nicht mehr?«, erkundigte sich der Digger.
»Gibt’s nicht mehr«, bestätigte Rick.
»Ein Jammer«, sagte Zach. Aber bei ihm konnte man nie sicher sein, ob er gerade das Objekt einer Unterhaltung meinte oder seine allgemeine Situation.
Plötzlich krabbelte etwas aus dem Revers des Crelaten. Es sah aus wie eine stählerne Ratte mit zwei rotglühenden Schwänzen.
»Iiieh, was ist das denn?«, schrie Rick auf und trat Zwei zurück.
»Ein Lukudur«, sagte der Digger seelenruhig. »Hab ihn reingeschmuggelt. Also brrrl.« Dabei legte er seine drei linken, kleinen Finger quer über seinen Doppellippenmund, dem Zeichen für Verschwiegenheit.
Der Digger war zwei Köpfe größer als die Distributianer. Insofern würden sie seiner Bitte höchstwahrscheinlich nachkommen.
»Sieht so aus, als hättest du nicht nur ihn hier reingeschmuggelt«, stellte Rick fest.
»Cruel hat ihn geschickt«, mutmaßte Zach.
»Dein Lack ist noch nicht trocken!«, ermahnte ihn Rick. »Hör auf, frei zu reden!«
Zach drehte sich wieder weg. Ein bisschen schwabbelte sein Schaumkamm, obwohl es auch dafür ein Verbot gab.
Zach und Rick gelangten ursprünglich durch den Kraftfeldeingang in die Zelle. Vielleicht war es bei Crelaten anders, überlegte Rick. Und wenn Cruel ihn tatsächlich geschickt hatte?
»Du musst einen guten Grund haben, hier zu sein«, sagte er lauernd.
»Den habe ich«, erwiderte der Digger und betrachtete den Distributianer genauer.
Rick wich noch Ein zurück und landete auf dem Sitzpad.
Die Ratte sprang auf Diggers rechte Schulter und zischte bedrohlich. Ihre beiden Schwänze tanzten wie kleine Peitschen auf und ab. Der Digger nahm auf dem freien Pad Platz.
»Eigentlich sind hier keine Raumtiere erlaubt«, sagte Rick und zeigte auf den Lukudur.
»Rein-ge-schmuggelt!«, wiederholte der Digger, und beließ es bei diesem einen Wort.
Sie saßen sich Ein bis Zwei gegenüber.
Still.
»Weswegen bist du hier?«, fragte Rick schließlich den Digger.
»Wahrscheinlichkeitsüberschreitung«, antwortete der.
»Oh«, sagte Zach.
»Häh?«, fragte Rick wenig intelligent, und schwabbelte ein wenig. »Das hab ich ja noch nie gehört. Was ist denn daran ein Vergehen?«
»Ich erkläre es dir«, antwortete der Digger. »Die Benutzung des Oberraums für Flüge führt zu Realitätsverzerrungen. Je kürzer der Weg im Oberraum, desto größer die Wahrscheinlichkeit, die Realität aufzuspalten.«
»Oh«, sagte Zach.
»Kapier ich nicht«, gab Rick zu. »Wir existieren doch sowieso nur in einer Realität. Kann uns doch schnuppe sein.«
»Sollte es aber nicht«, belehrte ihn der Digger. »Stell dir vor, du fliegst im Oberraum und gleitest an der Realität entlang. Je länger der Weg im Standardraum parallel dazu verläuft, desto geringer ist der potentielle Versatz, der durch Abweichungen ausgelöst werden kann. Ihr könnt mir folgen?«
»Äh …«, sagte Rick.
»Geht schon«, sagte Zach.
»Gut. Wenn du aber nur einen kleinen Teil des Weges im Oberraum benutzt, du also extrem abkürzt, dann ist die von dir nicht zurückgelegte Strecke an deiner Realität sehr groß und ebenso die Wahrscheinlichkeit, dass die Realität sich in diesem nicht benutzten Raum aufspaltet.«
»So hab ich das noch gar nicht gesehen«, gab Zach zu.
Rick hatte sein aufgeregtes Schwabbeln aufgegeben. »Gut gesprochen von dem, der wegen Wahrscheinlichkeitsüberschreitung hier einsitzt«, konterte er dennoch.
»Das ist zwar korrekt, aber wenig intelligent«, sagte der Digger. »Überleg mal!«
Mit dieser Antwort war Rick überfordert. »Wieso …?«, stammelte er.
»Ist auch nicht so wichtig«, sagte der Digger und zeigte auf das Pad unter Rick. »Weswegen sitzt ihr hier ein?«
»Umverteilung von Versorgungsgütern«, sagte Rick. Er schwang seinen Schaumkamm einmal hin und her.
»Was muss ich mir darunter vorstellen?«, fragte der Digger nach.
»Diebstahl«, antwortete Zach.
»Hier existiert Diebstahl?«, fragte der Digger offensichtlich überrascht.
»Ein durchaus weit verbreitetes Konzept«, antwortete Rick, mit einer Spur von Stolz in der Stimme.
Der Crelate hatte diese sprachliche Nuance wohl wahrgenommen. »Ich halte es für archaisch«, sagte er. Seine Worte klangen noch ein wenig tiefer und bedrohlicher.
»Komm schon«, erwiderte Rick mit einem Tonfall unangemessener Vertraulichkeit. »Sag bloß, du hättest noch nie etwas für dich zurückbehalten, abgezweigt, umverteilt.«
Der Digger setzte sich den Lukudur auf seine mittlere Schulter und erhob sich mit einer spielerischen Leichtigkeit, die sich diametral zu seinem massigen Erscheinungsbild verhielt.
»Archaisch und rückschrittlich«, beharrte er. Die Stahlratte zischte dazu bedrohlich.
Rick erkannte die Zeichen und rückte auf seinem Pad weiter in Richtung Zellenkraftfeldausgang.
»Ist euch aufgefallen, dass es nur Distributianer und Crelaten gibt?«, sagte Zach unvermittelt. »Das Weltall soll ja unendlich groß sein, aber außer unseren beiden Spezies gibt es nichts. Null. Nixis.«
Rick schüttelte seinen Kamm voller Missbilligung in Zachs Richtung.
Der Digger ließ überrascht von Rick ab und wandte sich dessen Kumpan zu. »Gut beobachtet. Wie viele Crelaten kennst du denn bereits?«
Zach überlegte. »Mmmh, eigentlich nur dich«, gab er zu.
Hinter dem Digger schwabbelte Rick weiter aufgeregt seinen Kamm.
»Immerhin«, sagte der Digger. Beinahe hätte er Zach dafür belobigend an dessen Schaumkamm gefasst.
»Und du?«, fragte er Rick.
»Also, genau genommen …«, begann Rick. Der Digger trat Einen auf ihn zu.
Rick erhob sich rasch und wich zurück. »Gesehen? Tatsächlich? Nur dich!«
»Aber gehört?«, fragte der Digger nach.
»Na ja, wie gesagt«, stammelte Rick. »Draußen, vor Chronos 8.«
»Als es Chronos 8 noch gab«, erinnerte ihn der Digger. Er stand nun direkt vor Rick.
Rick schluckte. Nickte zögernd.
Da öffnete sich das Kraftfeld, das sie zuvor von der Freiheit getrennt hatte.
»Rick und Zach, ihr seid frei«, sagte eine fremde Stimme emotionslos. »Eure Kaution wurde hinterlegt.«
»Cruel sei Dank«, flüsterte Rick.
Mit einem Satz war er im Gang. Er war einigermaßen froh, so dem Crelaten entkommen zu können. Zach schlenderte eher gelangweilt an dem Digger vorbei und verabschiedete sich artig.
Rick zog seinen Kumpel eilig den Gang entlang, als befürchtete er, der Crelate würde ihnen folgen.
Der Digger blickte ihnen hinterher und setzte sich wieder. Man hörte noch, wie die beiden sich stritten. Einfache Distributianer im niedersten Umfeld. Ideal für den Crelaten.
Das Kraftfeld schloss sich. Ruhe.
»Mehr Platz für uns.« Der Digger ließ die stählerne Ratte auf den Boden hinab.
Der Lukudur setzte sich auf. Er schnüffelte vorsichtig, blickte direkt in die Überwachungsholochrone, drehte sich einmal um sich selbst und faltete danach das Erscheinungsbild des Digger zusammen.
Sollte die Gefängnisaufsicht es ruhig mitbekommen. Er würde verschwunden sein, ehe sie begriffen, was vor sich ging.
Er würde gehen, wie er kam. Zurück durch den Oberraum. Er, der Lukudur, der Realitätenspringer, der erste und einzige Kundschafter.
Kein Crelate hatte jemals vor ihm diese Welten erkundet. Schon gar nicht draußen vor Chronos 8.
Eine Realität, in der es nur eine Standardzeiteinheit und ein Standardlängenmaß gab, war einigermaßen interessant. Das Vorhandensein von Diebstahl und Lüge zerstörte jedoch sein Interesse an diesem Universum vollständig.
Der Lukudur hatte entschieden.
Ohne Eile kreuzte er seine Schwänze und sprang in die nächste Realität.
Vielleicht, so hoffte er, gab es ja dort intelligentes Leben.
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Über den Autor
Frank Lauenroth wurde 1963 in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) geboren. Nach dem Gewinn des Romanwettbewerbs »Deutschland schreibt« im Jahre 2005 widmete er sich vorrangig Thrillern und SF-Kurzgeschichten. Letztere wurden zwischen 2013 und 2018 viermal für den Deutschen Science-Fiction-Preis und einmal für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.
http://www.franklauenroth.de | http://www.marathontrilogy.com